Ich bin dann mal ganz anders - Jennifer Schreiner - E-Book

Ich bin dann mal ganz anders E-Book

Jennifer Schreiner

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Beschreibung

Auf der Verlobungsfeier ihrer Schwester läuft das Fass für die 28-jährige Studentin Anna endgültig über. Deutlicher kann man der liebenswerten Chaotin das makellose Leben ihrer perfekten Schwester kaum unter die Nase reiben – und dann ist da auch noch ihre kuppelwütige Mutter. Es reicht! Ein neues Leben muss her, oder nein, besser gleich drei! So kreiert die Fettnäpfchen-Queen Anna kurzerhand drei Alter Ego: eine Brünette, eine Blondine und eine Rothaarige. Eine für die Familie, eine für die Karriere und eine für sich selbst. Und als ob dies nicht schon verwirrend genug wäre, begegnet sie ausgerechnet jetzt Max – dem Mann ihrer Träume ...-

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Jennifer Schreiner

Ich bin dann mal ganz anders

 

Saga

Ich bin dann mal ganz anders

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2015, 2022 Jennifer Schreiner und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728438749

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

FETTNÄPFCHEN

Es war ein wunderschöner Tag. Kühl, mit leichten Herbststürmen und kräftigen Schauern. Wie geschaffen für einen Kaminabend mit Kakao und Wärmkissen an den Füßen. Ein perfekter Tag, um vom Regen in die Traufe zu kommen und von dort aus direkt im allerdicksten Fettnäpfchen zu landen.

Als ich pitschnass zu Hause ankam und mit abgebrochenem Schuhabsatz die Tür aufschloss – es waren meine heißgeliebten, unersetzlichen Glücksbringerschuhe, die ich vor einigen Jahren auf einem verwinkelten Straßenmarkt in Frankreich erstanden hatte –, ahnte ich nicht, dass ich den Zenit meines unerfreulichen Tages noch lange nicht erreicht hatte.

Fluchend humpelte ich in die Diele und versuchte, mit einem einzigen Schritt gleichzeitig die Schuhe auszuziehen, keine Tropfen auf dem frisch gebohnerten Parkett zu hinterlassen und von draußen nach drinnen und auf den weißen Teppich zu gelangen. Mit diesem heiklen Balanceakt wollte ich vermeiden, den Zorn meiner Mutter auf mich zu ziehen, die sehr pingelig sein konnte, wenn es um ihre exquisite Inneneinrichtung ging. Bevor ich dabei auch noch multitaskingfähig nach dem Lichtschalter an der Tür zum Wohnzimmer greifen konnte, sprangen auf einmal Schatten aus allen Ecken und zahlreichen Verstecken des großen Raumes hervor. Kurz war ich geschockt, nur um anschließend von dem aufflammenden Licht geblendet zu werden.

Das fröhliche „Überraschung!“ der versammelten Freunde – ich erkannte neben meiner Mutter meine beste Freundin Nina und Gregor, den aktuellen Freund meiner Schwester – verstummte halb ausgerufen und machte einem schockierten Stöhnen Platz. Es klang wie der enttäuschte Seufzer einer Zombiemeute, wenn die Beute knapp entkommen war.

„Du hast mir nicht verraten, dass deine Tochter eine Mischung aus Känguru und einbeiniger Weitspringmeisterin ist“, lachte jemand.

Ich konnte den Besitzer der unglaublich schrillen Stimme nicht ausmachen, zuckte aber erschrocken zusammen und bewies, dass ich auch durchaus ein beachtliches Talent zur Spagatkönigin hatte. Dabei tropfte ich nicht nur auf den sauberen Holzboden, sondern landete mit dem nicht zerbrochenen, dafür umso schmutzigeren Schuh auf dem Teppich.

„Ja, sie war schon früher immer so ungeschickt.“ Meine Mutter tauchte neben dem Fremden auf, sah dabei so elitär aus wie eine der alten Hollywood-Diven und lachte auch genauso gekünstelt. „Glaub mir, Berhard. Wenn es irgendwo ein Fettnäpfchen gibt, Anna findet es.“

Die weiteren Anwesenden, Freunde meiner Schwester und irgendwelche Verwandten, allesamt mit fröhlich wirkenden Herzchenballons, Fähnchen und Schildern mit Trauringen ausgestattet, kicherten zustimmend. Ich räusperte mich. Obwohl ich mich enorm vorgeführt fühlte, war Anna schließlich anwesend und durchaus in der Lage, selbst zu reden.

Meine Mutter schien davon nicht überzeugt zu sein.

„Anna, mein Schatz. Sag doch was!“ Sie trat neben mich und half mir, die missliche Lage ein wenig zu richten, indem sie meinen nassen Mantel abklopfte und sich mir als Stütze anbot.

„Das kommt davon, wenn man bei dem Wetter mit solchen Schühchen rausgeht“, schimpfte sie und hielt anklagend den Schuh nach oben. Der Absatz baumelte fröhlich an der Seite herab. „Sie ist ja immer so modebewusst, die Anna.“

Ich sah zu Bernhard, der von meinem Modebewusstsein nicht ganz überzeugt zu sein schien, und konnte spüren, wie meine Wangen heiß wurden. Wahrscheinlich hatte ich mich optisch inzwischen meinem roten Schal angepasst. Und Tomatenrot war nun wirklich noch nie en vogue gewesen.

Außerdem konnte es nur einen einzigen Grund geben, warum meine Mutter noch keinen mittelschweren Wutanfall ob des versauten Teppichs und der unterbrochenen Überraschung bekommen hatte: Ich war wie ein blindes Huhn in einen ihrer Verkupplungsversuche gehüpft und befand mich direkt vor einem potentiellen Kandidaten, der mich nun für ein tomatenrotes, einbeiniges Weitspringweltmeisterschaftskänguru mit Tendenz zum Spagatmachen hielt.

Gut gemacht, Anna.

Zum ersten Mal wandte ich meine volle und ungeteilte Aufmerksamkeit Richtung Bernhard – und überlegte, ob er einen zweiten Kandidaten gefressen hatte.

Nein, entschied ich. Bernhard war nicht fett, er war durchtrainiert. So durchtrainiert wie Conan der Barbar. Bernhards Problem war nur, dass er bei 1,69 m breiten Muskeln auch 1,69 m groß war und mir damit genau bis zu den Augenbrauen ging. Allerdings konnte ich mich aufgrund dieser Figur mühelos hinter ihm verstecken. Eine Eigenschaft, die man besonders in peinlichen Momenten nicht außer Acht lassen sollte und die durchaus auf meiner Top-Ten-Liste der potentiellen Eigenschaften meines Traummannes stand.

„Hallo“, grüßte ich, warf einen missmutigen Blick auf die Meute sowie das hängende Banner, welches ein Bild von meiner Schwester und ihrem aktuellen Freund aufgedruckt hatte, und schlüpfte mehr oder weniger elegant aus dem anderen Halbstiefel.

„Ja, wahrlich elegante Schühchen“, kommentierte Bernhard und für einen Moment flammte Hoffnung in mir auf. Sollte Conan etwa Humor besitzen?

Ich blickte auf, doch was ich irrtümlich für einen Charakterfehler gehalten hatte, den meine Mutter nie tolerieren würde, erwies sich als Sarkasmus. Immerhin galt er meiner Mutter.

„Sie ist nicht das Model, das du mir versprochen hast. Eher eine Marilyn Monroe.“ Bernhard grinste und glaubte anscheinend, seine Bemerkung durch dieses Lippenverziehen in einen Spaß für alle zu verwandeln. Hallo? Hier war niemand taub. Ich auch nicht. Hilfesuchend sah ich meine Mutter an, weil ich vor der versammelten Mannschaft plötzlich keinen einzigen Ton mehr herausbekam. Gott, war das peinlich.

„Nein, aber sie ist beweglich!“, meinte meine Mutter hilfsbereit.

„Mama!“, flüsterte ich empört und fragte mich, ob man sich zu Tode schämen konnte. Ich spürte, wie ich noch röter wurde.

„Ist schon gut, Kindchen.“ Sie tätschelte meine Hand. „Berhard ist nur ein wenig nervös, genau wie du.“

Ich? Ich hatte bis vor wenigen Sekunden nicht einmal gewusst, dass Bernhard existierte, geschweige denn, dass ein Job als übellauniger Vorgartenzwerg in unserem Haus zu vergeben war.

„Er ist deine Begleitung für die Party heute Abend.“

„Welche Party heute Abend?“ War ich schwer von Begriff oder hatte ich etwas verpasst? Wieso fand bei uns zu Hause eine Party statt und wieso hatte ich nichts davon gewusst, schließlich wohnte ich hier?!

„Was denkst du, warum wir hier alle stehen und Überraschung schreien?“, meinte meine Mutter.

„Oh“, machte ich. Immer noch komplett verständnislos. „Und warum wusste das jeder außer mir?“

„Weil du ungeschickt und tollpatschig bist und dazu neigst, solche Überraschungen zu ruinieren?!“, schlug meine Mutter laut vor. „Weil du dich entweder verplapperst oder einen Hinweis liegenlässt oder es auf irgendeine andere Weise schaffst, alle Vorbereitungen zu ruinieren?! Erinnerst du dich an den zwanzigsten Geburtstag deiner Schwester oder an die Feier zu ihrer bestandenen Prüfung? Du hast es geschafft, ihr den Eid des Hippokrates kaputt zu machen.“

Aber doch nur, weil jemand – sie – mein Mikrofon nicht ausgemacht hatte, als ich zur Toilette gegangen war! Ich blickte mich um, aber obwohl ich damals trotz der peinlichen Situation alle auf meiner Seite gehabt hatte, widersprach meiner Mutter niemand. Und ausnahmsweise lachte auch keiner. Was die Sache nur noch schlimmer machte. Mitleidige Blicke konnten durchaus körperlich weh tun. Immerhin hatten die Gäste den Anstand, sich dabei langsam wieder in die Löcher zurückzuziehen, aus denen sie gesprungen waren.

„Was für eine Überraschung denn überhaupt?“ Ich versuchte, die Leute, das Banner und die Herzballons, Schilder und Flaggen mit zwei ineinander verschlungenen Ringen zu einem großen Ganzen zusammenzusetzen. Und ich ... mir blieb der Mund offen stehen.

„Nach nur drei Monaten ein Heiratsantrag? DAS wird eine Überraschung!“, platzte es aus mir heraus.

„Oh, eine Überraschung?“, fragte die melodischste Stimme, die ich kannte, aus dem Flur. Wesentlich leiser als ich zuvor und gänzlich ohne Zwischenfälle musste meine Schwester unbemerkt von uns allen das Haus betreten haben. Sekunden später und viel zu früh sah sie ins Wohnzimmer. „Ich liebe Überraschungen!“

Sie erwischte die meisten Gäste beim Versuch, sich hastig zu verstecken. Und da das Licht an war, war die Überraschung augenblicklich sichtbar. Meine Mutter warf mir einen Blick zu, als sei jede dieser Kleinigkeiten meine persönliche Schuld und vor allem absolute Absicht gewesen.

„Überraschung!“, verkündeten die halb sichtbaren Gäste auch gleich deutlich weniger enthusiastisch als beim ersten Mal.

„Oh, wie schön!“ Sabine schlug die Hände vor dem perfekt geschminkten Mund zusammen, als könne sie es kaum fassen, welch ein Aufwand wegen ihr oder wegen irgendetwas, das mit ihr zusammenhing, betrieben wurde.

Waren denn alle anderen wirklich so blind? Dass Sabine genauso eingeweiht gewesen war wie alle anderen – also alle außer mir –, zeigte doch schon ihr Outfit. Es bestand ausnahmsweise nicht aus einer Jeans und einem Arztkittel. Mein Blick wanderte über ihre sorgfältig hochgesteckten blonden Haare, das hübsche helle Kleid und von dort zu den ebenso hübschen und hellen Schühchen. Irgendwie hatte es meine Schwester nicht nur sauber hierher geschafft, sondern auch trocken durch den Regen.

„Ist das für mich?“ Sie deutete auf alles, was sich vor ihr befand, die Gäste eingeschlossen, und errötete. Doch im Gegensatz zu meinem Rot beschränkte sich ihres auf die Wangen und stand ihr ganz ausgezeichnet.

Konnte man Rotwerden vor einem Spiegel üben? Falls ja, musste meine Schwester Stunden vor ihrem Abbild verbracht haben. Ihre Röte war pure Perfektion.

„Sabine“, ihr Freund trat vor und hielt neben seinem Sabine-und-Gregor-Fähnchen einen weiteren Gegenstand in der Hand. Mich ignorierend, schob er sich zwischen meine Schwester und mich und kniete nieder. Alles hielt kollektiv die Luft an. Sogar ich.

Gregor ließ das Schmuckkästchen aufschnappen und dank seiner knienden Position konnte jeder den schicken silbernen Ring sehen, der vermutlich ein Vermögen gekostet hatte. „Willst du meine Frau werden?“

Sabine fächelte sich mit den Händen Luft zu, dabei wuchs ein langsames Strahlen auf ihrem Gesicht. Ich würde jede Wette eingehen, dass sie auch diesen Effekt stundenlang vor einem Spiegel eingeübt hatte.

„Nichts lieber als das!“, hauchte sie laut und vernehmlich. Mit einer Eleganz, die Grace Kelly zu Ehren gereicht hätte, ließ sie sich von Gregor den Ring über den Finger streifen. Er passte wie angegossen und wirkte wie extra für sie gemacht. Wahrscheinlich war er es auch.

„Siehst du?“, zischte mir meine Mutter leise ins Ohr. Laut genug, um auch die restliche Stimmung beinahe abzutöten. „So fängt man sich einen gut aussehenden, netten und vermögenden Mann und perfekten Schwiegersohn.“

„Danke“, meinten Sabine und Gregor unisono, ohne einander aus den Augen zu lassen. Offenbar kümmerte es sie herzlich wenig, dass meine Mutter wirkte wie der Teufel, der gerade zwei Seelen, wenn auch nicht einkassiert, so doch zumindest erfolgreich verkuppelt hatte, um andere direkt in die Hölle des Neides zu führen.

Erst als alles applaudierte, riss ich mich von dieser Vorstellung los und stimmte ein. Schließlich meinte meine Mutter es ja nur gut mit mir. Nur ihr gut war halt nicht meines.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, schob sie mich ein Stückchen vorwärts. „Ihr könnt mir beim Essen helfen, Kinder. Berhard, Anna: Zeit, euch abseits des ganzen Rummels romantisch zu beschnuppern.“

Bevor ich begriff, dass Mama mich nicht nur verkuppeln, sondern auch allein meinem Schicksal überlassen wollte, war sie schon wieder durch die Tür verschwunden. Dabei war es ihr irgendwie gelungen, mein Blind Date ebenfalls in die Küche zu verfrachten.

Verwirrt starrte ich Bernhard an und korrigierte meine Meinung. Ich war nicht nur mit Zwergen-Conan verabredet worden, sondern ich war wahrscheinlich seine letzte Chance auf die große Liebe. Schließlich war er die wandelnde Katastrophe und nicht ich. Und wahrscheinlich war auch genau das der Grund, warum er so übel gelaunt war. Wenn ich schon die letzte Alternative war, konnte es nicht gut um seine Zukunft stehen, oder?

„Also Bernhard, wollen wir?“, sprach meine gute Erziehung und deutete auf die bereitgestellten Teller, die Bestecke und die Tür zum Esszimmer.

„BERhard“, tadelte er, setzte sich aber in Bewegung und nahm einen großen Stapel Teller an sich.

„Wie der Bär?“

„Ihre Mutter hat mir nicht verraten, dass Sie rote Haare haben“, lenkte Berhard ab.

„Habe ich aber.“ Ich blies eine Strähne aus meinem Gesicht und trat durch die Tür in den liebevoll gestalteten Raum. Genaugenommen waren die Haare das einzige an mir, das ich wirklich mochte. Schöne dicke Haare mit widerspenstigen Locken. Ein wenig beleidigt stellte ich die großen Gefäße mit dem Besteck ab.

„Ich mag Blond“, meinte mein Blind Date. Aber seine Stimme klang so neutral, dass ich es ihm einfach nicht übelnehmen konnte.

„Und ich Männer mit einem echten Namen, Bärhard.“

Wir sahen uns an. Und tatsächlich. Seine Mundwinkel zuckten. Dann lachte er. „Sie haben Humor.“

„Ja, nicht wahr?“ Jetzt, wo nicht mehr dreißig Leute um mich herumstanden und meine Mum auf einen Fehler von mir lauerte, konnte ich sogar wieder schlagfertig sein – oder überhaupt sprechen.

Wir musterten uns. Und obwohl mir nicht wirklich gefiel, was ich sah, beschloss ich, es auf einen zweiten Eindruck ankommen zu lassen. Jeder hatte eine Chance verdient. Schließlich konnten nicht alle Männer volles Haar haben. Oder überhaupt Haare. Also genug Haare für den ganzen Kopf.

Ich schniefte leicht, als mein Verstand wieder einsetzte und meine Erziehung verdrängte. Was dachte ich da überhaupt? Die Frisur, wenn man sie denn so nennen wollte, war fürchterlich und auf keinen Fall einen zweiten Eindruck wert. Im besten Fall einen Mach2-Rasierapparat. So etwas hatte ich das letzte Mal bei Herrn Jobert gesehen. Damals war ich vierzehn gewesen und Herr Jobert, seines Zeichens Lateinlehrer, stand kurz vor der Pensionierung. Und selbst da war es schon absolut unmöglich gewesen, seine Seitenhaare über die Glatze auf dem Oberkopf zu kämmen.

„Wäre es nicht einfacher, die Haare kurz zu tragen, oder komplett abrasiert als echte Glatze?“, erkundigte sich eine Stimme.

Einen Moment lang wunderte ich mich, wer das gesagt hatte. Doch erst beim entsetzten „Anna“ meiner Mutter wurde mir klar, dass die Worte aus meinem Mund gekommen waren. Mit einem anklagenden Ausdruck bog die Frau, die mich geboren hatte, um die Ecke und musterte mich, bis ich meinen Blick abwandte und lieber die Innendekoration, bestehend aus 333 liebevoll arrangierten Putten, betrachtete. Erst als ich in ihren Augen demütig genug wirkte, wandte sie sich Berhard zu und nutzte die Flasche und die beiden Gläser, die sie trug, um ihm eins ihrer speziellen Schnäpschen für besondere Anlässe zu kredenzen. Sekunden später stellte meine Mutter ihre Fähigkeit unter Beweis, jedwede Handlung mit einem stummen Vorwurf zu versehen. Zum Beispiel Schnäpschen Einschütten. War die Handlung bei Berhard noch fröhlich und schwungvoll gewesen, schwang bei meiner Flüssigkeit eindeutig eine Botschaft mit. Eine Warnung, mich ab sofort vernünftig zu benehmen.

Dabei konnte ich nichts dafür. Wirklich nicht. Aus irgendeinem Grund trug ich als einzige Person in der Familie ein Ehrlichkeitsgen in mir. Hatte ich von meinem Vater geerbt. Behauptete zumindest meine Mutter. Mein Vater konnte sich nicht mehr gegen diese Verleumdung wehren, er hatte die Familie verlassen, als ich zehn Jahre alt war. Wahrscheinlich, weil außer ihm und mir niemand ehrlich war.

„Nein, nein, ich denke, bei meiner Kopfform wäre das keine Option. Ich würde albern aussehen. Wie Bruce Willis.“ Berhard trank seinen Schnaps auf Ex und verzog keine Miene. Dann begann er zu strahlen. „Sehr lecker!“, lobte er.

„Ich kann jetzt nicht behaupten, dass Bruce Willis albern aussieht“, murmelte ich ein wenig kleinlaut. Immerhin war meine Mutter noch im Raum. Obwohl sie dabei war, ihre engelhaften Nippesfigürchen auf dem Sideboard zu rearrangieren, und sich dabei langsam gen Tür vorgearbeitet hatte, war ihre teuflische Präsenz hinter mir noch deutlich zu spüren.

Ich nippte an dem Getränk und verschluckte mich beinahe augenblicklich. Geschmack und Konsistenz erinnerten eher an ein Beizmittel als an einen Schnaps. Ich stellte das Pinnchen auf den Tisch und versuchte, ein Husten zu unterdrücken.

„Was machen Sie ansonsten den lieben langen Tag, wenn Sie gerade nicht auf den Haaren oder dem Namen anderer Leute herumhacken, meine rothaarige Schöne?“ Berhard zwinkerte meiner Mutter zu und mir wurde spontan übel. Er war hier, weil er sie attraktiv fand. Und mit ihr flirtete.

Mama kicherte wie ein Schulmädchen, schien das Ganze aber für einen wahnsinnig lustigen Scherz zu halten.

„Ach, Berhard.“

Mein Magen vollführte eine Kapriole und nur mühsam konnte ich ein Würgen zurückhalten, als mir meine Fantasie einen bärartigen Zwergen-Conan mit Halbglatze als neuen Stiefvater vorgaukelte.

„Lesen“, presste ich trotzdem zwischen zusammengekniffenen Lippen hervor.

„Sie studiert!“ In der Stimme meiner Mutter schwang so etwas wie schlecht gespielter Stolz mit. Sie musste kurz den Raum verlassen haben, denn auf einmal erfüllte Essensgeruch die Luft und die ersten beiden Schüsseln wurden neben mir auf den Tisch gestellt. Frikadellen und Kartoffeln.

„Ah, interessant“, behauptete Berhard.

Ich hielt die Luft an. Jetzt würden all die unangenehmen Fragen kommen. Sie kamen immer.

Zu meiner Überraschung beugte sich Berhard vor, nahm eine Gabel, piekste in eine Frikadelle und biss ab, ohne Knigge zu Rate zu ziehen. „Ich bin Immobilienmakler. Selbständig.“

Erleichtert atmete ich aus. Keine Fragen an mich. Danke, lieber Gott!, dachte ich und dankte ihm Sekunden später auch für meine Fähigkeit, Redende auszublenden. Sie hatte mir nicht nur an der Universität schon manchen guten Dienst erwiesen, sondern kam mir auch hier zugute. Dumdidum ...

Eine halbe Stunde später, alle anderen unterhielten sich gut oder tanzten im Wohnzimmer, redete Berhard immer noch auf mich ein und verhinderte, dass ich vom Esszimmer zur Party gelangte. Meine beste Freundin Nina war inzwischen schon zweimal vorbeigeschlendert, hatte mich aber nicht loseisen können, und selbst Sabine sah aus, als hätte sie Mitleid mit mir.

„Großartig“, murmelte ich, als sie mir mit einem aufbauenden Lächeln ein volles Pinnchen aus der schier unerschöpflichen Schatzkiste meiner Mutter in die Hand drückte und gleich wieder verschwand, um mich meinem Schicksal zu überlassen.

Inzwischen fragte ich mich, ob der Kerl auch einen „Aus“-Knopf hatte. Doch anscheinend hatte er mein beharrliches Schweigen als intensives Zuhören gedeutet und war nicht mehr zu bremsen.

Und natürlich war ich viel zu gut erzogen, um ihn zu korrigieren. Stattdessen meinte ich: „Tja, jetzt weiß ich mehr über Häuser und den deutschen Immobilienmarkt, als ich je hatte erfahren wollen.“

„Ist alles immens wichtig zu wissen.“

„Ja, für einen Immobilienmakler.“ War ich aber nicht. Schon vergessen? Hallo?

„Bietet ihr auch Praktika an?“, erkundigte sich meine Mutter, die sich mit dem Nachtisch zu uns gesellt hatte. Natürlich würde sie von dem ganzen Süßkram nicht ein einziges Gramm zunehmen, Berhard würde es sich locker abtrainieren – und ich? Ich würde meine Süßkramgrammzahl zunehmen und per Gedankenübertragung oder geheimem Vodoozauber die von Mama und Berhard gleich dazu.

„Könnte Anna nicht bei dir ein Praktikum machen?“ „Ein Praktikum?“ Ich gab mir keine Mühe, mein Entsetzen zu verbergen. Das ging nun wirklich zu weit.

Berhard räusperte sich, peinlich berührt. Offensichtlich hatte dieses Mal meine Mutter in ein Fettnäpfchen gegriffen. Geschickt umschiffte sie die Hürde. „Unbezahlt natürlich.“

„Natürlich.“ Berhard rang sich ein Lächeln ab. „Aber wir sind ein sehr kleines Büro.“

„Umso besser, dann ist es viel intimer.“ Meine Mutter zwinkerte mir zu, um mir zu symbolisieren, dass sie den selbständigen und gut verdienenden Fisch am Haken hatte. Wenn ich einmal in seinem Büro platziert war, würde selbst ich es nicht mehr schaffen, die Sache zu vergeigen, oder?

Nina, die abermals an mir vorüberschlenderte, prostete mir mit ihrem Sekt zu. Für jeden Außenstehenden eine höfliche, eventuell sogar zustimmende Geste, für mich ihre Art des unauffälligeren Augenverdrehens.

Ich habe keine Zeit für ein Praktikum, ich habe Vorlesungen und Seminare“, protestierte ich und warf Nina einen hilfesuchenden Blick zu. Vergeblich. Um mir offen beizuspringen, hatte sie viel zu viel Respekt vor meiner Mutter.

„Dummerchen!“ Wieder lächelte meine Mutter Berhard gewinnend an. „Manchmal ist sie wirklich naiv und süß.“

„Hallo, die naive Süße kann dich hören“, protestierte ich, hätte aber genauso gut mit der Wand reden können. Weder meine Mutter noch mein vermeintlicher Verehrer in spe ließen sich dazu herab, mich zu registrieren.

„Ich meinte natürlich erst in zwei Wochen, wenn die Semesterferien beginnen. Da hat sie drei Monate frei.“

„Ich schreibe in der Zeit Hausarbeiten und bereite mich auf Klausuren vor!“, meinte ich, erhielt aber wieder keine Reaktion.

Niedergeschlagen betrachtete ich das Blickduell, welches sich in bester High-Noon-Manier direkt vor mir abspielte. Clint Eastwood war ein Weichei gegen meine Mum, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte. Heute war es offensichtlich der Fakt, dass Berhard und ich gut zusammenpassen würden. Naja, zumindest dass Berhard einen guten Schwiegersohn abgäbe.

Ich räusperte mich, bis ich endlich die Aufmerksamkeit der beiden wieder auf mich gelenkt hatte. „Ich WILL kein Praktikum machen!“

„Aber Schatz ...“

„Komm mir nicht mit aber Schatz ...“

Zu meiner Überraschung gab sich meine Mutter geschlagen. Auch wenn ihr Blick mir eine Standpauke versprach. Später.

„Gibt es nicht noch ein Dessert?“, erkundigte ich mich scheinheilig mit Blick auf das leergefegte Buffet. Wenn sie sich vor dem Conan-Gartenzwerg nicht blamieren wollte, würde sie spätestens jetzt in dieser Richtung improvisieren.

„Natürlich!“ Sie lächelte mich mindestens genauso scheinheilig an. Meine Mutter konnte nichts aus der Ruhe bringen. Sie hatte immer einen Plan B.

Meistens sogar noch einen Plan C und für die ganz harten Fälle einen Plan D. Hatte bislang auch immer funktioniert. Außer bei mir. Ich schätzte, sie war inzwischen schon einmal das ganze Alphabet durch und wieder irgendwo bei B angelangt.

Trotzdem behielt ich mein Lächeln tapfer bei, bis sie den Raum verlassen hatte, erst dann wandte ich mich wieder Berhard zu.

„Danke für die Praktikums-Rettung“, meinte er und griff nach meiner Hand. „Sie sind ganz in Ordnung.“

„Baggern Sie jetzt mich an oder meine Mutter?“ Ich befreite meine Finger aus seinem Griff. Trotz des flauen Gefühls in der Magengrube konnte ich ihm nicht ernsthaft böse sein. Nur ein Depp hätte versucht, ihn mit mir zu verkuppeln, ohne zu bemerken, wer wirklich das Objekt seiner Begierde war. Herzlich willkommen in meiner Welt.

„Ihre Mutter ist eine Klassefrau.“

„Ja, ist sie.“

„Eine tolle Figur.“

„Mm ...“ Meine Mutter und meine Schwester hatten die tolle Figur, ich hatte zwei tolle Figuren. Ich warf einen Blick in die Mitte des Raumes, wo sich eine der besagten Figuren eben aufbaute, um mit ihrem Verlobten zu tanzen. Sie wirkte so unglaublich glücklich, dass ich sie einen Moment lang ernsthaft beneidete. Während sie sich eine gut aussehende, reiche und vor allem nette Sahneschnitte geangelt hatte, blieb mir der Trostpreis als Beschäftigungstherapie.

„Wissen Sie, ich habe es auch nur mit Sport zu einer Traumfigur geschafft. Vorher war ich ein wenig ... füllig.“ Offenbar war Berhard meinem Blick gefolgt und hatte ihn falsch interpretiert.

Hallo? Hatte er das wirklich gesagt, oder hatte ich es mir nur eingebildet?

„Ich bin nicht füllig!“, behauptete ich betroffen. Hatte jemals jemand zu Rubens Frauen gesagt, sie seien füllig? Oder die Venus von Milo wegen ihrer breiten Hüften geschmäht? Marilyn Monroe war doch wohl immer noch erotischer als Kate Moss. „Ich bin gut proportioniert.“

Berhard zuckte mit den Achseln und schob mir eine Visitenkarte zu. Anscheinend war er Hobbyanwerber in seinem Fitnessclub.

„Das ist die Karte von meinem Personal Trainer, der hat bislang noch jeden auf Vordermann gebracht.“

Ja, so weit, bis man einen Erbsenkopf auf einem zu breiten Muskelkörper hatte, dachte ich trotzig.

„Anna!“

Trotz des empörten Ausrufs meiner Mutter und der plötzlichen Aufmerksamkeit aller Anwesenden in Hörweite benötigte ich einige Sekunden, um den bösen Blick Berhards auf mich zu beziehen. Und auf die Worte, die wie von selbst meinen Mund verlassen hatten.

„Das habe ich nicht laut gesagt, oder?“

Doch, natürlich hatte ich. Perfekt. So viel zu gut erzogen. Aber immerhin ehrlich. Mussten die Gene sein.

„Ich denke, ich lasse die Damen jetzt allein und verabschiede mich.“ Er tippte sich an einen imaginären Hut und deutete eine Verbeugung in Richtung der beiden frisch Verlobten an. „Herzlichen Glückwunsch zur Verlobung und noch eine schöne Feier.“

„Auf Wiedersehen“, murmelte ich, kreuzte aber die Finger hinter meinem Rücken, in der Hoffnung, dass Gott meinen Lügenwunsch als Höflichkeit verstand und nicht als echte Option.

Die Konversationen um mich herum begannen erneut, als Berhard das Zimmer verließ, leiser als zuvor, und ließen mich außen vor. Meine Mutter hetzte hinter ihrem Wunschschwiegersohn – Slash – Freund – Slash – Verehrer hinterher.

„Entschuldigung, Berhard. Ich weiß wirklich nicht, was manchmal in meine Tochter fährt“, flötete meine Mutter laut genug, um die Musik und jedes Gespräch der Feiernden zu übertönen.

„Dabei habe ich überhaupt nicht gesagt, dass irgendetwas mit ihrer Figur nicht stimmt. Ich habe nur gesagt, dass ich füllig war, bevor ich mit dem Training angefangen habe.“ Er klang ziemlich verschnupft.

Und ... Oh mein Gott! Er hatte Recht. Mit keinem Wort hatte er etwas von mir gesagt. Auch wenn man es so auslegen konnte. Also ... ich es so auslegen konnte ... also ... ach verdammt!

„Sie ist sehr empfindlich, was ihre Figur angeht?!“

„Das wird es sein“, stimmte meine Mutter versöhnlich zu.

Die Stimmen wurden leiser, während meine Mutter ihren jungen, sportlichen Barbaren zur Tür begleitete, blieben aber gut hörbar.

„Sie muss wirklich mal Sport machen. Das macht ausgeglichener.“ Berhard klang besorgt und hilfsbereit.

„Das sage ich ihr ständig. Wirklich. Mindestens einmal am Tag“, behauptete die Frau, die mich erzogen hatte und sich offensichtlich – und sehr laut – gerade meinetwegen in Grund und Boden schämte.

„Und wenn sie nicht zufrieden ist, kann sie das doch ganz leicht ändern und weniger essen. Obwohl ich Marilyn-Monroe-Figuren eigentlich sehr sexy finde.“

„Wem sagst du das?“

„Oder die Haarfarbe ändern. Obwohl es bei ihr wirklich sehr hübsch aussieht. Passt zu ihr.“

„Mit roten Haaren hat man es eben nicht leicht.“

Ich konnte hören, wie sie sich mit einem Bussi voneinander verabschiedeten. Einen auf die rechte Wange, einen auf die linke Wange. Und weil Berhard so ein Netter war, gleich noch einmal.

Nina drückte mir ein weiteres von Mums Schnäpschen in die Hand. „Du siehst so aus, als wenn du es gebrauchen könntest.“

Ich schniefte leise ob meines schlechten Gewissens – Berhard war doch gar kein so Schlechter gewesen ... stand auf Marilyn-Monroe-Körper und fand meine roten Haare hübsch –, trank das Gebräu aber auf Ex. Tatsächlich ging es mir hinterher deutlich besser. So viel besser, dass ich mir noch einmal einschenkte.

Als meine Mutter zurückkam und mich mit einem bösen Blick bedachte, traute ich mich zu fragen: „Wer von uns beiden hat eigentlich die Torschlusspanik?“

Sie zuckte resigniert mit den Schultern. Eine Geste, die bei ihr seltsam elegant und merkwürdig traurig wirkte. „Ach Schatz, ich will doch nur dein Bestes.“

Für einige Sekunden hatte ich das Bedürfnis, sie zu drücken, über ihre silbernen Locken zu streichen und sie zu beruhigen. Nur Ninas Anwesenheit war es zu verdanken, dass ich es nicht tat, sondern erwachsen und selbständig blieb, meiner Meinung treu. „Das weiß ich doch. Aber dein Bestes ist eben nicht mein Bestes.“

„Auf wen wartest du denn? Den Traumprinzen?“

Ja. Ja, eigentlich war es genau das.

Sie tätschelte mir die Wange, als habe sie meine Gedanken gelesen, und untergrub mein tapferes Erwachsensein. „Ich verrate dir ein Geheimnis: Es gibt keinen.“

„Es gibt keinen, oder es gibt keinen für mich?“ Ich kniff die Lippen zusammen und bemühte mich, nicht kindisch aufzustampfen.

Sie blieb mir eine Antwort schuldig und blickte traurig Richtung Gregor und Sabine. Beide der lebende Beweis dafür, dass es für manche in der Familie einen Traumprinzen gab. Nach nur drei Monaten Beziehung.

„Mama, ich weiß jetzt mehr über den deutschen Immobilienmarkt als über Literatur“, lenkte ich ab. Ich musste sie einfach dazu bekommen, mit diesen albernen Verkupplungsaktionen aufzuhören. Denn sie trugen zu einem großen Teil dazu bei, dass mich alle bemitleideten und für beziehungsunfähig hielten. Selbst ich hatte mich bereits einige Male bei solchen Gedanken erwischt.

Doch statt Einsicht zu zeigen, ging meine Mutter auf Konfrontationskurs. „Aber doch nur, weil du nicht viel über Literatur weißt.“

Nina hakte sich bei einer sich nähernden Nachbarin unter und manövrierte sie unauffällig von uns fort. Dabei sah sie so aus, als wünsche sie nichts sehnlicher, als nicht Zeuge des Streits zu sein.

„Ich studiere das!“ Jetzt stampfte ich doch auf.

„Ja schon ... aber doch nicht ernsthaft.“

„Natürlich ernsthaft.“

„Seit neun Jahren?“ Meine Mutter betrachtete mich mitleidig. Anscheinend glaubte sie mir kein Wort. Oder befürchtete, dass ich es selbst glaubte.

Ich zuckte mit den Achseln. Es gab halt verdammt viel Literatur.

„Schätzchen, wie soll je etwas aus dir werden?“, fragte sie mich und ihre Stimme klang so mitfühlend, dass sie mehr weh tat als ihr Blick zuvor. „Deine einzige Chance ist es doch, einen Mann wie Berhard zu finden. Selbständig, gut aussehend, einigermaßen vermögend und bereit, über dein Äußeres hinwegzusehen.“

Mir blieb der Mund offen stehen. „Über mein Äußeres hinwegzusehen?“

Meine Mutter überhörte die Bemerkung und hakte an meinem wunden Punkt nach. Korrektur: an einem weiteren meiner wunden Punkte. „Was willst du werden?“

„Reich und berühmt“, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.

„Hat bisher noch nicht geklappt und wird auch nie klappen. Was ist Plan B?“

Ich seufzte. Ab jetzt konnte man den Dialog mitschneiden und für später aufheben. Wir hatten ihn alle halbe Jahr. Eigentlich immer zu Familienfeiern oder zu besonders peinlichen Ereignissen.

„Bin ich zu spät oder muss sie noch antworten?“, erkundigte sich eine freundliche Stimme hinter mir.

Jaaa ... genau solche peinlichen Momente meinte ich. Ich drehte mich zu meiner großen Schwester um. Dass Sabine mich um einen ganzen Kopf überragte, trotzdem nur so viel wog wie ich und noch dazu einen Traumjob hatte, machte meine Laune nicht besser.

„Du siehst heute bezaubernd aus.“ Ich konnte das Strahlen meiner Mutter körperlich in meinem Rücken spüren. Es versetzte mir einen tiefen Stich.

„Ich sehe doch immer bezaubernd aus“, hauchte meine bezaubernde Schwester und beugte sich vor, um an mir vorbei unserer Mutter einen Wangenkuss zu geben. Sekunden später bekam ich auch einen.

„Du siehst heute auch toll aus, Mama.“

Einen Moment lang bewunderte Sabine offensichtlich die lässig hochgesteckte silberne Masse und das elegante Makeup mit der Silbernote, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit mir zu. „Allerdings kann man das von dir heute nicht behaupten.“ Sie musterte mich so besorgt, dass ich schon wieder ein schlechtes Gewissen bekam. „Was ist passiert?“

„Danke schön auch.“ Ich besann mich auf meine Höflichkeit und räusperte mich. „Herzlichen Glückwunsch zur Verlobung.“

„Danke!“ Sie lächelte ihr perfektes Lächeln, wirkte aber immer noch besorgt. „Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“

Ich nickte stumm und hielt mich in meinen Augen wirklich tapfer. Natürlich sah ich im Gegensatz zu ihr und meiner Mutter nicht gut aus. Sah ich natürlich nie.

Endlich beruhigt drehte sich Sabine zu unserer Mutter. „Ihr seid schon bei der Inquisition?“

„Ja.“

„Oh weh.“ Kurz wirkte Sabine, als wolle sie sich am liebsten wieder aus dem Staub machen, dann warf sie mir einen unglücklichen Blick zu, der ihre innere Zerrissenheit zeigte. Sie war meine Schwester – aber auch Tochter meiner Mutter. Und der würde sie auf gar keinen Fall in den Rücken fallen. So etwas tat man als perfekter Mensch und noch perfektere Tochter einfach nicht.

„Berhard ist so ein toller Mann. Ihr würdet so gut zusammenpassen“, behauptete meine Mutter.

„Er machte einen netten Eindruck“, stimmte meine Schwester um des lieben Friedens willen zu.

„Er möchte eine elfenhafte Blondine zur Freundin haben.“ Unwillkürlich fuhr ich mir mit den Fingern durch meine dicken roten Locken, die Dank meines Regenspazierganges leicht verfilzt waren.

„Wer möchte das nicht?“, meinte Sabine nachlässig, ohne nachzudenken, und lächelte Gregor zu. Und obwohl er sich auf der anderen Seite des Raumes befand und dreißig Leute zwischen ihnen standen, bemerkte er ihren Blick und lächelte zurück.

„Mein Traummann möchte das nicht!“ Wieder widerstand ich dem Drang, trotzig aufzustampfen.

„Kind, für deinen Traummann bist du schon zu alt.“ Meine Mutter sah mich unerbittlich an. Oh wow . „Du musst realistisch bleiben.“

„Und einen vierzigjährigen dicken Immobilienmakler mit schütterem Haar und ungepflegten Zähnen nehmen?“ Ich schüttelte mich innerlich bei dieser Überlegung. Da würde ich doch lieber für immer und ewig Single bleiben und bis an mein Lebensende weiter bei Mama wohnen.

„Ach komm, so schlimm ist er nicht. Er verdient sein eigenes Geld, ist charmant und nett ...“, versuchte Sabine zu vermitteln.

„... und hat sehr konkrete Vorstellungen von seiner Traumfrau“, ergänzte ich.

„Es ist nicht falsch, im Leben zu wissen, was man möchte“, meinte meine Mutter.

„Und du weißt es noch nicht so genau, oder?!“, ergänzte meine Schwester hilfsbereit und ohne jeden Vorwurf in meine Richtung. „Hat sich inzwischen etwas ergeben?“

Ich funkelte meine Schwester an. Sie schüttelte ihr goldiges Haar beziehungsweise die Strähnen, die kunstvoll aus ihrer Hochsteckfrisur hingen, und warf mir ihr professionellstes Ich-bin-Ärztin-Lächeln zu.

„Ich weiß immerhin genau, was ich NICHT möchte.“

„Und ein wenig zu viel Körperfett hast du wirklich.“ Wieder glitt ihr Blick über mich und meine Figur und wieder wirkte sie extrem besorgt. Ein wenig, als berechne sie bereits geistig meine geschmälerte Lebenserwartung.

„Ich bin NICHT moppelig!“

„Wann warst du das letzte Mal auf der Waage? Du musst wirklich mehr auf dich und deine Gesundheit achten. So ist das nicht gesund.“ Der leise und vor allem besorgte Ärztinnen-Tadel in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

„Mein BMI ist vollkommen in Ordnung.“

„Das Spektrum ist bekanntlich groß und in der Mitte lebt man am gesündesten, und wenn man am oberen Ende entlangschrappt ...“

„Dünne Schnepfe“, murmelte ich.

„Der BMI ist nicht bestechlich oder verhandelbar, alles wissenschaftlich bewiesen“, lächelte sie, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Etwas, das ich an ihr stets bewundert hatte und das mich gleichzeitig immer wieder in den Wahnsinn trieb.

„Kinder.“ Meine Mutter klatschte in die Hände und wir unterbrachen unsere freundschaftliche Diskussion, die wir schon seit fast zwanzig Jahren miteinander führten. Als perfekter Mensch war es anscheinend vollkommen unverständlich, dass andere Menschen eben nicht von Natur aus perfekt waren und es vielleicht auch niemals sein würden.

„Ihr seid beide in Ordnung, wie ihr seid. Hauptsache gesund“, beschwichtigte meine Mutter. Dann wandte sie sich mehr zu Sabine. „Wie war denn dein Tag sonst so?“

„Ich habe heute drei OPs gehabt, eine durfte ich sogar durchgehend leiten.“

„Wow.“ Unsere Mutter wirkte ehrfürchtig und schien um ein oder zwei Zentimeter zu wachsen.

Ja, wow. Ich hatte eine meiner Hausarbeiten wiederbekommen, mit einer Eins, und eine Klausur mit einer Zwei plus. Sehnsüchtig dachte ich an die beiden Dokumente in meiner Tasche.

„Verdammt!“, fluchte ich herzhaft. Der Regen! Ohne auf meine Mutter oder Sabine zu achten, drehte ich mich auf dem Absatz um und hetzte zur Garderobe. Meine Tasche lag achtlos neben zahlreichen Schuhen auf dem Boden und eine hastige Untersuchung des Inhaltes beförderte zahlreiche feuchte Unterlagen und mein tropfendes, heiß geliebtes italienisches Vokabelbuch ans Tageslicht. „Verflixt“, fluchte ich abermals. Natürlich waren auch die wichtigen Dokumente pitschenass geworden und die Seiten klebten zusammen. Die mit Rotstift geschriebenen Notizen am Rand der Klausur waren verlaufen.

„So typisch“, murmelte ich und schluckte heftig an der Enttäuschung. Dieses Mal über mich selbst.

„Was ist das?“, meine Schwester kniete sich neben mich und betrachtete das Desaster.

„Eine Klausur.“

Sie verdrehte die Augen, versorgte mich aber augenblicklich mit Taschentüchern und Weisheiten. „So etwas tut man in eine Klarsichthülle.“

Klar, in eine Klarsichthülle. Wie das gesamte Leben meiner perfekten Schwester. Das gesamte perfekte Leben in einer perfekten Klarsichthülle. Wenn ich ein perfektes Leben hätte, würde ich es auch in eine Hülle stecken, dachte ich und musste mir eingestehen, dass sich das bei meinem Leben wohl kaum jemals lohnen würde. Der Gedanke stimmte mich nur ein bisschen traurig. Hauptsächlich machte er mich wütend.

„Und wenn man keine hat?“

„Man hat immer eine. Und man ist organisiert.“ Sie tupfte wie wild auf der Seite herum, aber es gelang ihr im Gegensatz zu mir, die mit Rotstift geschriebenen Anmerkungen nicht zu verwischen.

„Ja, man. Aber Anna doch nicht!“, meinte meine Mutter.

Sie kicherte, als hätte sie gerade einen tollen Witz gerissen. Meine Schwester schenkte mir ein mitleidiges Lächeln über ihr Tupfen hinweg. Es war schlimmer als jeder Kommentar meiner Mutter. Ich zuckte zusammen.

„Leg sie einfach auf die Heizung und hoffe, dass sie nicht zusammenkleben, wenn sie wieder trocken sind“, schlug eine beherzte Stimme vor.

Ich schluckte die Tränen runter. „Danke, Nina!“

Sie reichte mir ihre Hand und half mir auf die Beine. Ungefragt drückte sie mir einen weiteren Schnaps in die Hand. Er schmeckte nach Himbeere und das war mit Sicherheit eine Geschmacksrichtung, die weder der erste, noch der zweite oder der dritte gehabt hatten. War aber lecker.

Sabine legte die zusammengepappten Seiten auf die eine Heizung, die von ihr geretteten ordentlich nebeneinander auf die zweite Heizung.

„Was ist denn hier los?“ Sabines Freundin Hagar bog neugierig um die Ecke und bezog bei uns Stellung.

„Nichts!“, fauchte ich. War ja klar, dass die zu meinem Glück nicht fehlen durfte.

„Ach, Anna hat nur ihre Unterlagen dem Regen ausgesetzt“, meinte meine Mutter nonchalant, als würde sie über das Wetter reden. Tat sie irgendwie ja auch.

„Wichtige?“, erkundigte sich die hagere Nervensäge mit einem Ausdruck, den nur eine perfekte und liebenswerte Blondine wie meine Schwester als unschuldig bezeichnen würde.

„Nein, ich mache immer nur einen Aufstand wegen unwichtiger Unterlagen“, behauptete ich und wünschte mir, genau diese Art von Schlagfertigkeit in jeder Lebenslage zu besitzen. Aber genau hier war meine Belastbarkeitsgrenze erreicht.

Deswegen beschränkte ich mich darauf, Hagar wütend anzufunkeln.

Sie lächelte zurück. Sanft. Ein absolut falscher Ausdruck für ihr Gesicht. Doch weder Mama noch Sabine bemerkten es. Anscheinend hielten sie Hagars Lächeln für echtes Mitgefühl oder Bedauern. Ha!

„Naja ... solange du deine bestandenen Kurs- und Klausurscheine alle vorlegen kannst, steht ja deiner baldigen Prüfung nichts im Wege, oder?“, meinte sie und bewies damit nicht nur ein erstaunlich mieses Taktgefühl, sondern auch, dass Sabine sie in mehr von meinem privaten Kram einweihte, als mir lieb war.

Ich drehte mich zu ihr um. Sie zuckte mit den Schultern. „Ach komm, als große Schwester darf man doch mal stolz sein?“ Sie deutete auf die Unterlagen. „Es fehlt doch in Wirklichkeit nur noch eine einzige Übersetzungsklausur, damit du dich zur Endprüfung anmelden kannst, oder? Das ist ein Grund, sich zu freuen! Du bist bald ein Magister!“ Sie strahlte mich an und für einen Moment fühlte ich mich wirklich wie etwas Besonderes. So musste sich Sabine den ganzen Tag lang fühlen.

„Mmm ...“, machte ich. Ein Laut, den man als Zustimmung oder Ablehnung interpretieren konnte – so konnte ich später das eine oder andere vielleicht doch noch leugnen.

„Ich habe nämlich neulich mit Gregor darüber gesprochen und der hat sich schlau gemacht. Wusstest du, dass du noch nach der Studienordnung von 2004 studierst?“ Sabine lächelte immer noch, als sei sie für den Friedensnobelpreis nominiert worden. Dabei hätte ich diesen Preis wohl eher für mein derzeitiges Ruhigbleiben und meinen halbwegs lässigen Gesichtsausdruck verdient.

Danke auch, Gregor. Dabei war er doch bislang mein liebster Lieblingsschwager gewesen. Geistig verdrehte ich die Augen.

„Ich bin so stolz auf dich“, behauptete Sabine und umarmte mich spontan. Eine Geste, die mich vor Scham beinahe im Boden versinken ließ. Vor allem, weil ich manchmal so gemeine Gedanken hatte ... siehe Friedensnobelpreis.

„Was ist das denn für eine Übersetzung? Welche Sprache?“ Zielstrebig wie eine Hexe und unaufhaltsam wie eine Naturkatastrophe hatte meine Mutter genau die Frage gestellt, vor der ich mich gefürchtet hatte.

„Französisch-Deutsch“, murmelte ich resigniert.

Eine sprachlose Sekunde lang starrten alle das vom langjährigen Lernen abgenutzte Italienischbuch an, dann gab es kein Halten mehr.

Das Lachen von meiner Mutter und Hagar verfolgte mich ebenso wie der entgeisterte Blick meiner Schwester, bis ich endlich in meinem Zimmer war und eine Tür zwischen mich und den Rest der Welt gebracht hatte.

ZUKUNFTSPLÄNE

Meine beste Freundin sah angespannt zu, wie ich bemüht elegant und ziemlich angetrunken zu meinem kleinen Sofa trippelte. Dabei sah ich vermutlich weniger aus wie Grace Kelly als vielmehr wie eine watschelnde Ente, zumindest bemerkte ich, wie Ninas Augenbrauen langsam nach oben wanderten. Schließlich war ihre Miene so vorwurfsvoll, dass ich sogar meine erste Einschätzung von mir selbst noch einmal nach unten korrigierte: Da sie wegen meines aktuellen Zustandes aussah wie die vorwurfsvolle Miss Piggy, musste ich wohl Kermit der Frosch sein.

Bei dem Gedanken wuchs der Kloß in meinem Hals noch ein wenig mehr an und schaffte es, schwerer und kälter zu werden. Weil Kermit der Frosch bei all seinen Fehlern dünn war – und vor allem liebenswert.

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass das leise, kreuzunglückliche Schluchzen mein eigenes war. Schlagartig zog es mir die Beine weg. Zum Glück gelang es mir, auf der weichen Sitzgelegenheit zu landen. Leider seitenverkehrt und mit dem Kopf voran. Sofort nutzte ich die Gelegenheit, mein Gesicht in den Kissen zu vergraben und herzhaft zu schniefen. Die Welt war einfach ungerecht, niemand mochte moppelige rothaarige Frauen mit einem Hang zur Schusseligkeit.

„Sind wir jetzt nicht ein bisschen zu theatralisch?“ Nina schob meine Hüfte ein wenig zur Seite und setzte sich neben meinen ausgestreckten Körper, um tröstend meine Schulter zu tätscheln. „Es war doch nur eine Verlobung, keine Beerdigung.“

Ich schniefte noch ein wenig lauter, weil es doch auf dasselbe hinauslief. Nämlich auf: „Bald ist sie weg. Und sie ist so ... nett und schön und erfolgreich und organisiert und verliebt und überhaupt ... ich hab sie so lieb.“

Ich merkte, dass ich meine Gedanken laut ausgesprochen hatte, sah auf und versuchte, die Tränen aus meinen Augen fortzublinzeln. Mit dem Ergebnis, dass ich mich wie eine kurzsichtige Eule fühlte und noch weniger sah.

„Ich hab sie so lieb“, wiederholte ich nachdenklich. Wieder schossen mir Tränen in die Augen. Dieses Mal, weil ich auch diese Tatsache ins Negative ziehen konnte, da meine Gefühle eben nicht nur in diese Richtung tickten.

„Und ich bin missgünstig und neidisch!“, beschloss ich deswegen.

„Nein!“ Ninas Klopfen wurde resoluter. „Du hast einfach nur Pech.“

„Mit Pech hat das nicht viel zu tun“, konterte ich, überlegte aber einen Moment lang ernsthaft, ob es vielleicht doch als Pech gelten konnte, überhaupt als ich geboren zu werden.

„Der richtige Mann kommt schon noch“, tröstete Nina, weiterhin klopfend. Allerdings riet sie in die komplett falsche Richtung. Schließlich war ich doch wütend auf mich, weil ich weder so war wie meine Schwester, noch meiner Schwester gönnte, so zu sein. So perfekt. Und nicht so missgünstig wie ich.

„Ich will keinen Mann“, protestierte ich unter Ninas langsam unangenehm werdendem linkischen Klopfen und wusste, dass ich nicht die Wahrheit sagte. Schon wieder. Grundsätzliches Lügen schien sich zu meinen vielen schlechten Eigenschaften gesellen zu wollen. Wahrscheinlich würde es in wenigen Minuten pathologisch werden.

„Ich will jemanden, der mich so liebt, wie ich bin“, gab ich zu, um irgendetwas chronisch Werdendes zu verhindern. Außerdem vergab ich mir mit dieser Offenbarung nichts. Schließlich war meine Zusammenfassung ein Grundwunsch, den so gut wie jedermann hatte.

Ja, aber die meisten haben auch eine realistische Chance, flüsterte eine gehässige Stimme in meinem Hinterkopf. Sie klang verdächtig nach meiner Mutter.

„Ich liebe dich!“, meinte Nina. Inzwischen schmerzte ihr Klopfen tatsächlich. „Und deine Schwester liebt dich auch.“ Klopf.

Ich sah mich – Klopf – genötigt, mich aufzusetzen, damit meine Freundin wenigstens eine andere Stelle von mir ausgiebig verprügeln konnte.

 

„Die Feier war fürchterlich, ich hasse es ...“, murmelte ich und griff nach der Wasserflasche, die sich auf meinem kleinen, chaotischen Beistelltisch befand und sich den knappen Platz mit zahllosen Büchern, Magazinen, Notizzetteln und Loseblattsammlungen teilte. Etwas, das meine Mutter, die mindestens einmal täglich unangemeldet in mein kleines Reich hineinplatzte, um mich zu kontrollieren und daran zu erinnern, dass ich noch zu Hause wohnte, hasste wie die Pest.

Wahrscheinlich antwortete mein Unterbewusstsein deswegen mit Chaos, dachte ich in einem kurzen Anflug von Trotz und fühlte mich direkt im Anschluss schuldig. Doppelt. Einmal, weil ich meiner Mutter immer noch zur Last fiel, wie sie nicht müde wurde zu betonen, und einmal, weil mein Unterbewusstsein vielleicht sogar Recht hatte.

„Es war nur eine Verlobung“, versuchte mich Nina erfolglos zu trösten. Immerhin hatte sie ihre Handbewegungen eingestellt und ließ ihre Rechte einfach nur noch auf meinem Unterarm ruhen. Ich beschloss, sie nicht weiter zu provozieren, sondern mit ernsten Argumenten anzutreten.

„Ja“, stimmte ich zu, „aber bald kommt die Hochzeit – und ich kann im rosa Brautjungfernkleid zusammen mit meiner Mutter im Kampf um die letzten Junggesellen eine Tortenschlacht machen!“

Schlagartig änderte sich Ninas bewölktes Antlitz und sie prustete ohne Übergang los.

„Das ist nicht witzig!“, keifte ich halbherzig und unterzog eines der Wassergläser auf dem Tisch einer intensiven Prüfung. Aber anscheinend hatte ich in einem meiner ordentlichen, klaren Momente vier frische, saubere Gläser neben der vollen Flasche platziert. Schade, dass der ordentliche Moment nicht gereicht hatte, um die Magazine zu sortieren, oder noch besser, um sie ganz zu entfernen.

„Ist es doch!“, widersprach meine Freundin. „Ihr spielt doch nicht einmal in derselben Altersklasse oder mögt dieselbe Männeroptik.“

„Das stört meine Mama nicht.“ Ich konnte fühlen, wie meine Miene dunkler wurde.

„Und Rosa steht dir ja auch viel besser.“ Nina lachte wieder, wurde aber ernster, als ich meinen Arm fortzog, um dem Schlag zu entgehen, der mich beinahe hatte trösten sollen. Ich tarnte mein Ausweichmanöver, indem ich zwei Gläser mit Wasser füllte.

„Klar, mit roten Haaren sieht man in Rosa einfach hinreißend aus!“ Ich strich meine Haare nach hinten. „Nicht einmal Molly Ringwald in The Breakfast Club hat darin gut ausgesehen – auch wenn Hollywood es uns glauben machen wollte. Rosa und Rot geht gar nicht!“

„Du kannst dir die Haare färben!“

„Ich kann es auch lassen“, kommentierte ich. Meine Haare waren toll. Das Tollste an mir. Also: das eigentlich einzig Tolle.

„Gregor wird deine Schwester glücklich machen.“ Nina wurde wieder ernst. Dieses Mal gingen ihre Gedanken leider in die richtige Richtung.

„Ich kann sie nicht ausstehen“, schniefte ich sehr ehrlich und ernsthaft erleichtert. Anscheinend war ich dem pathologischen Lügen gerade noch von der Schippe gesprungen – oder vom Alkohol runtergestoßen worden.

Nina sah mich tadelnd an. „Du liebst sie.“

„Ja“, gab ich zu, „aber ich kann sie trotzdem nicht ausstehen.“

„Wieso?“ Nina runzelte die Stirn, während sie versuchte, meinen Gedankengängen zu folgen. „Wie kann man denn deine Schwester nicht ausstehen können?“

„Genau deswegen!“ Ich nickte heftig. „Weil sie so ist ... so ... perfekt.“

Nina sah mich sehr lange und sehr nachdenklich an, schließlich meinte sie: „Verstehe.“

Verstand sie natürlich nicht, konnte sie auch gar nicht. Und ich konnte es nicht erklären, dafür war mein Kopf zu schwer, waren meine Gedanken zu wirr.

„Das ist kein Mitleidsblues!“, behauptete ich trotzdem versuchsweise und trank einen Schluck Wasser. Er half kein bisschen. „Sie wird hinreißend aussehen im Brautkleid.“

„Wird sie“, bestätigte Nina.

„Du bist keine große Hilfe!“ Ich konzentrierte mich, konnte aber keinen verbalen Zusammenhang zwischen meinen Gedanken, meinen Gefühlen und dem daraus resultierenden Fazit herstellen.

„Hey. Ich gebe mir alle Mühe.“ Sie sah von mir zum Wasser und wieder zurück. So als suche sie ebenfalls einen kausalen Zusammenhang.

„Wobei? Keine große Hilfe zu sein?“, erkundigte ich mich. So langsam bekam ich Kopfschmerzen von meinen Überlegungen.

„Noch Wasser?“

Ich nickte und beobachtete, wie Nina mein Glas füllte.

„Mein Leben ist scheiße!“

„Nur ... konfus.“

Einen Moment hielt sie meinem Blick stand, dann sah sie weg, um in ihrer Handtasche zu kramen. „Paracetamol oder Aspirin?“

„Nicht ablenken!“

Nina sah auf und ihr Gesichtsausdruck war eindeutig mitleidig. „Okay“, gab sie zu, „du hast eine nervige Mutter, eine perfekte Schwester und bist eine hoffnungslose Chaotin, die auf den weißen Prinzen wartet, aber das ist ... normal?!“, versuchte sie.

„Es ist nicht normal, in meinem Alter noch Single zu sein, es ist nicht normal, noch keine Ausbildung oder ein abgeschlossenes Studium zu haben“, betonte ich.

„Und überhaupt keinen Plan im Leben.“ Wie immer fügte Nina ihr Hauptargument hinter meine gewöhnliche Litanei. Doch was in einem Gespräch mit meiner Mutter regelmäßig für Streit und auf meiner Seite für unterschwellige Depressionen sorgte, gehörte bei einer besten Freundin einfach dazu. Außerdem waren Ninas Worte leise genug, damit ich bei akuter Diskussionsunlust so tun konnte, als hätte ich sie nicht gehört.

Aber heute war ich streitsüchtig, deswegen bestätigte ich: „Oder überhaupt keinen Plan im Leben!“

„Das gibst du zu?“ Nina prostete mir mit ihrem Wasserglas zu. „Dann bist du wirklich verzweifelt.“

„Sag ich doch die ganze Zeit.“ Mir war fast schon wieder nach Lachen zumute. Merke: Ein gesunder Galgenhumor ist gut für das eigene Wohlbefinden und pflegt lang gehegte und liebevoll umsorgte Minderwertigkeitskomplexe.

„Was würdest du denn ändern wollen?“, erkundigte sich Nina hilfsbereit. Dabei strahlten ihre Augen beinahe so groß wie die von Bambi. Insgeheim hegte ich schon lange den Verdacht, dass Nina von Walt Disney großgezogen worden war. Nicht nur wegen ihres naiven Glaubens an das Gute im Menschen und an das gute alte Happy End, sondern auch wegen ihrer klassischen Zielorientierung und ihrer Ansicht, man könne alles schaffen, wenn man nur fest genug daran glaubte.

Ich glaubte leider daran, dass ich ein hoffnungsloser Fall war.

„Vielleicht würde Hypnose helfen?“, schlug Nina vor und ihr Bambi-Ausdruck war einem vernichtenden Scar-Blick gewichen. Und wenn schon der junge König der Löwen keine Chance gegen seinen bösen Onkel gehabt hatte, dann ich erst recht nicht.

„Äh ... habe ich laut gedacht?“

„Nein, ich kann Gedanken lesen.“ Ninas Blick wurde noch einen Tick böser. „Gruselig, oder?“

Ich beschloss, ihre vorgeblich verletzten Gefühle zu ignorieren, schließlich hatte ich meine freundschaftliche Strafe in Form einer liebevoll wundgeklopften Schulter bereits kassiert. „Dann weißt du ja, wie die Antwort lautet: alles.“

„Geht es noch genauer?“, maulte Nina. Doch sie klang immer noch widerwillig beeindruckt.

„Job, Gewicht, Aussehen, Kleidung, Haltung, Ausstrahlung, Familie, Wohnung, Wohnstil ...“, begann ich und unterstrich jedes Wort mit einem Fingerzeig auf die entsprechende Sache. „Es wird Zeit, endlich selbständig und unabhängig zu werden.“

„Also wirklich alles?“ Nina sah sich in meiner kleinen Dachmansarde noch einmal genauer um und beäugte mich kritisch. So als sähe sie zum ersten Mal, was mich wirklich störte. Alles außer meiner roten Haare.

„Mein Leben muss weg!“, beschloss ich.

„Klingt wie ein Selbstmordplan.“

„Stimmt!“ Fröhlich nahm ich einen Schluck Wasser. „Aber ich ermorde mich, ohne meinen Körper zu töten. Ein ganz sauberes Verbrechen!“

„Normalerweise sind für sowas Stylisten oder Personal Trainer zuständig“, meinte Nina. Doch selbst ihr flapsiger Kommentar klang ungewohnt ernst.

„Guter Ansatz“, meinte ich.

„War ein Witz.“

Ich nahm die Karte von Berhard zur Hand und drehte sie. „Den Trainer hätte ich dann schon mal“, verkündete ich, „wenn auch keinen Personal.“

„Ist nicht dein Ernst?!“ Jetzt hatte sich ein Hauch von Entsetzen in Ninas Stimme eingeschlichen.

„Wieso nicht? Was habe ich zu verlieren?“

„Deine Würde?“, schlug Nina vor.

„Guck im Lexikon unter meinem Namen nach. ,Würde' wirst du da nicht finden.“

„Also ,Würde ‘ willst du stattdessen?“, erkundigte sich Nina und deutete auf mich und meine Umwelt. Dann zog sie ein leeres Blatt Papier aus einem der halbsortierten Stapel, die sich auf meinem Tisch befanden. Beim dritten Schreibversuch fand sie sogar einen Stift, der funktionierte, und krakelte das eine Wort auf die Seite.

„Jetzt hast du es schwarz auf weiß.“ Sie reichte mir den Zettel. „Mehr Verbesserungsvorschläge oder Neuerungen?“

„Eleganz“, meinte ich.

Nina nahm das Stichwort in ihre spontane Liste auf und schlug vor: „Spaß?“

„Haben wir doch schon.“

„Gut zu wissen!“, behauptete sie, schrieb aber nicht nur „Lebensplan“ als Überschrift auf das Blatt, sondern auch das neue Wort und „hinreißende Optik“.

„Was ist hinreißende Optik?“, erkundigte ich mich skeptisch. Hauptsächlich, weil ich befürchtete, dass dabei keine roten Haare vorgesehen waren.

„Sag du es mir!“, forderte Nina.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ein BMI im mittleren oder unteren Bereich, Körbchengröße 75B aufwärts, die Maße 90-60-90 oder nahe dran, Kleidergröße 38 oder kleiner“, zählte ich auf. „Lange Wallehaare.“

„Nicht in Rot!“

„Nicht in Rot“, stimmte ich widerwillig zu und stand auf, um einen Blick in den Spiegel zu werfen. Nach längerer Inspektion meinte ich: „Vernünftige Lippenkonturen.“

„Du denkst doch nicht etwa an Permanent Make-up?“ Ninas Entsetzen war echt. So echt, dass es mir leidtat, nicken zu müssen. Denn doch, denken tat ich sehr wohl daran. Auch wenn ich es mir nicht leisten konnte. Zumindest nicht, wenn es jemand machen sollte, der es auch vernünftig konnte und bei dem ich hinterher nicht wie ein Clown aussah.

„Aber fürs Erste tut es auch vernünftiges, gekonntes Make-up“, gab ich friedfertig zu.

„Perfekt!“, meinte Nina und schlug vor: „Stil?“

Ich nickte wieder und meine Freundin setzte diesen Wunsch auf meine Liste, die in kürzester Zeit weiter anwuchs und mein altes Leben fraß. „Nach Geld und Erfolg aussehen und sich auch so benehmen“, schlug ich vor und wurde mit einer weiteren Ausbreitung meines Lebenswunsches belohnt.

„Also wir haben: Würde, Eleganz, Stil, Niveau, vernünftiges und gekonntes Make-up, schöne lange Walle-Walle-Haare in Nicht-Rot, nach Geld und Erfolg aussehen und sich auch so benehmen – dann kommen Geld und Erfolg von allein“, las Nina vor. In ihrer Stimme schwang eine so tiefe Befriedigung mit, dass es mir trotz ihrer Bambi-Augen Angst machte. Vielleicht war Walt Disney doch ein wenig zu perfektionistisch gewesen?

„Der letzte Teil gefällt mir“, behauptete ich trotzdem.

„Was ist mit einem Traummann?“

„Nee“, ich schüttelte den Kopf, „den hebe ich mir für später auf. Erst einmal will ich einen erfolgreichen und vor allem reichen Mann heiraten.“

„Ach so, warum sagst du das nicht sofort? Dann musst du dich ja wenigstens nicht mit kleinlichen Äußerlichkeiten oder so etwas wie dem Charakter bei ihm abgeben.“ Nina runzelte die Stirn, aber ich ignorierte den Seitenhieb.

„Genau!“, stimmte ich stattdessen zu. „Macht meine Mama ja auch nicht.“

Nina verdrehte die Augen. „So schlimm war Berhard doch gar nicht.“

„Nein, aber Oliver, Mathias, Marvin, Calvin und Kevin“, zählte ich auf. Bei dem letzten Namen lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Vom Knast direkt in einen Kupplungsversuch meiner Mutter zu geraten, war wie das sprichwörtliche „Vom Regen in die Traufe“. Aber ein Bankräuber musste ja Geld haben, oder? Und bei Mathias hegte ich immer noch insgeheim den Verdacht, dass er in Wirklichkeit ein Bär gewesen war. Rasiert und in einen Anzug gesteckt, war er sicherlich irgendwo eine äußerst lukrative und erfolgreiche Varieteenummer. Zu seinen positiven Eigenschaften sei aber anzumerken, dass er stumm gewesen war und nur brummen konnte. Kein Spaß.

Außerdem hatte er mich für unwiderstehlich gehalten und war sehr hartnäckig gewesen. Mit Blumen und Gedichteschreiben und so. Leider hatte das Ganze nicht über den Rest hinwegtäuschen können. Gut für mein Ego war es eine Zeitlang trotzdem gewesen. Wieder ein negativer Charakterzug meiner Wenigkeit. Ich seufzte, gab mir dann aber einen Ruck. Schließlich konnte man diesen Wunsch ja auch positiv formulieren. „Ich will unwiderstehlich sein. Ein Vamp, nach dem sich die Männer umdrehen und für den sie alles tun wollen.“

„Okay ...“ Nina schob den Zettel weg, ohne etwas aufzuschreiben. „Jetzt wird es unrealistisch!“

„Jetzt erst?“ Einen Moment später holten meine Gedanken auf und mein immer noch leicht alkoholisiertes Gehirn traf die volle Bedeutung ihres Einwandes. „Hey!“, protestierte ich.

„Wir kümmern uns erst mal darum.“ Nina zeigte auf die Liste. „Um den Vamp kümmern wir uns später, ja?“

„In meinem Drittleben?“, erkundigte ich mich zweifelnd und mein Gehirn verkündete euphorisch, dass es schon mit einem Doppelleben überfordert wäre. Zumindest im jetzigen Zustand.

Zum Glück schien es meiner kongenialen Freundin ebenso zu gehen, denn sie fasste nicht nur für mich herzblattmäßig zusammen: „Also liebe Anna ... Auf Stuhl eins sitzt dein Erstleben als luxuriös ausgestattete Rothaarige mit einem gewissen tollpatschigen Charme und ohne großartiges Lebensziel. Auf Platz zwei sitzt eine charmante Brünette, die stilvoll auf der Sonnenseite des Lebens steht und eine erfolgreiche Geschäftsfrau ist, mit dem Hang zu den richtigen Männern. Auf Platz drei haben wir den mondänen Vamp, männermordend, unwiderstehlich und erfolgreich.“

Ich kicherte. Nina auch. War vielleicht doch ein wenig unrealistisch, mein Plan, aber nur ein klitzekleines bisschen.

„Stuhl zwei, bitte“, meinte ich deswegen ein wenig trotzig. Träumen durfte man ja immerhin.