Ich bin dein Schicksal - Kira Licht - E-Book

Ich bin dein Schicksal E-Book

Kira Licht

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Beschreibung

Die 17-jährige Erin besitzt die Gabe, Noctua zu sehen. Dämonenartige Wesen, die über Leylinien auf die Erde gelangen, und deren Welt nur durch menschliche Angst existiert. Eines Nachts steht wider Erwarten Callahan vor ihr - Erins erste große Liebe, die vor Jahren ohne ein Wort verschwand. Auf einmal ändert sich alles. Denn Cal gehört zu den Alpha, dem höchsten Rang der Noctua, und er möchte sie zurückgewinnen. Plötzlich sieht sich Erin nicht nur mit unerwartet verwirrenden Gefühlen konfrontiert. Cals Vater will die Beziehung der beiden um jeden Preis unterbinden, und dann kommt es in ihrer Heimatstadt auch noch zu Angriffen durch die Noctua. Gemeinsam mit Cal stellt sie sich der Gefahr und riskiert dabei nicht nur ihren Kopf, sondern auch ihr Herz ...

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Seitenzahl: 609

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Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Prolog

Erin, vier Jahre alt

Erin, sechs Jahre alt

Erin, zwölf Jahre alt

Erin, vierzehn Jahre alt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 38

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kategorien der Noctua in Obskuris

Die Luftschiffe in Obskuris

Vorschau

Weitere Titel der Autorin

Impressum

»Hearts are wild creatures.

Thats why our ribs are cages.«

- Mark Beech

Prolog

Erin, vier Jahre alt

Sie lag in einem Bett, das nicht ihr eigenes war und sah den Regentropfen dabei zu, wie sie an der Fensterscheibe zerplatzten. Um sie herum war es dunkel. Angst kroch in ihr hoch. Die nächtlichen Umrisse der Möbel waren ihr noch so unvertraut, dass sie in jedem Schatten eine potenzielle Bedrohung ausmachte. Sie war in diesem Frühling vier Jahre alt geworden, und ihre Fantasie war fast so groß wie ihre Angst.

»Regen ist ein Tropfen Himmel auf der Hand«, flüsterte sie und hielt ihren Blick unverwandt auf das Fenster gerichtet. Ihre Mutter hatte diesen Satz immer gesagt. Die Erinnerung an sie verblasste bereits, doch das wollte sie in ihrer kindlichen Ohnmacht einfach nicht wahrhaben.

Sie rollte sich zur Seite, den Blick nun fest auf die Zimmertür geheftet. Sie hasste den Regen.

Dann begann das Knurren. Das Zischen. Das heisere Atmen.

Sie erstarrte. Da war etwas. Unter ihr, direkt dort unter ihrem Bett. Sie hörte das Rascheln, das Kratzen von Krallen über Fell, das tiefe feuchte Hecheln.

Ihre Unterlippe zitterte, und Tränen traten in ihre Augen. Nicht vor Angst, sondern durch den Schock des Wiedererkennens. Sie waren ihr gefolgt.

Und jetzt hatten sie sie gefunden.

»Grandma!« Ihre hohe Kinderstimme hallte durch das Zimmer. Unter ihr schnaubte etwas dunkel.

»Grandma!« Noch mehr Rascheln. Dann ein leises durchdringendes Knurren.

Endlich. Schritte im Flur. Ihre Großmutter steckte den Kopf durch die Tür. »Alles in Ordnung, Erin?«

»Da sind Monster.« Sie deutete unter ihr Bett. »Ich höre sie.«

Der Blick ihrer Großmutter wurde weich. »Ich sehe mal nach.« Sie knipste ein Nachtlicht an, das den Raum nur spärlich erhellte. Vor dem Bett ging sie auf die Knie und sah darunter.

Die Geräusche verstummten. Schatten wanderten. Die Luft schien einen Moment lang zu vibrieren.

»Du solltest schlafen, Liebes. Ich versichere dir, da sind keine Monster unter deinem Bett.« Ihre Großmutter kam wieder hoch und richtete den Gürtel des hastig übergeworfenen Bademantels.

Die Schatten wurden länger, nahmen Konturen an.

»Nein ...« Erin klang atemlos und angsterfüllt. »... da verstecken sich keine Monster mehr unter meinem Bett.« Ihr Blick war ganz starr. »Jetzt stehen sie alle hinter dir.«

Erin, sechs Jahre alt

Erin hatte beschlossen, Dylan nicht zu mögen. Es war ihr egal, ob er wirklich nett war oder ob er sie nur besuchte, weil seine Eltern es so wollten.

Als es an der Tür klingelte, drückte sie den Rücken durch und blieb kerzengerade am Küchentisch sitzen. Das Geräusch von herannahenden Sohlen auf den Dielenfliesen ließ sie zusammenzucken. In der Tür erschienen erst ihre Grandma und dann ein kleiner Junge in kurzen Pfadfinder-Shorts.

»Erin, das ist Dylan.« Ihre Grandma strich dem Kleinen kurz übers Haar. »Er wollte fragen, ob du mit ihm ein bisschen im Garten spielen möchtest.«

Dylan nickte bekräftigend.

Sie warf einen Blick auf seine schmächtige Gestalt. Sein Haar war goldig-blond, und seine Haut schon sanft gebräunt von den ersten warmen Tagen des Sommers. Eigentlich sah er nett aus, doch sie lächelte immer noch nicht.

»Kommst du auch in die Erste?«, fragte Dylan. Sie sah ihn an, ohne sich zu rühren.

»Sollen wir rausgehen?«, fragt er dann.

»Ja, du und Erin werdet gemeinsam eingeschult«, antwortete ihre Großmutter. »Sie kommt gerne mit raus. Etwas frische Luft wird ihr guttun.«

Im Garten war es hell und bunt.

»Setzt euch doch ein bisschen ins Gras und lernt euch erst mal kennen«, sagte ihre Grandma. »Ich bringe euch Muffins und etwas zu trinken.«

Dylan ließ sich als Erster auf die Wiese plumpsen. Ungeduldig sah er zu Erin hoch.

Ihre Großmutter drückte aufmunternd ihren Arm, und schließlich gab sie nach. Sie ließ sich auf dem Gras nieder und winkelte die Knie an. Eine Ameise verirrte sich auf ihr rechtes Söckchen und lief ein paar Mal orientierungslos im Kreis, bis sie schließlich seitlich wieder herunterfiel.

»Deine Eltern sind tot«, sagte Dylan, kaum dass sie allein waren.

»Ja.«

»Wie ist das so?«

Erin griff in das Gras neben sich und riss ein Büschel aus. Sie drehte die Hand, sodass man sah, wie die abgerissenen grünen Halme zwischen ihrer geballten Faust hervorquollen.

»So«, sagte sie.

Erin, zwölf Jahre alt

Es war kurz vor Mitternacht, als sie die Augen aufschlug. Die warme Nachtluft des Spätsommers trug den Duft von Honig und blühendem Gras durch das weit geöffnete Fenster.

Wieso war sie plötzlich hellwach? Otiz knurrte, und Herald fauchte, doch keiner von beiden kam unter dem Bett hervor.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie richtete sich in ihrem Bett auf und sah sich prüfend im Zimmer um.

Ein Schatten.

Er kauerte seitlich auf dem Fensterbrett wie ein großer dunkler Vogel. Sein Haar war so schwarz, dass es die Nacht um sich zu absorbieren schien und seine Augen reflektierten das Licht wie die eines Tieres, als ein Auto vorbeifuhr. Ein unheimliches, grünliches Funkeln, das erst verblasste, als er blinzelte.

Er drehte sich auf dem Fensterbrett, wandte sich ihr ganz zu und die Schatten wurden zu der Gestalt eines Jungen. Er konnte kaum älter als sie sein. Sein Blick ruhte auf ihr, neugierig, und dennoch konnte er das Lauernde darin nicht komplett verbergen. Als überlege er, ob er sich mit ihr unterhalten oder sie doch lieber fressen sollte.

Sie richtete sich noch mehr im Bett auf und zog die Decke höher. Sie hatte keine Angst, dennoch begann ihr Herz aus unerfindlichen Gründen schneller zu schlagen.

Pünktchen kam unter dem Bett hervorgeschossen, sprang auf die Decke und schob die Schnauze unter das Kopfkissen. Sie zitterte wie Espenlaub.

»Ich bin Callahan. Wie heißt du?« Er legte den Kopf schief, und wieder war da etwas Tierhaftes in seinen Bewegungen.

Sie nahm Pünktchen auf ihren Schoß und kraulte sie beruhigend hinter einem Ohr. »Ich bin Erin.«

»Freut mich, Erin.« Er strich sich das lange Haar zurück, und sein Gesicht schien durch das Mondlicht so scharfkantig konturiert wie eine Tuschezeichnung. Sein Lächeln verlieh seinen Zügen etwas Weiches, und Erin versank einen Moment lang darin, bevor sie es erwiderte.

Und erneut schlug ihr Herz ein klein wenig schneller.

Erin, vierzehn Jahre alt

Es war die Nacht vor ihrem 15. Geburtstag. Im Vorgarten blühten die ersten Bäume. Eine kleine Lampe tauchte ihr Zimmer in warmes Licht.

Seine Finger waren schlank, aber kräftig und so unendlich vertraut. Sie lagen nebeneinander auf ihrem Bett, hielten sich an den Händen und seine Wange ruhte an ihrer Schulter, während er ihr vorlas.

»Dämonen lieben Lyrik«, hatte er erklärt, als er das erste Mal ein Buch mitgebracht hatte. Seitdem war es zu einer Tradition geworden. Ovid, Percy Bysshe Shelley oder Matsuo Bashô, er liebte sie alle. Heute hatte er das Gesamtwerk eines dänischen Poeten namens Jens Peter Jacobsen dabei, der um 1850 gelebt hatte.

»... all die wachsenden Schatten

Verflossen zu einem allein,

Einsam am Himmel leuchtet

Ein Stern so strahlend rein;

Die Wolken sind schwer von Träumen und ...«

Sie sah hinauf, an die leicht vergilbte Zimmerdecke, während sie seiner angenehm melodischen Stimme lauschte. Unter dem Bett schnarchten Herald und Otiz in trauter Zweisamkeit. Pünktchen hatte sich auf dem Schreibtischstuhl zusammengerollt und gab hin und wieder ein leises Fiepen von sich.

Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Genau so ... so sollte es sein. Er neben ihr, und seine Hand in ihrer.

Schließlich legte er das Buch auf den Nachttisch und drehte sich ihr zu.

»Erin ...« Er flüsterte ihren Namen wie ein Kosewort.

Er war nur sechs Monate älter als sie, und doch schien sein Gesicht die meisten kindlichen Konturen bereits abgeworfen zu haben. Als habe er sich wie eine Schmetterlingsraupe verpuppt und wäre als etwas Dunkles, etwas Gefährliches wieder aus dem Kokon hervorgebrochen.

Sie wusste, was er war, sie wusste, was er tat, und es war ihr egal.

Und in diesem Moment war da sowieso nur der eine Gedanke, der ihr ganzes Bewusstsein beherrschte. Sein 15. Geburtstag war ein halbes Jahr her und schon da hatte sie Schmetterlinge im Bauch gehabt. Um ehrlich zu sein ... sie hatte in letzter Zeit schon oft daran gedacht, ihn zu küssen. Jetzt wollte sie nicht mehr warten.

Sie sammelte ihren Mut und wandte sich ihm ganz zu. Das grüne Leuchten in seinen Augen verstärkte sich, dehnte sich aus und verschwamm wie Polarlichter am Nachthimmel. Sie strich ihm sanft durch das schwarze Haar, ließ die seidigen Strähnen durch ihre Finger gleiten. Dann berührten ihre Fingerspitzen seine Wange und wanderten hinab zu seinem Mund. Das zarte Kribbeln in ihrem Bauch wurde stärker, und ihr Herz machte einen kleinen Satz, als er mit seinen Lippen ganz kurz über ihre Fingerkuppe strich.

»Ich will dich küssen«, flüsterte er.

»Ich will dich auch küssen«, gab sie zurück. Ihr rasender Puls war wie ein wildes Crescendo in ihren Ohren.

Sein Blick wanderte kurz zu ihren Lippen und ihre Knie berührten sich, als sie beide die letzten Zentimeter überwanden.

Sein Mund war warm und weich, und obwohl ihre Freundin Rhonda sie gewarnt hatte, dass es »komisch und nass« werden könnte, fand sie es herrlich. Erst war es nur eine vorsichtige Berührung. Ihr Mund glitt zart über seinen, aber dann öffneten sich ihre Lippen wie von selbst. Ihre Zungenspitze berührte die seine, und ein dunkles Geräusch stieg in seiner Kehle hinauf. Sein leises Knurren vibrierte in ihrem Atem. Sie vertiefte den Kuss, wurde mutiger und ließ ihre Zunge in seinen Mund gleiten. Er passte sich ihren Bewegungen an, legte seine Hand in ihren Nacken und streichelte die zarte Haut dort.

Wie fliegen und fallen gleichzeitig, so fühlte es sich an. Sie lösten sich voneinander und schnappten beide nach Luft, als sie sich auf den Rücken drehten. Einen Moment lang atmeten sie beide schwer, den Blick starr auf die Zimmerdecke über ihnen gerichtet.

Ob er gewusst hatte, dass es so sein würde? Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Nein, entschied sie, er wirkte genauso überwältigt.

Sie sah zurück an die Decke.

Die Kirchturmglocke verkündete Mitternacht.

Er beugte sich über sie und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Sein Blick war voller Zuneigung und Sehnsucht, sein Kuss so federleicht, dass seine Lippen immer noch die ihren berührten, als er sprach.

»Happy Birthday, mein Herz.«

Es war das letzte Mal, dass er sie besuchte.

Kapitel 1

Cleveland, Ohio – Drei Jahre später

»Okay Leute, die Party ist vorbei.« Ich trat mit dem Pantoffel leicht vor den Bettpfosten. Die kleine Rachel auf meinem Arm schniefte leise.

»Raus hier.«

Unter dem Bett erklang ein Knurren. Rachel schlang ihre Arme fester um meinen Hals. Ich zückte meine ultimative Waffe. Die Puppe, die Rachel am wenigsten mochte. Wir hatten das ein paar Tage zuvor ausgiebig besprochen.

»Letzte Warnung.« Ich ließ die Puppe mit meiner freien Hand an einem Fuß hin und her baumeln.

Noch mehr Knurren.

Sie hatten es so gewollt...

»Ziehen wir es durch?«

Rachel hob den Kopf und nickte, obwohl ihre Unterlippe zitterte. Ich warf die Puppe unter das Bett.

Prompt ertönte ein wildes Potpourri aus Flügelschlagen, Fauchen und dem Scharren spitzer Krallen.

Rachel holte erschrocken Luft und drückte sich enger an mich.

Ein Mischwesen mit Papageienflügeln und Hundekopf kam unter dem Bett hervor und stellte drohend seinen Federkamm auf, obwohl es nicht viel größer war als ein Dackel. Ein schlangenartiges Geschöpf mit schneeweißem Fell fauchte und hüpfte dabei nervös auf und ab. Zuletzt erschien ein Wesen mit braunem Pelz und spitzen Ohren. Es stand auf zwei Beinen, und die Krallen an seinen Pranken schimmerten silbern.

Es handelte sich eindeutig um drei Dämonen der Kategorie Gamma, die von kleinen Kindern gerne als »Monster unter dem Bett« bezeichnet wurden.

Ich war erleichtert. Ich hätte in einem Kinderzimmer zwar nicht mit Dämonen der Kategorie Alpha, Beta oder Delta gerechnet, aber man konnte ja nie wissen, wer so alles unter einem Bett hauste.

»Keine Angst«, raunte ich Rachel also schnell zu, bevor ich mich an das Trio wandte. »Sehr beeindruckend, aber spart euch die Show für eure Dimension auf.«

Der braune Teddy legte skeptisch die Ohren an. Der Papageienhund gab ein Fiepen von sich, und die fellige Schlange wich zurück und sah mich an, als wolle ich sie fressen und nicht andersherum.

So war es immer. Die Dämonen der Kategorie Gamma waren selbst eher ängstlich. Sie wirkten nicht wirklich Furcht einflößend, sie sahen einfach nur aus wie ein fleischgewordener Kinderalbtraum. Ihr Jagdgebiet waren die Kinderzimmer der Menschenwelt. Interessanterweise waren Kinder nachts viel leichter zu erschrecken. Vermutlich, weil die so harmlos aussehenden Gamma im Tageslicht leicht mal mit einem Stofftier oder einer etwas gruseligen Handpuppe verwechselt werden konnten. Deshalb verbreiteten sie vorzugsweise nachts ordentlich Schrecken und sammelten dabei jede Menge menschliche Angst, die sie dann in ihre Dimension brachten. Sie konnten etwas hartnäckig und nervig sein, doch das Beste war: Sie waren territorial. Sie respektierten die Herrschaftsgebiete der Dämonen, die schon länger in der Gegend Angst sammelten. Und das war meine Waffe. Meine drei Mitbewohner waren die ältesten Gamma-Dämonen der Stadt. Ihre Vorherrschaft war unantastbar, und das war in meinem Job als Babysitterin ein riesengroßer Vorteil. Meine Kinder schliefen tatsächlich wie Babys, was mich zur beliebtesten Sitterin von Cleveland gemacht hatte.

Von Rachels ungeliebtem Spielzeug lugte nur noch ein Fuß halb unter dem Bett hervor, was vermutlich besser war, denn sie sah ziemlich mitgenommen aus. Herald hatte kräftig geniest und den violett schimmernden Schleim im Haar der Puppe verteilt, als ich Rachels Puppe mit zu mir nach Hause genommen hatte. Pünktchen war ausgiebig auf ihr herumgehüpft und hatte dabei extra viel Fell verloren. Otiz hatte nur kurz an einem Arm geknabbert und sich dann verschämt abgewendet. Meine drei Gamma hatten sie markiert und dort, wo »Babypuppe Maggie Fütterspaß« jetzt lag, war ihr Revier. Rachels Zimmer gehörte ab heute Herald, Pünktchen und Otiz.

Ich räusperte mich. »Jemand hier des Sprechens mächtig?«

Rachel hob die Hand.

»Nicht du, Schätzchen«, sagte ich, bevor ich jede der Kreaturen einmal streng von oben bis unten musterte.

Simultanes Kopfschütteln.

Ein Glück. Kein Gejammer, keine Diskussionen.

»Dann bitte.« Ich deutete auf die zwei weit geöffneten Fenster des Kinderzimmers.

Der Teddy schnaufte geschlagen, und die Fellschlange reckte beleidigt das Maul, als sie zur Seite glitt. Einzig der Papageienhund knurrte und bleckte seine Stummelzähne.

»Aus!«, rief Rachel. Dann deutete sie mit ihrem kleinen Zeigefinger in Richtung der Fenster. »Böser Hund!«

Die Bande gab noch mal Laute der Empörung von sich, bevor sie sich durch das Fenster in die Abenddämmerung stürzten. Allen voran der freche Dackel.

Wortlos hielt ich Rachel die Hand zum »High Five« hin, bevor ich sie auf dem Boden absetzte.

»Ich möchte mal einen Hund«, erklärte sie, während ich die Fenster schloss. »Daddy hat versprochen, ich bekomme einen, wenn ich eingeschult werde.«

Nun, um die Erziehung des Tieres machte ich mir keine Sorgen. »Wie schön, Schätzchen.« Ich ging vor ihr in die Hocke. »Weißt du auch noch, was du mir versprochen hast? Ich sorge dafür, dass du nie wieder Monsterbesuch bekommst, und dafür versprichst du mir, dass du Mommy und Daddy niemals erzählst, was du gerade gesehen hast.« Ich strich ihr eine wirre Strähne aus der Stirn. »Deal?«

Rachel nickte mit der ganzen Ernsthaftigkeit einer Vierjährigen. »Deal.«

*

Grandma saß in der Wohnküche vor ihrer Staffelei und malte Missy, die Katze der Nachbarskinder, die vor einer Woche von einem Lieferwagen überfahren worden war. Ein dampfender Becher Tee stand neben einem Glas mit Rotwein. Ich beantwortete noch schnell eine Nachricht von meinem besten Freund Dylan, bevor ich sie umarmte und ihr einen Kuss auf die Wange gab. Dann hob ich nacheinander beide Getränke hoch, um die seltsame Kombination ihrer Getränkewahl deutlich zu machen.

»Künstler!« Ich seufzte betont dramatisch.

Grandma lachte und fuhr sich mit der freien Hand durch ihr silbergraues Haar. »Wir können uns einfach nicht entscheiden.«

Sie mochte es, wenn man sie eine Künstlerin nannte, und ich tat ihr den Gefallen gerne.

Grandma hatte mit 15 Jahren eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin begonnen und war nach ihrem Abschluss diesem verantwortungsvollen und zugleich sehr anstrengenden Beruf treu geblieben. Sie war vor Kurzem 61 Jahre alt geworden, war seit 13 Jahren Stationsleitung der Orthopädischen Chirurgie im Henry-Ford–Krankenhaus und in ihrer Freizeit eine leidenschaftliche Hobby-Malerin. Ich ließ meinen Rucksack von der Schulter auf die Bank gleiten. Grandma beugte sich näher zu dem Foto am Rand der Staffelei, ein Bild von Missy in blühendem Gras, kniff die Augen zusammen und schien tatsächlich die Schnurrhaare zu zählen.

Ich schnappte mir ihren Tee. »Du brauchst doch nicht jedes einzelne Haar zählen. Der Barock ist lange vorbei.«

»Rembrandt hat heute seinen freien Abend, da muss ich das übernehmen.« Grandma besaß den trockensten Humor der Stadt, und gleichzeitig ging von ihr eine subtile Autorität aus, die selbst die baumlangen Basketballer der Cleveland Pistons beeindruckte. Und die Pistons waren oft Gast in der Orthopädie. Grandma nannte sie »die Jungs«, sie nickten brav und nannten sie »Ma´am«.

»Es ist ein Paket für dich angekommen.«

Ich folgte ihrem Blick. Vorfreude kribbelte in meinem Bauch, als ich den Schriftzug erkannte. Endlich! Ich stellte den Tee so achtlos zur Seite, dass das Gebräu gefährlich schwappte.

»Yay.« Ich stürzte mich auf den Karton. Das musste meine neue Action-Kamera sein, die mir freundlicherweise von meinem Sponsor NeutroTec kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass ich jetzt einen Sponsor hatte! Genau so wenig, dass mein Instagram-Kanal »Erinnya« genau wie der gleichnamige Youtube-Channel zurzeit so durch die Decke gingen. Das war alles so unwirklich! Ich war doch nur ein Mädchen, das Dämonen malte und Fotos und Videos von verlassenen Häusern machte, das war doch nichts Besonderes. Und ich wurde nicht nur pro Video von meinem Sponsor bezahlt, mein Insta-Kanal hatte mir auch ein Kunst-Vollstipendium an der renommierten Yale-Universität eingebracht. Manchmal musste ich mich selbst noch kneifen, um all das zu glauben.

Ich ließ mich auf die Eckbank gleiten und riss unwirsch an dem Klebeband. Grandma schnalzte missbilligend, doch ich ignorierte sie. Endlich 5K-Videos und 20-Megapixel-Fotos plus Videostabilisierung mit integrierter Horizontausrichtung und Ultraweitwinkel, HDR-Zeitraffervideo bei Nacht und TimeWarp in Echtzeit und halber Geschwindigkeit. Wahnsinn! Was würde ich damit für grandiose Videos der Lost Places von Cleveland aufnehmen können. Ich drehte die mattschwarze Action-Cam in meinen Händen. Dieses Baby war fast zu schön, um es zu benutzen. Ich gab ein erneutes Seufzen von mir, dann sah ich zu Grandma hoch.

»Was machen die drei Rabauken?« Ich legte die Kamera vorsichtig auf dem Tisch ab und nippte erneut an dem Tee.

»Alles ruhig.« Grandma war eine zutiefst gläubige Frau. Sie war sehr aktiv in der Gemeinde und pflegte eine gute Beziehung zu dem Reverend. Es war ihr schwergefallen, die Tatsache zu akzeptieren, dass ihre Enkelin an jeder Ecke irgendwelche übernatürliche Wesen sah, die wirkten, als wären sie aus der Hölle entsprungen – zumal sie sie nicht sehen konnte. Doch die Dämonen gehörten zu mir, und irgendwann hatte sie sich damit abgefunden. Neben meiner Leidenschaft für Fotografie und Film zeichnete ich auch gerne und hatte Grandma ein paar Skizzen der Dämonen, die ich sah, zeigen wollen. Doch das lehnte sie meistens ab.

Grandma legte fragend den Kopf schief. »Wie war's bei den Wilsons?« Sie machte sich Sorgen, dass ich zu viel arbeitete, das wusste ich. Und ich entnahm ihrer missbilligend gerunzelten Stirn, dass sie damit nicht einverstanden war.

»Alles gut.« Ich habe mit der Hilfe meiner drei dämonischen Mitbewohner ein paar fauchende Gamma vertrieben, aber sonst war alles ruhig.

»Hast du Hunger?« Grandma warf den Pinsel in ein Glas mit Wasser, ließ sich von ihrem Hocker gleiten und schlüpfte in ihre neongrünen Crocs. Sie strich ihr Shirt glatt und sah mich dann erwartungsvoll an.

Ich stellte meine Tasse ab und unterdrückte ein Gähnen.

»Danke, das ist lieb, aber ich verschwinde gleich ins Bett. Morgen früh treffen wir uns in der Bib für das Trimesterprojekt, da muss ich ausgeruht sein.«

Schon wieder dieses Stirnrunzeln. »An einem Samstag?«

»Wir sind eben alle Nerds.«

Grandma nickte wissen. »Soll ich dich wecken?«

Ich erhob mich und schnappte mir meinen Rucksack, dann gähnte ich erneut. »Danke, ist nicht nötig.«

»Schlaf gut, mein Kind.« Sie umarmte mich.

»Du auch später.« Sie war schlank und drahtig und kein bisschen wie die Omis in den Filmen. Sie fluchte, wenn sie kochte, sie sang laut beim Autofahren, und wenn sie eins ihrer Bilder verkauft hatte, rauchte sie eine Havanna. Sie hatte mir Nähen und Reifenwechseln beigebracht, mir erklärt, wie das mit den Jungs so lief und wie man in der Wildnis ein Lagerfeuer machte. Dank ihr konnte ich einen gebrochenen Arm schienen, einen messerscharfen Lidstrich ziehen und in drei längst ausgestorbenen Sprachen jemanden als »dämlichen Hornochsen« beschimpfen.

Ich versank einen Moment in ihrem Duft. »Joy« von Jean Patou, den sie trug, seit Grandpa ihr die erste Flasche geschenkt hatte.

Mit der zarten Erinnerung an blühende Rosen und weißem Jasmin in der Nase stieg ich die Treppe hinauf. Jede Stufe ächzte und stöhnte, als würde das Haus gleich auseinanderbrechen. Grandma nannte es liebevoll »unseren großen alten Kasten«. Ich hatte dem nichts hinzuzufügen.

Kaum, dass ich mein Zimmer betreten hatte, erklang ein freudiges Fiepen unter dem Bett. Ich schaffte es gerade noch, die Tür hinter mir zuzuschieben, da schossen drei Schatten hervor.

Ich besaß die Fähigkeit, die Noctua zu sehen. Die Monster, Dämonen, Hybridwesen, die krallenbewehrten Ungeheuer, die von unserer Angst lebten.

»Hallo Leute.« Ich ließ meinen Rucksack neben den Schreibtisch auf den Boden sinken, während drei Noctua der Kategorie Gamma unter meinem Bett hervorkamen. Sie waren so was wie meine Mitbewohner und ich freute mich, sie zu sehen, denn tagsüber verschwanden sie oft in ihr Kartell in ihrer eigenen Dimension, bevor sie am Abend zu mir zurückkehrten. Wir hatten Glück, denn die Zeitzonen der USA und ihrer Dimension, der Obskuris, verliefen parallel. War es hier in Cleveland Tag, dann war es auch in Obskuris Tag. Würde ich zum Beispiel in Australien wohnen, dann wäre bei ihnen Nacht, während bei mir Tag war.

Im nächsten Moment hatte Pünktchen sich auf meine linke Schulter katapultiert, während ich ein paar Zeichenblöcke und Bleistifte auf meinem Schreibtisch zur Seite schob.

Sie sah aus wie ein Wüstenfuchs in Miniausgabe. Spitze Schnauze, übergroße Ohren, ein buschiger Schwanz. Ihr violettfarbenes Fell war über und über mit schwarzen Punkten übersät, deshalb der Name. Den sie sich übrigens selbst gegeben hatte. Sie fiepte an meinem Ohr, dann wisperte sie: »Endlich bist du wieder da. Ich habe die ganze Zeit auf dich gewartet. Mir war so langweilig! Kannst du ...«

Das, was diese kleine Gamma zu viel redete, redete Herald zu wenig. Er war eher der Typ »großer schweigsamer Tintenfisch«.

»Guten Abend«, brummte er und nickte mir kurz zu. Er reichte mir knapp bis zur Hüfte, und dank seines gallertartigen Körpers passte er in jeden noch so kleinen Bettkasten.

»Hi«, sagte ich, während ich Pünktchen kraulte und mir gleichzeitig die Sneakers von den Füßen schob.

Mein Blick glitt zu Otiz. Er sprach nicht. Auch er schenkte mir ein Nicken und sah dann wie immer leicht unbehaglich auf den Boden. Aber so war er nun mal. Otiz sah am furchterregendsten aus, war aber der Stillste der drei Gamma. Wobei »furchterregend« eine Übertreibung war. Alle Dämonen der Kategorie Gamma sahen ziemlich genau so aus, wie Kinder sich Monster vorstellten, die unter ihren Betten lebten. Für mich als Erwachsene sahen sie aus wie etwas, das aus einem Spielzeuggeschäft entkommen war.

Otiz besaß die seltene Fähigkeit, seinen Körper schrumpfen zu lassen, wenn er sich versteckte. Seine Gestalt ähnelte einer knapp 1.80 Meter großen Hyäne, die auf zwei Beinen ging. Dafür besaß er aber die freundlichen, kugelrunden Augen eines Kuscheltiers und strahlend weiße Zähne, die jedem Zahnarzt Freudentränen in die Augen getrieben hätten.

Herald verschränkte zwei Tentakeln vor seinem länglichen Körper. »Alles gut gelaufen?« Wie immer, wenn er angespannt war, jagte ein heller Schimmer über seine durchscheinend dunkelgrüne Haut.

Ich setzte Pünktchen auf dem Boden ab und riss am Reißverschluss meines Hoodies.

»Alles gut.« Ich warf den Hoodie auf meinen Schreibtischstuhl. Alle drei Noctua musterten mich. Ungeduldig, und als warteten sie auf etwas. Ich wusste, woher der Wind wehte. Am Wochenende waren sie immer besonders aufgeregt. Jeden Sonntagabend sah ich mir einen Horrorfilm an. Das war Tradition. Da meine Fantasie und Vorstellungskraft sehr ausgeprägt waren, war ich das perfekte Opfer. Und obwohl ich fast 18 Jahre alt war, fürchtete ich mich in Filmen immer noch, wenn Schatten samt gruseliger Musikuntermalung um die Wände strichen.

Meine Angst reichte natürlich nicht für alle drei Noctua. Aber Herald war schon im Ruhestand und musste offiziell keine menschliche Angst mehr für sein Kartell sammeln, und für Otiz war sie Ausbeute genug. Pünktchen nahm ich oft während meiner Urban Explorer-Missionen in verlassene Häuser oder stillgelegte Fabrikhallen mit. Die Angst, die mich dort beim Filmen oder Fotografieren gelegentlich überkam, war für sie die perfekte Dosis. Meine zwei noch aktiven Dämonen lieferten also ihren Soll an Angst in ihrem Kartell ab und würden deshalb keine Probleme bekommen. Und außerdem standen sie alle total auf Gruselstreifen, ganz im Gegensatz zu mir. Wir kannten uns nun, seit ich nach dem Tod von Mom und Dad zu Grandma und Grandpa gezogen waren. Das war inzwischen eine halbe Ewigkeit her. In meiner ersten Nacht hatten sie sich bemerkbar gemacht, und ich hatte gedacht, dass es die gleichen Dämonen wie unter meinen Kinderbettchen in meinem Zuhause gewesen waren. Sie hatten mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Doch dann hatten wir uns angefreundet, und seitdem verbrachten sie die meiste Zeit bei mir und waren Freunde geworden.

»Wollt ihr schon mal einen Film für morgen aussuchen?« Ich deutete auf mein Tablet, das auf der Tagesdecke lag. »Ich gehe eben duschen und bin in zehn Minuten wieder da.«

Pünktchen fiepte begeistert auf, Herald glitt auf vier Tentakeln blitzschnell zum Bett.

Mit einem Lachen drehte ich mich um, während hinter mir das übliche Gerangel um das Tablet begann.

*

Ich schlug die Augen auf. Mein Herz raste. Mit fahrigen Fingern strich ich mir über den feuchten Haaransatz. Ich hatte tief und traumlos geschlafen. Oder?

Mein Blick glitt zu meinem Nachttisch, wo ich die drei zerknüllten Zehner von dem Babysitter-Job bei Rachel hingeworfen hatte. Es war definitiv nicht der schlechteste Nebenverdienst. Und da ich die einzige Siebzehnjährige war, die die Dämonen oder die Noctua, wie sie sich selbst nannten, sehen konnte, war ich völlig konkurrenzlos.

Ich drehte mich auf die andere Seite und betrachtete die hellen Streifen Mondlicht auf dem Holzboden.

Ein Schatten, ein Rascheln, der Geruch von brennendem Gestein.

Ich hob den Kopf. Jemand hatte gerade mein halb geöffnetes Fenster nach oben geschoben. Ich fuhr im Bett hoch und war mit einem Schlag hellwach.

Er sitzt auf meinem Fensterbrett.

Nein. Das konnte nicht sein. Es war ein Trugbild, ganz gewiss. Ein Traum, eine Erinnerung, ein Schatten aus der Vergangenheit.

Plötzlich schien mein ganzer Körper unter Strom zu stehen.

»Erin.« Er flüsterte meinen Namen, so, wie er es Hunderte Male zuvor getan hatte. Im nächsten Moment stand er in meinem Zimmer.

Ich träume. Ich träume immer noch.

Er hatte sich verändert. Der schlaksige Junge war verschwunden. Im schemenhaften Licht machte ich lange Beine und breite Schultern aus. Das Muskelspiel an seinem Arm glich dem eines trainierten Kämpfers. Sein schwarzes Haar trug er an den Seiten kurz, die längeren Strähnen am Oberkopf glatt nach hinten frisiert.

Er ist wieder da.

Callahan Kymragh vom Kartell der Onyx, Kategorie Alpha-Dämon und Kopfgeldjäger. Cal, der Lyrik liebte und Jelly Beans und der so viele Nächte neben mir geschlafen hatte.

Ich glaube, mein Herz hat sich gerade auf die Größe eines Kirschkerns zusammengezogen.

»Verschwinde.«

Ich sah den Schock in seinem Gesicht. »Erin, lass mich ...« Er machte zwei Schritte auf mich zu.

»Nein«, unterbrach ich ihn unwirsch. »Ich will nichts hören.«

Er zuckte bei meinen Worten zusammen und blieb abrupt stehen.

»Drei Jahre, Cal«, sagte ich. »Drei lange Jahre.«

Passierte das hier wirklich? Konnte ich meinen eigenen Augen trauen?

»Ich weiß«, flüsterte er. »Das weiß ich.«

»Du weißt gar nichts.« Jetzt wurde mein Tonfall scharf. »Drei Jahre ohne ein Wort, ohne ein Lebenszeichen von dir. Ich habe gedacht, du wärst tot!« Ich schleuderte ihm die Worte entgegen. »Ich bin verrückt geworden vor Sorge!«

»Erin, ich ...« Er schien sichtlich bemüht, seine Gesichtszüge zu kontrollieren. Zuerst war da Bedauern, Schuld, aber dann ... lächelte er. »Jetzt bin ich wieder da.«

Meinte er das ernst?

Er kam noch etwas näher. »Es geht mir gut.«

»Verschwinde, sofort.«

»Jetzt komm schon.« Er schien es nicht glauben zu können, dass ich ihn rauswarf. »Echt jetzt?«

»Raus hier!« Ich benutzte meinen besten Befehlston.

Cal zuckte tatsächlich zurück.

Unter meinem Bett hörte ich die anderen vor Angst fiepen.

»Alles gut«, rief ich, obwohl das nicht stimmte.

Gar nichts ist gut.

Er war wirklich wieder hier. Der Schmerz war mit voller Wucht zurück. Und auch die unbändige Wut.

Meine Worte waren nur noch ein Flüstern. »Ich will dich nicht sehen, Cal.«

Einen ewigen Moment lang war da nichts als Stille, dann drehte er sich wortlos um, und im nächsten Moment war sein schwarzer Schatten in der Nacht verschwunden.

Kapitel 2

»Ist sie tot? Stups sie mal an.«

Valerys Stimme hatte mich längst geweckt, dennoch zuckte ich zusammen, als Jinjin mir eine Hand an die Schulter legte. Wie zu erwarten war meine Nacht wenig erholsam gewesen. Aber nach dem spontanen Besuch eines seit drei Jahren spurlos verschwundenen Freundes hätte wohl jeder schlecht geschlafen.

Ich blinzelte gegen die Sonne an, die durch die hohen Fenster der Schulbibliothek fiel. »Sag mal, bist du noch mal blonder geworden, Jin?«

Wie zur Bekräftigung strich Jinjin sich durch den kinnlangen Bob. »Jinjin heißt schließlich ›die Goldene‹. Ich bin es meinem Namen schuldig, so auszusehen.« Was sie ihrem malträtierten Haar so alles schuldig blieb, war hier die Frage. Sie verdankte es allein ihrem superteuren Bio-Shampoo mit jeder Menge Arganöl, dass sie nicht permanent aussah wie eine Katze mit gesträubtem Fell.

Valery schob meine Müdigkeit wohl auf meinen Babysitter-Job von gestern. Sie sah mich mitfühlend an, während sie ein paar Blätter in ihrem DIN-A4-Ordner abheftete. »Und was ist dein Plan für heute?«

Ich seufzte und versuchte erneut, die Müdigkeit in mir zu vertreiben. Mein Blick glitt an Valery vorbei in die Bibliothek. Trotz unseres Platzes ziemlich abseits des Trubels war meine Welt voller Noctua, also jenen Monstern und Wesen, die man sonst nur aus Horror- oder Fantasyfilmen kannte. Auf einem Bücherregal in der Nähe des Schreibtischs der Bibliothekarin lauerte ein getigertes Wesen mit durchsichtigen Flügeln und spitzen Zähnen. Trotz seiner beindruckenden Größe schwankte das Regal nicht, als es sich über seine Pfote leckte. Neben einem Mitschüler, der offenbar in letzter Minute ein Projekt für Montag fertigstellte, kauerte ein knapp 1.70 Meter großer dunkelgrüner Flughund mit dem Kopf einer blonden Frau. Sie strich ihm mit ihren Krallen durchs Haar, und es war offensichtlich, dass sie sie seine Angst absorbierte. Ein junger Typ, bekleidet in weiten Reithosen, Stiefeln und Lederhemd schien am Eingang der Bibliothek Wache zu halten und strich dabei hin und wieder seinem Reittier, einem zwei Meter großen Luchs mit dunkelroten Streifen und weißen Flügeln, sanft über den Kopf. Als sein Blick in meine Richtung glitt, tat ich schnell so, als könne ich ihn nicht sehen.

»Erin?« Valerys Stimme ließ mich den Kopf zu ihr drehen. »Sorry. Babysitten bei den Hendersons und vorher noch ein wenig Videos schneiden.«

»Hast du nicht gestern erst gearbeitet?«

Ich zuckte die Schultern. »Ja, und?«

Jinjin lehnte sich zu Valery. »Sie plant die Weltherrschaft, dafür braucht man Kapital.«

Die beiden kicherten, ich schüttelte bloß den Kopf.

Doch Valery ließ nicht locker. »Ist dein Equipment so teuer? Du hast doch mittlerweile einen Sponsor, oder? War das nicht NeutroTec?«

»Erstens nein, zweitens ja und drittens ...« Ich sprach nicht gerne darüber, aber ich wollte Valery auch nicht vor den Kopf stoßen. »Grandma malt doch so gerne. Ich will mit dem Geld eins der Zimmer bei uns renovieren und ihr ein Atelier einrichten, bevor ich nach Connecticut ziehe.«

Jinjin legte sich eine Hand auf ihr Herz. »Das ist so süß.«

Valery nickte und formte mit ihren Händen wie zur Bestätigung ein Herzchen.

Verlegen sah ich auf die Tischplatte.

Jinjin blinzelte und ließ endlich von ihrem Haar ab. »Zu dumm, dass ich eine weiße Weste brauche. Sonst wäre ich bei einem deiner Explorer-Trips mal mitgekommen. Aber bei meinem Glück erwischen mich die Cops, und das wars dann mit der Karriere.« Sie grinste. »Bei dir, als angehende Star-Fotografin, ist das im Lebenslauf vermutlich sogar cool.«

Ich gab ein unbestimmtes Brummen von mir. »Erzähl das mal meiner Grandma.« Klar, ich würde nicht wie Jinjin an der ehrwürdigen »Harvard Law School« Jura studieren und eine spitzzüngige Anwältin werden, aber Grandma war trotzdem nicht begeistert gewesen, als ich einmal von dem Sicherheitsdienst auf einem Fabrikgelände entdeckt worden war. Sie hatten Grandma angerufen, es aber bei der Androhung einer Anzeige belassen. Trotzdem bekam ich zwei Monate Stubenarrest. Mit sechzehn! Die Schmach, zu Hause zu sitzen wie ein Kleinkind, war fast noch schlimmer gewesen als der verletzte Stolz, erwischt worden zu sein.

In diesem Moment tauchte Rhonda zwischen den Regalreihen auf, schwer bepackt mit drei dicken Wälzern. Auch sie lächelte mir zu, doch anders als bei den anderen fand ich in ihrem Blick keine Neugier, sondern nur Mitgefühl. Rhonda und Jinjin waren neben Dylan die Einzigen, denen ich von Cal erzählt hatte. Meine Grandma wusste zwar von all den dämonischen Kreaturen, die ich tagtäglich sah, aber Cal war immer mein Geheimnis geblieben. Vermutlich auch, weil ich mir von Anfang an sehr sicher gewesen war, dass sie es niemals gestattet hätte, dass ein fremder Junge, Dämon oder menschlich, ständig bei mir übernachtete. Ob sie mir glauben würde, dass wir über den einen, den ersten und zugleich letzten Kuss, niemals hinausgekommen waren?

Jedenfalls hatte ich Rhonda gestern Nacht noch getextet. Und obwohl es mitten in der Nacht gewesen war, hatte sie mich sofort angerufen. Ich war unendlich dankbar dafür, denn nachdem Cal verschwunden war, war ich aufgelöster, als ich zugeben wollte. Es hatte gutgetan, mit ihr darüber zu sprechen, und Rhonda hatte mich schließlich beruhigen können. Natürlich hatten wir auch spekuliert, warum er plötzlich wieder da war und was er in der Zwischenzeit so getrieben hatte.

Mein bester Freund Dylan war meine Mitte, mein Ruhepol, mein Anker, aber Rhonda war meine Seele. So wie Cal mein Herz gewesen war. Rhonda und ich standen uns so nah wie Schwestern, und wir teilten jedes Geheimnis. Mit Jinjin verband mich eine enge Freundschaft und auch sie wusste, dass ich die Noctua sehen konnte.

Und Valery mochte ich sehr, aber sie war nicht eingeweiht. Sie war mit ihren Eltern erst in der zehnten Klasse hierhergezogen, und wir waren uns sofort sympathisch gewesen. Doch die Vertrauensbasis der anderen, mit denen ich praktisch aufgewachsen war, hatten wir nie erreicht.

Gerade ließ Rhonda die drei Bücher in die Mitte unseres Tisches gleiten, bevor sie neben mir Platz nahm. Jinjin und Valery stöhnten simultan auf.

Jinjin ließ den Kopf auf den Tisch sinken. »Es gibt da diesen Comicbuchladen, und er ruft schon seit zwei Stunden meinen Namen.« Sie hob den Kopf. »Ich gebe euch einen Froyo aus, wenn ihr mich begleitet.«

»Super Plan«, erwiderte Valery. »Aber anders als du müssen wir uns eine Seite nicht nur durchlesen, um sie danach auswendig rezitieren zu können, Einstein.« Sie lächelte schief und es war klar, dass ihre Worte nicht böse gemeint waren. »Es gibt da etwas, das wir Normalsterbliche machen, und das heißt lernen. Sie rahmte das letzte Wort in imaginäre Anführungszeichen. »Ich weiß, das sagt dir nichts, aber für uns gehört das einfach dazu. Und so schlimm ist es auch eigentlich gar nicht.« Sie seufzte. »Aber du hast recht. Mein Kopf raucht schon. Sollen wir nicht Schluss machen? Ich habe leichte Kopfschmerzen, und mein Hals kratzt. Hoffentlich werde ich nicht krank.«

»Dann solltest du dich ausruhen«, erwiderte Rhonda. »Geh ruhig, wir machen nur kurz was fertig und verschwinden dann auch, oder?« Sie sah fragend zu Jinjin und mir.

Ich nickte. »Gönne dir etwas Ruhe. Wir machen auch gleich Schluss.«

»Bin ganz eurer Meinung.« Jinjin lächelte Valery an. »Sieh zu, dass du Land gewinnst, und lass dich zu Hause etwas bemuttern.«

»Danke euch.« Valery begann gerade ihre Sachen zu packen, als eine große Gestalt an unserem Tisch auftauchte. »Hallo Ladies.« Unser Klassenkamerad Jamie war auf eine märchenprinzhafte Weise schön. Sanft gelocktes dunkelblondes Haar, strahlend blaue Augen, 1.90 Meter Körpergröße verteilt auf sportliche Anmut, garniert mit einem liebenswerten Wesen und jeder Menge Charme.

Und Jinjin war seit Beginn der High-School total verknallt in ihn.

»Hi Jamie«, sagten Valery und ich gleichzeitig. Rhonda nickte ihm lächelnd zu, Jinjin erstarrte und fixierte verlegen ihre Unterlagen. Ich ahnte sofort, dass Jamies Auftauchen kein Zufall war, auch wenn er jetzt so tat. Unser Tisch war der letzte und lag ganz hinten in der Bibliothek bei den Büchern über Geographie. Hier verirrte sich niemand nur aus Zufall hin, weshalb er mein Lieblingstisch war. Wir waren hier ungestört. Eigentlich.

»Was steht bei euch heute noch an?«, fragte Jamie mit seiner angenehm tiefen Stimme und sah dabei eigentlich nur Jinjin an.

Rhonda und ich hatten seit der zehnten Klasse eine Wette laufen, dass Jamie genau so sehr auf Jinjin stand, wie sie auf ihn, die beiden es nur einfach nicht schafften, zusammenzukommen, weil niemand den ersten Schritt machte. Denn obwohl Jamie einer der beliebtesten Schüler der Schule war, Kapitän des Lacrosse-Teams, Vorsitzender der Politik-AG und unser Stufensprecher, war er kein bisschen eingebildet. Im Gegenteil, kannte man ihn besser, wusste man, dass er ein nachdenklicher Typ war, dem die Aufmerksamkeit, die ihm tagtäglich zuteilwurde, gar nicht so wichtig zu sein schien.

»Wir arbeiten noch an unserem Projekt«, erwiderte Rhonda.

»Jinjin möchte uns zu einem Trip in den Comicbuchladen überreden«, erzählte Valery mit einem Grinsen.

Jinjin zuckte bei ihren Worten zusammen und murmelte dann: »Das war nur eine Idee ...«

»Cool, da wollte ich auch ewig mal wieder hin.« Wieder wanderte Jamies Blick zu Jinjin. Kaum, dass er wegsah, knuffte ich sie auffordernd in die Seite. Das war doch jetzt die Gelegenheit, sich mit ihm zu verabreden. Wir anderen könnten so tun, als hätten wir plötzlich doch keine Zeit, und die beiden könnten zusammen einen Trip dorthin machen. Das war vertrautes Terrain für Jinjin und das Thema Comics etwas, bei dem sie sich wohlfühlte, und über das sie stundenlang reden konnte. Besser könnte es doch gar nicht sein!

»Mir fällt gerade ein, dass ich gleich noch etwas für meine Mutter erledigen muss«, sagte Jinjin.

Es war doch nicht zu glauben. Wir Mädels schienen alle simultan innerlich aufzustöhnen, wenn man den Blicken nach ging, die wir uns zuwarfen.

Jamie schien die komische Stimmung zu spüren, denn er trat sofort den Rückzug an. »Okay, schade.« Er warf Jinjin einen letzten prüfenden Blick zu, dem sie konsequent auswich. »Dann noch viel Erfolg für das Projekt.« Er strich sich eine verirrte Strähne aus der Stirn. »Ich muss dann auch mal los. Man sieht sich.«

Und weg war er.

Wir alle sahen Jinjin fassungslos an. Sie wurde auf ihrem Stuhl immer kleiner.

»Ich verstehe das mit euch beiden echt nicht.« Valery raffte auch noch den Rest ihrer Sachen zusammen und erhob sich dann mit einem Arm voller Unterlagen. »Jetzt hat er doch den Anfang gemacht, und du hast wieder abgeblockt.« Sie schüttelte den Kopf. »So wird das echt nie was, und es ist so schade, weil ich glaube, ihr beide passt echt gut zusammen. Wie dem auch sei.« Valery schafft es, irgendwie auf ihre Smartwatch an ihrem Handgelenk zu gucken, obwohl sie so schwer beladen war. »Ich werde mal los. Wenn ich mich ein wenig beeile, schaffe ich noch den Bus um Viertel vor. Wir sehen uns. Macht's gut, Mädels!«

Wir verabschiedeten uns von ihr und wünschten ihr noch mal gute Besserung, bevor Rhonda und ich uns zu Jinjin drehten.

»Das war echt eine Steilvorlage«, sagte Rhonda, doch ihre Stimme klang nicht so vorwurfsvoll wie die von Valery. »Warum bist du nicht darauf eingegangen?«

»Keine Ahnung«, murmelte Jinjin. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, und ihr Blick glitt an uns vorbei. »Irgendwie war mein Kopf plötzlich wie mit Watte gefüllt, ich konnte keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen, und ich hatte Angst, irgendetwas Dummes zu sagen.«

»Aber er war doch auch nervös«, erwiderte ich. »Das hat man doch gesehen. Und bei ersten Treffen sagt man auch immer etwas Dummes und denkt, der andere habe es gemerkt, aber man bildete sich alles nur ein. Wenn du ihn wirklich kennenlernen willst, dann musst du dich ein wenig beeilen. Die Schulzeit ist fast vorbei, und wer weiß, wohin ihn sein Weg führt.«

»Er geht auch nach Harvard«, murmelte Jinjin.

»Was?« Rhonda schoss in ihrem Stuhl hoch, als habe sie eine Sprungfeder im Rücken. »Aber das ist ja noch viel besser! Dann müsst ihr keine Fernbeziehung führen, wenn ihr euch verliebt.«

»Ja klar«, murmelte Jinjin. »Und der Harvard-Campus ist voller toller Mädchen, die zudem auch noch mega schlau sind.«

»Ja, und?«, erwiderte ich. »Du bist auch ein tolles Mädchen, das mega schlau ist. Und er steht total auf dich. Du brauchst ihm praktisch nur deine Hand zu reichen, und ihr könntet gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten. Versuche es doch wenigstens mal.«

»Ich kann gar nicht reiten«, brummte Jinjin.

»Du weißt genau, wie ich das meine, und-«

»Ehrlich gesagt, könnten wir jetzt auch mal über dich reden«, unterbrach mich Jinjin. »Immerhin hast du die brisanteren Neuigkeiten vorzuweisen. Jamie und ich schleichen schon so lange umeinander rum. Das, was dir passiert ist, ist doch wesentlich spannender. Ich meine, Cal ist wieder da. Das ist doch absolut krass.«

Jinjin hatte geschickt das Thema gewechselt, das musste ich ihr lassen. Und als der Name Cal fiel, war ich es, die plötzlich nervös wurde. Natürlich hatte ich meine Freundinnen bereits eingeweiht, doch alle Details seines Besuchs kannten sie noch nicht. Da ich wusste, dass wir in unserer Ecke ungestört waren, gab ich ihnen noch mal eine Kurzfassung.

»Ich fand das ja damals schon so krass«, sagte Rhonda. »Dass es echt eine eigene Dimension gibt, in der sie leben. Das es quasi eine Parallelwelt gibt, die neben unserer existiert und die sich so krass von unserer Erde unterscheidet. Wenn das publik würde, wäre das eine Riesensensation.«

»Ich vertraue da auf euer Stillschweigen«, sagte ich eindringlich, und meine Stimme war automatisch etwas leiser geworden. »Obskuris und die Noctua müssen ein Geheimnis bleiben.«

»Und er war wirklich drei Jahre lang komplett verschwunden?« Ich zuckte mit den Schulter. »Sonst hätte ich euch garantiert davon erzählt.«

»Wahnsinn.« Jinjin lehnte sich wieder in ihrem Stuhl zurück. »Das ist echt so unglaublich. Jetzt ist er plötzlich wieder da, wie aus dem Nichts. Findet ihr das nicht auch seltsam?«

Rhonda und ich nickten beide. Ich wollte Cal natürlich glauben, doch sein Auftauchen hatte mich gewaltig durcheinandergebracht.

»Er ist ein sogenannter Alpha, richtig?«, wollte Jinjin wissen. »Ich fürchte, ich brauch eine kleine Auffrischung, was das alles angeht. Deine drei Mitbewohner sind Gamma. Also stehen sie in ihrem Rang unter ihm, wenn ich das richtig behalten habe. Und was waren noch mal die anderen zwei Kategorien? Und warum nennst du sie manchmal Dämonen? Sie haben doch eigentlich alle Namen.«

»Sie nennen sich selbst Noctua. Bei den menschlichen Begriffen, die sie beschreiben, kommt der Begriff Dämon ihnen am nächsten, auch wenn sie ihn nicht besonders mögen.«

Ich griff nach einem meiner Skizzenbücher und schlug es auf. Dort drinnen hatte ich Zeichnungen zu allen Kategorien. »Und du hast recht. Cal ist ein Alpha. Sie sind die Anführer von Obskuris, und die meisten von ihnen haben ganz normale Berufe wie Handwerker oder so und sammeln zusätzlich Angst, wenn sie auf der Erde patrouillieren. Aber eigentlich sind sie hauptsächlich auf der Erde unterwegs, um zu kontrollieren, dass die Beta und Gamma sich benehmen. Sie sehen aus wie Menschen, außer, dass sie kleine besondere Attribute haben. Zum Beispiel Fangzähne, Kiemen am Hals oder exotische Augenfarben. Sie sind die einzige Kategorie, die sich für die Menschen sichtbar machen können. Und wenn sie sich unserer Mode entsprechend kleiden, würden sie alle als Menschen durchgehen, wenn man nicht zu genau hinsieht.« Ich zeigte ihnen Bilder von Cal, die ich gemalt hatte, nachdem er verschwunden war. »Natürlich sieht er jetzt älter aus, aber wie ihr seht, sieht er aus wie wir.«

Jinjin biss sich auf die Unterlippe. »Und er ist echt hübsch. Sieht er jetzt immer noch genauso gut aus?«

Ich nickte schnell und blätterte dann hastig weiter. Ich wollte mir jetzt nicht überlegen, wie attraktiv Cal geworden war. »Das sind Beta. Sie stehen einen Rang unter den Alpha in der Hierarchie der Noctua. Die Beta sind immer Mischwesen aus Mensch und Tier.« Ich deutete auf eine Zeichnung von einem Wesen, das den Körper eines Skorpions hatte und den Oberkörper eines Mannes. Die nächste Zeichnung zeigte eine Frau, die den Kopf einer Schlange besaß. »Sie sind die einzige Kategorie Monster, die sich unsichtbar machen können, was echt unheimlich ist. Die können durch Wände gehen und so. Cal sagt, so können sie besonders schnell zu einem Menschen gelangen, der gerade Angst hat.«

»Wie unheimlich.« Rhonda wich ein Stückchen zurück. »Die sehen ja schon echt gruselig aus. An diesem Punkt sollte man froh sein, dass der Großteil der Menschheit die Noctua nicht sehen kann.« Sie rieb sich unbehaglich über die Arme. »Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, was sie so alles mitkriegen und beobachten.«

»Da stimme ich dir voll und ganz zu«, sagte Jinjin. Sie deutete auf die Frau mit dem Schlangenkopf. »Obwohl die ein bisschen aussieht wie eine Göttin.«

Ich nickte. »Das stimmt. Viele Götter des alten Ägypten zum Beispiel sehen eigentlich aus wie Beta. Deshalb habe ich ja die Theorie, dass es schon vor mir Menschen gab, die die Noctua sehen konnten.«

»Das ist zu cool«, murmelte Jinjin, während ich weiter durch meinen Skizzenblock blätterte. »Und das sind die Gamma.« Ich deutete auf diverse Zeichnungen, die ich von Pünktchen, Herald und Otiz angefertigt hatte. Dann folgten Zeichnungen von einigen Gamma, die mir in Kinderzimmern begegnet waren. »Sie sind die dritte Kategorie der Noctua, und ihre Aufgabe ist es, Menschenkinder zu erschrecken. Für uns Erwachsene sehen sie eigentlich ganz niedlich aus, finde ich.« Rhonda und Jinjin nickten beide lächelnd, als sie sich die Fotos ansahen.

»Pünktchen ist echt goldig«, murmelte Rhonda. »Ich würde sie so gerne mal in echt sehen.«

»Ja, sie ist wirklich süß.« Ich strich über eine der Zeichnungen, die Pünktchen zeigten, wie sie auf einem Paar meiner Sneakers schlief. Dann blätterte ich weiter. »Und das ist ein Delta.« Ich zeigte ihnen eine Zeichnung von Nyncis. »Cal hat mir erzählt, dass es sich bei den Delta immer um Tiere handelt, die keine menschlichen Attribute besitzen. Also Pferde, Wölfe, Hunde, Vögel und so weiter, und sie besitzen auch alle Flügel.« Ich zeigte ihnen noch ein paar Bilder, die geflügelte Hunde, Pferde und Katzen zeigten, die ich genauso überdimensional groß dargestellt hatte, wie ich sie in den Straßen gesehen hatte. »Die Delta sind die Reittiere. Sie sind niemals allein unterwegs, immer nur mit ihrem Reiter, einem Alpha. Sie besitzen ähnliche Attribute wie die Alpha, lassen sich also eindeutig einem Kartell zuordnen. Alpha und Delta bilden eine untrennbare Einheit. Man trifft also hier auf der Erde niemals einen Delta ohne seinen Reiter an.« Ich deutete auf ein paar Zeichnungen, die ich von Alpha zusammen mit ihren Delta angefertigt hatte.

»Okay, ihre Namen sind also von dem griechischen Alphabet abgeleitet«, sagte Rhonda. »A wie Alpha, B wie Beta, C wie Gamma, wenn man es mit C schreiben würde, und D wie Delta, richtig? So kann man sich das eigentlich ganz gut merken. A, B, C und D.«

»Das stimmt.« Ich blätterte weiter in meinen Zeichnungen.

Die letzte zeigte eine streng blickende Frau, die neben einem geflügelten Leoparden stand, der mit scharfem Blick direkt zu mir zu sehen schien. Ich hatte das Duo vor einem Jahr vor einem Café erblickt und sie so faszinierend gefunden, dass ich sie aus meinem Gedächtnis heraus später zu Hause einfach malen musste.

»Wow.« Jinjin beugte sich noch etwas näher zu der Zeichnung. »Sie sieht auch irgendwie aus, als wolle ich ihr nicht im Dunkeln begegnen. Aber nicht so, als würde ich damit rechnen, dass sie mir ein Messer in die Brust rammt, eher so, als würde sie mir mit strenger Stimme befehlen, endlich ins Bett zu gehen.«

Rhonda lachte. »Genau das gleiche habe ich auch gerade eben gedacht.«

»Na ja, die Alpha sind ja auch nicht böse. Soweit ich weiß, sind keine Noctua böse. Sie sammeln ja einfach nur unsere Angst und tun niemandem irgendetwas. Sie sind keine Bedrohung für die Menschen.«

»Und hast du mit ihr geredet?« Jinjin deutete auf die Zeichnung der Frau mit ihrem Leoparden. »Können sie alle sprechen? Vielleicht hast du das schon mal erwähnt, aber ich habe es vergessen. Quatschst du mit manchen von ihnen, wenn du sie so im Alltag siehst?«

Ich schüttelte den Kopf. »In den meisten Fällen tue ich so, als würde ich sie nicht sehen. Das vermeidet unnötige Aufmerksamkeit, die ich nicht haben will. Und ja, die Alpha und die Beta können alle reden. Von den Gamma können nicht alle sprechen. Pünktchen quatscht mich die ganze Zeit voll, Herald hält gerne Monologe, aber Otiz hat noch nie ein Wort gesprochen. Die Delta, die Reittiere, können generell nicht sprechen.

»Alpha, Beta, Gamma, Delta ...« Rhonda zählte die Kategorien erneut leise auf. »Ich glaube, jetzt habe ich´s.«

»Und ich glaube, ich brauche jetzt dringend nen Kaffee«, lachte Jinjin. »Wie sieht´s aus, Mädels. Seid ihr dabei?«

Kapitel 3

»Sag mal, weißt du eigentlich auch, wie die Noctua in Obskuris leben? Gibt es unterschiedliche Staaten oder Länder? Davon hast du noch nie erzählt.« Jinjin umfasste ihren Becher mit zwei Händen und ließ den Rest ihre Kaffees darin kreisen.

Wir hatten inzwischen unseren Kram zusammengepackt und die Bibliothek verlassen. Jetzt saßen wir in einem gemütlichen Café unweit der Schule und hatten tatsächlich einen Platz in der Sonne ergattert. Um uns herum war so viel los, dass wir nicht Gefahr liefen, auf neugierige Ohren zu treffen. Und die nächsten Noctua befanden sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor der Filiale einer Bank.

»Richtig. Die Dimension, also Obskuris, ist in zehn Kartelle unterteilt. Sie sind alle gleich groß, und die Bewohner der jeweiligen Kartelle kann man sich wie ein eigenes Volk vorstellen. Die Alpha eines bestimmten Kartells haben alle besondere Merkmale, an denen sie eindeutig zu identifizieren sind.« Ich nahm einen Schluck Kaffee, bevor ich weitersprach: »Ich glaube nicht, dass ich die Kartelle jetzt alle noch zusammenkriege, aber Cal gehört zu den Onyx. Sie alle haben schwarze Haare und leicht spitze Eckzähne. Außerdem reflektieren ihre Augen das Licht, die dann grün schimmern. Sie sind die Kopfgeldjäger von Obskuris, das heißt, sie jagen und fangen straffällig gewordene Noctua jeder Kategorie und führen sie dann ihrer Verhandlung und der gerechten Strafe zu. Cal hat mir früher oft davon erzählt, und ich weiß, wie gefährlich das sein kann. Gerade die Beta und die Delta sind gefährliche Gegner. Außerdem nennen die Onyx ihr Kartell selbst Grenzland, weil man, egal durch welche Leylinie man Obskuris betritt, immer zuerst im Kartell der Onyx landet. Das scheint so eine Eigenart zu sein, die nicht zu ändern ist. Oh, und dann gibt es noch das Kartell der Cobalt. Sie haben Kiemen am Hals, und ich meine, dass sie sehr geschickt sind in allem, was mit Mechanik und Technik zu tun hat. Ach ja, und meine drei Gamma gehören zum Kartell der Amber. Sie sind die Künstler. Und dann gibt es noch die Emerald. Ihre Anführer sind für das Bankwesen zuständig und sind wohl sehr korrekt und etwas steif. Die anderen Namen der Kartelle habe ich echt nicht mehr auf dem Schirm.«

»Was gäbe ich darum, mir diese Welt mal anzusehen«, seufzte Jinjin nun. »Seit du erzählt hast, dass sie auf großen Luftschiffen leben, war ich so was von angefixt. Da würde ich gerne mal Urlaub machen.«

»Ich würde Obskuris auch so gerne mal besuchen«, sagte ich sehnsuchtsvoll, dennoch wusste ich, dass das für mich nicht möglich war. Es würde alles für immer ein Traum bleiben. »Ich würde gerne mal sehen, was sie mit unserer Angst machen«, sagte ich leise. »Schließlich ist unsere Angst dafür verantwortlich, dass ihre Dimension bestehen bleibt.«

»Ich finde, allein dafür, dass sie eigentlich von uns abhängig sind, müssen sie uns das Recht einräumen, Obskuris mal besuchen zu dürfen.« Rhonda verschränkte die Arme vor der Brust und grinste. »Oder?«

Auf die Idee war ich noch gar nicht gekommen. »Vielleicht sollte ich vor Cal mal damit argumentieren.« Ich konnte mir schon lebhaft vorstellen, wie er all seine verbalen Künste aufwenden würde, um mich davon abzubringen.

»Das waren jetzt ganz schön viele Informationen.« Rhonda stellte den leeren Becher vor sich ab, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schloss die Augen, als die Sonne sie blendete. »Danke dir für das Update. Jetzt bin ich wieder auf dem neuesten Stand. Sollen wir los?«

»Gerne«, sagte ich und merkte erneut, wie sich der Schlafmangel der letzten Nacht trotz des Koffeinkicks bemerkbar machte. Hoffentlich würde ich neben dem Videoschneiden noch eine kleine Pause einlegen können, bevor ich zum Babysitten fahren musste.

»Alles klar, das klingt doch gut. Und Erin verspricht, dass sie uns auf dem Laufenden hält, sollte ihr mysteriöser dämonischer Freund wieder auftauchen«, schlug Jinjin vor.

»Gute Idee.« Ich schob mir den letzten Rest meines Cookies in den Mund und unterdrückte ein Gähnen.

Jinjin grinste. »Ich jedenfalls habe alles behalten und es hat mich auch nicht müde gemacht. Ist doch alles ganz simpel. Es gibt zehn Völker, die sich Kartelle nennen und in zehn Gebieten wohnen, die alle gleich groß sind, aus denen die Dimension Obskuris besteht. Ein Kartell besteht aus Noctua aller vier Kategorien. Alpha, Beta, Gamma und Delta. Das ist doch eigentlich alles.«

»Schon klar, Superhirn.« Rhonda warf ihre Stifte in ihr Mäppchen. »Sollte irgendwann mal alles rauskommen und eine Diplomatin gesucht werden, die dann als Botschafterin in Obskuris lebt, dann solltest du dich bewerben.«

Jinjins Grinsen wurde noch breiter. »Ich wäre so was von dabei.«

*

Ich hatte mein Tablet auf den Knien abgelegt und beantwortete gerade einige Kommentare auf Instagram. Es war kurz nach acht Uhr und Evan und Holly lagen friedlich in ihren Betten. Bisher hatte es keine Probleme mit Monstern unterm Bett gegeben, weshalb ich relativ entspannt war. Bei manchen Kindern schienen die Gamma niemals aufzutauchen, andere wurden eine Weile von ihnen erschreckt, und dann schienen die Gamma weiterzuziehen. So oder so, mir war es egal. Gab es Geschrei aus den Kinderzimmern, sorgte ich dafür, dass es aufhörte. Blieb alles ruhig, war ich zufrieden.

Ich war zwar das erste Mal bei den Hendersons, doch bis jetzt lief alles wie am Schnürchen. Und, wie sollte es anders sein, hörte ich genau in diesem Moment Evans Stimme über das Babyphone.

Natürlich. Er gab leise Geräusche von sich, die klangen, als würde er schlecht träumen. Ich legte das Tablet neben mich auf die Couch, um nach ihm zu sehen.

Auf leisen Sohlen schlich ich die Treppe hinauf. Direkt gegenüber voneinander befanden sich die zwei Kinderzimmer. Evans Tür war nur angelehnt. Da es draußen noch etwas hell war, hatte ich die Jalousien heruntergelassen. Und trotzdem erkannte ich sofort, was los war. Eine violett leuchtende Zahnfee stattete Evan einen Besuch ab. Er war vor Kurzem fünf Jahre alt geworden, es war also kein ungewöhnlicher Anblick, diese Art Gamma in seinem Zimmer anzutreffen.

Als Evan jedoch erneut jammerte, trat ich leise näher an sein Bett, um einen genaueren Blick auf ihn werfen zu können. Er hatte den Mund leicht geöffnet und schien tatsächlich schlecht zu träumen. Wieder erklang ein leises Jammern aus seiner Kehle.

Erst dann entdeckte ich, dass die Zahnfee ihre kleinen klauenbewehrten Hände um Evans wackelnden Schneidezahn gelegt hatte.

Was ging denn hier ab?

Normalerweise waren die Zahnfeen Sammler, sie lebten von den Kinderzähnen und waren harmlos, genau wie alle Noctua der Kategorie Gamma. Ich kam noch ein wenig näher, dann knipste ich die Nachttischlampe an.

Das Leuchten verschwand, stattdessen erschien milchige Haut, die violett schimmerte. Fünf kleine krumme Bein, die geformt waren wie die von Insekten, sie aber trotzdem aufrecht stehen ließen. Flügel, die staubig wirkten, mit zarten Adern und je einer Kralle am oberen Ende. Dünne lange Arme mit Händen, die in sechs Fingern endeten. Ein kleines spitzes Gesicht mit großen schwarzen Augen, einer Öffnung, wo sich eigentlich die Nase befinden sollte und scharfen Zähnen hinter einem lippenlosen Mund.

Schön war definitiv anders.

Ich beugte mich noch näher. Die Zahnfee verharrte in der Position, aber sie floh nicht. Sie ging schließlich davon aus, dass ich sie nicht sehen konnte.

Weit gefehlt, Sportsfreund.

Evan jammert immer noch leise.

»Hände weg von dem Schneidezahn, Elfe.« Zahnfeen hassten es, wenn man sie mit den Elfen verwechselte. Elfen waren niedlich und harmlos, Feen waren es nicht. Ganz einfach.

Die Zahnfee verengte die Augen zu Schlitzen, während sie von Evan abließ und sich gleichzeitig zu mir umdrehte. Ein violett schimmernder Nebel drang aus jeder ihrer Poren.

Oha, da war jemand aber so richtig sauer.

»Dummes ... Mädchen.« Ihre Stimme klang, als riebe Stein über Stein.

»Ich bin kein Mädchen«, erwiderte ich. »Ich bin die Frau, die dich das Fürchten lehrt, wenn du nicht den Rückzug antrittst.« Ich deutete auf das Fenster, das auf kipp stand. »Pronto, Genosse.«

Ich sah den Kampf in ihrem Innern. Sie knirschte mit den Zähnen. Kämpfen oder fliehen, kämpfen oder fliehen ...

Evan war zum Glück nicht aufgewacht. Jetzt schloss sich sein Mund langsam, und das Jammern wich einem leisen Schmatzen.

Ich deutete mit dem Kopf erneut auffordernd auf das Fenster.

Die Zahnfee fauchte mich an. Ihr Mund vergrößerte sich auf den Durchmesser eines Papierkorbs. Ihre Zähne waren plötzlich so lang wie Obstmesser.

Das war mir neu.

Doch schon im nächsten Moment sah sie wieder aus wie vorher. Ich wich trotzdem überrascht zurück.

Und die Zahnfee ... kicherte.

Bevor mir etwas Schlagfertiges einfiel, deutete sie mit einem dürren Finger auf die Zimmertür hinter mir. »Pronto, Genosse.«

Sie stolperte über die Aussprache, die Worte waren ihr fremd, aber sie kaschierte es fast perfekt.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber sonst geht's dir noch gut, ja?«

Die Zahnfee erhob sich in die Luft und musterte mich erneut, als wolle sie tatsächlich abschätzen, mit wie viel Kilogramm Gegenwehr sie rechnen musste.

Ich deutete mit dem Kopf in Richtung der Fenster. »Du weißt, was ich von dir will. Und ich wiederhole mich ungern.«

Plötzlich lief ein Zittern durch den Körper der Zahnfee. Ihre Pupillen schienen wie auf Knopfdruck groß und samtig zu werden. Die Augen glänzten feucht. »Bitte ...« Sie wirkte regelrecht verzweifelt.

Was war hier los?

»Brauche ... Zahn.«

»Wofür denn so dringend?«

Sie schüttelte den Kopf. »Bitte ... Zahn ...«

Woher sollte ich denn jetzt einen Milchzahn zaubern?

»Komm wieder, wenn er Evan ausgefallen ist. Du kennst doch das Spiel.«

In diesem Moment klappte besagter Zahnspender die Augen auf. »Was ist los?« Evan klang verschlafen.

Ich beugte mich zu ihm und strich ihm kurz übers Haar. Vermutlich war hier Pragmatismus die beste Vorgehensweise. »Alles in Ordnung, Evan. Sag mal, was macht eigentlich der wackelnde Schneidezahn?«

Subtilität war nicht gerade eine meiner Stärken.

»Ach, der ...« Evan setzte sich auf und legte zwei Finger um den Zahn. »... der ist total locker, das nervt.« Und im nächsten Moment spuckte er ihn in seine Hand.

Neben mir begann die Zahnfee vor Aufregung zu zittern. Ihre Flügel vibrierten, was einen hohen Ton erzeugte und Evan den Kopf in ihre Richtung drehen ließ.

»Ihhhhhh!«, erklang sein hohes Kreischen. »Eine Spinne, da fliegt eine große Spinne!«

Die Zahnfee reagierte sofort und hob die dürren Arme, als wolle sie etwas auffangen. Ich war mir sehr sicher, dass sie nun Evans unsichtbare Angst sammelte.