A Spark of Time - Ein Date mit Mr Darcy - Kira Licht - E-Book

A Spark of Time - Ein Date mit Mr Darcy E-Book

Kira Licht

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Beschreibung

Mit Bestsellerautorin Kira Licht auf den Spuren von Jane Austen

Lillys Herz ist gebrochen, seit sie ihre große Liebe Ray auf der Titanic zurücklassen musste. Aber dann steht er plötzlich in ihrem Haus und offenbart sich ihr als Damien Belmont. Er klärt sie über seine wahren Beweggründe auf, was Lilly sprachlos und verletzt zurücklässt. Als jedoch kurz darauf ihr Vater entführt wird, ist sie gezwungen, mit Damien zusammenzuarbeiten. Ihre Reise führt sie zurück in die Regency-Zeit, wo sie sich als entfernte Verwandte von Jane Austen ausgeben. Lilly fällt es zunehmend schwer, in ihrer Rolle zu bleiben - zu groß sind ihre Wut und Enttäuschung über Damiens Lügen. Doch als sich unerwarteter Besuch bei Jane Austen ankündigt, werden Lillys Gefühle ordentlich durcheinandergewirbelt. Denn wer könnte schon einem Date mit Mr Darcy widerstehen?

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Seitenzahl: 498

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Titel

Impressum

Trigger

Widmung

A Spark of Time - Ein Date mit Mr Darcy

Part 2

Part 3

Danksagung

Anhang

Die Regency-Zeit – reale Orte und Personen

Die Zeit des Orientfeldzugs – reale Orte und Personen

Inhaltsinformation

Weitere Titel der Autorin:

Gold & Schatten – Das erste Buch der Götter

Staub & Flammen – Das zweite Buch der Götter

Kaleidra – Wer das Dunkel ruft

Kaleidra – Wer die Seele berührt

Kaleidra – Wer die Liebe entfesselt

Ich bin dein Schicksal – Dusk & Dawn 1

Wir sind die Ewigkeit – Dusk & Dawn 2

A Spark of Time – Rendezvous auf der Titanic

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieses Werk wird vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Copyright ® 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Christiane Schwabbaur, München

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille, Köln

Covermotiv: © Bachkova Natalia/shutterstock; krsmanovic/shutterstock; MariaArt/shutterstock; Steve Heap/shutterstock; Android Boss/shutterstock; Likanaris/shutterstock; Quang Ho/shutterstock; Helenaa/shutterstock; Xiao Chen studio/ shutterstock

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7517-5990-8

one-verlag.de

luebbe.de

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Dazu findet ihr genauere Angaben am Ende des Buches.

ACHTUNG: Sie enthalten Spoiler für das gesamte Buch.

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eurer Team vom ONE-Verlag

„You must allow me to tell youhow ardently I admireand love you.“- Mr Darcy

Jane Austen, Pride and Prejudice

Teil 1

Es endet mit Schmerz und Herzklopfen.

Kapitel 1

Lilly

»Wer bist du?«

Die Flamme des Feuerzeuges warf tanzende Schatten auf Rays Gesicht. Der Rest seines Körpers war in der allumfassenden Dunkelheit nur zu erahnen.

Schon wieder zog mein Herz sich vor Schmerz zusammen. Seine Züge waren mir so vertraut. Diese ernsten grauen Augen, der sanft geschwungene Mund, das energische Kinn. Und jetzt? Jetzt war er ein Fremder, der meine Welt in Stücke gerissen hatte. Er hatte mich belogen, betrogen und vorgeführt.

»Bitte, Lilly, lass mich alles erklären.« Seine Stimme war leise und Erschöpfung schwang darin mit.

Mein Blick glitt zu seiner linken Hand. Er hatte das Heiligste meiner Familie gestohlen. Nur Minuten später und er hätte sich mit unserem Zahnrad, dem Werkzeug, mit dem wir durch die Zeit reisten, auf und davon gemacht. Der Gedanke daran war so ungeheuerlich, dass ich scharf Luft holte.

Meine verletzten Gefühle? Mein blutendes Herz? Meine Seele? Nein.

Nichts war im Moment wichtiger als dieses winzige Stück Metall. »Gib mir das Zahnrad.«

Ich hatte die Worte kaum ausgesprochen, da beugte ich mich vor und schnappte es ihm aus der Hand.

Er leistete keine Gegenwehr, sah mich nur unverwandt an. Langsam ließ er die Hand sinken. »Lilly, bitte.«

Im nächsten Moment war ich auf die Füße gesprungen. Ich ließ das Zahnrad in meine Hosentasche gleiten, während ich rückwärts zum Lichtschalter ging. Zum Glück verbargen sich in unserer Kleiderkammer noch mehr Waffen. Als die Kronleuchter aufleuchteten, deutete ich mit der Klinge eines Wurfmessers in seine Richtung. »Aufstehen. Ganz langsam.« Die anderen drei schmalen Messer hielt ich so in der Hand, dass ich sie bei Bedarf werfen konnte.

Ray ließ das Feuerzeug verschwinden und kam geschmeidig auf die Füße.

Schon wieder durchlief mich eine Welle des Schmerzes. Ich sah ihn vor mir in einem seiner teuren Anzüge, umgeben von den Hunden der Titanic, die ich so liebgewonnen hatte. Mit einem Lächeln auf seinem Gesicht, das mich all die Misshandlungen durch die Gräfin hatte vergessen lassen. Das Bild war so real, dass ich keuchte.

Ich hatte gedacht, ich hätte ihn verloren. Und dieser Gedanke hatte dafür gesorgt, dass ich meinen Erfolg nicht hatte genießen können. Ich war das erste Mal allein gereist und hatte den Auftrag erfüllt. Ich hatte Dad und mich aus der finanziellen Not befreit. Aber Ray hatte ich nicht vergessen können. Und jetzt wusste ich überhaupt nicht mehr, was ich denken sollte. Wie konnte er hier sein?

Ray steckte das Feuerzeug weg und wollte auf mich zukommen. Doch schnell hob ich die schmale Klinge, bereit, sie zu werfen. »Bleib, wo du bist.«

Wenn er mir zu nah kam, würde er mich entwaffnen, so wie er es vorhin getan hatte. Diesen Vorteil würde ich ihm nicht noch mal verschaffen.

Ray atmete aus, und ein Seufzen schwang darin mit. »Ich würde dir niemals etwas tun.«

»Das hast du bereits!«, rief ich und hasste es, wie verletzt ich klang. »Und jetzt wolltest du mich auch noch bestehlen.« Immer noch zweifelte ich an meinem Verstand. Immer noch konnte ich nicht glauben, welches Bild mir meine Augen zeigten. Ray trug moderne Kleidung. Er sprach amerikanisches Englisch. Es wirkte, als wäre er in dieser Zeit ... zu Hause. Aber das konnte nicht sein! Es gab keine anderen Zeitreisenden. Unsere Fähigkeit war einzigartig. Mit dieser Wahrheit war ich aufgewachsen. Diese Wahrheit war über Jahrzehnte in meiner Familie überliefert worden.

»Ich erzähle dir alles.« Ray hob beide Hände in einer beschwichtigenden Geste. »Alles. Das schwöre ich.«

»Dann los.« Nach außen hin klang ich kalt, doch innerlich zerbrach ich immer noch.

Ray ... Warum? Wie war all das passiert?

Ray sah mich an, als würde jeder meiner Gedanken in Leuchtschrift auf meiner Stirn stehen. Seine Stimme war jetzt sanft. »Mein Name ist Damien Belmont. Ich entstamme einer Familie von Zeitreisenden, genau wie du. Hier.« Er zeigte mir seine Handfläche. »Die drei kleinen Muttermale, die zu den Zargen meines Familienzahnrads passen.«

Damien. Sein echter Name war Damien, nicht Ray. Er war nicht der, der er war. Nicht Ray, nicht der Sohn des berühmten Ingenieurs Thomas Andrews. Ein Teil von mir hatte es bereits geahnt, doch die Worte aus seinem Mund zu hören, war trotzdem ein Schock und das, was daraus folgte, erst recht. Wir waren nicht allein. Es gab andere wie uns.

Mein inneres Zittern wurde stärker. Aber warum hatte er sich mir dann nicht direkt vorgestellt? Wir hätten bereits auf der Titanic zusammenarbeiten können. Wenn seine Familie Kunstdetektive waren so wie Dad und ich, hätten wir uns gegenseitig unterstützen können.

Er zögerte kurz, dann sprach er weiter. »Im Auftrag meines Vaters stehle ich die Zahnräder der anderen Zeitreise-Familien. Eigentlich sollte -«

Mein schockiertes Keuchen ließ ihn innehalten. Hatte ich richtig gehört? »Du stiehlst die Zahnräder?« Zahnräder im Plural? Das hieß, es gab noch mehr Familien, die ... Der Gedanke schwebte durch meinen Kopf, flüchtig und kaum greifbar, bevor sich ein neuer Gedanke manifestierte. »Du ...« Alles war nur eine Lüge gewesen, ein lächerliches Schauspiel. »Du solltest mich also schon auf der Titanic bestehlen?«, würgte ich hervor. Mir war schlecht vor Scham und Abscheu. Er hatte mich so vorgeführt. Und ich hatte mich so sehr von ihm verzaubern lassen, während er es die ganze Zeit darauf abgesehen hatte, die Lebensgrundlage meiner Familie zu stehlen.

»Richtig.« Damien senkte kurz den Blick. »Eigentlich sollte meine Schwester Ruby diesen Auftrag übernehmen«, sprach er weiter, und ich spürte, wie er sich um einen möglichst sachlichen Ton bemühte. »Aber dann bin ich eingesprungen.«

Moment mal. Sein Nachname war Belmont. Ein seltener Name. Und schon wieder hätte ich fast gekeucht. Ruby Belmont. Ruby ist seine Schwester? Ruby, die angehende Ballerina, hatte fünf Monate lang bei uns im Laden gearbeitet. Sie war zwar nicht die beste Aushilfe gewesen, aber ich hatte sie gemocht. Dad hatte ihr vertraut, sie sogar allein im Laden gelassen. Und genau wie Ray, nein, Damien, hatte sie uns bestehlen sollen. Und sie war uns so verdammt nah gekommen.

Meine Knie begannen so stark zu zittern, dass ich in der Luft um mich herum nach Halt tastete.

»Lilly.« Damien wollte zu mir eilen.

»Nein.« Ich machte ein paar unsichere Schritte zur Seite, das Messer in meiner rechten Hand immer noch auf ihn gerichtet.

Damien blieb wie angewurzelt stehen. Sein Blick wirkte verletzt.

»Jedes deiner Worte war eine Lüge«, wisperte ich. »Und jetzt siehst du mich so an?« Schon wieder lief ein Zittern durch meinen Körper. »Du siehst mich so an?« Tränen stiegen wieder in meine Augen. »Du?« Das letzte Wort war als Schrei aus meiner Lunge entkommen.

Damien schluckte hart. »Nicht jedes Wort war eine ...«

»Halt den Mund!«, schrie ich ihn an. »Wage es nicht, mir noch mehr Märchen aufzutischen.«

Ich war immer noch fassungslos, wütend und verletzt. Trotzdem sah ich mich suchend um. »Wie bist du hier reingekommen?«

»Durch dein Zimmer.«

Schon wieder durchlief mich ein Zittern. Er war in meinem Zimmer gewesen. Hatte es vermutlich sogar durchsucht. Und er hatte den geheimen Zugang im Kamin entdeckt. Das hier wurde mit jedem seiner Worte schlimmer und schlimmer. Ich hatte genug. »Hast du ein Telefon bei dir?«

Er nickte. »Natürlich.«

»Gib es mir.«

Argwöhnisch sah er mich an.

»Ja, richtig«, sagte ich und lächelte ihn falsch an. »Ich werde jetzt die Polizei rufen. Du kannst mir viel erzählen. Aber in erster Linie bist du ein Einbrecher und ein Dieb.«

Damien runzelte die Brauen. »Du willst ihnen euer geheimes Archiv zeigen? Ich bin mir ziemlich sicher, dass es auf keinem Bauplan eingezeichnet ist. Sonst hätte mein Vater es längst entdeckt.«

Er hielt sich wohl für ganz besonders schlau. »Ich werde behaupten, du bist in mein Zimmer eingebrochen. Vermutlich bist du über die Feuertreppe gekommen. Es wird Spuren geben.«

Damien ließ die Schultern hängen. »Lilly, im Ernst. Was soll die Polizei hier?«

Es machte mich wütend, dass er so gefasst wirkte. »Sie wird dich mitnehmen und einsperren.«

»Aber ...«

»Aber was?«, blaffte ich. »Du bist derjenige, der Zahnräder stiehlt. Deshalb wolltest du mir mein Zahnrad entwenden. Ich aber will nichts von dir.« Die Worte taten weh, als ich sie aussprach, und ich senkte kurz den Kopf, um seine Reaktion nicht sehen zu müssen. »Ich brauche weder deine Hilfe noch sonst etwas von dir. Mein Vater und ich müssen uns jetzt einen Plan überlegen, wie wir unser Zahnrad vor deiner Familie schützen können. Das ist das Einzige, was für mich zählt. Und wenn ich dich aus dem Verkehr ziehen kann, weil die Polizei dich für ein, zwei Tage festhält, dann werde ich das tun. Und jetzt gib mir das Handy.« Nochmals streckte ich auffordernd die Hand aus.

»Tu das nicht«, sagte er leise, reichte mir jedoch sein Telefon.

So gern ich direkt den Notruf gewählt hatte, ich konnte es nicht. Ich hatte geblufft, war so durcheinander, dass ich mich nicht entscheiden konnte, was richtig oder falsch, klug oder dumm war. Ich wünschte, ich könnte mich kurz mit meinem Vater besprechen. Aber ich würde ihm all das schonend beibringen müssen. Ich hatte Angst um seine Gesundheit, sein Herz und was diese schockierenden Neuigkeiten mit ihm machten. Ich war auf mich allein gestellt.

»Lilly ...«

Damiens Stimme riss mich aus meinen fieberhaften Gedanken. Ich sah ihn an. Und wieder war er nicht Damien, sondern Ray. Der liebenswerte und tierliebe junge Mann, der mir das Herz gestohlen hatte. Damien Belmont hingegen kannte ich nicht. Oder besser gesagt, ich kannte ihn nur als denjenigen, der meine Familie ins Unglück stürzen wollte.

»Ich will nicht, dass es so endet.«

Er sprach so leise, dass er kaum zu verstehen war.

»Was du willst, ist mir egal.« Immer noch klang meine Stimme abweisend und gefühllos.

Er runzelte die Stirn. »Es war so nicht geplant«, stieß er dann hervor. »Ich bin nur gereist, weil ich verzweifelt war. Weil ich gehofft habe, irgendeine Lösung zu finden, während ich auf der Titanic bin. Ich stehe nicht hinter den Plänen meines Vaters. Im Gegenteil, ich misstraue ihnen zutiefst. Ich habe in seinem Büro das Hologramm einer Taschenuhr gesehen, in der sich alle Zahnräder der Zeitreisenden befanden. Ich bin mir sicher, dass er diese Uhr real besitzt. Er schweigt sich darüber aus, und genau deshalb bin ich mir sicher, dass da noch viel mehr ist. Dass diese Uhr Kräfte besitzt, die wir noch gar nicht einschätzen können. Mein Vater führt selten Gutes im Schilde, ganz besonders wenn es um die Zeitreisenmagie geht. Ich muss ihn endgültig aufhalten.«

Das alles klang so ungeheuerlich, ich konnte ihm nicht glauben. Und es ließ meine Wut noch höher aufflammen, weil ich schon wieder befürchtete, dass er mir für seine Zwecke nur die halbe Wahrheit sagte.

»Und deshalb stiehlst du mein Zahnrad?«

»Er erpresst mich mit Ruby.« Jetzt klang seine Stimme vor Nervosität ganz rau. »Er hat veranlasst, dass sie an einer Medikamentenstudie teilnimmt. Sie ist in eine Klinik eingewiesen worden. Mein Vater ist sehr mächtig, er kann Menschen einfach verschwinden lassen. Ruby geht es schlecht, sie hat starke Nebenwirkungen, und ich mache mir große Sorgen um sie. Mein Vater lässt sie gehen, wenn ich die letzten zwei Zahnräder auftreibe.«

Sein Vater hatte was getan? Das war doch nicht möglich. Belog er mich schon wieder? Wollte er, dass ich über dem Mitleid für Ruby einknickte? Ich wollte etwas erwidern, da hob er die Hände. »Bitte, hör mir noch einen Moment lang zu. Ich habe einen Plan. Ich werde ...«

»Nein«, unterbrach ich ihn. »Das mit Ruby ist furchtbar und tut mir sehr leid. Ich mag sie. Aber wir haben ein funktionierendes Rechtssystem, und ich bin mir sicher, dass dein Vater nicht über dem Gesetz steht. Er kann nicht einfach Leute irgendwo einweisen. Selbst ein Arzt braucht dafür eine zweite Meinung. So funktioniert das nicht.« Ich sah ihn unverwandt an. »Du erzählst mir irgendeine rührselige Geschichte, damit ich einknicke. Aber so dumm bin ich nicht. Du hast mich einmal vorgeführt. Das wird kein zweites Mal passieren. Und jetzt werde ich ...«

Ich kam nicht dazu, weiterzusprechen. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte ich, dass er eine Entscheidung getroffen hatte. Und schon im nächsten Moment war er halb an mir vorbeigestürmt.

Wütend schrie ich auf, schwang herum und warf eins der Messer. Nicht, um ihn ernsthaft zu verletzen, aber aufhalten wollte ich ihn auf jeden Fall. Ich zielte auf seine Waden.

Doch er schien zu wissen, was ich vorhatte. Das Messer wirbelte durch die Luft, aber er schlug einen Haken.

»Ray!« Ich rief seinen Namen, den Namen, mit dem ich ihn kennengelernt hatte, und nahm die Verfolgung auf.

Er war schon im Archiv und verschwand jetzt im Kamin. Er war unglaublich schnell. Auf der Treppe nach oben hörte ich ihn ein Stockwerk über mir.

Nochmals schrie ich wütend seinen Namen.

»Behalt das Telefon«, erklang es von oben. »Dann weiß ich wenigstens, wie ich dich erreichen kann.«

Ich brüllte auf vor Wut und hätte das Telefon fast nach ihm geworfen, tat es dann aber doch nicht.

Schon hatte er den obersten Stock erreicht.

Als ich aus dem Kamin in mein Zimmer trat, stand eines der Fenster offen, die zur Feuertreppe führten. Ich rannte bis zum Geländer und sah hinunter. Von Damien fehlte jede Spur.

Kapitel 2

Damien

Der blasse Sekretär im Vorzimmer meines Vaters sprang auf, als ich mit einem kurzen Gruß an ihm vorbeigehen wollte.

»Bitte, Damien, Sie können nicht einfach ...«

»Tut mir leid, es ist dringend.« Es fiel mir immer schwer, den arroganten Schnösel zu spielen, aber ich war noch verdammt sauer und wollte diese Stimmung nutzen, mich meinem Vater zu stellen.

»Dad, ich habe es geschafft. Hier ...« Mit diesen Worten platzte ich in sein Büro und hielt im nächsten Moment inne, weil der Stuhl hinter seinem Schreibtisch leer war. Irritiert blieb ich stehen.

Der Sekretär war mir dicht auf den Fersen. »Sir, es tut mir leid ...«

Ich sah mich kurz zu ihm um. Er wirkte genauso überrascht wie ich. Die Treppe zu den privaten Räumen meines Vaters war heruntergefahren. Tagsüber verschwand sie normalerweise hinter einer Luke, die er mit einer Fernbedienung öffnen konnte. Was war also los? Zu dieser Tageszeit war er normalerweise in seinem Arbeitszimmer anzutreffen. Als Workaholic hielt er Mittagspausen für eine Erfindung der Menschen, die sich auf der Verliererseite befanden.

»Komm rauf, Champ«, erklang plötzlich die Stimme meines Vaters von oben. Ich ging in Richtung Treppe, während der Sekretär die Tür zum Büro schloss.

Die Anzahl der Male, die ich zusammen mit meinem Vater in seinen privaten Räumen gewesen war, konnte ich an einer Hand abzählen. Ich erinnerte mich kaum noch an die Einrichtung.

Ich sah mich suchend um, und der Anblick, der mich erwartete, hätte mich nicht mehr überraschen können, als wenn ich morgens mit einem dritten Auge auf der Stirn aufgewacht wäre. Mein Vater stand in seinem Badezimmer, einem riesigen Raum aus Chrom und schwarzem Marmor, lediglich bekleidet mit einem Badehandtuch um die Hüften und einer Tuchmaske auf dem Gesicht.

Ich blieb in gebührendem Abstand stehen und starrte ihn an.

»Da bist du ja.« Mein Vater klang verdächtig gut gelaunt.

Ich betete inständig, dass er nicht auf die Idee kommen würde, mich zu umarmen. Sicherheitshalber wich ich noch ein paar Schritte zurück. »Soll ich später noch mal wiederkommen?«

»Nein, nein. Berichte mir. Ich nehme an, du warst endlich erfolgreich?« Wieder sah er zu mir und grinste dann.

Mit der weißen Tuchmaske auf dem Gesicht sah er aus wie der Psycho, der er tatsächlich war.

»Ich war erfolgreich.«

Konnte er sich bitte etwas anziehen? Sein bereits ergrautes Brusthaar war kein schöner Anblick.

»Großartig.« Mein Vater ging an mir vorbei.

Ich folgte ihm in sein Ankleidezimmer. Dort machte er ein paar Kniebeugen vor dem gläsernen Schuhschrank, und ich rechnete jeden Moment damit, dass das Badehandtuch sich von seiner Hüfte löste. Ich sah zu Boden. Der Anblick würde sich in mein Gehirn brennen, was ich gern vermeiden würde.

Erst als er schnalzte, sah ich wieder auf. Mein Vater streckte die Hand in meine Richtung aus und schnippte auffordernd.

Ich gab ihm das Zahnrad der Familie deGray und wich dann einen ausreichenden Sicherheitsabstand zurück. Warum hatte er so gute Laune? Das war immer verdächtig.

Mein Vater betrachtete das Zahnrad und pfiff dann anerkennend durch die Zähne. »Gut gemacht, Champ. An diesem kleinen Ding habe ich mir die Zähne ausgebissen. Wie hast du es angestellt?«

Könntest du dir bitte vorher etwas anziehen? Sein Handtuch war beunruhigende zwei Zentimeter tiefer gerutscht.

»Champ?«

Ich blinzelte. »Lilly hatte es immer noch in dem Anhänger, in dem sie es auf der Titanic versteckt hat. Ich bin einfach nur in ihr Zimmer rein und dort lag er zufällig herum.«

Ganz bestimmt würde ich nicht das geheime Archiv der Familie deGray verraten.

Mein Vater zog anerkennend die Augenbrauen hoch. »Und dabei bist du nicht entdeckt worden?«

Ich schüttelte den Kopf. »Sie waren beide unten im Laden.«

Mein Vater kicherte. Es war ein hämisches, widerliches Geräusch, das mir eine Gänsehaut über den Körper jagte.

»Ach, was wäre ich gern Mäuschen, wenn sie sein Fehlen bemerken.« Er hielt inne. »Ob sie es schon suchen? Vielleicht könnte ich eine Drohne hinschicken ...«

»Das war gestern Nachmittag, Dad. Du weißt doch, dass ich die Nacht in New York verbracht habe und dann nach Hause geflogen bin. Außerdem habe ich das Geheimfach offen gelassen, sodass Lilly sein Fehlen sofort bemerkt.« Ich wollte um jeden Preis verhindern, dass mein Vater eine Drohne zu den deGrays schickte.

Doch er schien zufrieden. Noch mal kicherte er, legte das Zahnrad in ein Regalfach und zog sich dann das Handtuch von der Hüfte.

Ich schaffte es in letzter Sekunde, die Augen zu schließen. Schnell drehte ich mich von ihm weg.

»Warum so gute Laune?«, fragte ich mit ihm zugewandten Rücken.

Hinter mir hörte ich ihn eine Schranktür aufziehen. »Ich spiele gleich Golf mit Warren Smithers. Habe den Termin so früh wie möglich gemacht, damit er es von mir erfährt.« Er lachte heiser. »Dieser eingebildete Knilch hat sich ewig um ein KI-Start-up bemüht. Hat diesen drei kleinen Bill-Gates-Kopien Honig um den Bart geschmiert, sie zum Essen eingeladen und ihnen teure Spielzeuge gekauft. Wollte ihr Hauptinvestor werden. Aber dann kam ich ins Spiel und habe so viel geboten, dass sie mit fliegenden Fahnen zu mir übergelaufen sind. Und genau das werde ich ihm gleich erzählen. Was bin ich auf sein dummes Gesicht gespannt.«

»Verstehe.« Es kostete mich einiges, meine Stimme unbeteiligt klingen zu lassen. Die Schadenfreude meines Vaters fand ich einfach nur abstoßend und irgendwie auch kindisch. So als hätte er einem Spielkameraden im Sandkasten ein Förmchen weggenommen, das er jetzt triumphierend in die Höhe hielt, während der andere in Tränen ausbrach.

Anhand der raschelnden Geräusche folgerte ich, dass er endlich eine Hose anhatte. Ich drehte mich um und blinzelte vorsichtig. Ein Glück, er trug eine helle Chino. Obenrum war er immer noch nackt, aber das ignorierte ich, genauso wie die verstörende Tuchmaske.

Das Zahnrad lag nicht mehr im Regal.

Ich straffte die Schultern. »Ich möchte mit Ruby sprechen.«

»Ach, Champ.« Mein Vater schloss den Gürtel an seiner Hose. Irrte ich mich, oder schwang in seiner Stimme schon wieder ein Lachen mit? Dann ging er mit schnellen Schritten an mir vorbei. »Du erledigst jetzt noch eben den letzten Auftrag, und dann findet die große Familienzusammenführung statt, versprochen.«

Ein Cocktail verschiedenster Emotionen wallte in mir auf. Fassungslosigkeit, Wut und der dringende Wunsch, ihn quer durch dieses Zimmer zu werfen.

Sie ist deine Tochter, wollte ich ihn anbrüllen. Warum sprichst du über sie, als würde sie dich nichts angehen?

Innerlich zitterte ich, zerfloss vor Sorge um Ruby, fühlte mich wund und roh von dem Streit mit Lilly. Aber ich schaffte es, dass meine Stimme immer noch unbeteiligt, ja fast gelangweilt klang. »Ich will wissen, ob es ihr gut geht.«

Mein Vater war in seinem Badezimmer angekommen, ich war im Türrahmen stehen geblieben. »Es geht ihr gut.« Er sah mich nicht an, stattdessen zog er sich die Tuchmaske vom Gesicht. Mit einer Faszination des Grauens beobachtete ich, wie er die verbliebene Lotion vorsichtig in seine Haut einklopfte. Ich wusste, dass er eitel war. Aber das hier?

»Dein letzter Auftrag ist ein Kinderspiel. Wäre ich nicht so ausgebucht, würde ich es selbst kurz erledigen.«

Ich musste mich zwingen, nicht zu lachen. Mein Vater reiste schon lange nicht mehr. Und zwar nicht aus Zeitmangel, sondern aus Angst vor den Nebenwirkungen. Schwindel, Übelkeit, Herzrasen. Sie wurden schlimmer, je älter man wurde, und genau dafür hatte er schließlich uns, Ruby und mich, angeschafft.

Ich war stolz auf mich, denn meine Miene blieb unbewegt. »Wo geht es hin?«

»Ins Jahr 1809 ins Regency-England.« Er gluckste und drehte sich dann vor dem Spiegel, um sich im Profil zu betrachten. »Ein Kinderspiel, sage ich dir«, wiederholte er sich. Auch das war nie ein gutes Zeichen.

Ich nickte nur. Wenn sich die Spur eines Zahnrads im Laufe der Geschichte verlor, dann reiste man in die Zeit, in der man den letzten Beweis für seine Existenz fand. Doch das kam nicht oft vor, denn die meisten Zahnräder hatte ich in der Gegenwart gestohlen. Die Eigentümer wussten nichts mehr von ihren Kräften und bewahrten dieses Erbstück meist nur wenig gesichert auf. Ich war erst dreimal für ein Zahnrad in die Vergangenheit gereist, und ein Kinderspiel war die Suche dort nie gewesen. Warum also war mein Vater überzeugt, dass es so leicht werden würde?

Er war mit seinem Schönheitsprogramm fertig, denn er hatte von irgendwoher ein Unterhemd vom Haken genommen und zog es über. »Lass dir von Sebastian die Akte geben, und dann nimm dir zwei, drei Tage Zeit dafür. Flieg irgendwohin, wo es nett ist. Cabo, Hawaii, die Bahamas. Mach dir eine schöne Zeit, entspann dich ... Und nebenbei bereitest du dich vor. Du wirst sehen, es wird alles ganz easy.«

Mir brannte eine Frage auf der Zunge. »Und dann?«

»Was und dann?« Wieder ging mein Vater an mir vorbei, und ich folgte ihm. Im Ankleidezimmer riss er eine weitere Schranktür auf und betrachtete seine große Auswahl an Polohemden. »Glaubst du, ich gebe dich zur Adoption frei, weil ich danach keine Verwendung mehr für dich habe?« Er lachte über seinen eigenen Witz.

»Ich meine die Taschenuhr«, erwiderte ich ungerührt. Ich spielte auf das Hologramm an, dass ich vor meiner Abreise auf die Titanic in seinem Büro gesehen hatte. Es war eine Taschenuhr gewesen, von der ich mir relativ sicher war, dass in ihrem Inneren die Zahnräder der Zeitreisenden verbaut gewesen waren. Warum weigerte mein Vater sich so hartnäckig, mir zu erzählen, was es damit auf sich hatte? Die Uhr hatte funktioniert, ihre Zeiger hatten sich gedreht. Besaß er diese Uhr im wahren Leben? Was wusste er über ihre Kräfte? Denn dass sie etwas Besonderes war, dessen war ich mir ganz sicher. Ihr Metall hatte auf den ersten Blick wie Gold ausgesehen, aber je öfter ich darüber nachdachte, desto mehr erinnerte ich mich an den seltsamen Schimmer auf ihrer Oberfläche. Was hatte das zu bedeuten? Hatte mein Vater ein neues Metall erfunden? Eine neue Legierung? Ich traute ihm so ziemlich alles zu. Diese Uhr musste eine ganz besondere Funktion haben. Und dass mein Erzeuger sich so darüber ausschwieg, machte mich nicht nur noch neugieriger, es bewies auch, dass es sich hierbei um etwas Großes handeln musste.

Mein Vater hatte in seiner Bewegung innegehalten, sein Blick war kühl. »Wir reden darüber, wenn wir alle Zahnräder haben. Das hatte ich dir doch gesagt.«

Er wollte das Thema beenden. Aber ich war gerade in der richtigen Stimmung, ihn ein wenig damit zu nerven. »Warum reden wir nicht jetzt darüber? Vielleicht motiviert mich das ja.«

Er lachte höhnisch, während er nach einem Polohemd griff. »Du tust mir einen Gefallen. Was brauchst du da als guter Sohn für eine Motivation?«

Ich verschränkte die Arme über der Brust. »Du erpresst mich mit Ruby, das ist meine Motivation.«

Die Art, wie er die Hände um eins der Regalbretter legte und seufzte, verriet mir, dass seine Laune kurz davor war zu kippen. Und das wollte ich nicht. Ich wollte ihn ein wenig mit der Taschenuhr ärgern, aber ich wollte nicht, dass er ausrastete. Es würde meine Pläne gefährden. Also lenkte ich ein. »Na gut, verschieben wir die Sache mit der Uhr, aber bitte lass mich kurz mit Ruby sprechen. Nur ein paar Minuten.«

Mein Vater seufzte, zog sich ein Polohemd über und wandte sich mir zu. »In Ordnung. Nach meinem Termin.« Er machte eine Geste mit der Hand, die mich verscheuchen sollte. »Und jetzt lass dir von Sebastian die Regency-Akte geben. Wir sehen uns später.«

Ich nickte, scheinbar geschlagen und doch zufrieden, und verließ die privaten Räume meines Vaters. Auf der Treppe hinab in sein Büro schlich sich ein Lächeln auf meine Züge. Natürlich würde ich nach meinem Telefonat mit Ruby von hier verschwinden. Aber ich würde mir keine Auszeit in irgendeinem teuren Luxusresort in der Karibik gönnen.

Ich ließ mir von dem Sekretär beim Hinausgehen die Akte geben und wollte gerade weiter über meine Pläne nachdenken, da gab mein Telefon, das dritte Modell innerhalb weniger Tage, den typischen WhatsApp-Gong von sich. Es war ein Wunder, dass ich bei dem rasanten Wechsel meiner Handynummern überhaupt noch von irgendjemandem kontaktiert wurde. Es war Brantley.

»Du bist also wieder im Lande. Ich warte noch auf eine Revanche. Wie war New York?«

Ich wusste, was er in Wahrheit wissen wollte. Wie geht es Ruby? Mein nerdiger Kumpel Brantley war seit der Highschool in meine ein Jahr ältere Schwester Ruby verknallt. Leider nur beruhte diese Zuneigung nicht auf Gegenseitigkeit.

Ich antwortete ihm knapp, dass die Zeit mit Ruby sehr schön gewesen war und ich heute Abend leider schon verabredet wäre.

»Egal«, kam es daraufhin von ihm zurück, doch ich hörte seine Enttäuschung. »Muss eh Bewerbungen schreiben. Meine Eltern zwingen mich zu einem Nebenjob, bis das College anfängt.«

»Wo bewirbst du dich für einen Job?«

Brantley klang genervt. »Ich bin ein Technik-Nerd und werde Informatik studieren. Also bei gefühlt allen Tech-Start-ups im Valley.«

Ich dachte kurz nach. »Soll ich meinen Vater fragen? Ich mache für dich was klar.«

Sofort änderte sich seine Laune. »Mann, das wäre großartig.« Er war so begeistert, dass seine Stimme sich überschlug. »Er ist ein Riesenplayer am Markt. Und ich kann mir die fünfzig Bewerbungen sparen, auf die sowieso niemand reagiert.«

»Dann mache ich das.«

»Ich danke dir. Du bist der Beste.«

Mittlerweile hatte ich das Haus durchquert und meine eigenen Räume erreicht. Auf dem Weg hatte ich noch schnell eine Mail an einen Mitarbeiter meines Vaters geschickt, der das Personal der meisten Start-ups verantwortete und meinen Vater in CC gesetzt. Ich war mir sicher, Brantley würde mit seiner Qualifikation innerhalb von zwei Tagen einen Job haben.

In meiner Abwesenheit war alles geputzt und aufgeräumt worden. Ich ließ den Blick über die Designermöbel und die viele Technik schweifen. Das alles hier gehörte mir, aber es war kein richtiges Zuhause. Unwillkürlich dachte ich an Thomas Andrews, den Ingenieur der Titanic, dessen Sohn ich gespielt hatte. Thomas war mir in diesen wenigen Tagen mehr ein Vater gewesen, als mein leiblicher Erzeuger es je sein würde. Und jetzt fehlte er mir. Ich blinzelte, um die Bitterkeit zu vertreiben, die in mir aufsteigen wollte. Er war ein guter Mann gewesen, und ich hätte ihm ein langes und glückliches Leben gewünscht.

Und wie von selbst wanderten meine Gedanken weiter zu Lilly. Mein schlechtes Gewissen war auf dem Schiff schon unglaublich groß gewesen. Aber da hatte ich es verdrängen können, hatte mich ablenken können mit der Vorfreude auf unsere Treffen. Jetzt war ich allein. Allein mit meinen Gedanken, der Schuld und dem Schmerz. Lilly fehlte mir, und ich hasste es, dass es jetzt so zwischen uns war. Ich sah sie vor mir. In der schlichten Uniform eines Dienstmädchens und am Abend des Balls in diesem wunderschönen Kleid, das all ihre Rundungen sanft umschmeichelt hatte. Ihr süßes Gesicht, ihre Haare mit dem ganz besonderen Farbton, ihre sanfte Stimme und der Blick, den sie mir immer nur zuwarf, wenn sie sich sicher gewesen war, dass ich es nicht bemerkte. Das Gefühl von Sehnsucht drohte mich zu überwältigen. Ich hatte noch niemals so intensiv für jemanden empfunden. Ruby liebte ich, und sie entfachte in mir einen wilden Beschützerin‍stinkt. Ich wollte, dass es ihr gut ging, ich wollte, dass sie gesund wurde und ein sorgenfreies, glückliches Leben hatte. Aber mit Lilly würde ich bis an den Rand der Welt reisen und darüber hinaus.

Ich warf mein Telefon und die Akte aufs Bett. Einen Moment lang betrachtete ich das Tablet, bemüht darum, mich nicht von den Erinnerungen und meinen Gefühlen überwältigen zu lassen. Neugierig, bei wem sich das Zahnrad befand, war ich schon, und ins Regency-England war ich nie gereist, doch jetzt hatte ich keinen Kopf dafür. Ich schob die gläserne Schiebetür auf und trat hinaus auf meinen Balkon, der in Richtung eines kargen, sandigen Landstrichs ging. Noch nicht erschlossenes Baugebiet, das mein Vater um der Aussicht willen gekauft hatte. Was er an Sand und Kakteen fand, hatte ich nie verstanden.

Auf dem Balkon war es unglaublich heiß, und die Sonne blendete mich, dennoch blieb ich stehen und ließ meinen Blick bis zum Horizont schweifen.

Ich dachte an den Plan zurück, der in mir erwacht war, als mein Vater mich am Flughafen abgefangen hatte und in einen der Räume der Security hatte bringen lassen. Ich würde verhindern, dass er alle Zahnräder an sich brachte. Natürlich hatte ich ihm gerade nicht das echte Zahnrad der Familie deGray ausgehändigt. Das war immer noch in Lillys Obhut. Ich war ein ausgebildeter Dieb, ein Profi mit flinken Fingern, und hatte in der Kleiderkammer der deGrays einen Abdruck gemacht, bevor Lilly mich erwischt hatte. Dann ließ ich bei einem Juwelier meines Vertrauens in New York in einer Nachtschicht eine Kopie anfertigen, die ich soeben meinem Vater übergeben hatte.

Der Schwindel würde auffliegen, sobald er das letzte Zahnrad in seine Taschenuhr einsetzen würde. Und genau deshalb ging mein Plan noch weiter. Ich würde die zwei Tage Freizeit nutzen, um zurück nach New York zu reisen. Ich musste mich einfach mit Lilly aussöhnen und sie in meine Pläne einweihen. Ich hoffte und betete, dass sie mir vergeben und dann mit mir zusammenarbeiten würde.

Mir war klar, dass es nicht einfach werden würde. Lilly war wütend auf mich, und das zu Recht. Es stach schmerzhaft in meinem Bauch, als ich an ihre Worte dachte. Belogen, benutzt, vorgeführt. Sie hatte mit allem recht.

In einem schwachen Moment wünschte ich mich zurück auf die Titanic. Unsere Zeit bei den Hunden, die wir beide so sehr genossen hatten. Der kleine Ball, nur für uns zwei, den ich organisiert hatte, um ihr eine Freude zu machen. Ihr Lachen, ihr wunderschönes Lächeln, der Duft ihrer Haut. Die Erinnerungen brachen erneut so machtvoll über mich herein, dass ich meine Hände wie von selbst um die Balkonbrüstung krallte. Das Gefühl ihrer Haut auf meiner, der Geschmack ihrer Küsse, diese Leidenschaft, die doch nur das Sahnehäubchen so vieler anderer Gefühle war. Sympathie, Freundschaft, Vertrauen.

Ich ließ die Brüstung abrupt los. Vertrauen, das ich missbraucht hatte. Ich straffte die Schultern und wandte mich vom Horizont ab. Es lag nun an mir. Ich durfte Lilly nicht verlieren, ich konnte es mir gar nicht vorstellen. Ich würde alles dafür tun, dass sie mir verzieh.

Mein Blick fiel wieder auf das Tablet. Auf dem Flug nach New York zurück zu Lilly würde ich mir die Unterlagen gründlich durchlesen und genug auswendig lernen, um meinem Vater später erfolgreich vorzugaukeln, dass ich ins Regen‍cy-‌England reisen würde.

Ich lächelte grimmig. Ja, Dad, ich werde in die Vergangenheit reisen. Aber nicht ins Regency, die Zeit, die du mir vorgegeben hast.

Stattdessen wollte ich herausfinden, wann und wie meine Familie in den Besitz ihres Zahnrads gelangt war. In diese Zeit würde ich reisen und tun, was ich tun musste. Nervosität stieg in mir auf, als ich über die Tragweite meiner Entscheidung nachdachte. Ich würde in der Vergangenheit die Zukunft ändern, um die Menschheit vor meinem Vater zu schützen.

Kapitel 3

Lilly

Ich saß in dem kleinen Gewächshaus, das meine Mutter zu einem Atelier umgebaut hatte. Der Stuhl vor ihrem Zeichenpult knarrte leise, als ich mich bewegte. Die Sonne stand schon tief über der Skyline von New York.

Hier oben auf dem Dach hatte ich mich immer frei gefühlt, irgendwie leichter und in der Nähe von Moms Sachen geborgen. Doch der Sturm in meinem Inneren kam nicht zur Ruhe. Mit einem frustrierten Seufzen klappte ich das vor mir liegende Tagebuch zu. Nur, um es im nächsten Moment wieder aufzuschlagen. Es war ein hübsches Exemplar, gebunden in helles Leder, mit gleich zwei Lesebändchen und ausgestattet mit Papier, das seidenweich raschelte, wenn man durch die Seiten blätterte. Seiten, die immer noch leer waren. Meine Mutter und mein Vater hatten es mir zu meinem 14. Geburtstag geschenkt und sich darin verewigt.

Ich strich über die ausgeblichene Tinte, während ich den Schriftzug las, den ich auswendig kannte.

Für unsere kleine Wühlmaus. In Liebe, Mom und Dad.

Sie waren der Meinung gewesen, ich war alt genug für ein Tagebuch und sollte meine Erinnerungen festhalten. Außerdem glaubte Mom, dass es half, die Gedanken zu sortieren. Und jetzt, da ich in so einer schwierigen Situation steckte, war es mir wieder eingefallen. Doch ich brachte es einfach nicht über mich. Ich fand keinen Anfang. Ich wollte mich sortieren, ich wollte eine Ordnung in all dieses Gefühlschaos bringen, aber jedes Mal, wenn ich nach einem Stift griff, war ich wie gelähmt. Ich war gefangen in den Erinnerungen, die mich verfolgten. Die Flucht von der Titanic, mein drohendes Ertrinken, der Verlust von Ray, der sich dann als Damien vorgestellt und mein Herz entzweigerissen hatte – all das ließ mich nicht los. Viele Stunden waren vergangen, in denen ich mich immer wieder dazu zwingen musste, mir nichts anmerken zu lassen. Ich wollte meinem Vater alles erzählen, aber auch hier fand ich den Anfang nicht.

Und seit drei Stunden bekam ich Nachrichten von Damien. Er schrieb mir auf dem Handy, das er bei seiner Flucht aus unserem Haus hiergelassen hatte. Er bombardierte mich nicht, aber er schickte jede Stunde eine Nachricht. Natürlich hätte ich ihn blockieren können, aber das tat ich nicht. Ob ich es nicht wollte oder ob ich mich auch hier einfach nicht aufraffen konnte, das wusste ich nicht.

Ich war leer. Ich hatte keine Gefühle mehr. Ich hatte sie alle in den letzten Tagen aufgebraucht.

Und als hätte Damien gespürt, dass ich an ihn dachte, leuchtete der Bildschirm erneut auf.

Lilly, bitte. Ich bin in New York. Aber ich will nicht vor deinem Haus auftauchen wie ein verdammter Stalker. Bitte antworte mir, und lass uns ein Treffen ausmachen. Bitte lass mich alles erklären.

Ich las die Textnachricht auf dem Bildschirm, und als dieser wieder schwarz wurde, wandte ich mich dem Tagebuch zu. Noch mal strich ich mit dem Finger über die Schrift. Ich will nicht, dass es so endet. Dieser Satz hallte in meinem Kopf wider. Er hatte ehrlich geklungen. Aber was wusste ich schon? Damien hatte mich während der Zeit auf der Titanic nur vorgeführt. Der Gedanke, dass er mich nur geküsst hatte, um mein Zahnrad zu stehlen, tat weh. Er hatte zwar gesagt, dass das nicht stimmte, aber ich war zu verletzt, um alles objektiv zu analysieren.

Ich las die Nachricht erneut. Ich dachte an seine Stimme, und alles, was er schrieb, klang wie Ray. Für mich war er immer noch der Sohn des talentierten Schiffskonstrukteurs Thomas Andrews. Der junge Mann, der davon träumte, Tierarzt zu werden, und der mir sein Talent im Umgang mit Hunden live bewiesen hatte. Der Junge, der so aufmerksam, so charmant und so liebevoll zu mir gewesen war. Der an meiner Seite gekämpft hatte, um die Kette von Ethel an mich zu bringen.

Ich stöhnte auf und klappte das Tagebuch wieder zu. Als ich ihn im Three Bells hatte kämpfen sehen und dann später in seinem schicken Anzug vor dem Polygon Hotel, da war er mir wie ein lebender Gegensatz vorgekommen. Der elegante reiche Erbe und der abgehärtete Sportler. Aber jetzt war es noch schlimmer. Vieles, was er getan hatte, passte nicht zu dem, was er mir erzählt hatte. Jemand, der einen Auftrag hatte, der seine Schwester retten wollte, der verbrachte doch nicht jeden Abend mit mir, um Hunde zu streicheln. Der organisierte keinen Ball oder brachte kleine Geschenke mit.

Ich nahm das Handy zur Hand und öffnete WhatsApp. Ein kühler Schauer jagte mir die Wirbelsäule hinab, als ich all seine Nachrichten hintereinander las. Er klang so sehr wie Ray. Mein Kopf wollte es einfach nicht verstehen, dass Damien, den ich als Bedrohung und Herzensbrecher kennengelernt hatte, derselbe Mensch war.

Zuerst tippte ich: Ich will nie wieder etwas mit dir zu tun haben.

Doch dann löschte ich meine Worte wieder.

Lass mich in Ruhe.

Wieder löschte ich alles. Wollte ich hören, was er mir zu sagen hatte? Ich will nicht, dass es so endet. Wieder spukte mir sein Satz durch den Kopf.

Und was wollte ich?

Ehrlich gesagt erinnerte ich mich nicht mehr an unser ganzes Gespräch. Die vielen Fakten, die vielen Informationen, ich war so aufgeregt gewesen, so wütend, so überrascht und schockiert zugleich. Der Kampf in der Kleiderkammer hatte mich ausgelaugt und dann war alles über mich hereingebrochen. Auch die Neuigkeiten rund um unsere Aushilfe Ruby, die Damiens Schwester war, hatten mich völlig aus dem Konzept gebracht. Ich mochte sie, und auch sie hatte uns ausspioniert. Es war schlicht unvorstellbar, wie sehr meine Menschenkenntnis mich getäuscht hatte. Wir waren keine Freundinnen gewesen, aber ich hatte ihr vertraut. Genau wie ich Damien vertraut hatte. Noch mal zwang ich mich, die Erinnerungen an diese kurze Begegnung mit Damien abzurufen. Ich wusste noch, dass sein Vater ihn mit seiner Schwester Ruby erpresste. Ein Umstand, den ich mir kaum vorstellen konnte. Aber viele Details waren einfach im Trubel verloren gegangen. Doch ich wollte es verstehen. Zwischen all den verletzten Gefühlen und dem zu Boden getretenen Stolz wollte ich nachvollziehen, was seine Beweggründe waren. Und das wiederum zeigte mir, dass er mir nicht egal war. Dass etwas tief in mir drinnen ihm immer noch vertraute. Vielleicht wünschte ich mir auch bloß, dass Damien sich als Ray entpuppte und nicht andersherum.

Aber was sollte ich ihm antworten? Ihn zum Teufel schicken? Nein. Ihm vergeben? Nein, ganz bestimmt nicht. Ein Treffen zulassen? Gedankenverloren kaute ich auf meiner Unterlippe. Er würde mir nichts tun. Er hatte mich in dem Kampf nicht verletzt. Im Gegenteil, er war vorsichtig gewesen und hatte sich schlussendlich von mir ein Messer an die Kehle drücken lassen, nur damit wir ein Gespräch beginnen konnten. Einerseits wünschte ich mir, ich könnte meinen Vater um Hilfe bitten. Ihn zu dem Treffen dazubitten. Aber andererseits war es Zeit, endlich erwachsen zu werden. Und die Reise auf die Titanic hatte mich bereits verändert. Und jetzt sollte ich mit diesem Thema umgehen, als wäre ich ein reifer Mensch, der seine Probleme selbst löste.

Noch mal las ich die letzte Nachricht. Aus den vorangegangenen wusste ich, dass er am Morgen nach seiner Flucht über meinen Balkon abgereist war. Wohin, das wusste ich nicht. Und jetzt war er wieder hier in New York. Bedeutete das, dass er es wirklich ernst meinte? Oder hatte er Freunde in der Stadt, die er besuchte, und diese Sache mit mir zwischen zwei Termine geschoben?

Ich zog ein missmutiges Gesicht. Der letzte Gedanke war verbittert gewesen, und so gefiel ich mir gar nicht. Immer das Schlechteste annehmen, nein, so wollte ich nicht sein.

Dann war ich mir plötzlich sicher. Ich nahm das Handy hoch und tippte.

Heute Abend um 21:30 Uhr auf dem Absatz der Feuertreppe. Du hast eine halbe Stunde.

Zwei Sätze. Ich war mit mir zufrieden. Und er wusste, was ich mit dem Absatz der Feuertreppe meinte, denn schließlich war er darüber nach unserem letzten Aufeinandertreffen geflohen.

Ich legte das Handy zur Seite und ließ meinen Blick über Moms Arbeitsmaterial schweifen. Die vielen Buntstifte, die kleinen Töpfchen mit Aquarellfarben, die sorgfältig gewaschenen Pinsel. Es wirkte alles wie eine Momentaufnahme. So, als würde sie gleich zurückkommen und sich wieder genau hierhin setzen. Doch der zarte Geruch nach feuchtem Holz ließ sich nicht vertreiben. All das hier war dem Verfall preisgegeben. Und genauso verblasste auch meine Erinnerung an Mom unwiederbringlich. Ich war machtlos dagegen, und das ohnmächtige Gefühl des Verlusts fraß mich immer noch von innen auf.

Der aufleuchtende Bildschirm lenkte mich ab. Mit klopfendem Herzen sah ich auf das Display.

Die eingegangene Nachricht bestand nur aus einem einzigen Wort.

Danke.

Kapitel 4

Lilly

Um kurz vor halb zehn saß ich auf meinem improvisierten Balkon auf der Feuertreppe. Aufgrund meiner Nervosität war ich nach Damiens Zusage zu nichts zu gebrauchen gewesen, außer dass ich unser Zahnrad an einem Platz außerhalb des Archivs versteckt hatte.

Mein gesunder Appetit, auf den ich mich eigentlich immer verlassen konnte, war wie ausradiert. Dad hatte mich komisch angesehen, als ich zum Abendbrot nur verträumt an einer rohen Karotte geknabbert hatte, aber er hatte mich nicht darauf angesprochen. Ihm hatte ich erzählt, dass ich einen neuen Roman auf meinen Reader geladen hatte und noch etwas lesen wollte.

Jetzt saß ich zwar auf dem improvisierten Balkon, aber so wirklich bereit war ich doch nicht. Ich trug wieder eine Leggings und einen leichten Pullover mit einem Oversize-Schnitt. Darin fühlte ich mich einfach am wohlsten. Außer einem dicken Sitzkissen für Damien hatte ich nichts vorbereitet. Normalerweise würde ich Getränke und kleine Snacks bereitstellen und hätte meine Lichterkette angemacht. Aber ich wollte nicht, dass er den Eindruck bekam, dass ich ihm bereits verziehen hatte.

Damien war pünktlich. Genau um halb zehn hörte ich seine Schritte unten auf der Feuertreppe. Kurz darauf betrat er den Absatz.

Es war wie ein Déjà-vu. Ich erinnerte mich, dass ich auf der Titanic überlegt hatte, wie er wohl in moderner Kleidung aussah. Jetzt stand er vor mir in einer dunklen Jeans, Chucks und einem blauen Polohemd. Eine Sonnenbrille steckte in seinem Ausschnitt. Zugegeben, nicht nur der altmodische Anzug, auch dieses Outfit stand ihm hervorragend.

»Hi«, sagt er leise. Trotz der leichten Sommerbräune wirkte er müde und erschöpft.

Ich deutete auf das Sitzkissen, das ich so weit weg wie möglich von mir auf dem winzigen Absatz platziert hatte.

»Hi. Setz dich doch.«

Er nickte und hatte einige Mühe, seine langen Beine so zu falten, dass er bequem sitzen konnte.

Aber genau so hatte ich es gewollt. Das hier war kein Zugeständnis. Es war eine Chance. Seine Chance und dafür musste ich ihm nicht den roten Teppich ausrollen.

Damien sah sich um, als befürchte er Zuhörer.

»Keine Angst«, sagte ich also. »Wir sind ungestört.« Das Eckhaus, das meiner Familie gehörte, war lang genug, um jegliche Geräuschkulisse der Nachbarhäuser auszublenden.

Es ärgerte mich, dass ich nervös war. Nicht nervös, weil ich weitere Nachrichten befürchtete, die mir nicht gefielen. Nervös, weil er hier war. Weil er mir immer noch so gut gefiel. Weil ich in ihm immer noch den sah, den ich kennengelernt hatte. Weil mein Herz schneller klopfte, wenn ich in seine grauen Augen blickte.

Just in diesem Moment sah er mich an. Und hätte ich nicht schon gesessen, ich hätte weiche Knie bekommen. Er lächelte nicht, sein Blick war ernst, aber in seinen Augen erkannte ich alles, was er fühlte. Und es war so verdammt echt.

Wenn er so etwas spielen konnte, Schuld, Schmerz und Unsicherheit, konnte ich mir keine Vorwürfe machen. Denn dann würde jeder auf ihn hereinfallen.

Ich sah auf den bunten Stoff meines Sitzkissens, der zwischen meinen zum Schneidersitz gefalteten Beinen hervorblitzte. »Dann schieß mal los.« Ich gab meiner Stimme einen betont beiläufigen Klang.

Damien räusperte sich und sprach nicht sofort. Es schien ihm schwerzufallen, darüber zu sprechen. Mein dummes Herz reagierte darauf, doch ich verbot mir, ihn anzusehen.

Damien sprach leise, aber mit fester Stimme. »Zuerst noch mal danke, dass du mich empfängst.«

Ich spürte, dass er eine Antwort erwartete, und als diese nicht kam, sprach er weiter. »Mein Vater stiehlt schon seit meiner Kindheit Zahnräder. Bis jetzt ist er noch nie einer Familie begegnet, die noch von ihren Fähigkeiten wusste. Ihr seid die Einzigen und deshalb vermutlich so eine harte Nuss für ihn. Jedenfalls hat er ein paar Zahnräder selbst gestohlen, doch die Hauptarbeit hat er Ruby und mir überlassen. Wir wurden dafür ausgebildet. Kürzlich habe ich erfahren, dass er vermutlich etwas plant. Ich weiß nicht genau, was, aber es hat etwas mit einer Taschenuhr zu tun, in die er alle Zahnräder der Zeitreisenden einsetzt.«

Überrascht hob ich den Kopf und vergaß, dass ich ihn eigentlich nicht ansehen wollte.

Damien wollte gerade weitersprechen, doch als sich unsere Blicke trafen, vergaß er wohl, was er hatte sagen wollen. Er betrachtete mich, ließ seinen Blick über mein Gesicht gleiten und seine Lippen bewegten sich leicht, doch es kam kein Wort heraus.

Das Knistern zwischen uns war so übermächtig, dass ich fast damit rechnete, Funken sprühen zu sehen.

Die Sonne versank gerade wie ein glühender Feuerball am Himmel. Licht und Dunkelheit kämpften um die Oberhand, und die Schatten wurden sekündlich länger.

»Es tut mir alles so leid«, flüsterte er. »Ich musste auf diese Reise gehen. Wie ich dir schon erzählt habe, hat mein Vater mich erpresst. Es ging alles ganz schnell. Es war eine Entscheidung von wenigen Stunden. Und ich musste mich noch vorbereiten und alles. Ich bin erst mal losgereist und habe mir dann gedacht, dass mir eine Lösung einfällt. Also während ich auf der Titanic bin«, fügte er noch hinzu. »Und mir war schon vorher bewusst, dass ich dich nicht bestehlen konnte. Ich könnte ...«

»Dein Auftrag war also, dich an mich heranzumachen, um mir das Zahnrad zu stehlen?«, unterbrach ich ihn harsch.

Schon wieder strich Damien sich durch die Haare. »Ja, aber ...«

Ich unterbrach ihn erneut. »Musstest du so etwas schon öfter machen?« Es stach unangenehm in meinem Bauch und eigentlich wollte ich die Antwort gar nicht wissen.

»Nein.« Jetzt klang er eindringlich. »Und genau deshalb habe ich den Auftrag von Anfang an zutiefst verachtet. Ich wollte nicht mit deinen Gefühlen spielen.«

Meine Stimme klang matt. »War das alles geplant? Dass ich dich halbnackt im Three Bells sehe? Das Treffen bei den Hunden? Der Ball?«

In meinem Inneren zerfloss ich vor Schmerz.

Damien beugte sich etwas vor und sah mich entschlossen an. »Meine Gefühle für dich waren nicht gespielt, Lilly. Nichts davon.«

Ich betrachtete ihn, und obwohl alles in meinem Inneren sich dagegen wehrte, spürte ich, dass er mir nicht die ganze Wahrheit sagte. Sein schönes Gesicht zeigte Schmerz, und ich musste mich zwingen, ihm nicht über die Wange zu streicheln. Die Anziehung zwischen uns war immer noch da, doch ich glaubte ihm nicht.

Er ist ein professioneller Dieb, so wie du. Er ist ein Charmeur, ausgebildet dafür, von Menschen alles zu erfahren und zu bekommen, was er will. Und jetzt will er etwas von dir. Er will das Zahnrad deiner Familie. Weil er bei seinen vorherigen Versuchen nicht erfolgreich war. Er hat es auf der Titanic versucht, und dann ist er das Risiko eingegangen aufzufliegen und ist bei dir eingebrochen. Er wäre in der Kleiderkammer fast erfolgreich gewesen, hättest du ihn nicht ertappt. Vergiss das nicht. Es geht nicht um dich. Es ging nie um dich.

Dann fiel mir etwas ein.

»Moment mal.« Erst da wurde mir das gesamte Ausmaß klar. »Wenn du mir mein Zahnrad gestohlen hättest, hätte ich in der Vergangenheit bleiben müssen.«

Jetzt war sie wieder da, diese Wut, die meinen verletzten Stolz noch mehr befeuerte.

Das hier war ein Fehler gewesen.

Er hatte mich schon wieder manipuliert.

»Verschwinde.« Meine Worte waren kaum mehr als ein raues Krächzen. Ich hatte so große Hoffnungen in dieses Gespräch gesetzt. Doch es war schlimmer als zuvor.

Damien wollte gerade etwas erwidern, da hörte ich Schritte. Im nächsten Moment erschien mein Vater am Fenster, in seinen Händen einen Teller und ein Glas Kakao. »Liebes, du hast kaum etwas gegessen, da dachte ich mir, ich bringe dir ...« Er brach ab, die Kekse auf dem Teller rutschten gefährlich zu dessen Rand.

»Was ist denn hier los?« Er musterte Damien so misstrauisch, als habe er uns beide im Bett erwischt.

Es tat mir leid, ihm so spät am Abend noch so eine Aufregung zuzumuten, doch ich hatte keine Kraft mehr zu lügen. Und Damien in Schutz nehmen wollte ich auch nicht. Aber mir fehlten die Worte, und auch Damien war wie versteinert.

Dad spürte die aufgeheizte Stimmung zwischen uns. »Alles in Ordnung, Lilly?« Jetzt fielen ihm wohl die Tränen in meinen Augen auf und sein Blick verdüsterte sich noch mehr.

»Wer sind Sie?«, herrschte er Damien an. »Und was ist hier los?«

»Mein Name ist Damien Belmont, Sir.« Damien sprang auf. »Und ich ...«

Ich fiel ihm ins Wort, bevor er die Bombe platzen lassen konnte. »Wir müssen mit dir reden, Dad. Es ist dringend.«

»Bist du schwanger?«, platzte es aus Dad hervor.

Ich schüttelte hastig den Kopf. »Nein. Aber auf der Titanic ist etwas passiert ...« Ich brach ab. Ich wollte das auf gar keinen Fall auf dem Balkon klären. Ich hatte gerade beschlossen, dass ich dieses Geheimnis nicht länger vor meinem Vater verbergen wollte. Ich wollte, dass Damien ihm alles erzählte. Mein Vater war klug und ein guter Stratege. Wir würden unser Zahnrad schützen müssen und diese Verantwortung war mir nach all dem, was ich gerade eben über Damiens Vater erfahren hatte, einfach zu groß. Ich brauchte meinen Dad. Schon wieder überfielen mich Schuldgefühle, dass ich ihm all das zumutete. Aber ich hoffte, dass er mich verstand und dass er für mich da sein würde.

»Es geht um die Titanic? Du hast ...« Dad stockte abrupt. Wir sprachen niemals außerhalb der Familie über das Zeitreisen.

»Bitte, Dad«, sagte ich leise. »Können wir sprechen? Unten? Im Wohnzimmer?«

»In Ordnung.« Er wirkte überrumpelt und schon wieder hielt er den Teller mit Keksen gefährlich schief. »Dann unterhalten wir uns im Wohnzimmer.«

Ich kam auf die Füße und nahm ihm Glas und Teller ab. Da ich keinen Hunger hatte, stellte ich die Kekse zur Seite, kaum dass ich einen großen Schritt hinein in mein Zimmer getan hatte. Damien folgte mir und wirkte besorgt und gehemmt in der Gegenwart meines Vaters. Da ich fürchtete, dass er erneut flüchten würde, bedeutete ich ihm, meinem Vater hinterherzugehen. Dieser stand schon an der Wendeltreppe, und seine gesamte Körpersprache verriet sein Misstrauen.

»Nein, bitte nach dir.« Damien wollte mir den Vortritt lassen.

»Nein, geh du.«

»Ich bitte darum.«

»Jetzt mach schon.«

Damien gab auf. Der Blick meines Vaters wanderte zwischen uns beiden hin und her, als versuche er verzweifelt, sich einen Reim auf diese Situation zu machen.

Im Wohnzimmer bedeutete mein Vater Damien, in unserer Sitzecke Platz zu nehmen. Entgegen seiner üblichen Gastfreundschaft bot er ihm nichts zu trinken an. Ich setzte mich hin und nippte an meinem Kakao. Die Süße tat wirklich gut in diesem Moment.

Mein Vater sah gespannt zu mir, doch ich deutete wortlos auf Damien. Dieser wirkte jetzt noch nervöser. Dann gab er sich einen Ruck und begann zu sprechen.

Er erzählte alles. Von dem Auftrag, von Ruby, den Zahnrädern und den anderen Zeitreisen-Familien. Von seinem Vater und der Erpressung. Und von alldem, was auf der Titanic und seitdem geschehen war.

Dad wurde erst kreidebleich, und dann bekam er diese ungesunden roten Flecken im Gesicht, als Damien ihm erzählte, dass wir nicht die einzigen Zeitreisenden waren. Eine Hand hatte er auf seinem Knie abgelegt und mir fiel auf, dass sie leicht zitterte. Hin und wieder nickte er, aber gesagt hatte er nichts mehr. Dad tat mir leid, doch ich wusste, er würde jetzt nicht wollen, dass ich ihn nach seinem Befinden fragte.

Damien sah ebenso angespannt aus. Er hatte den Rücken durchgedrückt und er wirkte so nervös, als befände er sich in einer mündlichen Prüfung.

Ich saß derweil mit meinen Kakao und angezogenen Knien in einem plüschigen grünen Ohrensessel und funkelte ihn an ...

Mein Vater fing einen meiner Blicke auf, und plötzlich wurde mir klar, dass er längst wusste, was zwischen uns passiert war. Die Art, wie Damien mich extra nicht ansah. Die Spannung zwischen uns und wie verletzt ich wirkte. Und dass wir so verkrampft miteinander umgingen, machte es nur noch deutlicher.

»Und jetzt habe ich meinem Vater ein gefälschtes Zahnrad gegeben. Ich habe einen Abdruck von dem deGray-Zahnrad gemacht, bevor Lilly mich entdeckt hat. Es wird meinen Vater aber nicht ewig aufhalten.«

Ich horchte auf. Das hatte Damien mir noch nicht erzählt. Er hatte also eine Kopie erstellt? Warum hatte er dann unser echtes Zahnrad trotzdem stehlen wollen? Täuschte er uns schon wieder?

»Aber so habe ich Zeit, um mehr über den Ursprung der Zeitreisenden herauszufinden. Ich will meinen Vater aufhalten. Er darf niemals in den Besitz aller Zahnräder gelangen. Und deshalb ...«

Es klopfte an der Wohnungstür. Mein Vater schien wie paralysiert über all diese ungeheuerliche Neuigkeiten, die sein Weltbild mal eben komplett aus den Fugen gerissen hatte, denn er regte sich nicht.

Ich stellte meinen Kakao auf einem Beistelltisch ab und stand auf. Moment. Es klopft an der Wohnungstür?

Eigentlich klingelten Besucher an der Haustür. Und um diese späte Uhrzeit bekamen wir eher selten Besuch.

Ich ging durch den Flur zur Wohnungstür.

Vor dem Guckloch im hell erleuchteten Treppenhaus stand ein Mann etwa im Alter meines Vaters. Er war auffällig gekleidet und alles, was er trug, sah teuer aus. Sofort hielt ich ihn für einen von Dads exaltierten Sammlern, die gern mal spontan vorbeischauten.

Ich öffnete die Wohnungstür, um ihn mit ein paar freundlichen Worten wegzuschicken und auf morgen zu vertrösten.

»Guten Abend. Sie müssen Lilly sein.« Der Mann strahlte mich an. Er war deutlich größer als ich, etwa so groß wie Damien, und in seinem dunklen Haar fanden sich bereits ein paar graue Strähnen. Dennoch wirkt er sehr sportlich und seine breiten Schultern trugen zu diesem Eindruck bei.

»Guten Abend. Ja, das bin ich«, erwiderte ich höflich. Jetzt hielt ich ihn tatsächlich für einen Sammler, denn woher sonst sollte er meinen Namen kennen?

Ich wollte schon mit meiner Rede beginnen, da sprach er weiter.

»Sie sind wirklich hübsch. Kein Wunder, dass mein Sohn sein Herz an Sie verloren hat.«

Wie bitte?

Der Mann lächelte. »Ich bin Grayson Belmont, der Vater von Damien. Er ist doch hier?«

Himmel. Es ist der Verrückte mit der Taschenuhr, dachte ich noch. Doch da war es schon zu spät.

Kapitel 5

Damien

Lillys alarmierte Rufe und das Gepolter im Flur ließen mich aufspringen. Im nächsten Moment traute ich meinen Augen nicht. Da stand mein Vater, und hinter ihm bauten sich vier seiner Sicherheitsleute auf.

»Ein kleines Familien-Kaffeekränzchen, wie nett.« Die Stimme meines Vaters troff vor Ironie.

»Wer sind Sie?« Neben mir erhob sich jetzt auch Thaddeus deGray, gerade als Lilly in den Raum stolperte. Die Männer mussten sie grob zur Seite gestoßen haben, als sie sich unerlaubt Zutritt zur Wohnung verschafft hatten. Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und rieb sich mit der freien Hand die Schulter.

»Verschwinden Sie, sofort!«, rief sie trotzdem und ging auf die Männer zu.

Mein Vater gab ein schnelles Zeichen, und einer der Sicherheitsleute packte Lilly grob am Arm. Sie drehte sich und beförderte ihn mit einer Judo-Rolle auf den Boden. Es polterte laut, als der Mann zu Boden ging, und dann noch mal, als zwei kleine Statuen auf der Kommode, gegen die er geprallt war, auf den Holzboden fielen.

Ich wollte Lilly zu Hilfe eilen, und auch ihr Vater war aufgesprungen. Tumult brach aus, als Mr deGray und ich uns gleichzeitig auf die anderen Sicherheitsleute stürzten.

»An eurer Stelle wäre ich kooperativ.« Mein Vater ließ sich in den grünen Sessel fallen, in dem Lilly soeben noch gesessen hatte. »Je länger ihr euch wehrt, desto mehr sinkt meine Laune, und seid euch sicher, das wollt ihr nicht.«

Lillys Vater hielt inne und der Sicherheitsmann packte ihn grob am Arm. Lillys Gegner rappelte sich gerade wieder auf. Ich befand mich zwischen zwei Männern meines Vaters, immer noch bereit für einen Kampf. Einer wollte auch mich am Arm festhalten, doch ich schlug ihn grob zur Seite. »Nicht anfassen«, knurrte ich.

»Setzt euch doch zu mir.« Mein Vater zeigte auf die Sitzgelegenheiten. Thaddeus deGray reagierte als Erster. Er setzte sich. Er zitterte, und Schweiß stand auf seiner Oberlippe. Ich schätzte ihn auf etwa so alt wie meinen Vater, aber er war lange nicht so gut in Form wie dieser. Wo sich bei meinem Vater nur Haut und Muskeln befanden, wölbte sich bei Thaddeus deGray ein ansehnlicher Bauch unter seiner altmodischen Weste.

Lilly und ich tauschten einen Blick. Sie nickte kaum merklich. Also setzten auch wir uns. Prompt nahmen die Sicherheitsleute hinter jedem von uns Aufstellung.

Ich konnte nicht glauben, dass mein Vater mich aufgespürt hatte. Ich hatte meine Spuren verwischt, ihm vorgegaukelt, ich wäre nach Hawaii unterwegs. Aber erneut war er mir einen Schritt voraus.

Wie selbstverständlich griff mein Vater nach einer Schale mit Pralinen, die auf dem Beistelltisch neben Lillys Kakaoglas stand. Er biss in eine hinein und kaute konzentriert, während wir ihn hasserfüllt anstarrten.

Mein Vater schluckte und griff dann nach der Schale. »Kompliment«, sagte er dann zu Mr deGray. »Ein wirklich hübsches Porzellan haben Sie da.« Als dieser nicht antwortete, lehnte sich mein Vater in dem Sessel zurück, stellte die Schale auf seinem Schoß ab und musterte uns alle nacheinander. »Als treusorgender Vater weiß ich gern, was meine Kinder so treiben, und deshalb überwache ich sie.«

Ich schnaubte. Was für ein Schauspiel. In mir tobte die Angst um Lilly und ihren Vater. Um ihr Zahnrad. Um das Geheimnis, das sie tief unter ihrem Haus verborgen hatten.

Mir war klar, dass mein Vater wieder einen gegen den anderen ausspielen würde. Das war seine Paradedisziplin. Noch hatte ich keine Idee, worauf es hinauslaufen würde. Und das beunruhigte mich am meisten.

»Sie sind ein treusorgender Vater?« Lilly wollte aufspringen, aber der Sicherheitsmann, der hinter ihr stand, drückte sie zurück in ihren Stuhl. Sie umfasste blitzschnell eins seiner Handgelenke mit beiden Händen und riss seinen Kopf nah zu sich. »Fassen Sie mich noch einmal so grob an, dann werde ich Ihnen nicht nur Ihr Handgelenk brechen.«

Sie ließ ihn los, indem sie ihn nach hinten stieß.

Ich war stolz auf sie, doch mein Vater lachte nur wieder. »Sie haben Feuer. Das gefällt mir.«

Lilly zog ein angewidertes Gesicht. »Und Sie sind ein egoistischer kontrollsüchtiger Irrer, der nichts als Schmerz und Leid verursacht.«

Mein Vater stellte nervtötend langsam die Pralinenschale zurück auf den Beistelltisch, bevor er sich nach vorn lehnte.

Ich machte mich bereit zum Sprung. Sollte er Lilly anfassen, würde ich ihn umbringen.

»Sie sind ein mutiges Mädchen, Miss ...«

»Ich bin eine mutige Frau«, korrigierte sie ihn.