Ich bin raus - Robert Wringham - E-Book
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Ich bin raus E-Book

Robert Wringham

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  • Herausgeber: Heyne
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Arbeit und Konsum machen weder frei noch glücklich - dieses Buch weist den Weg aus der Misere

Achtzig Prozent von uns hassen ihren Job. Im Schnitt verbringen wir jedoch 87.000 Stunden bei der Arbeit, bevor wir ins Grab steigen.

Zudem verschwenden wir rund 5.000 Stunden in Zügen und Bussen und Staus, um zu dieser Arbeit zu kommen, nicht eingerechnet die unzähligen Stunden der Vorbereitung für, Sorge um und Entspannung von dieser Arbeit. Trotzdem sind die meisten von uns verschuldet, weil wir unsere Würde durch ein Eigenheim wiederherzustellen versuchen, welches dann ja auch befüllt werden muss. Robert Wringham zeigt, wie man dieser Falle entfliehen kann. Raus aus den Schulden, raus aus dem Stress, raus aus unbefriedigender Arbeit, hin zur persönlichen Freiheit und dem, was man das »gute Leben« nennt. Es gibt einen Ausweg. Zumindest für die, die ihn suchen.

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Seitenzahl: 405

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Das Buch

Houdini, der Entfesselungskünstler, befreite sich aus Gefängnisszellen, Zwangsjacken und – an einem besonderen Abend – gar aus den Innereien eines toten Wals. Seine Performances machten ihn in der westlichen Welt berühmt, aber nicht nur durch seine eigentliche Kunst der Entfesselung, auch damit, was sie symbolisierten: die Befreiung von den Fesseln der aufkommenden Konsumgesellschaft der 1900er-Jahre.

Ein Jahrhundert später stecken wir immer noch in dieser Falle. 80% von uns hassen ihren Job, wir verbringen im Schnitt 87.000 Stunden bei der Arbeit, bevor wir ins Grab steigen. Einige von uns sterben sogar bei dieser Arbeit. Wir verbringen zudem durchschnittlich 5.000 Stunden in Zügen und Bussen und Staus, um zu dieser Arbeit zu kommen, nicht eingerechnet die unzähligen Stunden der Vorbereitung für, Sorge um und Entspannung von dieser Arbeit. Und trotzdem sind die meisten von uns verschuldet, weil wir meinen, unsere Würde durch ein Eigenheim wiederherstellen zu müssen, welches dann ja auch befüllt werden muss.

Die Falle ist stärker denn je und die Wenigsten wissen einen Ausweg. Viele hat diese Falle irgendwie beschäftigt, die wenigstens haben etwas gegen sie getan. Seit 2007 studiert Robert Wringham die Mechanismen dieser Falle, arbeitet an Alternativen und sammelt Geschichten von Ausbruchsversuchen. Mit Ich bin raus zeigt er jetzt, wie wir tatsächlich der Falle entfliehen können.

Der Autor

Robert Wringham wurde 1982 in Dudley, England geboren. Er ist bekannt für schrägen Humor, literarische Sachbücher, Stand-up-Comedy und Performance Art. Sein Sachbuch »A Loose Egg« stand 2015 auf der Shortlist für den Leacock Medal for Humour. Zudem ist er der Herausgaber des Magazins New Escapologist, einem Magazin rund um das Thema Eskapologie, für das auch Autoren wie Luke Rhinehart, Will Self, Tom Hodgkinson schreiben. Als Journalist schreibt er für Trend- und Online-Magazine wie Meat, tMCQ, Verbicide, CACTUS, Side Street Review, Splitsider, daneben im Idler und Playboy. Er lebt in Glasgow.

Robert

Wringham

ICH BIN

RAUS

Wege aus der Arbeit, dem Konsum und der Verzweiflung

Aus dem Englischen von Ronald Gutberlet

Wilhelm Heyne Verlag

München

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ESCAPE EVERYTHINGbei Unbound, London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Unter www.heyne-encore.de finden Sie das komplette Encore-Programm.

Weitere News unter www.heyne-encore.de/facebook

2. Auflage

Copyright © 2016 by Robert Wringham

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Kai Keup

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, München

Umschlagabbildung: Johannes Wiebel unter Verwendung

eines Motivs von shutterstock.com (kmlmtz66)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-19589-2V002

Für Samara

In meinem Kopf existiert nur ein einziger Gedanke:

Ich will frei sein! Ich will mich befreien! Und dieses Berauschtsein

an der Freiheit, am Erfolg, ist etwas Erhabenes.

Houdini

Inhalt

Vorwort von David Cain

Einleitung: Die Herausforderung des kleinen Mannes

Teil eins DIE FALLE Wir sitzen in der Klemme

1. Arbeit

2. Konsum

3. Bürokratie

4. Unsere dummen, dummen Gehirne

Teil zwei FREIHEIT Wir suchen nach Alternativen

5. Das gute Leben

6. Wie Entfesselungskünstler ihre Freiheit nutzen

7. Ein Jahr in Montreal

Teil drei ENTFESSELUNG Wir finden Fluchtwege

8. Vorbereitung

9. Der Arbeit entkommen

10. Dem Konsum entkommen

11. Der Bürokratie entkommen

12. Unseren dummen, dummen Gehirnen entkommen

13. Das Leben nach der Entfesselung

Nachwort: Sieben Milliarden Entfesselungskünstler oder Was wäre, wenn alle es täten?

Danksagung

Vorwort

von David Cain

Jedes Mal, wenn ich einen Artikel schreibe, in dem ich dafür plädiere, der Lohnknechtschaft zu entfliehen, bekomme ich ein paar E-Mails, in denen ich auf eine bestimmte Art getadelt werde. Da heißt es dann, nur ein völliger Kindskopf könne ernsthaft unzufrieden sein, wenn er einen festen Job hat und ein Dach über dem Kopf, wo sich doch so viele Menschen danach sehnen.

Falls dem so ist, dann leben wir in einer Welt, die von solchen Kindsköpfen für solche Kindsköpfe erschaffen wurde, in der es Massen von Kindsköpfen gibt, ob sie nun erst den ganzen Tag über Fluchtpläne nachdenken oder sie womöglich schon umsetzen. Trotz des gigantischen Reichtums, den unsere moderne Gesellschaft angehäuft hat, vegetieren wir in einer geistigen Armut dahin, die uns von der Erkenntnis abhält, dass wir die ganze Zeit Dinge tun, die so gut wie nichts mit unseren persönlichen Vorlieben zu tun haben. Wir fügen uns freiwillig unter das Joch, als gäbe es keine Alternativen zu dieser Tretmühle, und sperren uns selbst in ein Raster aus grauen Quadraten, die übereinandergestapelt in die Höhe ragen und von einer schimmernden Glaswand umhüllt sind.

Obwohl das Internet und die daraus entstandenen Kulturformen uns immer wieder darauf stoßen, dass es durchaus andere Modelle von Leben und Arbeiten gibt, wird uns ständig erzählt, es sei völlig aussichtslos, darauf zu bestehen, einen anderen, wesentlich angenehmeren Platz in der Welt einzunehmen als innerhalb dieser Tretmühle. Meine Kritiker werden nicht müde zu behaupten, man müsse selbst über den langweiligsten oder anstrengendsten Job noch glücklich sein, und zwar deshalb, weil es in der Dritten Welt jede Menge ausgebeuteter Kohlekumpel gibt, die schon für die Prämien, die wir gelegentlich einstreichen, töten würden. Weil so viele Menschen so wenig besitzen, sehen viele meiner Kritiker den Versuch, einer Situation zu entfliehen, in der man sein Auskommen und seine Pensionsberechtigung hat, als einen Akt größtmöglicher Undankbarkeit an.

Eine Minderheit von uns glaubt, das Gegenteil sei wahr: Unserer Ansicht nach ist es keineswegs moralisch anrüchig, dem vorherrschenden Lebensstil zu entfliehen, der überhaupt nicht erstrebenswert ist. Vielmehr ist diese Flucht sogar unsere moralische Pflicht, denn was wir dazu benötigen, steht uns frei zur Verfügung (und wird kaum genutzt). Deshalb wäre das Verharren in der Tretmühle nicht bloß dumm, sondern schlichtweg falsch. Sich freiwillig in eine Situation zu fügen, in der unsere Talente verschleudert werden und jeder Tag wie eine Hürde genommen werden muss, ist einfach nur armselig.

Robert Wringham und die Leser und Autoren des New Escapologist (dt. Der Neue Entfesselungskünstler) gehören zu der vernünftigen Minderheit, die dieser Situation entfliehen möchte. Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie auf zahlreiche praktikable Freiheitsstrategien stoßen, um die Sie die meisten Individuen der Menschheitsgeschichte beneiden würden. Schon allein deshalb sollte man sich unwohl fühlen bei dem Gedanken, noch keinen Gebrauch von diesem Geschenk gemacht zu haben.

Der Wunsch, der bornierten Firmenpolitik, den Konsumschulden, bedeutungslosen Bullshit-Jobs sowie anderen Alltagszwängen zu entrinnen, ist keineswegs ein Zeichen von Gier. Eher schon ein Ergebnis jener Erkenntnis, die wir am Arbeitsplatz lieber nicht ausplaudern: Wenn wir alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, müssen wir zugeben, dass wir aus unserem Leben nicht gerade viel machen. Vielleicht sitzt ja in irgendeinem dieser grauen Quadrate ein gut funktionierender Mitarbeiter, dessen Werte exakt mit der Geschäftspolitik seiner Firma übereinstimmen und für den es in Ordnung ist, sich seinem Chef unterzuordnen. Aber die Mehrheit von uns beschreitet bloß den Weg, der uns von der Schule, den Vorgesetzten und den Kollegen vorgeschrieben wurde, eingezwängt in ein Rollenmuster, das unseren wahren Bedürfnissen nicht entspricht – schon gar nicht an einem typischen Montagmorgen, auf den wir uns aus gutem Grund kein bisschen gefreut haben.

Und dennoch fühlen wir uns unwohl, wenn wir uns danach sehnen, von den vorgegebenen Normen abzuweichen. Dieses spezielle Leiden – man könnte es »Zweifel an der Rebellion« nennen – bringt uns immer wieder in Versuchung, die Mainstream-Apostel ernst zu nehmen, die uns Selbstsucht und Engstirnigkeit vorwerfen. »Schau doch nur, wie privilegiert du bist!«, rufen sie uns hämisch zu, während sie ihren Latte Macchiato schlürfen.

Doch wenn wir nur mal kurz überlegen, wird uns schnell auffallen, dass nicht wir, sondern sie unter mangelndem Mitgefühl leiden. Auch unser Kohlekumpel in der Dritten Welt weiß, dass es lächerlich ist, sich auch nur einen Tag länger als nötig ausbeuten zu lassen, wenn man sich dem entziehen kann. Die eigene Freiheit einzuschränken, aus freiwilliger Solidarität mit den wirklich Ausgebeuteten, ist so ähnlich wie die eigene Gesundheit abzulehnen, weil ein anderer chronisch krank ist. Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass eine gut geplante Flucht aus dem Status Quo dem Streben nach persönlicher Gesundheit gleichkommt, und dieses Prinzip findet immer mehr Anhänger. Es geht um die bewusste Verwirklichung der eigenen Werte und des individuellen Lebensstils.

In einer Welt, in der so etwas möglich ist, sollte es eigentlich erlaubt sein, viele verschiedene Lebensweisen auszuprobieren, bis wir die passende gefunden haben. Aber nur relativ wenige Menschen tun das. So wie es im Moment aussieht, streben die meisten Menschen nach dem, was gerade angesagt ist, vielleicht weil sie davon ausgehen, dass ihre Lebensweise ihnen vom Establishment vorgegeben wird. Diesem Trott folgt man dann jahrzehntelang, bis sich schließlich seine völlige Belanglosigkeit und Leere offenbart. Und währenddessen beklagen wir uns über den Alltagsstress, machen abfällig Witze unter Kollegen darüber, klauen Stifte oder Tintenpatronen im Büro, um unsere verlorene Selbstachtung zurückzugewinnen, und mit ein bisschen Glück werden wir dann der Arbeit gegenüber gleichgültig. Erträglich wird es nur dadurch, dass wir uns abends und an den Wochenenden einen Bruchteil des Lebens, das wir eigentlich führen wollten, zurückholen dürfen.

Warum aber glauben die meisten, es sei unmöglich, sich dieser Tretmühle zu entziehen? Das liegt unter anderem daran, dass uns von Kindheit an eingebläut wird, dass Drückeberger grundsätzlich Versager sind. Und wieder sind die Löcher in der Argumentation deutlich zu erkennen: Den Ausstieg aus der Tretmühle zu verurteilen funktioniert nur, wenn man akzeptiert, dass man ein System niemals verlassen darf, wenn man erst mal drin ist – egal ob es sich um eine gescheiterte Karriere, eine abgestorbene Beziehung oder um ein brennendes Gebäude handelt.

Robert Wringhams Zeitschrift New Escapologist ist eine Art Vergrößerungsglas, mit dem er uns den enormen Missbrauch menschlicher Schaffenskraft vor Augen führt, der tagtäglich stattfindet. Gleichzeitig zeigt er uns, wie ganz normale Menschen aufleben, wenn sie ihre Energiereserven für sich selbst nutzen. Der Mensch ist nämlich durchaus in der Lage, originelle und wertvolle Dinge herzustellen, wenn er nicht gezwungen wird, am helllichten Tag seine Zeit irgendwelchen Geschäftemachern zu opfern. Der New Escapologist hat den Grundstein einer Gemeinschaft gelegt und eine gemeinsame Sprache gefunden, die uns hilft, Ideen zu entwickeln, um lange verschütt gegangene Werte wiederzuentdecken.

Die Diskussion darüber ist naturgemäß respektlos und oftmals ziemlich witzig. Wenn wir darüber sprechen, wie es möglich ist, der Tyrannei des Establishments zu entkommen, treffen wir irgendwann zwangsläufig auf andere drängende Fragen: Wie kann ich mein Büro und meine Garderobe in einem Rucksack mit einem Volumen von 28 Litern unterbringen? Ist ein Bart eine erstrebenswerte Sache für einen jungen Mann im 21. Jahrhundert? Ist es unanständig, gleichzeitig Zitrone und Süßstoff in den Tee zu geben, oder im Gegenteil ein moralischer Fortschritt? Wem es gelingt, den Fesseln der Konvention zu entfliehen, der hat keine Angst mehr davor, für Fehltritte bestraft zu werden.

Mit etwas mehr Abstand betrachtet, handelt es sich bei der angewandten Entfesselungskunst um eine ernsthafte Betrachtung der uralten philosophischen Fragestellung: Wie sollen wir leben? Diese Frage wird im Zusammenhang mit unserer heutigen Wirklichkeit erörtert, in der es normal geworden ist, sich von anderen mit Antworten abspeisen zu lassen, bevor man die Frage überhaupt gestellt hat.

Sie stehen jetzt am Anfang Ihres Weges in das »Gute Leben«, falls Sie nicht bereits damit begonnen haben. Wenn Sie ihn erst mal eingeschlagen und gewisse Erkenntnisse gewonnen haben, gibt es kein Zurück mehr. Zum Glück hat Robert Wringham mit diesem Buch den perfekten Guide geschrieben, damit Sie gut vorankommen.

David Cain (ein Entfesselter)

Einleitung

Die Herausforderung des kleinen Mannes

Ich nehme mir die Schlösser vor,

eins nach dem anderen.

Houdini

Ich habe hinter den Vorhang geschaut. Es war erschreckend. Aber das war schon in Ordnung. Als ich den Blick hinter die Kulissen wagte, war ich ein gelangweilter Mittzwanziger. Ich interessierte mich für die Geschichte der Zauberei, womit ich jene Trickkünstler meine, die zur Belustigung anderer Menschen auf der Bühne Kunststücke vorführen. Das Interesse kam nicht von ungefähr. Ich wollte Kabarettist werden und beschäftigte mich mit den eher abseitigen Formen der Bühnenkunst. Dabei stellte ich fest, dass hier alles anders war. Die Geschichte der Zauberkunst wirkte irgendwie angestaubt, hatte etwas Schelmisches, aber auch Viktorianisches an sich, alles wirkte übertrieben und widersprüchlich. Mir kam es vor, als würde ich an einem Geheimwissen teilhaben, auch wenn die Bücher, die ich darüber las, aus der öffentlichen Bücherei stammten. Eine Weile genügte es mir, mich mit Dingen wie dem indischen Seiltrick, Peppers Spiegeltrick und so mysteriösen Gestalten wie dem chinesischen Zauberkünstler »Long Tack Sam« und dem Schotten John Henry Anderson alias »The Great Wizard of the North« zu beschäftigen. Ich hatte Reproduktionen der Plakate von Houdini und Kellar an den Wänden meiner Wohnung hängen. Diese Poster waren mir so wichtig, dass ich in Kauf nahm, fünfzig Pfund von meiner Mietkaution wegen der vom Klebekitt verursachten Flecken zu verlieren.

Das Studium der Geschichte der Zauberei war nicht gerade eine nutzbringende Beschäftigung. Eigentlich sollte ich ja eine Art Karriere beginnen oder mir zumindest einige Gedanken darüber machen, welchen Wert mein Abschluss in Psychologie auf dem Arbeitsmarkt hatte. Aber wenn man sich mit Magie befasst, denkt man gleichzeitig logisch und hinterhältig, also genau so, wie man nicht denken soll, wenn man eine lebenslange Karriere als Medienmensch oder Experte für kaputte Fotokopierer anstrebt. Denn die Magie bringt einen dazu, über das nachzudenken, was hinter diversen Vorhängen verborgen ist.

Houdini hat mir dann den entscheidenden Hinweis gegeben. Könnte auch sein, dass es nur die Auswirkung der Rückkehr ins Büro war, an einem Montag, nachdem ich das ganze Wochenende Zauberpraktiken vergangener Jahrhunderte studiert hatte. Das könnte der Tropfen gewesen sein, der das Fass zum Überlaufen brachte. Vielleicht lag es an dem harschen Aufeinandertreffen widersprüchlicher Welten, dem Angestelltendasein und der Magie. Jedenfalls ging etwas in mir zu Bruch und förderte eine aufregende und erschreckende Wahrheit an den Tag. Wie auch immer es zustande kam, ich sah sie, denn manche Dinge – wie die Hoden eines Rüden oder der behaarte Speckwulst eines Fettwanstes – bleiben niemals im Verborgenen.

Die Wahrheit ist: Wir stecken in der Falle. Wir alle. Wir gehören zu einer Gesellschaft von größtenteils anständigen, aber völlig unbewusst lebenden Personen, die den Figuren aus der Kindergeschichte Der Wind in den Weiden ähneln, und werden von einer gigantischen Maschine ausgebeutet und zermalmt. Viele Aspekte des modernen Lebens, die wir als ganz normal ansehen, wie Arbeiten, Einkaufen, Twittern und unsere ständige schlechte Laune, gehören alle zu dieser Falle. Die Falle beschert uns ein halbwegs bequemes Leben und verlängert womöglich sogar unsere Lebenszeit, aber nur, solange wir ganz brav darin leben, während wir benebelt und verbraucht werden. Gut möglich, dass Sie das längst geahnt haben, es gibt ja überall genügend Hinweise darauf, und vielleicht sind Sie ja zufrieden damit und machen einfach weiter. Aber wer weiß, vielleicht haben Sie ja auch Lust, mit mir zusammen dieser Falle zu entkommen.

»Willkommen an Bord«, sagte der junge Angestellte der Personalabteilung und öffnete eine Tür, hinter der sich eine ganze Reihe summender Computer verbarg, für die ich nun verantwortlich war. Mit großer Geste, als wollte er damit sagen: »Das alles gehört jetzt Ihnen.« Aber ich wollte ja gar nicht, dass sie mir gehören. Ich wollte etwas Aufregendes tun, und zwar im Zusammenhang mit meinem gerade entdeckten Interesse für Magie. Zwar fehlte mir die Geduld, um ein brillanter Zauberer zu werden, aber wenn ich es richtig anstellte, könnte ich vielleicht ein witziger Autor werden, so wie Myles na gCopaleen alias Flann O’Brien oder ein begabter Komödiant wie Simon Munnery oder ein Keramikkünstler und Transvestit wie Grayson Perry.

Klingt vielleicht recht eigensinnig. Oder träumerisch. Aber, verdammt noch mal, seht euch doch bloß die Alternativen an: Network Administrator? PR-Manager? Aushilfslehrer? Ein ganzes Leben lang? Mit meinen großartigen Begabungen? Ich kann sogar ganz passabel singen! Nein, ganz bestimmt nicht. Ich wollte nicht in der Mittagspause in irgendeiner kahlen Mitarbeiterkantine enden, am Fließband produzierte Sandwiches mampfen und zuhören, wie die Kollegen sich darüber streiten, wer die Milch aufgebraucht hat. Ich wollte ein üppig ausgestattetes Ankleidezimmer mit einer reichhaltigen Auswahl an exotischen Früchten und der Unterwäsche meiner Groupies. Was bitte ist daran falsch?

Ich bin nicht der geborene Angestellte. Niemand ist das. Aber wenn ich die Miete nicht bezahlen kann, bin ich am Arsch. Also brauchte ich damals diesen Job. Ich saß in der Falle. Und das, so wie es aussah, für die nächsten vierzig Jahre, was aus der Perspektive eines 23-Jährigen wie eine Ewigkeit aussieht. Die Gefängnisstrafe für Bankraub ist nicht annähernd so lang. Das weiß ich, weil ich es überprüft habe. Willkommen an Bord …

Ich hörte das Summen der Computer. Der Geruch nach statischer Elektrizität stieg mir in die Nase. Eine selten benutzte LED-Leuchte am Kontrollpult meines Gehirns leuchtete mit einem Mal auf. Es war die Lampe mit der Aufschrift »Flucht«. Grayson Perry und all die anderen konnten mir jetzt nicht mehr helfen. Von all meinen Helden war nur noch einer geblieben, der mich hier rausholen konnte: Houdini.

Tatsächlich war es Harry Houdini, der mir die Wahrheit hinter dem Vorhang enthüllte. Wäre es möglich, sich genau wie er aus der größten Falle, die es überhaupt gibt, zu befreien? Houdini, dem exotische Früchte und Groupie-Unterwäsche nicht fremd waren, war der König der Handschellen. Er konnte sich aller Fesseln entledigen, jeder Gefängniszelle entkommen, sich aus jeder Kiste, jedem Postsack oder jeder Zwangsjacke befreien. An einem besonders aufregenden Abend gelang es ihm sogar, dem verwesenden Kadaver eines Wals zu entrinnen. »Nichts auf dieser Welt kann Houdini gefangen halten«, verkündeten die Plakate. Bis zum heutigen Tag gilt er als Meister aller Zauberkünstler, vor allem als der größte Entfesselungskünstler aller Zeiten. Gut möglich, dass Sie mal einen Hamster nach ihm benannt haben.

Einige von Houdinis tollsten Kunststücken hatten allerdings gar nichts mit Entfesselung zu tun. Der Zauberkünstler konnte Münzen zwischen seinen Fingern tanzen lassen, Kugeln mit den Zähnen auffangen und einen Elefanten namens Lulu verschwinden lassen. Einen Elefanten in Luft aufzulösen, war eines der großartigsten Zauberkunststücke aller Zeiten, vielleicht sogar eine der beeindruckendsten Theateraufführungen, wenn man das Sensationelle daran zum Maßstab nimmt. Bis heute weiß niemand, wie Houdini das gemacht hat. Er war ein prominenter und kontrovers diskutierter Skeptiker, so ähnlich wie der Biologe und Atheist Richard Dawkins heutzutage – nur dass es weniger peinlich war, ihn auf eine Party mitzubringen. Er war Kinoheld, Autor, Flugpionier, Agent des US-Geheimdienstes und Star einer eigenen Broadway-Show. Er war, wie einige seiner Biografen es ausdrückten, der erste amerikanische Superheld. Aber vor allem war er berühmt für seine Fähigkeiten als Entfesselungskünstler und ist es immer noch.

Aus der Nähe betrachtet ist ein Entfesselungsakt eine ziemlich eigenartige Theateraufführung. Was bitte soll denn unterhaltsam daran sein, jemandem dabei zuzusehen, wie er sich womöglich stundenlang verzweifelt bemüht, ein Schloss zu knacken? Noch seltsamer wird das Ganze, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Publikum überhaupt nichts davon beobachten konnte. Wenn Houdini zum Beispiel versuchte, aus einer Packkiste zu entkommen, lag es in der Natur der Sache, dass sowohl er als auch der Akt der Befreiung im Verborgenen blieben: Das Publikum hatte gezahlt, um Houdini zu sehen, verbrachte aber die meiste Zeit damit, im Theater zu sitzen und eine Holzkiste anzustarren, während er sich darin abmühte. Um sich ein paar Handschellen zu entledigen, trat Houdini geheimnisvoll hinter seine »Ghost box«, einen Leinwandschirm, der extra dazu da war, seine Befreiungsaktion zu verdecken. Aber selbst wenn es möglich gewesen wäre, den Künstler zu beobachten, wäre nicht viel zu sehen gewesen. Es gab keinen sensationellen Trick, und natürlich war keine echte Magie im Spiel. Houdini knackte das Schloss. Das war alles, was sich hinter dem Schirm abspielte. Einen Elefanten verschwinden zu lassen oder eine Kugel mit den Zähnen aufzufangen waren beeindruckende Kunststücke, bei denen eine geheimnisvolle Technik angewendet wurde. Aber dies? Da hockte doch bloß ein Mann in einer Kiste. Und in einem schlecht belüfteten Raum hatten sich Hunderte von Stadtbewohnern versammelt und sahen gebannt zu, wie das Ding hin und her wackelte. Klingt wie ein ziemlich schräges Off-Theaterstück, aber es war eine sensationelle, international erfolgreiche Darbietung.

Die Entfesselungskunst scheint – wie auch viele andere Formen der Zauberei – eine Saite im kollektiven Bewusstsein in Schwingung gebracht zu haben. Es geht dabei offenbar um mehr als das simple Bedürfnis nach Unterhaltung. Houdinis Arbeitsweise, erklärte der Psychoanalytiker Adam Phillips, befasste sich mit der Entwicklung ungewöhnlicher, ausgeklügelter und bemerkenswerter Kunststücke, die, auf weniger amüsante Art präsentiert, die Sitten und Gebräuche seines Landes peinlich genau entlarvt hätten. Waren Houdinis Auftritte womöglich mehr als nur ein Spektakel und konnten als Metaphern verstanden werden? Da er mithilfe einer populären Kunstform und der Benutzung absurder Situationen »die Sitten und Gebräuche seines Landes entlarvt« hatte, könnte man ihn durchaus als Satiriker bezeichnen. »Es ging überhaupt nicht um Zauberei«, schreibt der Historiker und Houdini-Experte Jim Steinmeyer, »auch wenn seine Performance aus der Welt der Magier stammte. Das Drama, das er entfaltete, war das der Herausforderung des kleinen Mannes, der als David einer Gesellschaft gegenübersteht, die den Goliath darstellt. Er war das archetypische Opfer, das sich innerhalb der strikten Grenzen des Varietés zum Sieger aufschwang.«

Anfang des 20. Jahrhunderts, als Houdini auf der Höhe seiner Popularität war, gab es eine Menge von diesen Goliaths. Es war eine Zeit grundlegender sozialer und technologischer Umwälzungen: Edisons Phonograph ermöglichte es, Musik billig zu erwerben und zu transportieren; Ransom Eli Olds baute das erste marktfähige Automobil; es war die Zeit kolonialistischer Expansion; Massen von ehemaligen Landarbeitern mussten sich erst mals mit staatlicher Bürokratie und großen Firmen auseinandersetzen; die Werbung hatte damit begonnen, Bequemlichkeiten als Notwendigkeiten zu propagieren. Es war der Beginn einer Entwicklung, die uns die Konsumwirtschaft bescherte.

Der Durchschnittsbürger war diesem unermüdlichen Fortschritt hilflos ausgeliefert, und so kam es Houdini zu, an seiner Stelle zu agieren, und zwar in symbolischer Weise, indem er sich seiner Handschellen entledigte, aus Holzkisten sprang und sogar einem Polizeiauto entkam, das extra für den Transport von Kriminellen konstruiert worden war. Steinmeyer nannte dies »die Herausforderung des kleinen Mannes«. Wenn es möglich war, derartigen realen Fesseln zu entkommen, musste es dann nicht auch möglich sein, den sozialen Fesseln einer Gesellschaft zu entfliehen, die Millionen normaler Bürger gefangen hielten, um sie dazu zu zwingen, abwechselnd zu schuften und zu konsumieren? Immerhin sind solche sozialen Fesseln ja keineswegs real. Sie wurden nicht in glühendem Feuer geschmiedet, wie Houdini gerne scherzhaft erklärte. Ich glaube, gerade dieses Kokettieren mit dem Möglichen hat die Entfesselungskunst so attraktiv gemacht.

Houdinis Auftritte waren Metaphern beziehungsweise Pantomimen der allgemein vorherrschenden Fluchtfantasien. Er repräsentierte das Prinzip Befreiung. Befreiung aus jenen Fallen, die von den unbekannten Architekten der neuen Ökonomie und ihrer Zwänge eingeführt worden waren. Sein leidenschaftlicher Drang, alles anzuzweifeln, brachte ihn dazu, spirituelle Scharlatane, darunter viele mächtige Politiker oder Prominente, öffentlich zu entlarven. Damit führte er seinem Publikum vor Augen, dass man gegen Regeln und Institutionen aufbegehren kann. Denn wenn der Sohn eines armen Rabbis und gelernter Schlosser zu magischen Kunststücken in der Lage war, war es vielleicht gar nicht so schwer. Zwar hat Houdini dies nie ausgesprochen, aber er hat den Menschen in den aufstrebenden Industrienationen verdeutlicht, dass sie sich in einer neuartigen Zwangslage befinden: Sie sitzen in der Falle. Aber aus Fallen kann man sich befreien.

Springen wir mal hundert Jahre weiter in die Zukunft, zum Anfang des 21. Jahrhunderts. Schauen Sie mal aus dem Fenster, schauen Sie in sich. Wir können uns immer noch mit »der Herausforderung des kleinen Mannes« identifizieren. Wir sitzen immer noch in der Falle. Es ist die gleiche Falle wie schon zu Houdinis Zeiten, aber sie funktioniert viel besser als je zuvor. Die meisten Menschen, die in die Falle hineingeboren werden, wissen gar nichts von ihrer Existenz, geschweige denn davon, dass sie in ihr drin sitzen. Die Konsumwirtschaft und die sogenannte Demokratie haben zwar zu einer Verbesserung der Lebensumstände geführt, aber auch dazu, dass es neue Einschränkungen der individuellen Freiheit gibt. Wie zum Beispiel Jobs, mit denen niemand sich identifizieren kann, und massenhafte Verschuldung.

Achtzig Prozent von uns sind unzufrieden mit ihrem Beruf. Wir verbringen unfassbar viele Stunden damit zu arbeiten und noch mehr unbezahlte Zeit in Zügen, Bussen und Verkehrsstaus, um zur Arbeit oder nach Hause zu kommen. Trotz dieser aufreibenden Aktivitäten sind die meisten von uns verschuldet, weil wir verzweifelt versuchen, uns unsere Würde durch den Konsum zurückzuholen. In Kanada, einem der effizientesten Industrieländer, lag die pro-Kopf-Verschuldung (Hypotheken nicht eingerechnet) im Jahr 2013 bei 28.853 Dollar. Da sehen wir schon, wie die Falle funktioniert. Wir arbeiten, um unsere Schulden zu bezahlen, und wir häufen Schulden an wegen der unwürdigen Bedingungen, unter denen wir arbeiten.

Wenn man Arbeitszeit, Konsumzeit und Schlafzeit abrechnet, bleibt nicht mehr viel Zeit für Freiheit. Wann dürfen wir echte Freude empfinden? Wann haben wir die Gelegenheit, über uns nachzudenken? Wann dürfen wir lesen, ausschlafen, kochen oder uns lieben? Warum sind diese Aktivitäten auf die »Freizeit« begrenzt, einen marginalen Zeitraum, wenn sie doch die Substanz unseres Daseins sein könnten? Den Spaß marginalisieren und die Panik angesichts der aufgetürmten Schulden schüren kann doch nicht der Zweck der Zivilisation sein. Wie wir dieser Zwangslage entkommen können, als Einzelner wie auch als Gesellschaft, das ist das Thema dieses Buchs.

Wir sollten Houdinis Kunst auf das wirkliche Leben anwenden. Die moderne Welt braucht die Entfesselungskunst. Wir brauchen Dietriche, Geduld, Wissen und Humor, um den Fesseln und Gefängniszellen zu entkommen. Wir müssen herausfinden, wie man Jobs hinter sich lässt, die man nicht mag, wie man dem Sirenengesang des Konsums widersteht, wie man Schulden vermeidet und sich dem Stress, der Bürokratie und dem Marketing entzieht. Wir müssen herausfinden, wie man den sklavischen Gedanken entgeht, die uns von der Konsumwirtschaft eingeimpft wurden: Geiz, Unglücklichsein, passiv-aggressive Einstellung, Misstrauen, Konkurrenz und Unterwerfung.

Die Lösung ist, die Entfesselungskunst auf eine ganz neue Art zu betrachten: Man kann nicht nur jeder Falle entrinnen, man kann ihr auch selbstbewusst und mit Gelassenheit entkommen und den Akt der Befreiung mit Humor, spielerisch und als Herausforderung angehen. Genau wie Houdini jeden seiner Auftritte als Herausforderung ansah und die Fesseln nach und nach löste, um freizukommen, können auch wir es tun. Ich fordere Sie auf, liebe Leser, sich aller Fesseln zu entledigen, die Sie behindern. Schlechte Beziehung? Entfesselung! Grauenhafter Job? Entfesselung! Eingewachsene Zehennägel? Entfesselung! Aber in Kombination mit einem Fußpfleger, bitte.

Warum sollten wir nicht die Entfesselungskünstler unseres Zeitalters werden? Betrachten Sie jede einzelne Falle ganz genau mit Houdinis wachsamem Auge und befreien Sie sich davon. Im Jahr 2007, ungefähr ein Jahr nachdem ich mich für die Geschichte der Zauberkunst zu interessieren begann, und ein Jahr nachdem ich einen bescheuerten Bürojob angenommen hatte, gründete ich eine Zeitschrift mit dem Namen New Escapologist, den »Neuen Entfesselungskünstler«. Darin werden die Möglichkeiten einer neuen Entfesselungskunst erörtert. Können wir der Falle entkommen? Und wenn ja, wie müssen wir das anstellen? Können wir alle entkommen oder müssen wir jemanden zurücklassen, der die Hebel und Schalter betätigt und die Mühle am Laufen hält? Wie ich gehofft hatte, funktionierte der New Escapologist wie ein Leuchtfeuer, und bald schon fanden sich Hunderte von Gleichgesinnten zusammen, die daran interessiert waren, dem drögen Alltag zu entkommen. Die Zeitschrift wurde für mich zu einer Art Aussichtspunkt, von dem aus ich noch weiter hinter den Vorhang und in die dahinter liegende Welt spähen konnte. Heute kann ich mit Sicherheit behaupten, dass eine Flucht möglich ist. Schnell und radikal durchgeführt, oder auch langsam und sorgfältig geplant, ist Entfesselung möglich. All jenen, die Ihnen etwas anderes erzählen, sollten Sie mit größtem Misstrauen begegnen.

TEIL EINS

DIE FALLE

Wir sitzen in der Klemme

Hier folgt die lange Beschreibung

einer Maschine.

Houdini

Arbeit

Ich glaube, ich werde mich in einem Jahr zur Ruhe setzen.

Ich kann mein Geld nicht mitnehmen, wenn ich sterbe,

und möchte es gerne mit meiner Familie genießen,

solange ich lebe.

Houdini

Mein erster Job

Knirsch, knirsch, knirsch. Der frisch gefallene Schnee gab bei jedem Schritt nach. Seit vier Jahren waren meine Fußstapfen die ersten in der Nachbarschaft, wenn es geschneit hatte. Sie führten den großen Hügel hinauf und dann wieder hinunter, vorbei an gut hundert verschiedenen Einfamilienhäusern.

Die Leute wollten die Zeitung nicht, die ich austeilte. Es war keine richtige Zeitung wie der Guardian oder die Times, für die sie zahlten und auf die sie warteten, sondern ein wöchentlich erscheinendes, kostenloses Blatt namens Dudley News, mit vielen Anzeigen und einigen angeblichen Lokalnachrichten. Wenn man den Fehler beging, die Dudley News zu lesen oder in einem Moment der Langeweile nach ihr zu greifen, machte man sich die Finger schmutzig wegen der Druckerschwärze. Manchmal wurde ich verjagt, wenn ich versuchte, die Zeitung vor einer Haustür abzulegen. Vielleicht lag es ja auch daran, dass ich so sehr mit Druckerschwärze beschmiert war. Ich sah aus wie ein Schurke in einem Roman von Dickens. Im Rückblick kann ich überhaupt nicht verstehen, wieso ich den ganzen Stapel nicht noch vor meiner Tour in eine Altpapiertonne geworfen habe, denn dort würden die einzelnen Exemplare sowieso innerhalb weniger Stunden nach dem Austragen landen.

Ich vermute, dass ich diese wöchentliche Zeitungstour nur deshalb unternahm, weil ich latent hoffte, dass ich hinter einem Schlafzimmerfenster einen Blick auf eine gelangweilte Hausfrau werfen könnte, so wie in einem der Confessions-Filme von Timothy Lea. Meine einzige Entschuldigung ist, dass ich erst vierzehn Jahre alt war und in den West Midlands aufwuchs und eine Menge von diesen Confessions-Filmen gesehen hatte. Natürlich sah ich während meiner Tour hinter den Fenstern bloß meine Schulfreunde, die sich in gemütlichen Wohnzimmern Zeichentrickfilme ansahen, während ich völlig zugeschneit oder von Hagelkörnern gepiesackt zu ihrer Haustür schlich.

Ich machte diesen Job drei Jahre lang, denn es schien meine Eltern glücklich zu machen (hart arbeiten fanden sie gut), und weil ich das Geld gebrauchen konnte. Und, das sollte nicht verschwiegen werden, weil ich mir vorstellte, dass es eine winzige Chance gab, durch irgendein Fenster einen Blick auf ein paar nackte Titten zu erhaschen. Die andere Fantasie, die ich zusammen mit den Zeitungen mit mir herumtrug, war die Überzeugung, eines Tages, wenn ich erst mal erwachsen war, einen viel ernsthafteren, bedeutsameren und interessanteren Job zu haben als diesen hier. Leider reduzierten sich meine Chancen, während der Arbeit einen Blick auf Titten zu erhaschen, von selten auf null, als ich erst mal einen Bürojob hatte. Außerdem konnte ich meine Kaufkraft nur marginal verbessern. Mist.

Eine merkwürdige Verpflichtung

»Lassen Sie mich mal eines klarstellen«, sagt tatsächlich nie jemand. »Sie möchten, dass ich mich regelmäßig an einen bestimmten Ort begebe, mich dort acht Stunden lang aufhalte, und zwar in Gesellschaft von Leuten, die ich nicht besonders gut leiden kann, und das an fünf Tagen in der Woche für die nächsten vierzig Jahre? Was ist denn das für ein Schwachsinn?« Tja, und wer tut so etwas? Wie es aussieht, so gut wie alle.

Es sind einfach nicht genug Menschen da, die fragen: »Wie viele Stunden?«, und: »Wie lange bitte?«, und dann: »Sie wollen mich wohl verarschen?« Wir arbeiten normalerweise vierzig Stunden die Woche. Manche arbeiten sogar noch länger, zum Beispiel die skandalös schlecht bezahlten Praktikanten in den Londoner Banken. Manche haben das Glück oder Unglück – das hängt von den jeweiligen Umständen ab –, weniger zu arbeiten. Aber die Vierzigstundenwoche ist normal. Diese Zahl beinhaltet allerdings nicht die unbezahlten Überstunden, die eifrige Karrieristen freiwillig leisten, oder die verlorene Zeit, die für die »allzeit bereit« stehenden mobilen Online-Dienste drangegeben wird. Heutzutage kann man seine Arbeitszeit sogar effektiv nutzen, wenn man gerade einen romantischen Abend verbringt oder auf der Toilette hockt.

Vierzig Stunden die Woche, und das vierzig Jahre lang, ist eine ziemlich große Verpflichtung. Sogar wenn man glücklich ist, weil man als Schokoladentester oder Filmkritiker arbeitet, sind vierzig Jahre des Lebens eine ganz gewaltige Strecke. Wir verbringen ungefähr 87.000 Stunden bei der Arbeit, bevor wir uns zur Ruhe setzen oder sterben (und mittlerweile ist es recht optimistisch, davon auszugehen, dass das Erstere vor dem Letzteren geschieht). Wir verbringen außerdem ungefähr 5.000 Stunden, um zur Arbeit und wieder nach Hause zu kommen. Mir liegt keine Quelle vor, die belegt, wie viele Stunden wir damit zubringen, uns auf die Arbeit vorzubereiten oder uns von der Arbeit zu erholen, aber es muss eine ziemlich große, nahezu unschätzbare Zahl sein. Wenn man Vollzeit arbeitet, ist jeder Urlaubstag, jedes Wochenende, jeder Feiertag, jeder nächtliche Schlaf oder verbummelte Augenblick dazu da, kurz mal abschalten zu können. Solche Momente gehören uns aber in Wahrheit gar nicht, denn sie dienen nur der Wiederherstellung der Arbeitskraft. »Wie war’s an Weihnachten?«, könnten Sie zum Beispiel eine Kollegin fragen. »Oh, es war wirklich schön, mal ganz draußen zu sein«, sagt die dann wahrscheinlich. Unter solchen Umständen ist ein Heim gar kein Heim mehr, sondern eine Art Docking-Station oder ein Boxenstopp, um den eigenen Akku wieder aufzuladen, um weiter zu funktionieren. Weihnachten ist keine Orgie zur Feier der Wintersonnenwende mehr, sondern eine zeitlich begrenzte Möglichkeit, sich vor dem Chef zu verstecken.

Und dann gibt es auch noch diese Träume! Die gefürchteten Albträume, in deren Mittelpunkt die Arbeit steht. Ich hatte mal, immer samstags, einen Job in einer großen Filiale der Buchhandelskette WHSmith. Damals hatte ich gelegentlich längere, peinlich dumme Träume, in denen ich abgestellte Einkaufskörbe im Laden einsammelte. Das war tatsächlich ein Teil meines Jobs, eine Tätigkeit, die sich ständig wiederholte und sich dadurch offenbar in mein Unterbewusstsein eingebrannt hatte. Beim Aufwachen hatte ich immer den Verdacht, dass ich gerade eine Schicht geschoben hatte, für die ich leider nicht bezahlt wurde. Das ist bestimmt nicht untypisch für Arbeitnehmer, und leider sind Träume über den Arbeitsplatz oftmals regelrechte Angstträume. Im Rahmen unseres Jobs erleben wir so viel Stress und Frustration, weil wir von wichtigen Angelegenheiten jenseits der Arbeit ferngehalten werden, dass wir Schlafstörungen bekommen. Ist es das wirklich wert? Darf mein Chef wirklich so viel Druck auf mich ausüben wegen des Einsammelns abgestellter Einkaufskörbe, dass ich nachts davon träume? Unglücklicherweise können wir nicht viel gegen derartige Übergriffe auf unser ganz privates Leben tun, jedenfalls nicht, solange es keine ätherische Traumwährung gibt, mit der wir dafür bezahlt werden. Besser wäre, wir könnten uns an weniger angsterzeugenden Lebensumständen erfreuen, wenn wir wach sind. Schafft die Arbeit ab, sage ich! Macht euch frei davon! Oder macht sie wenigstens so angenehm, dass sie euren Schlaf nicht stört und eure schönen Träume nicht kaputtmacht.

Warum arbeiten, wenn wir doch gar nicht wollen?

2014 wurde bekannt, dass eine Gerichtsschreiberin während rund dreißig Verhandlungen immer nur den Satz »Ich hasse meinen Job« getippt hatte. Das war natürlich ziemlich witzig und wurde im Internet als Sensation gefeiert. Die Journalistin Dawn Foster schrieb dazu: »Die Tatsache, dass so viele Menschen diese Geschichte mit Begeisterung verfolgt haben, zeigt doch: Viele von uns sind klammheimlich der Ansicht, dass wir unser Leben nicht bis zum Schluss mit irgendwelchen Jobs vergeuden sollten. Trotzdem ist es aus irgendwelchen merkwürdigen Gründen immer noch ein Tabu zuzugeben, wie unglaublich langweilig die meisten Jobs sind.«

Manche Menschen mögen ihre Arbeit, und das ist großartig. Nur weil ich nie einen Job gemocht habe, muss das ja nicht bedeuten, dass es nicht ein paar gute gibt: anständig bezahlte, gemeinnützige, befriedigende Berufe mit viel Abwechslung und der Möglichkeit, etwas Sinnvolles zu tun. Man hört gelegentlich auch von Krankenhaus-Portiers oder Busfahrern, die im Lotto gewonnen haben und dann sagen: »Das ändert nichts bei mir«, und als heimliche Millionäre weiter jeden Tag zur Arbeit gehen. Man fragt sich natürlich schon, warum die überhaupt ein Lotterielos gekauft haben, aber das geht schon in Ordnung. Für die Bevölkerungsmehrheit allerdings ist Arbeit zumeist keine angenehme Erfahrung und im besten Fall eine lästige Notwendigkeit. »Tretmühle« wird sie ja auch genannt oder »der ewige Konkurrenzkampf« oder »Maloche« und »Schinderei«. Es gibt nicht viele positive Bezeichnungen dafür, dass man jeden Tag zur Arbeit gehen muss. Es gibt auch keine irischen Folksongs oder amerikanische Blues-Stücke, in denen gepriesen wird, wie toll der Chef und wie erfüllend die Arbeit ist und dass die Banker, die das Geld verwalten, einen Superjob machen und einem tolle Gewinne bescheren.

Niemand strebt im Alter von acht Jahren danach, als Erwachsener eine Servierkraft in einem Fast-Food-Laden, ein Kostenkalkulator oder gar ein »stellvertretender Direktor im Bereich der digitalen Innovation« zu werden. Möglicherweise möchte man gerne einstreichen, was diese Jobs abwerfen, sich einen gewissen Wohlstand verschaffen oder die Möglichkeit, einen tollen Hut zu tragen, aber nur ein Verrückter kann sich für die Umstände eines Angestelltendaseins begeistern: an fünf Tagen in der Woche am selben Ort sein zu müssen, um dort die ständig gleichen, hirntötenden Tätigkeiten auszuüben, und das auch noch aus fadenscheinigen bis zweifelhaften Motiven.

Es gibt viele Gründe, einen Job anzunehmen. Zum einen wird es als normal angesehen: Wir arbeiten, weil andere Leute auch arbeiten und es schon immer getan haben, so weit wir uns zurückerinnern können. Es wäre unerhört, da nicht mitzumachen. Des Weiteren gibt es da noch den Faktor Gehorsam. In einem Versuch zeigte der amerikanische Psychologe Stanley Milgram, wie schnell normale Menschen dazu gebracht werden können, sich extrem zu verhalten, indem er sie dazu brachte, einem gebrechlichen alten Mann Elektroschocks zu verpassen, von denen sie annahmen, dass sie echt waren. Und das nur, weil ein Mann in weißem Kittel ihnen den Befehl dazu gab. Die Tür des Versuchsraums stand die ganze Zeit offen, und den Teilnehmern war zu Beginn des Experiments versichert worden, dass sie jederzeit gehen könnten. Dennoch machten sie weiter, nur weil ihnen nahegelegt wurde fortzufahren, da das Experiment es angeblich erfordere. Die meisten Menschen befolgen Anweisungen von Autoritäten, selbst wenn sie sinnlos oder destruktiv sind. Im wirklichen Leben wird uns auf weniger subtile Art »nahegelegt«, unsere Wunschträume zu vergessen und uns einen Job zu besorgen, und es ist nicht einfach, sich dem zu entziehen.

Zur Arbeit zu gehen macht keinen Spaß und ist auch keine erhabene Sache. Wir gehen zur Arbeit, weil wir es nicht besser wissen, weil wir gehorchen und vor allem weil wir unseren Lebensunterhalt verdienen müssen. Unseren Lebensunterhalt müssen wir deshalb verdienen, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der wir andernfalls verarmen würden. Von Stunde zu Stunde, von Scheck zu Scheck. Ein Job ist die kurzfristige Lösung eines langfristigen Problems.

»Arbeit ist die Quelle von so gut wie jedem Elend in der Welt«, schreibt der Anarchist Bob Black in seinem Essay Die Abschaffung der Arbeit. »Fast alles Böse, das uns bekannt ist, resultiert aus der Arbeit oder daraus, dass wir in einer Welt leben, die nur durch Arbeit funktioniert. Um unser Leiden zu beenden, müssen wir aufhören zu arbeiten.« Bob Black hat recht. Seiner Ansicht nach sollten wir unsere Jobs kündigen, das Recht auf Faulheit einfordern, Arbeitslosigkeit bevorzugen und uns dafür einsetzen, aus dem Leben eine nicht endende Party zu machen. Die Surrealisten propagierten etwas Ähnliches, aber »im Gegensatz zu den Surrealisten meine ich es ernst«, sagt Bob Black.

Genau wie ich. Die Alternative zur Arbeit ist nicht das totale Nichtstun (auch wenn dagegen nichts einzuwenden wäre), sondern eine kreativere, bewusstere und befriedigendere Tätigkeit. Jeder, der schon einmal die Freuden des Müßiggangs genossen hat – zum Beispiel wenn er länger krankfeierte als nötig oder es sich dank der Arbeitslosenunterstützung eine Weile bequem machen konnte –, weiß, dass irgendwann der Moment kommt, wo man wieder Lust hat, seinen Arsch hochzukriegen und etwas zu tun. Körper und Geist sind nicht damit zufrieden, für immer im Bett zu liegen. Nach so einer gewissen Zeit des Müßiggangs wird dieser Drang zu neuen Taten sich automatisch wieder regen, aufgrund von eigener Überlegung, Selbstbestimmung und Freiwilligkeit. Und kein Autoritätsbüttel oder Amtsschimmel sollte Sie dazu zwingen dürfen, eine Arbeit anzunehmen, wie das allgemein üblich ist. Unser aktuelles Moralsystem basiert übrigens auf dem Konsensprinzip, jedenfalls ist das ein Eckpfeiler davon. Unsere Gesetze kommen durch Vereinbarungen zustande, genau wie unsere Demokratie, unsere sozialen Beziehungen und unser Verhältnis zu Sex. Das Prinzip Arbeit hingegen wurde nicht aufgrund einer freiwilligen Vereinbarung etabliert, denn man lässt uns gar keine andere Wahl, als uns damit abzufinden. In ethischer Hinsicht hinkt dieses Prinzip also den anderen gesellschaftlichen Vereinbarungen hinterher. Deshalb sollte es abgeschafft oder zumindest radikal infrage gestellt werden.

Die Umwandlung des Arbeitslosengelds in eine »Vergütung für Arbeitsuchende« in Großbritannien basiert auf der optimistischen Annahme, dass niemand wirklich arbeitslos werden kann, sondern nur kurzfristig stellungslos ist. In diesem Fall, so wird vorausgesetzt, geht man aktiv auf die Suche nach einem neuen Job, weil es angeblich keine Alternative gibt. Dieser Mangel an Wahlmöglichkeiten ist der Grund, warum Arbeit mitunter als Lohnsklaverei bezeichnet wird. Wir finden es vielleicht nicht gut, aber solange wir nichts Unorthodoxes dagegen unternehmen, sind wir vollkommen abhängig von unserem Lohn. Diese unorthodoxe Tat, die Flucht vor der Arbeit, sollte die vordringlichste Aufgabe jedes ernsthaften Entfesselungskünstlers sein. Arbeit ist eine teure und keineswegs im Konsens vereinbarte Verpflichtung. Diejenigen unter uns, die interessantere Ideen verfolgen und den Sinn des Lebens woanders suchen, wollen raus aus dieser Tretmühle!

Bullshit-Jobs und kontrollierte Kontrolleure

Es gibt eine Menge unangenehme Aspekte an der Arbeit heutzutage. Ihre Notwendigkeit wird in erster Linie damit begründet, dass wir Geld brauchen. Denn der größte Teil der angebotenen Arbeiten oder Dienste ist tatsächlich unnötig.

Der amerikanische Philosoph Buckminster Fuller meinte einmal, wir hätten Kontrolleure für Kontrolleure und Leute, die Geräte erfinden, damit Kontrolleure andere Kontrolleure kontrollieren können. Damit hat er zweifellos recht. Riesige bürokratische Apparate sind nur dazu da, Menschen in Arbeit zu halten. Ich hatte mal einen Job, den es nur deshalb gab, weil jemand in der Firma ein besonderes Talent hatte, Gelder aufzutreiben. Und nun hatte er dieses Geld aufgetrieben, das dazu da war, einen weiteren Angestellten zu bezahlen, für den es allerdings gar kein Betätigungsfeld gab. Ich fragte mal meine Kollegen in einer Krankenhausbibliothek, ob sie einen gut bezahlten Job in Erwägung ziehen würden, bei dem es darum geht, morgens ein Loch zu graben und es am Nachmittag wieder zuzuschütten. Sie waren dazu bereit und stimmten zu, dass diese Tätigkeit sich nicht sehr von der unterschied, die sie gerade ausübten. »Sei bloß still«, sagte einer von ihnen und wollte damit ausdrücken, dass mein Job bei ihnen ungefähr genauso sinnvoll war. Was auch stimmte.

Es gibt auch richtige und wichtige Berufe, denken wir an Feuerwehrmänner, Ärzte oder Krankenschwestern. Aber in einer Gesellschaft, in der es zuallererst darauf ankommt, Vollbeschäftigung zu erzielen, indem man jede Menge Jobs für Ungelernte schafft, kann jeder Trottel es zu etwas bringen. Es ist sogar ziemlich verführerisch, einen nutzlosen Job anzunehmen, weil es wesentlich anstrengender wäre, Feuerwehrmann, Arzt oder Krankenschwester zu sein. Außerdem wären wir in diesen Berufen viel öfter, als uns lieb ist, großer Gefahr, Exkrementen oder Gedärmen ausgeliefert. Das war jedenfalls meine eigene Motivation, frühzeitig die Schule zu verlassen: Ich wollte möglichst schnell einen Karrierepfad einschlagen, der mich in Richtung inkonsequenter Angestellten-Mittelmäßigkeit führen und mir den Horror des Umgangs mit Exkrementen ersparen würde. Aber so zart besaitet und auf mich selbst bezogen ich im Alter von siebzehn Jahren auch war, musste ich doch feststellen, dass es so etwas wie totale Langeweile gab. Diese Langeweile nagte an meiner Persönlichkeit, indem sie mir deutlich machte, wie wenig ich der Welt bedeutete, egal wie sehr ich mich einsetzte oder etwas beitragen wollte. Die Entfesselungskunst ist wahrscheinlich die einzige Rettung für alle, die in solchen sinnlosen Jobs gefangen sind. Wer in der Lage ist, sich täglich dem ganzen Horror von Leben, Tod und Körperflüssigkeiten zu stellen, braucht sie vielleicht gar nicht. Wenn wir der Neigung nachgeben, bedeutungslose Jobs anzunehmen, enden wir als Rädchen in Getrieben, die man schon vor Jahren hätte stilllegen sollen oder besser nie gebaut hätte. Buckminster Fuller meinte hierzu: »Wir erfinden Jobs aufgrund der falschen Idee, dass jeder Mensch einen Arbeitsplatz haben muss, an dem er sich abrackert, weil jeder sich, entsprechend der Doktrin von Darwin und Malthus, für seine Existenz rechtfertigen muss.« Viel besser wäre, wir würden mit dieser fadenscheinigen Vorstellung Schluss machen, dass jeder Mensch seinen Lebensunterhalt verdienen muss.

Jobs sind manchmal das Ergebnis öffentlicher Diskussionen. Nach einem Skandal oder einem kostspieligen Fehler, der von den Zeitungen breitgetreten wurde, steht eine große Firma oder, was eher der Fall sein dürfte, der Staat in Zugzwang und muss in den Augen der Öffentlichkeit etwas tun. In solchen Fällen wird dann »eine Untersuchung in die Wege geleitet« und eine neue Abteilung ins Leben gerufen, um das in Ordnung zu bringen, was falsch gelaufen war – in der Hoffnung, dass es sich nicht wiederholen wird. Das ist jedoch völlig ineffektiv und mündet nur in Arbeit, die eigentlich gar nicht gemacht werden müsste. In seinem inzwischen berühmten Essay über das Phänomen der »Bullshit-Jobs« erläutert David Graeber, wie die Anzahl von Arbeitern in Industrie, Landwirtschaft und bei häuslichen Dienstleistungen »dramatisch eingebrochen« ist. Gleichzeitig hat sich die Anzahl der Menschen verdreifacht, die in Verwaltung und Management, im Büro und im Service oder im Verkauf beschäftigt sind. Der Anteil dieser Arbeitnehmer an der Gesamtzahl der Beschäftigten ist von einem Viertel auf drei Viertel gestiegen. Das ist ziemlich viel Aufwand, der sich allein aus der Tatsache ergeben hat, dass Menschen Geld brauchen, um leben zu können. Gibt es wirklich keine bessere Möglichkeit, den Leuten ihren Lebensunterhalt zu sichern?

Je mehr die Zeit voranschreitet, umso mehr Menschen erledigen völlig wertlose Arbeit. Vielleicht werden sie ja dafür bezahlt, auf Pogo-Sticks herumzuhüpfen oder hin und wieder eine Schublade in ihrem Schreibtisch auf- und zuzuschieben oder die Gelben Seiten zu kopieren. Wirklich produktive Arbeitsplätze wurden längst in Länder mit ärmerer, gewerkschaftlich nicht organisierter Bevölkerung ausgelagert. Oder werden von Robotern und Computern erledigt. Oder wurden völlig abgeschafft, weil unsere sozialen Bedürfnisse sich gewandelt haben. Übrig geblieben sind in den westlichen Ländern Angestellten- oder Service-Jobs, die vor allem dazu da sind, die Leute in Beschäftigung zu halten, die Wirtschaft zu stützen, den Reichen noch mehr Einkommen zu verschaffen und Schrott zu verkaufen, den keiner braucht. Wir sind völlig besessen davon, dass Arbeit an sich schon ein Wert ist. Und dieser Umstand bedroht inzwischen die Menschheit, der er eigentlich dienen soll. Immerhin ist ein Arbeitsplatz ein ganz guter Ort, um sich kostenlos Post-it-Zettel oder Klebekitt zu besorgen, mit dem man Plakate von historischen Zauberkunstvorstellungen an der Wand befestigen kann. Was aber nur eine geringe Kompensation für ein Leben in sinnloser Unterwerfung ist.

Sogar die übrig gebliebenen sozial nützlichen Jobs werden durch irgendwelche idiotischen Vorgaben heruntergewirtschaftet. Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Heilberufe, Bibliothekare, Lehrer, Chirurgen, Feuerwehrleute: Alle müssen sich ständig mit gigantischen Bergen von Formularen herumschlagen und sind verpflichtet, »Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung« durchzuführen, angefangen bei Brandschutzübungen bis hin zu leeren Lippenbekenntnissen. Überall im Gesundheits- und Sicherheitsbereich schleichen sich solche Maßnahmen ein. Es gibt eine Überprofessionalisierung des menschlichen Drangs zu helfen oder sich zu kümmern. Ständig muss die Verwendung von Geldern gerechtfertigt werden. Bei vielen Arbeitnehmern wie auch in ganzen Wirtschaftszweigen herrscht die Angst vor, man könnte überflüssig werden. Einzelne Beschäftigte und ganze Abteilungen tun unglaublich geschäftig und hochtrabend, aus Angst vor der Sinnlosigkeit des eigenen Tuns.

Wie können wir das als Gesellschaft ändern? Diese absurden und ungerechten Auswüchse machen mich so wütend, dass ich am liebsten eine Kampagne für den totalen Wandel in die Wege leiten würde. Nicht nur, um aus der Falle herauszukommen, sondern um daran zu rütteln, und zwar von innen heraus. Eine solche Kampagne wäre allerdings mehr als ein Vollzeitjob, und ehrlich gesagt bin ich nicht der Märtyrer-Typ: Ich ziehe die Entfesselungskunst der Utopie vor. Die kann ich nämlich selbst bewerkstelligen.

Die beste Möglichkeit, dies gesamtgesellschaftlich hinzubekommen, wäre das bedingungslose Grundeinkommen. Dabei handelt es sich um eine bestimmte Summe, die jedem Bürger pro Monat vom Staat zugestanden wird. Sie müsste so hoch sein, dass sie die Grundbedürfnisse abdecken kann. Anders ausgedrückt müsste der Staat jedem von uns ungefähr 120 Euro pro Woche ausbezahlen, das wäre gerade genug, um zu überleben. Wenn dieser Betrag jedem Bürger ausbezahlt würde, egal wie alt er ist oder in welcher physischen Verfassung, oder welchen Bildungsstand oder Wohlstand er erreicht hat, könnten wir damit die Armut abschaffen und sicherstellen, dass niemand unbedingt arbeiten muss. Die meisten Menschen würden trotzdem arbeiten wollen, um ihre Lebensqualität zu verbessern, aber es wäre eine freie Entscheidung und weniger ein unangenehmer Zwang, wie es zurzeit der Fall ist. Asketisch veranlagte Menschen könnten das Arbeiten vollständig aufgeben. Menschen, die Teilzeit arbeiten möchten, hätten es leichter. Risikoscheue Personen, die gern eine Firma eröffnen oder sich als Künstler betätigen würden, hätten nun eine Absicherung. Und solange Wohnungen einigermaßen erschwinglich bleiben, würde niemand Gefahr laufen zu hungern oder in einem Ladeneingang schlafen zu müssen. Bullshit-Jobs würden wegfallen, weil niemand einsehen würde, warum er nur um der Arbeit willen arbeiten soll.

Da jeder, egal in welchen Verhältnissen er lebt, ein Anrecht auf das bedingungslose Grundeinkommen hätte, müsste sich niemand wie ein Schnorrer oder Schmarotzer fühlen. Wir wären weniger darauf angewiesen, unangenehme Arbeitsverhältnisse einzugehen, da es uns leichter fiele, auf sie zu verzichten. Wir könnten die Zeit der Arbeitslosigkeit nutzen, um nützliche oder angenehme Dinge zu tun – für uns selbst oder für die Gesellschaft –, anstatt stundenlang Frikadellen zwischen zwei Brötchenhälften zu schieben oder ständig auf die Uhr im Büro zu starren, deren Zeiger sich nicht fortbewegen wollen. Das Menschenrecht auf Wohnung könnte endlich Wirklichkeit werden. Und schließlich würde persönliche Freiheit die Grundlage unserer Gesellschaft werden, statt des überall vorherrschenden Zwangs.