Ich habe einen Traum - Reem Sahwil - E-Book

Ich habe einen Traum E-Book

Reem Sahwil

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Beschreibung

Ihre Tränen bewegten Angela Merkel und die ganze Welt

Viel zu früh kam Reem Sahwil zur Welt, doch in ihrem libanesischen Flüchtlingslager konnte sie nicht schnell genug medizinisch versorgt werden. Mit gravierenden Folgen: Jahrelang war sie gelähmt und musste zahlreiche Operationen über sich ergehen lassen. Ihre Flucht führte Reem und ihre Familie schließlich nach Deutschland, wo sie endlich die medizinische Behandlung erhielt, die sie brauchte.
Reems Geschichte steht stellvertretend für das Schicksal unzähliger Flüchtlinge in Deutschland, die nur den einen Wunsch haben: endlich in Sicherheit und ohne Angst leben zu können. Der bewegende Lebensweg eines Mädchens – und sein Traum von einer besseren Welt.

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Seitenzahl: 313

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Reem Sahwil

mit Kerstin Kropac

Ich habe

einen Traum

Als Flüchtlingskind in Deutschland

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Ihre Tränen vor der Bundeskanzlerin rührten die Nation: Reem Sahwil wurde 2000 in einem libanesischen Flüchtlingslager geboren und hat in ihrem jungen Leben bereits viel erlebt. Seit ihrer Geburt ist sie zu 30 Prozent gelähmt. Durch Unterstützung des Roten Kreuzes und anderer Organisationen kam sie 2010 nach Deutschland, um operiert zu werden. Seither lebt sie mit ihren Eltern und ihren zwei Geschwistern in Rostock. Ihre Geschichte steht stellvertretend für das Schicksal unzähliger Flüchtlinge in Deutschland, die nur den einen Wunsch haben: endlich in Sicherheit und ohne Angst leben zu können. Der bewegende Lebensweg eines Mädchens und seines Traums von einer besseren Welt.

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Die Verlagsgruppe Random House weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags für externe Links ist stets ausgeschlossen.

Originalausgabe 09/2017

Bildnachweis: Ich habe einen Traum (60392)

Bildredaktion: Tanja Zielezniak, Stand: 21.04.2017

Alle Bilder stammen von Susanne Krauss (susanne-krauss.com), mit Ausnahme von: Privatarchiv Reem Sahwil: Bild 1, Bild 2.; Gettyimages: Bild 3, Bild 4 (Sam Tarling/Kontributor); Imago: Bild 5 (Bildwerk); Picture Alliance: Bild 6, U4 (Steffen Kugler/Bundesregierung/dpa).

Copyright © 2017 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Beratung: Stefan Linde

Redaktion: Anja Freckmann

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung eines Fotos von: © Gordon Welters/laif

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-19032-3V001

www.heyne.de

Haifa.

Hier schimmert das Mittelmeer in seinem schönsten Azurblau. Breite Straßen sind von haushohen Palmen gesäumt. In üppig bewachsenen Gärten blühen rosa und knallpinke Oleander neben Oliven- und Orangenbäumen. Nirgendwo sind die Früchte saftiger oder die Datteln süßer. Auf den sattgrünen Wiesen der riesigen Parks spielen Kinder Fußball. Juden, Muslime, Christen – alle miteinander.

Alles ist friedlich.

Und alle sind glücklich.

Meine Uroma lehnt sich auf ihrer schmalen Bank zurück – gegen die hässlich graue Wand unseres Hauses. Mit ihrem verwaschenen Stofftaschentuch wischt sie sich eine Träne aus ihrem Gesicht. Es zerreißt mir jedes Mal das Herz, wenn ich die alte Dame weinen sehe. Etwas hilflos blicke ich zu ihr auf. In ihren faltigen Händen dreht sie den Schlüssel zu ihrem alten Zuhause. Diesen Schlüssel trägt sie immer bei sich. Jeden Morgen steckt sie ihn in ihr buntes Gewand mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie sich jeden Morgen ihr weißes Kopftuch umbindet – und das, obwohl sie ihr Haus in Haifa bereits vor über sechzig Jahren verlassen hat. Für mich ist das unvorstellbar lange her – unendlich lange bevor ich geboren wurde, sogar unendlich lange bevor meine Eltern geboren wurden.

Ein anderes Leben. In einer anderen Zeit.

Doch für meine Uroma ist es, als hätte sie ihre Haustür erst gestern hinter sich zugezogen. Dieser Schlüssel in ihren Händen fühlt sich an wie ein Versprechen, das noch eingelöst werden muss: das Versprechen ihrer Rückkehr.

Ich sitze zu ihren Füßen auf dem lehmigen Boden vor dem Haus, in dem ich mit meiner Familie lebe: mit meinen Eltern, zwei Onkeln und ihren Familien, einer unverheirateten Tante, einem unverheirateten Onkel, Oma und Uroma – insgesamt 24 Personen. Deshalb ist bei uns auch immer viel los. Natürlich. Immerhin sind wir vierzehn Kinder!

In diesem Moment stürmen einige meiner Cousins und Cousinen lachend aus der Haustür ins Freie, an Uroma und mir vorbei, ohne uns zu beachten. Sie sind mitten im Spiel: Fangen – definitiv eine der Lieblingsbeschäftigungen der Kinder hier im Lager. Meine Cousinen kreischen aufgeregt, und meine Cousins warten jedes Mal, bis der Fänger ganz dicht bei ihnen ist, um dann im letzten Moment zu entwischen. Dabei müssen sie sich in den verwinkelten Gassen immer wieder ducken, weil die Stromkabel, die wie bunte Girlanden sämtliche Häuser des Flüchtlingslagers miteinander verbinden, an manchen Stellen ziemlich tief hängen. Sehnsüchtig schaue ich ihnen hinterher – wie gerne würde ich mit ihnen herumtoben!

Weil auch Uroma kurz abgelenkt ist, versuche ich, den Kindern hinterherzurobben. Laufen kann ich nicht, da ich seit meiner Geburt einseitig gelähmt bin – eine Folge der schlechten medizinischen Versorgung hier im Lager. Aber trotz meiner Behinderung lassen mich meine Cousins und Cousinen immer mitspielen – so gut es eben geht. Gerade will ich meiner Lieblingscousine Doaa zurufen, dass sie auf mich warten soll, da stoppt ein Gehstock meine Flucht. Er steckt plötzlich direkt vor mir im lehmigen Boden.

Frustriert blicke ich an ihm hoch – in das vorwurfsvolle Gesicht meiner Uroma. Leider ist sie selbst mit ihren hundert Jahren noch viel flinker als ich! Resolut treibt sie mich zurück zu ihrer Bank, wo ich mich wieder neben sie setzen soll, um ihr weiter zuzuhören. Uroma liebt es, wenn sie Zuhörer hat. Aber ich bin sechs Jahre alt. Ich will spielen! Trotzig senke ich meinen Blick und schiebe meine Unterlippe vor. Ich finde es gemein, dass ich immer bei der alten Frau hocken muss, während meine Cousins und Cousinen Spaß haben. In solchen Momenten hasse ich meine Behinderung. Zumal ich Uromas Geschichten längst auswendig kenne – schließlich habe ich sie bereits tausendmal gehört. Mindestens.

Nachdem Uroma ächzend zurück auf ihre Bank gesunken ist, streichelt sie mir liebevoll über die Wange und schaut mich aus ihren wässrigen Augen zärtlich an. Schlagartig tut es mir leid, dass ich abhauen wollte. Vorsichtig lehne ich meinen Kopf gegen ihr Knie. Ich höre, wie meine Uroma einen tiefen Atemzug nimmt. Und während sie mir über mein Haar streicht, beginnt sie wieder zu erzählen: Wie sie als Witwe in Haifa ganz friedlich in einer Reihenhauszeile mit drei Einheiten gelebt hat – links neben ihr Christen, in der Mitte meine Uroma, rechts eine jüdische Familie. »Alle Menschen waren gleich. Es gab kein Reich, es gab kein Arm. Die Religion war egal. Wir waren alle nur stolz, in Haifa zu wohnen. Für uns war es die schönste Stadt der Welt. Direkt am Meer.« Sie seufzt. »Ich wäre so gerne dort geblieben!« Wieder werden ihre Augen glasig. Uroma wischt sich eine Träne weg, und ich streichle tröstend über ihr Bein. Dann lasse ich meinen Kopf wieder sinken und höre weiter zu, als meine Uroma wieder in ihren Erinnerungen versinkt, wie sie früher immer am Rande eines sprudelnden Brunnens gesessen hat. Zusammen mit Rachel, ihrer jüdischen Nachbarin. Rachel war damals Uromas beste Freundin. Die beiden haben stundenlang zusammen Tee getrunken, gequatscht und gelacht. Politik hat die beiden Frauen überhaupt nicht interessiert. Natürlich haben sie mitbekommen, dass es in der Stadt Unruhen gab. Vor allem seit die UNO im Herbst 1947 beschlossen hatte, Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat zu teilen. Sie wussten auch, dass Haifa demnach künftig zu Israel gehören sollte. Sogar von den Kämpfen, die neuerdings in der Stadt zwischen Arabern und Juden stattfanden, hatten die beiden gehört. Aber irgendwie dachten sie, das Ganze würde sie nichts angehen. Sie hofften, da würden sich ein paar Leute eine Weile streiten, wie es doch eigentlich schon immer in dieser Region gewesen war, aber danach würden in der schönen Hafenstadt wieder Ruhe und Frieden einkehren.

Doch leider haben sich meine arabische Uroma und ihre jüdische Freundin Rachel geirrt. Eines Morgens – ungefähr in der Mitte des Jahres 1948 – hämmerte es in der Frühe an Uromas Haustür. Bewaffnete Männer stürmten in ihr kleines Reihenhaus, bedrohten meine Uroma und forderten sie auf, sofort ihr Haus zu verlassen. Meine Uroma war völlig unvorbereitet. In aller Eile und unter den strengen Augen der aufgebrachten Männer stopfte sie schnell ein paar Kleider und ihren geliebten Messingmörser in eine Reisetasche. Anschließend verließ sie, immer bewacht von den fremden Männern, das Haus und schloss wie selbstverständlich die Haustür ab. Den Schlüssel steckte sie in ihr Gewand. Dann ist sie geflohen – ohne sich von Rachel zu verabschieden. Uroma dachte, sie und ihre Freundin würden sich ohnehin bald wiedersehen, und dann könnte sie ihr von diesem unglaublichen Vorfall erzählen. An ihrem sprudelnden Brunnen bei einer Tasse Tee …

Doch erst einmal musste sie zusammen mit meiner Oma und ein paar anderen aus der Familie fliehen. Immerhin hatte sie so zwar das Wichtigste bei sich, aber gleichzeitig unendlich viel zurückgelassen: ihre beste Freundin Rachel, ihr Haus, in dem so viele Erinnerungen steckten, ihre Vergangenheit, eigentlich ihr gesamtes geordnetes, behütetes, geliebtes Leben. Uroma floh aus Haifa. Zusammen mit unzähligen anderen unglücklich Vertriebenen zog sie am Karmelgebirge vorbei. Es war heiß. Die glühende Sommersonne forderte gerade unter den Ältesten und Schwächsten der Flüchtlinge zahlreiche Todesopfer. Immer wieder ertönte ein Wehklagen durch die Menschenmenge. Leute fielen ab und blieben zurück. Wer sich auf den Beinen halten konnte, marschierte weiter und weiter. Bis der Tross nach ein paar Tagen völlig erschöpft den Libanon erreichte. Knapp zweihundert Kilometer Luftlinie von ihrem Zuhause in Haifa entfernt fanden die Flüchtlinge Zuflucht: in der ehemaligen französischen Militärkaserne Wavel bei Baalbek, nahe der syrischen Grenze. Hier sah alles aus, als wäre es von einer Staubschicht bedeckt. Graue Böden, graue Wände, ein graues Leben. Damals glaubte meine Uroma fest daran, nur ein paar Wochen in Wavel bleiben zu müssen, allerhöchstens zwei oder drei Monate …

Inzwischen leben wir in diesem Lager in der vierten Generation. Meine Eltern wurden hier geboren, auch sie haben als Kinder schon in diesen engen Gassen gespielt. Ohne einen einzigen Spielplatz, ohne grüne Wiesen. Es gibt nicht mal einen Baum in diesem Lager. Stattdessen ist alles trocken, laut und staubig. Obwohl ich es nie anders kennengelernt habe, finde ich unser Lager nicht schön. Ständig fällt der Strom aus. Manchmal gibt es kein Wasser. Alles wirkt schmutzig und verwahrlost. Allein die Menschen hier machen das Leben lebenswert und bunt. Und sie alle warten nur darauf, zurückkehren zu dürfen. In das Leben, das sie eigentlich leben sollten – in einer schönen Umgebung, in einem Haus, das man voller Stolz sein Zuhause nennt, in Sicherheit und mit einer Chance auf eine sorgenfreie und glückliche Zukunft. Ich seufze und schaue frustriert auf die graubraune Fassade des gegenüberliegenden Hauses, von der überall der Putz abbröckelt. Natürlich hat keiner Lust, dieses Lager schön zu machen.

Dies ist nicht unser Zuhause! Auch wenn wir hier leben …

In diesem Moment bemerke ich im Augenwinkel meine Lieblingscousine Doaa, die schnaufend auf uns zusteuert und sich neben mir auf den Boden plumpsen lässt. »Ich kann nicht mehr!«, stöhnt sie. Ihre Wangen sind gerötet, ihre Augen strahlen. Als plötzlich ein Mofa um die Ecke biegt und ganz dicht an uns vorbeiknattert, zucken wir erschreckt zusammen. Mein Vater und meine Onkel schimpfen jedes Mal, wenn sie das mitkriegen: Die Kerle sollen gefälligst auf die alte Frau und uns Kinder Rücksicht nehmen! Aber die jungen Männer lachen bloß und brettern weiter. Meine Cousins und Cousinen kennen das schon und springen jedes Mal kreischend in Richtung Häuserwand. Es ist fast wie ein Spiel, das allerdings sofort vergessen ist, als ein Nachbarsjunge mit seinem neuen Fußball in unserer Gasse auftaucht. Aufgeregt schwirren ihm meine Cousins und Cousinen entgegen. Doaa reckt ihren Hals und rappelt sich dann auf, um zusammen mit den anderen den neuen Ball zu bestaunen.

Ich zucke gleichgültig mit den Schultern. Mit einem Fußball kann ich wirklich überhaupt nichts anfangen. Stattdessen nehme ich vorsichtig Uromas Hand und streichle sie. Dabei fällt mir wieder auf, wie erstaunlich weich ihre Haut ist, obwohl sie so alt und faltig aussieht. Meine Uroma seufzt. Ich spüre ihren unendlichen Schmerz. Natürlich ahnt sie, dass sich ihr Traum von einer Rückkehr nach Haifa niemals mehr erfüllen wird. Deshalb umschließt sie meine beiden Hände und sieht mich beinahe bittend an: »Du musst Haifa in deinem Herzen behalten. Versprichst du mir das?« Ich nicke. Wie immer. Dabei spüre ich den harten Schlüssel auf meinem Handrücken. Uroma lächelt dankbar.

Obwohl bislang keiner außer ihr diese legendäre Stadt gesehen hat, tragen wir alle Uromas Bilder in uns. Haifa ist für uns ein Ort, in dem alle Weltreligionen friedlich zusammenleben, ein Ort, in dem es Kirchen, Synagogen und Moscheen gibt. Ganz selbstverständlich. Und alles nebeneinander. Hier kann man sich Oliven von den Bäumen pflücken, und keiner muss hungern. In Haifa spielen die Kinder auf saftig grünen Wiesen und lernen in modern ausgestatteten Schulen. Es ist der Ort, in dem es für alle Menschen Arbeit und eine sichere gemeinsame Zukunft gibt. Haifa ist die Heimat unserer Herzen. Unsere Hoffnung. Unsere Hoffnung auf ein Zuhause.

Solange ich in dem Flüchtlingslager Wavel lebte, glaubte ich, Haifa sei unsere Zukunft – und hielt an diesem Traum fest, obwohl ich insgeheim längst begriffen hatte, dass er vermutlich niemals wahr werden würde.

Aber dieser Traum war wichtig. Er machte unser Leben leichter. Er ließ uns hoffen.

Hätten wir uns damit abgefunden, dass wir für alle Zeiten in Wavel leben müssten – als Flüchtlinge ohne Rechte, ohne eine Chance auf eine freie Berufswahl, auf Bildung und Krankenversorgung wäre unser Leben dem Tod gleichgekommen. Dann hätten wir alle nur darauf gewartet, dass es vergeht. Ein Tag wie der andere … Aber so behielten wir alle die Hoffnung. Den Mut. Die Zuversicht.

All das schenkte uns der Glaube an Haifa.

Meine Familie und ich hatten sogar besonders großes Glück. Wir durften die besondere Erfahrung machen: Haifa ist nicht nur ein Traum. Haifa ist möglich. Wenn auch an einem anderen Ort. Auch in Rostock stehen überall Bäume, und es gibt Parks, in denen die Kinder aller Weltreligionen friedlich miteinander spielen. Hindus, Juden, Christen und Moslems. Alle dürfen unabhängig von ihrem Glauben oder ihrer Nationalität gemeinsam eine Schule besuchen und von einer Zukunft träumen, die sie gestalten können, wie sie wollen.

Natürlich ist Rostock nicht Haifa und die Ostsee nicht das Mittelmeer. Hier wachsen auch keine Olivenbäume – und wenn, dann tragen sie keine Früchte. Aber darauf kommt es nicht an. Entscheidend ist: Wir haben hier in Rostock zum ersten Mal ein Zuhause gefunden. Ein friedliches, sicheres Zuhause. In dem ich davon träumen kann, Journalistin zu werden. Oder Schriftstellerin. Oder einfach nur ein glücklicher, freier Mensch.

Ich möchte all das nie wieder aufgeben müssen.

1

Ich mag die Geschichte, wie meine Eltern sich kennengelernt haben. Am liebsten lasse ich sie mir von Mama erzählen, wenn ich schon eingekuschelt in meinem Bett liege und sie noch auf meiner Bettkante sitzt. Dabei klingt ihr Kennenlernen für westliche Ohren wahrscheinlich überhaupt nicht romantisch. Genau genommen kann ich mir inzwischen selbst nicht mehr vorstellen, auf diese Art meinen späteren Mann kennenzulernen. Aber weil ich jeden Tag spüre, wie glücklich meine Eltern miteinander sind, höre ich ihre Geschichte trotzdem gerne.

Als meine Eltern sich zum ersten Mal begegneten, war Papa bereits Mitte zwanzig und arbeitete als Schweißer in einer Lkw-Werkstatt außerhalb unseres Lagers. Schon alleine das machte ihn für sämtliche Eltern heiratsfähiger Töchter zu einem äußerst begehrten Heiratskandidaten – immerhin war in den Flüchtlingslagern zu dieser Zeit etwa jeder dritte Mann arbeitslos. Das war ein echtes Problem, da die Männer doch eigentlich ihre Familien versorgen sollten. Ihre Frauen und Kinder sowieso, aber auch ihre Mütter und unverheirateten Schwestern. Denn Frauen gingen normalerweise keiner geregelten Beschäftigung nach, mal abgesehen von Haushalt und Kinderversorgung. Sie wurden von ihren Männern versorgt – und das war in den Lagern schwierig.

Das lag vor allem daran, dass Palästinenser auch nach den vielen Jahren, die sie bereits im Libanon lebten, noch immer nicht die gleichen Rechte hatten wie die Einheimischen. Palästinenser galten als Ausländer. Deshalb brauchten sie zum Beispiel eine spezielle Arbeitsgenehmigung, die sie für viel Geld bei den Behörden beantragen mussten. Trotzdem bekam diese Genehmigung nicht jeder. Papa hat mal irgendwo gelesen, dass sie damals pro Jahr nur etwa hundertmal ausgestellt wurde. Eine lächerliche Zahl, wenn man bedenkt, dass alleine im Libanon schon zu dieser Zeit angeblich mehr als 300000 Palästinenser lebten. Viele Berufe – wie Friseur oder Taxifahrer – durften sie gar nicht ausüben, weil Palästinenser aufgrund ihrer Staatenlosigkeit nicht Mitglied im entsprechenden libanesischen Berufsverband werden konnten. In den verbleibenden Jobs wurden Palästinenser deutlich schlechter bezahlt, meistens bekamen sie nur etwas mehr als die Hälfte von dem, was ihre libanesischen Kollegen für dieselbe Arbeit erhielten. So hat Papa als Schweißer anfangs zum Beispiel nur 350 Dollar im Monat verdient. Trotzdem beschwerte er sich nicht – schließlich war er dankbar, dass er überhaupt einen festen Job ergattert hatte. Die meisten seiner Landsleute kamen nur als Saisonarbeiter in der Landwirtschaft oder beim Bau unter, deshalb träumten viele davon, eine deutsche oder französische Frau zu heiraten und mit ihr ins Ausland zu gehen. Aber das kam natürlich höchst selten vor. Ein schöner Traum. Mehr nicht. Manche waren auch alleine oder mit ihren Frauen und Kindern nach Europa, Australien, Amerika oder Kanada geflohen. Fast jede palästinensische Familie hatte Verwandte im Ausland, denen es deutlich besser ging als den Menschen in den Lagern. Aber viele trauten sich nicht zu gehen. Aus Angst erwischt zu werden, oder weil sie ihre Großfamilien nicht verlassen wollten.

Deshalb waren viele palästinensische Männer, vor allem die jüngeren, angesichts ihrer begrenzten Möglichkeiten frustriert. Sie nannten die Flüchtlingslager bloß »Gräber der Lebenden«. Weil es praktisch keine Hoffnung gab, dass sich an der schwierigen Lage dort etwas ändern könnte.

Mein Vater konnte diese Haltung nicht verstehen. Aufgeben war noch nie seine Art, dazu ist er viel zu optimistisch. Er hatte einen Job gefunden, der ihm Spaß machte, bei einem Chef, der Papas Arbeit sehr schätzte und ihn deshalb fair behandelte. Das Einzige, was meinem Vater zu seinem Glück noch fehlte, war eine liebe Frau.

Seine älteste Schwester Abeer war die Erste, der er von seinen Heiratsplänen erzählte. Sie versprach, sich sofort darum zu kümmern. Schließlich sollte ihr geliebter Bruder Atef eine besonders tolle Frau bekommen, eine, die fleißig war, schön, ordentlich und zuverlässig. Aufgeregt flitzte Abeer zuallererst zu ihrer Grundschulfreundin Aliya. Zu meiner Oma. Die hatte nämlich eine Tochter, auf die all das zutraf: Manal, also meine Mama. Manal war sehr gläubig und betete fünfmal am Tag in Richtung Mekka – in der Morgendämmerung, zur Mittagszeit, am Nachmittag, vor und nach dem Sonnenuntergang. Außerdem war sie ausgesprochen hübsch, sanftmütig, häuslich und gerade siebzehn Jahre alt – also im allerbesten Heiratsalter für arabische Verhältnisse. Schließlich war jede arabische Familie froh, wenn sie ihre Töchter rechtzeitig gut verheiraten konnte. Denn je älter eine Tochter wurde, desto geringer wurde ihre Chance, noch einen vernünftigen Mann abzubekommen. Das war dann aus zwei Gründen problematisch: Erstens mussten erst der Vater und später die Brüder für die unverheiratete Frau aufkommen. Und zweitens half die Ehe laut Koran bei der »geistigen Vervollkommnung«. Eine Heirat war für alle Beteiligten also doppelt wichtig.

Aber mal ganz abgesehen davon war es für die unverheirateten Frauen bestimmt auch frustrierend, von keinem Mann auserwählt worden zu sein. Dementsprechend aufgeregt war meine Oma, als sie erfuhr, dass sich ein Mann für ihre Manal interessierte. Das musste sie natürlich sofort mit ihrem Mann, meinem Lieblingsopa, besprechen. Deshalb flitzte sie unmittelbar nach ihrem Gespräch mit Abeer zu dem kleinen Kiosk, den mein Opa im Flüchtlingslager betrieb und in dem er Mehl, Reis, Süßigkeiten, Haushaltswaren und eben all das verkaufte, was man täglich brauchte. Als Oberhaupt der Familie musste er dieser Angelegenheit natürlich unbedingt zustimmen. Und das tat er wohl auch.

Anschließend wurden Mamas Brüder eingeweiht, deren Aufgabe es nun war, sich über den Heiratskandidaten zu erkundigen. Trank er womöglich Alkohol? War er als Schläger bekannt? Gab es sonst irgendwelche Auffälligkeiten?

Aber weil mein Vater einen tadellosen Ruf genoss, wurde er schließlich zum Kaffeetrinken und ersten Kennenlernen in das Haus der Familie meiner Mutter eingeladen.

Meine Mama wusste von all dem übrigens überhaupt nichts. Während sie noch im Schlafanzug ihr Zimmer aufräumte, saß Papa bereits mit Herzklopfen auf dem Sofa im Wohnzimmer – neugierig beäugt von Oma, Opa und Mamas drei Brüdern. Aber Papa machte seine Sache anscheinend gut, denn ziemlich bald wurde meine ahnungslose Mutter dazu gerufen: »Manal, könntest du uns bitte Kaffee ins Wohnzimmer bringen?« Meine Mutter band sich eilig ihr Kopftuch um, bereitete den Kaffee zu und brachte ihn dann zusammen mit ein paar Süßigkeiten auf einem Tablett ins Wohnzimmer.

Und dann stand sie zum ersten Mal vor Papa.

Im Schlafanzug!

Vor ihrem künftigen Ehemann!

Das war ihr natürlich furchtbar peinlich. Aber Papa hat ja Humor. Mama hat ihm trotzdem gut gefallen. Deshalb stimmte er nach dem Treffen zu: »Okay! Ich nehme Manal zu meiner Frau.« Danach ging alles ganz schnell. Bei ihrem nächsten Treffen haben sich die beiden schon verlobt. Meine Mutter wurde zu diesem Thema übrigens gar nicht befragt. Also gefragt wurde sie schon, aber eine gute arabische Frau widerspricht ihrem Vater ohnehin nicht, wenn er etwas möchte. Das gehört sich nicht. Ihre Eltern haben für Mama entschieden.

Ich bin mir trotzdem sicher, dass meine Mutter bis heute dankbar ist, dass sie meinen Vater heiraten durfte – diesen eigensinnigen Mann mit dem markanten Gesicht, der immer erst einmal gut zuhört, ehe er seine Entscheidungen trifft, und dann mutig genug ist, sie auch durchzusetzen. Ein Mann, der fleißig war und meine Mutter regelmäßig mit kleinen Geschenken überraschte. Sie freuten sich wohl beide darüber, dass sie es so gut getroffen hatten.

Gemeinsam bezogen sie das Haus, das die Familie meines Vaters bewohnte. Ganz unten im Erdgeschoss lebten seine Oma – also meine Uroma aus Haifa – zusammen mit Papas Mutter und seiner liebenswerten Schwester Abeer.

Obwohl Abeer etwas älter als mein Vater war, lebte sie noch bei ihrer Mutter. Erstaunlicherweise hatte noch kein Mann sie ausgewählt, dabei war Abeer sehr attraktiv und vor allem unglaublich warmherzig. Weil sie sich sehr gut mit dem Koran auskannte, arbeitete sie in der Koranschule und im Kindergarten des Flüchtlingslagers. Sie war die »gute Seele« des Hauses.

Eine Etage über den drei Damen, im ersten Stock, wohnten zwei von Papas Brüdern mit ihren Familien. Und ganz oben – in der zweiten Etage – ab sofort meine Eltern. Eigentlich hatte sich ja ein weiterer Bruder von Papa diese Etage gebaut. Weil dieser Bruder aber noch unverheiratet war, ließ er erst einmal meinen Vater mit meiner Mutter einziehen. Das war ein großes Glück für das junge Paar, da es für Palästinenser sehr schwierig war, eine Wohnung zu finden. Sämtliche Lager waren überfüllt. Natürlich. Die meisten Lager waren von Mauern umschlossen und nach über sechzig Jahren noch genauso groß wie bei ihrer Gründung. Allerdings war seitdem die Anzahl der Bewohner massiv gestiegen! Mittlerweile lebten bei uns in Wavel schätzungsweise 9000 Menschen. Dieses Missverhältnis zwischen Einwohnerzahl und verfügbarem Platz führte dazu, dass unser Flüchtlingslager inzwischen wie ein besonders gewagtes Stapelspiel aussah: Jede Lücke wurde genutzt. Schmale Gänge wurden überdacht und zu Wohnraum umfunktioniert, winzige Nischen ausgebaut, gleichzeitig wuchsen die Häuser immer weiter in die Höhe. Das hatte regelmäßig Katastrophen zufolge. Die ursprünglichen Bauten bestanden nämlich häufig noch aus einem Gemisch aus Zink und Lehm. Wenn nun mehrere Etagen Beton darauf gesetzt wurden, konnte es passieren, dass diese Häuser einfach zusammenbrachen.

Aber selbst daran hatten die Flüchtlinge sich inzwischen gewöhnt: Wenn ein Haus einstürzte, wurde es aus dem Schutt wieder neu aufgebaut. Schließlich waren Baustoffe teuer – deprimierender Alltag in Wavel.

Leider wird es den Palästinensern nicht gestattet, außerhalb der bestehenden Mauern neue Lager zu errichten. Selbst wenn eine Hilfsorganisation mal versuchte, zumindest den genehmigten Platz besser zu nutzen, grätschte die libanesische Regierung dazwischen. 1993 wollte beispielsweise das UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge, mehrstöckige Häuser in den Lagern errichten. Doch sie hatten kaum mit den Bauarbeiten begonnen, da wurden sie schon aufgefordert, ihre Arbeiten sofort wieder einzustellen.

Die Palästinenser, die außerhalb der Lager leben, haben entweder außergewöhnlich gute Kontakte zu Libanesen oder aber besonders viel Geld. Im Idealfall beides. Aber egal, wie sie es geschafft haben, dem Lager zu entkommen – besonders willkommen sind sie nicht, das lassen die Libanesen ihre neuen Nachbarn meist sehr deutlich spüren. Deshalb ziehen viele Palästinenser sogar freiwillig zurück in die Enge der Lager, sobald sich eine Gelegenheit ergibt.

Es ist ein Dilemma.

Vor allem weil sich anscheinend niemand für diese unerträgliche Situation verantwortlich fühlt. Es heißt, der Libanon kümmere sich absichtlich nicht um die palästinensischen Flüchtlinge, weil der Staat damit den Druck auf Israel und die Weltgemeinschaft erhöhen wolle. Sollen die doch eine Lösung für das palästinensische Flüchtlingsproblem finden! Immerhin war der Libanon schon so freundlich gewesen, die vielen Flüchtlinge aufzunehmen … Allerdings scheint diese zweifelhafte Taktik, wenn es denn eine ist, nicht aufzugehen: Weder Israel noch die Weltgemeinschaft haben bislang besondere Anstrengungen unternommen, um an dem Zustand der seit so vielen Jahren staatenlosen Palästinenser etwas zu ändern …

Mein Vater jedenfalls wollte seine Familie lieber nicht der Gefahr aussetzen, irgendwann unter Haustrümmern begraben zu werden, und dachte nicht einmal über eine weitere Etage auf dem Haus seiner Familie nach. »Wir finden dann schon eine Lösung!«, meinte er zuversichtlich und begann damit, ein Kinderzimmer herzurichten. Mama war nämlich schwanger.

Meine Eltern freuten sich riesig. Sie beschlossen, dass ich Reem heißen sollte, wenn ich ein Mädchen werden würde. Riem gesprochen. Mit einem weichen, englischen »R« am Anfang. Meine Mutter mochte die Bedeutung des Namens: wunderschöne weiße Gazelle. Mit den Eigenschaften: geduldig, brav, lernt sehr viel, bewegt sich wenig, interessiert sich für ihre Schönheit, kreativ, zielstrebig.

Wenn ich das heute lese, staune ich, wie gut diese Attribute mich tatsächlich beschreiben …

Mein Vater verwöhnte meine Mutter in der Folgezeit noch mehr als sonst. Wenn sie nicht gekocht hatte – kein Problem! Dann gingen sie eben essen. Nie war Papa ihr böse oder machte ihr Stress. Es sollte Manal gut gehen!

Doch leider gab es in der Schwangerschaft Komplikationen. Frauenprobleme, wie Mama es nennt – was immer das genau bedeutete. Um ihr erstes Baby – also mich – nicht zu verlieren, musste meine Mutter ab sofort regelmäßig zum Arzt gehen und obendrein Medikamente einnehmen. Diese Situation bedeutete eine enorme finanzielle Belastung für meine Eltern. Palästinenser können sich nämlich nicht versichern. Für sie gibt es überhaupt keine Sozialversicherungen: weder Renten- noch Arbeitslosenversicherung und eben auch keine Krankenversicherung. Für jeden Arztbesuch müssen sie selber aufkommen. Deshalb beurteilt das UNRWA die Gesundheitsversorgung der Palästinenser noch dramatischer als ihre Wohnungsnot. Mittellose Palästinenser, die einen chirurgischen Eingriff brauchen, müssen entweder betteln oder sterben. In anderen arabischen Ländern betreibt die PLO eigene Krankenhäuser – leider nicht im Libanon.

Aber weil Papa einigermaßen gut verdiente und auch ein bisschen Geld gespart hatte, stellte Mamas Behandlung vorerst kein größeres Problem dar. Noch nicht!

Papa hatte sich genau ausgerechnet, dass sein Geld für die Extra-Arztbesuche, die Tabletten und die Entbindung reichen würde. Deshalb lächelte er Mamas Sorgen einfach weg. »Es wird schon alles gut …«

Eigentlich sollte ich im Jahr 2000 um die Weihnachtszeit herum geboren werden. Doch dann verschlechterte sich Mamas Zustand unerwartet. Anstatt im Dezember kam ich schon im September zur Welt: ganze drei Monate zu früh, 1100 Gramm schwer – damit wog ich etwas mehr als eine Mehltüte. Mein Vater war gerade bei der Arbeit, als der Anruf vom Arzt ihn erreichte, dass seine Tochter Reem soeben das Licht der Welt erblickt hatte. Weil Mama noch zu schwach war, um mich selbst ins Krankenhaus zu bringen, raste Papa sofort los. Zu Fuß. Ein Auto besaß er schließlich nicht.

In Deutschland wäre eine Frühgeburt wie ich sofort intensivmedizinisch versorgt worden. In der spärlich ausgestatteten Arztpraxis unseres Flüchtlingslagers dagegen geschah erst einmal gar nichts. Natürlich nicht. Sie hatten überhaupt nicht die nötigen Geräte. Als Papa etwa eine halbe Stunde später in seinem Blaumann in die Praxis stürzte, drückte ihm eine Krankenschwester sein winziges Baby, also mich, in die Hand, eingewickelt in ein viel zu großes gelbes Handtuch, in dem ich beinahe verschwand. Papa hatte noch nie zuvor so ein kleines Menschenkind gesehen. Meine Händchen waren ungefähr so groß wie sein Daumennagel, mein Kopf kaum größer als ein Tennisball, meine Haut war blau angelaufen. »Sie müssen ganz schnell ins Krankenhaus, sonst hat die Kleine keine Chance!« Mit diesen Worten scheuchte ihn die Krankenschwester aus der Praxis.

Mein Vater holte einmal tief Luft, dann drückte er mich fest an sich und rannte wieder los. Leider sind die Gassen im Lager so eng, dass kein Auto hindurchpasst. Mein Vater musste erst einmal quer durchs Lager sprinten, ehe er endlich das große Tor erreichte, über dem der Schriftzug »Flüchtlingslager für Palästinenser« prangte. Panisch sah er sich um. Er brauchte dringend ein Taxi. Doch seine verzweifelten Rufe gingen im Verkehrslärm unter. Es dauerte eine Weile, bis er endlich ein freies Taxi gefunden hatte. Sobald er auf der quietschenden Rückbank Platz genommen hatte, hielt Papa seinen verrußten Zeigefinger unter meine Nase, um zu prüfen, ob ich überhaupt noch lebte. Mein Atem war so schwach, dass er ihn kaum spürte. »Es wird alles gut«, murmelte er vor sich hin. Wohl mehr zu sich selbst als zu mir. Zwar haben Frühchen in der 28. Schwangerschaftswoche heute in Deutschland eine Überlebenschance von etwa 96 Prozent. Aber im Jahr 2000 – noch dazu im Libanon – hätte wohl niemand eine solch optimistische Prognose gestellt.

Das Hauptproblem war, dass zum Zeitpunkt meiner Geburt meine Lunge noch nicht ausgereift war. In Deutschland spritzt man Frauen mit der Problematik meiner Mutter rechtzeitig Kortison, damit die Lungenreife des Babys bereits im Mutterleib beschleunigt wird. Aber daran hatten Mamas Ärzte wohl nicht gedacht. Oder sie wussten nichts davon. Oder sie hatten einfach kein Kortison vorrätig. In der behelfsmäßig ausgestatteten Arztpraxis unseres Flüchtlingslagers war alles möglich.

Dabei sind solche Kortisonspritzen nicht einmal teuer. Gerade habe ich gelesen, dass sie heute ungefähr einen Dollar kosten. Ein Dollar – und ich hätte alle diese Probleme nicht, mit denen ich seit Jahren zu kämpfen habe. Das ist schon ein erschütternder Gedanke. Nur weil meiner Mutter kein Kortison gespritzt worden war, bekam ich als kleines Baby mit jedem schwachen Atemzug viel zu wenig Sauerstoff, was dazu führte, dass mit jedem Atemzug Zellen abstarben. In jedem Organ. Wobei von allen Organen das Gehirn am empfindlichsten auf Sauerstoffmangel reagiert.

In Deutschland wäre ich deshalb sofort an eine Beatmungsmaschine angeschlossen worden. Aber Deutschland war in diesem Moment unendlich weit weg. Stattdessen lag ich in einem libanesischen Taxi im Arm meines Vaters, der nervös von mir auf den Stau und wieder zurück zu mir starrte, während wertvolle Minuten vergingen, in denen mein Gehirn irreparabel geschädigt wurde.

Papa erzählte mir später, dass ich wie tot in meinem Handtuch gelegen hatte, denn ich bewegte mich nicht und gab auch keinen einzigen Laut von mir. Permanent überprüfte er, ob ich überhaupt noch lebte. Und nur wenn Papa seinen Finger ganz dicht unter meine Nase hielt, spürte er meinen schwachen Luftzug. Er sagt heute, das sei die schlimmste Fahrt seines Lebens gewesen. Und mein Vater hat einige schlimme Fahrten hinter sich – schließlich musste er mit Schleppern über die Türkei nach Deutschland fliehen. Alles wegen mir. Aber das ahnte er zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht.

Die Fahrt in die Klinik dauerte lange. Viel zu lange. In der 80000-Einwohner-Stadt Baalbek sind die Straßen eigentlich rund um die Uhr verstopft. Autos hupen. Fahrer schimpfen. Mein Vater betete, dass ich überlebte, dass ich wenigstens bis zur Klinik durchhielt. Denn dort würde mir sofort geholfen werden. Davon war er überzeugt. Deshalb fiel eine tonnenschwere Last von ihm ab, als er vor der Klinik aus dem Taxi sprang. Nun musste er sich nur noch bis zur Säuglingsstation durchfragen. Schnaufend hielt er dem diensthabenden Arzt im schneeweißen Kittel das gelbe Tuch entgegen. »Meine Tochter ist zu früh geboren. Sie atmet kaum noch. Sie müssen ihr helfen!« Doch der Mediziner musterte meinen Vater bloß mit einem abschätzigen Blick.

Mein Vater trug noch seinen schmutzigen Blaumann von der Arbeit, der ihm in diesem Moment wie ein Stigma vorkam. Wie eine Kluft, die sich zwischen ihm und diesem Arzt auftat. Zwischen Arm und Reich. Zwischen meiner rettenden Behandlung und dem lauernden Tod. Ungerührt schüttelte der Mediziner seinen Kopf. Er weigerte sich sogar, mich auch nur anzuschauen. »Sie müssen erst 2000 Dollar bezahlen. Dann können wir mit der Behandlung beginnen.« Damit ließ er meinen verzweifelten Vater ungerührt auf dem Gang stehen. 2000 Dollar!, hallte es in Papas Kopf nach. So viel Geld besaß mein Vater nicht. Für 2000 Dollar musste er trotz seiner großzügigen Lohnerhöhungen in den vergangenen Wochen volle drei Monate arbeiten. Keiner aus unserer Familie hatte so viel Geld zur Verfügung. Und schon gar nicht jetzt sofort. Aber die Zeit drängte!

Erschüttert drückte Papa das gelbe Bündel, in dem ich lag, an sich und wählte vom öffentlichen Krankenhausapparat die Nummer seines libanesischen Chefs in der Lastwagenwerkstatt. Er war der einzige Mensch, der ihm einfiel, dem es eventuell möglich war, auf Anhieb so viel Geld aufzutreiben. Leider war sein Chef gerade unterwegs. Mein Vater raufte sich die Haare. Schließlich nahm dessen Sohn das Gespräch entgegen. »Atef hier. Ich brauche sofort 2000 Dollar. Sonst muss meine Tochter sterben. 2000 Dollar. Ich zahle sie zurück, ich arbeite sie ab. Aber ich brauche sie jetzt auf der Stelle hier im Krankenhaus.«

Der Sohn seines Chefs versprach, sich gleich auf den Weg zu machen. Unruhig lief mein Vater auf dem schmuddeligen Krankenhausgang auf und ab. Die Klinik war zwar besser ausgestattet als die Praxis im Lager. Aber im Vergleich zu deutschen Krankenhäusern wirkte sie geradezu mittelalterlich. Die Wände waren schmutzig. Die Geräte uralt. Überall auf den Gängen lagen auf schmalen Liegen wimmernde Frauen, schreiende Kinder. Mein Vater sah lieber gar nicht richtig hin. »Reem, wir haben es bis hierher geschafft«, flüsterte mir mein Vater ins Ohr. »Du musst jetzt durchhalten! Es wird alles gut.« Weitere wertvolle Minuten verstrichen. Denn auch der Sohn seines Arbeitgebers musste sich erst einmal durch das Baalbeker Verkehrschaos kämpfen …

Heute sagen mir Ärzte immer wieder, dass es an ein Wunder grenzt, dass ich überhaupt am Leben bin. Sie sagen, diese ersten Stunden überlebt zu haben, wäre der eindeutige Beweis dafür, dass ich eine Kämpferin bin.

Sobald der verantwortliche Mediziner die geforderten 2000 Dollar in den Händen hielt, rief er eine Krankenschwester herbei, die mich endlich an die lebensnotwendige Beatmungsmaschine anschloss. Zu diesem Zeitpunkt waren durch meinen Sauerstoffmangel angeblich schon 80 Prozent meiner Hirnzellen unwiderruflich zerstört. Die Ärzte teilten meinem Vater mit, dass nicht sicher sei, ob ich überleben würde. »Wir müssen die nächsten zehn bis fünfzehn Tage abwarten.« Später erklärten sie dann, dass ich auf jeden Fall behindert sein würde. »Durch den Sauerstoffmangel scheint Reems linke Körperhälfte gelähmt zu sein. Ob sie auch geistig beeinträchtigt sein wird, lässt sich jetzt allerdings noch nicht feststellen.«

Mein Vater konnte mit alldem nichts anfangen. Sauerstoffmangel. Linke Körperseite gelähmt. Geistige Beeinträchtigung. »Was genau bedeutet das?«, fragte er ängstlich. »Wird sie laufen können? Wird sie sprechen können? Wird sie normal leben können?« Doch die Ärzte zuckten nur mit den Schultern. »Das kann zu diesem Zeitpunkt keiner sagen. Das wird sich zeigen, wenn sie älter ist.«

Mein Papa nickte. Wie immer. Er hörte erst einmal zu und nahm sich vor, später nach einer Lösung zu suchen. Nun musste er erst einmal zurück ins Lager, um nach Mama zu schauen, der es aber glücklicherweise schon viel besser ging. Das war ein doppeltes Glück. So musste Papa wenigstens nicht für zwei Kranke zahlen. Denn schon meine Behandlung war unbezahlbar. Sie kostete viel mehr als die 2000 Dollar, die sein Chef ihm vorgestreckt hatte. Schon alleine dieser sogenannte Brutkasten, der Inkubator, verschlang umgerechnet vierzig Euro pro Stunde. Zum Vergleich: Mein Vater verdiente in derselben Zeit gerade mal drei Euro …

Trotzdem gab mein Vater nicht auf. Obwohl es ganz klar war, dass er die Behandlungskosten auf Dauer niemals aufbringen konnte, machte mein ohnehin schon fleißiger Papa nun noch mehr Überstunden. Er arbeitete sogar jedes Wochenende durch. Mit seinem Chef hatte er vereinbart, dass er die 2000 Dollar erst nach meinem Krankenhausaufenthalt und in kleinen Raten zurückzahlen würde. Trotzdem reichte sein Verdienst nicht einmal für meinen Brutkasten aus … Deshalb gaben auch meine Großeltern, meine Onkel und Tanten, Papas Cousins und Cousinen, Mamas Cousins und Cousinen, einfach jeder aus der Familie sein Geld dazu, um mir zu helfen. Keiner fragte, wann oder ob er es zurückbekommen würde. Es war einfach selbstverständlich, dass jeder half – und trotzdem reichte es nicht. Meine Behandlung war für eine einfache palästinensische Familie unbezahlbar. Zumal ich mir auch noch Infektionen zugezogen hatte, sodass die Ärzte sich erneut Sorgen machten, ob ich überhaupt überleben würde.

Papa raste also zwischen seiner Arbeit und meinem Krankenhaus hin und her. Deshalb unterstützte ihn eine Cousine dabei, ein anderes Krankenhaus zu finden, das weniger kostete. Sie wandte sich an das Deutsche Rote Kreuz und an das UNRWA. Schließlich erfuhr sie von einem Krankenhaus, in dem die Behandlungskosten übernommen wurden und Papa lediglich Windeln, Milch und Medikamente zahlen sollte. Einziges Problem: Dieses Krankenhaus lag in Saida, 120 Kilometer und zweieinhalb Stunden Fahrzeit entfernt. Zwar gab es einen Krankenwagen, der mich dorthin transportieren würde – nur war der nicht für Frühchen ausgestattet. Ich würde also mindestens zweieinhalb Stunden ohne Sauerstoff unterwegs sein müssen. Als Papa mit einem Arzt über diese Verlegung sprach, machte der ein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Das ist aber sehr riskant. Ich muss Ihnen von dieser Fahrt abraten.«

Papa sah ihn verkniffen an. Was hatte er denn für eine Wahl? Dieses Krankenhaus konnte er sich nicht leisten. »Ich würde das trotzdem nicht machen«, insistierte der Mediziner. Papa schüttelte den Kopf. Der Arzt hatte gut reden! Er hatte eine Krankenversicherung, ein hohes Einkommen und vermutlich obendrein noch eine finanziell gut situierte Familie. Aber mein Vater? Der hatte inzwischen nicht einmal mehr eine Idee, von wem er sich noch Geld borgen könnte. Ratlos fuhr Papa zurück ins Lager, um seine verzweifelte Lage mit seinem ältesten Bruder Ata zu besprechen, mit dem er immer über alles redete. Ata sah ihn betroffen an. »Du musst