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"Ein Haus mit Ecken und Kanten, ohne harmonische Rundungen, geschweige denn Säulen oder Kuppeln. Nichts Orientalisches, nichts Mediterranes. Ein wenig Luxus hier, ein wenig sozialer Wohnungsbau dort. Eine Mischung aus Höhen und Tiefen. Na ja, wie eben das Leben auch." Monika E. Khan erzählt aus der Perspektive der Erzählerin Lisa vom Bau ihres Hauses in Pakistans Metropole Karachi, dem Leben in dieser neuen und völlig fremden Kultur sowie den Veränderungen innerhalb der Gesellschaft Pakistans im Laufe der Zeit. Und sie schildert, gewürzt mit einer Menge Humor, Lisas Erlebnisse auf ihren vielen Reisen in der Region.
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Seitenzahl: 359
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Über die Autorin
Weltenbummlerin und Urlaubsexpertin Monika E. Khan hat Dutzende Reisegeschichten geschrieben und in drei unterhaltsamen Büchern veröffentlicht sowie mehrere Reiseführer für Single-Reisende, mit denen sie das Genre Soloreisen prägte. Sie war u. a. Inhaberin eines Reisebüros in Hamburg und besaß ein Haus in Pakistans Metropole Karachi.
In ihren Büchern erzählt Monika E. Khan mit unverstellter Sprache vom Leben in fremden Kulturen – angereichert mit vielen Anekdoten und spannenden Erlebnissen.
Gewidmet meinen Töchtern Anwer und Yasmin, meinem Enkel Alexander, meinen Verwandten und Freunden in Pakistan, in Deutschland und auf der ganzen Welt. Sowie allen abenteuerlustigen Menschen zwischen Morgenland und Abendland.
Inhalt
KAPITEL 1. Liebesgeflüster 1958
Ein unmoralisches Angebot
Schmetterlinge im Bauch
Muss-Ehe in England
KAPITEL 2. Aller Anfang ist schwer
Meine Brüder
Die Hochzeitsfeier meines Bruders
Verkupplungspläne
Heimweh 1962
KAPITEL 3. Vom Okzident in den Orient
Sommer 66. Familienreise mit dem Auto Hamburg–Karachi
Berg Ararat
Teheran
Isfahan
KAPITEL 4. Endlich in Karachi
Dein Glaube – mein Glaube
Auf in den Norden von Pakistan
Lahore – Märchenhafte Mogul-Kultur
Taxila – Die Antike Pakistans
Karakorum – Die Bergriesen
Die Versuchung
KAPITEL 5. Zeit, Abschied zu nehmen
Alltagstrott in Deutschland
Sumpfiges Bauland 72
Erstens kommt es anders …
Der erste Spatenstich
KAPITEL 6. Discofieber 77
Muss-Ehe auf Pakistanisch
French Beach
Moonlight Serenade
Der große Regen. Sarahs Geburtstagsparty
Endspurt
Park Lane 1980
Ein Wechselbad der Gefühle
Summa Summarum
KAPITEL 7. Windige Bekanntschaften 84
Mohenjo-Daro – Das Manhattan der Bronzezeit
Mehrgarh – Dörfer aus der Jungsteinzeit
Ein Fischerdorf auf dem Manchar-See
Indien – Auf den Spuren der Mogul-Kaiser
Keine Dollars, keine Cola!
Unser erster Nachbar
Hausmädchen
Kakerlaken-Schock
Über den Dächern von Clifton
Beauty needs no Ornaments
Dschungel adé!
KAPITEL 8. Ich pflanze meinen ersten Baum
Dinner Dance
Familie Lim zieht ein
Hunde, Wasserfall und andere Störenfriede
Märchenhochzeit
Die schönste Nachricht – November 89
Neues Spiel, neues Glück
Frühlingserwachen
KAPITEL 9. Machos, Weicheier und andere Kumpel
Dinner bei Zaid
Ameisen-Invasion
Fettnäpfchen bei Dinner-Partys
Aftary Party beim Nachbarn
Aftary Party im Holiday Inn
Abschiedsparty in unserem Garten
Mein Trauergarten
KAPITEL 10. Ein unerwartetes Drama
Stop-over in Abu Dhabi
Die versteckte Kellerbar
Prinz und Prinzessin von Swasiland
Mein Dschungel wird Bauland
Es wurde unruhiger in Karachi
Und dann kam die Gülle
Unsere Situation spitzte sich zu
„Hebt man den Blick, so sieht man keine Grenzen.“
Japanische Weisheit
KAPITEL 1. LIEBESGEFLÜSTER 1958
Wie angenehm, die wärmenden Sonnenstrahlen im Gesicht zu spüren. Tagelang hatte es nur geregnet. Mit schier unbändiger Macht eroberte der Frühling das Land und machte seinem Namen alle Ehre. Das frische Grün an Bäumen und Sträuchern schien förmlich zu explodieren. Ein verführerischer Blütenduft lag in der Luft. Vögel zwitscherten um die Wette.
„Schau Helga“, wandte ich mich an meine Freundin, die schweigend neben mir ging, „dort wird gerade eine Bank frei, wollen wir uns einen Augenblick hinsetzen?“
„Ja“, war ihre kurze Antwort.
Während wir auf die Bank zusteuerten, zog ich mir die Strickjacke aus, um auch die warmen Sonnenstrahlen auf meinen blassen Armen zu spüren. Die Menschen hatten sich für den Sonntagsspaziergang fein gemacht. Ein Ehepaar mit ihren zwei kleinen Kindern schlenderte an uns vorüber. Sie schien Engländerin zu sein, klein, aber stämmig von Statur, mittelblondes Haar und sehr blasse Haut. Er, ein feingliedriges, eher schmächtiges Kerlchen mit schwarzem Haar und brauner Haut. Ein Exot, Asiate oder so.
„Was meinst du Helga“, unterbrach ich abermals unser Schweigen, „woher kommt der Typ?“ Ich zeigte auf das ungleiche Paar.
Helga war meine neue Freundin, die ich vor drei Monaten in London kennengelernt habe. Das heißt, Freundin eigentlich auch schon nicht mehr.
„Na, das sieht man doch, dass er ein Inder ist!“, erwiderte sie schnippisch.
„Woher soll ich wissen, dass er Inder ist? Wenn ich‘s mir recht überlege, habe ich in meinem ganzen Leben noch niemals so einen Typen gesehen. Also für mich käme so eine Mischehe überhaupt nicht in Frage.“ Verständnislos schaute ich dem ungleichen Paar hinterher und schüttelte mit dem Kopf. Helga tat so, als hätte sie meinen Kommentar überhört, denn sie schwieg. Seit dem Vorfall vor drei Tagen war sie sehr wortkarg und ich wunderte mich, dass sie überhaupt mit in den Stadtpark gekommen war.
Dabei hatte alles so verheißungsvoll angefangen. Auf der anderen Seite hatte ich es nur ihr zu verdanken, dass ich hier, im ‘Dirty old Bolton‘ – wie ich die Stadt Bolton später nannte – gelandet bin. Sie lag in Lancashire, im tiefsten Kohlenpott Englands. Feiner Kohlenstaub hatte sich auf die gesamte Landschaft niedergelassen. Die Textilindustrie, die hier auch beheimatet war, ließ zusätzlich viel Dreck aus ihren Schloten auf die Gegend niederrieseln. Selbst der Rasen schimmerte im Sommer in den dunkelsten Grüntönen.
Hier bin ich nun und das freiwillig, nur weil Helga mit ihren 28 Jahren, noch ledig, plötzlich in eine Art Torschlusspanik verfiel. Jede freie Minute verbrachte sie damit, nach potenziellen Männern zum Heiraten Ausschau zu halten. Denn mit 28 wollte sie, wie die meisten Frauen in ihrem Alter auch längst verheiratet sein.
Erst kürzlich fragte mein Bruder in einem Brief an mich:
„Na, mein Schwesterherz, wann gedenkst du in den heiligen Stand der Ehe zu treten? Bei deinen ehemaligen Klassenkameradinnen ist Heiraten im Moment groß in Mode.“
„Frag mal in sechs Jahren nach, ich heirate doch nicht schon mit 19 Jahren“, schrieb ich ihm entrüstet zurück. Nee, noch wollte ich auf gar keinen Fall heiraten, war ich doch gerade dabei, die große weite Welt zu erobern. Na ja, große weite Welt war es zwar noch nicht, aber immerhin befand ich mich schon mal im Herzen von England.
Freudestrahlend, mit einem Brief in der Hand, empfing mich Helga, als ich unser gemeinsames Zimmer betrat. Ich kam gerade aus der Stationsküche. Wir arbeiteten und wohnten beide im ‘Mount Vernon Hospital‘, außerhalb Londons, wo das Schicksal uns hin verschlagen hatte.
„Stell dir vor“, überfiel sie mich ganz aufgeregt, „meine Freundin Erna aus Bolton hat mir geschrieben, sie hat einen Mann für mich, der mich unbedingt kennenlernen möchte.“
„Ist ja wunderbar“, weiter kam ich nicht.
„Er ist sehr vermögend“, unterbrach sie mich mit stolzer Stimme.
„Wow, ich freue mich für dich.“ Und schon lagen wir uns vor lauter Freude in den Armen.
Ein reger Briefverkehr entwickelte sich zwischen Helga und Marek, so hieß der angeblich reiche Anwärter aus Manchester. Die Adresse von ihm hatte Erna gleich mitgeschickt.
Einige Wochen waren ins Land gegangen, als Helga mich abermals freudestrahlend mit einem Brief von Marek in der Hand überraschte.
„Es ist soweit, Marek will mich heiraten!“ Ihre Wangen glühten vor Aufregung, als sie fortfuhr: „Ich soll meine Zelte hier abbrechen und zu Marek nach Manchester kommen.“ Ohne auch nur für eine Sekunde meine Reaktion abzuwarten, sprudelte es weiter aus ihr heraus:
„Dich möchte ich mitnehmen, quasi als meine Gesellschafterin! Na, was sagst du dazu?“ Erwartungsvoll sah sie mich mit ihren großen braunen Augen an.
Ich war sprachlos und schnappte erst einmal nach Luft, dann setzte ich mich auf meinen Bettrand. Unsere Betten standen sich an den Wänden gegenüber. Ich rutschte etwas in die Mitte, stützte mich auf meine Hände und ließ die Beine baumeln. „Was meinst du damit, du möchtest mich mitnehmen, wie stellst du dir das vor, wovon soll ich leben?“
„Kein Problem, ich habe mir alles genauestens überlegt, Marek hat ein großes Haus, da ist Platz genug für uns alle. Außerdem kannst du vormittags in die Schule gehen und Englisch lernen – so, wie du es schon immer gern wolltest. Als meine Gesellschafterin hast du Kost und Logis frei und fürs Taschengeld kannst du dir einen Nebenjob besorgen. Marek ist mit allem einverstanden. Sag bitte ja, dann brauche ich nicht allein dort aufzutauchen“, bettelte sie.
„Klingt verlockend, trotzdem, hier alles aufzugeben, das muss ich mir noch reiflich überlegen. Hier im Krankenhaus bin ich sehr glücklich und außerdem habe ich in meinem ganzen Leben noch nie so viel Geld verdient wie momentan, hinzu kommt die geregelte Arbeitszeit, die wir hier haben. Mit Grauen denke ich noch oft an die Ausbeutung als Aupair-Mädchen in London. Niemals möchte ich, dass sich das wiederholt. Wenn das mit dir schiefgeht, was mach ich dann?“, zweifelnd sah ich sie an. „So mir nichts, dir nichts hier einfach die Zelte abbrechen, nee, solche Entscheidung braucht seine Zeit.“ Doch lange brauchte ich nicht zu überlegen. Wie immer, wenn ich eine Entscheidung zu treffen hatte, war ich schnell dabei, so oder so.
Ein unmoralisches Angebot
Voller Erwartung saßen wir im Wonnemonat Mai im Zug Richtung Manchester. Mit jeder Meile, die wir der Stadt unserer nächsten Träume näherkamen, stieg unsere Aufregung – speziell Helgas – wird sie doch in Kürze ihrem zukünftigen Mann das erste Mal gegenüberstehen. Auf dem Foto, das Helga bei sich trug, sah Marek ja ganz passabel aus: mittelgroß, schlank und dunkelblondes Haar. Eine sympathische Erscheinung von Ende Dreißig. Ich konnte mir durchaus vorstellten, gemeinsam mit Helga und Marek, für eine Zeit lang unter einem Dach zu leben. Im nächsten Jahr wollte ich ohnehin weiterziehen. Mein nächster Auslandsaufenthalt sollte dann Frankreich werden. Sollte! …
Langsam rollte der Zug im Hauptbahnhof Manchester ein. Wir nahmen unser Gepäck und stellten uns zum Aussteigen bereit vor die Zugtür. Noch einmal quietschten die Räder laut, bis der Zug endgültig zum Stehen kam. Helga stieg zuerst aus, sie drehte sich um und nahm die Koffer entgegen, die ich ihr runterreichte. Während ich ausstieg, stand Marek bereits neben Helga.
„Hallo, na da seid ihr ja“, begrüßte er uns mit einem sehr freundlichen Lächeln. „Herzlich willkommen in Manchester“, fügte er hinzu und überreichte Helga einen Strauß rosa Nelken.
„Oh, vielen Dank, die sind aber schön“, antwortete sie und steckte ihre Nase tief in die Blumen, um ihre Verlegenheit zu überspielen. „Lisa May“, stellte ich mich vor, als er mir die Hand zur Begrüßung reichte. Dann nahm er Helgas und meinen Koffer und sagte:
„Na dann wollen wir mal, hattet ihr eine gute Fahrt?“
„Ja, danke“, sprang ich für Helga ein, denn sie war noch immer ganz verlegen. Dafür redete ich munter drauf los, während wir zum Auto gingen. Im Auto wurde es still, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Wir hatten die Stadt hinter uns gelassen und fuhren durch kleinere Ortschaften. Wobei eine Ortschaft in die andere überging. Nur Ortschilder ließen erkennen, wo die Grenzen lagen. Das also sollte meine neue Heimat werden. Endlich unterbrach Marek als erster das Schweigen: „Übrigens, ich habe mit Erna besprochen, dass ich euch erst einmal für ein paar Tage zu ihr bringe. Sie freut sich schon sehr auf euch, speziell auf dich Helga, schließlich habt ihr euch lange nicht gesehen und sicher viel zu erzählen.“
„Oh ja“, erwiderte Helga. Man spürte direkt, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. So hatte sie noch etwas Zeit gewonnen, um Marek ein wenig näher kennenzulernen, bevor sie zu ihm zog.
„Ich komme heute Abend vorbei, dann werden wir alles Weitere besprechen“, verabschiedete er sich wenig später, als er bei Erna nur kurz mit reinkam, um ihr guten Tag zu sagen.
„Gute Idee“, antwortete Helga, „man soll ja nichts überstürzen.“ Erna wohnte mit ihrem Mann und deren beiden Kindern in einem typischen englischen Reihenhaus. Eng aneinandergereiht lagen die Häuser von einem Ende der Straße zum anderen. Gepflegte Vorgärten und niedrige Zäune trennten die einzelnen Grundstücke. Jedes Haus besaß neben der Eingangstür einen Erker mit großem Fenster ohne Gardinen – mit freiem Blick ins Haus. Doch das tut ein Engländer nicht, ich meine, dem anderen ins Haus schauen, deshalb brauchen sie keine Gardinen. So sah also eine Kleinstadt mitten in England aus. Bisher war ich über London und seine Umgebung nicht hinausgekommen. Abgesehen von meinem ersten Job als Au-pair-Mädchen, der ohnehin eine einzige Schinderei war, hatte ich in meiner knappen Freizeit genug mit den Sehenswürdigkeiten in London zu tun. Als ich dann, mit viel Glück, als Küchenhilfe im Krankenhaus landete, beschäftigte ich mich in meiner Freizeit mit Englisch lernen. Deswegen war ich hauptsächlich nach England gekommen. In meiner Dorfschule war Englischunterricht damals noch kein Pflichtfach.
Im ersten Stock hatte Erna ein kleines Zimmer für uns hergerichtet. Marek hatte recht, Erna und Helga hatten sich viel zu erzählen. Aber ihr wichtigstes Thema war Marek. Ich freute mich aufrichtig für Helga, denn Marek hatte auch in Lebensgröße einen sympathischen und seriösen Eindruck auf mich gemacht. Meiner Meinung nach passte er gut zu Helga. Eine begüterte Partie, wie Helga stets betonte. Ihm gehörten mehrere Mietshäuser in Manchester. Herz, was willst du mehr.
Zur Feier des Tages schmiss sich Helga so richtig in Schale. Das Rot ihrer Bluse passte hervorragend zu ihrem dunklen, fast schwarzen, kurzgeschnittenen Haar und ihren rehbraunen Augen. Sie strahlte übers ganze Gesicht. Ich war sehr gespannt, wie das Ganze nun wohl ablaufen würde.
Nachdem wir Erna bei den Vorbereitungen zum Abendessen geholfen hatten, machten wir es uns im Wohnzimmer gemütlich. Erna holte eine Flasche Wein aus der Küche und drei Gläser aus dem Schrank. Während wir anstießen, trat ein großer mittelblonder gutaussehender Mann ins Wohnzimmer. Es war Micha, Ernas Ehemann. Wo hat Erna nur diesen tollen Typen kennengelernt, schoss es mir durch den Kopf. Nicht nur, dass sie eine unscheinbare graue Maus war, sie schielte auch noch stark auf dem linken Auge. Micha war Pole und Erna Deutsche.
Nach einer kurzen Begrüßung entschuldigte er sich mit den Worten:
„Ich mach mich mal eben frisch und streife mir andere Sachen über“, und verschwand genauso schnell wieder von der Bildfläche, wie er erschienen war.
Helga und ich folgten Erna in die Küche, um ihr bei den letzten Vorbereitungen fürs Abendessen zu helfen. Das Telefon im Flur klingelte. Micha, der gerade wieder von oben kam, nahm den Hörer ab.
„Hallo? Hallo Marek“, rief er freudig in den Hörer. Das war auch schon alles, was wir verstehen konnten, denn Micha schloss blitzschnell die Küchentür und sprach leise weiter. Auch wir versuchten instinktiv uns leise zu verhalten, doch außer einem Flüstern drang nichts an unsere Ohren. Wahrscheinlich haben wir alle drei dasselbe gedacht. Irgendetwas ist im Busch. Es dauerte und dauerte. Die Stimmung wurde immer angespannter, kaum zu ertragen. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu Stunden. Plötzlich öffnete Micha die Küchentür. Er war kreidebleich und völlig verwirrt. Oje, dachte ich, das bedeutet nichts Gutes.
„Kommt“, sagte Micha und versuchte dabei so beruhigend wie möglich auszusehen, „wir gehen ins Wohnzimmer.“ Aufgeregt trotteten wir hinterher.
„Setzt euch!“ Kaum, dass auch er sich hingesetzt hatte, räusperte er sich kurz, sprang jedoch sofort wieder auf, ging zur Vitrine, holte drei Cognacgläser, zögerte noch einen Moment, dann murmelte er:
„Die werdet ihr gleich brauchen.“ Dann drehte er sich noch einmal um und holte eine Flasche Cognac. Ohne uns zu fragen, schenkte er ein, ein wenig zu viel, wie ich empfand. Dann setzte er sich zu uns, nahm sein Glas in die Hand und sagte mit leicht zittriger Stimme:
„So Mädels, jetzt müssen wir erst einmal einen Kurzen trinken, denn was ich euch zu sagen habe, fällt mir verdammt schwer.“ Er machte eine kleine Pause, strich sich verlegen übers Haar. Die Spannung war kaum noch zu ertragen, schließlich sagte er: „Um es kurz zu machen, Marek hat sich für Lisa entschieden, Lisa oder keine“, fügte er leise hinzu und zuckte mit den Schultern, so als befürchtete er, einen Schlag zu bekommen. Man merkte es ihm an, wie peinlich ihm die Überbringung dieser Nachricht war.
Der Schock saß! Helga wurde von einer zur anderen Sekunde totenblass im Gesicht. Wir waren wie gelähmt. Nach kurzer Zeit hatte ich mich als erste gefasst und ergriff das Wort:
„Wie, er will Lisa, ja sind wir hier auf einem Viehmarkt?
Mich? Mich will er heiraten?“ Blanke Wut nahm von mir Besitz. Meine Stimme wurde böse und laut:
„Der hat sie ja nicht alle und feige ist der Hund auch noch, anstatt hier aufzutauchen fertigt er uns am Telefon ab. Er will Lisa anstatt Helga“, äffte ich nach. „Ja wo ist er denn überhaupt, warum kommt er nicht selbst hierher, er ist doch dein bester Freund? Außerdem, meint er im Ernst, ich würde einen Mann heiraten, der fast zwanzig Jahre älter ist als ich? Und wenn er noch so viel Geld und Häuser besitzt. Selbst, wenn er jünger wäre, ich bin doch nicht nach Bolton gekommen, um meiner Freundin den Mann wegzuschnappen, feiger, gemeiner Hund!“, wiederholte ich. Ich redete mich so in Rage, dass Erna mich antickte und auf Helga wies, die in Tränen ausgebrochen war. Helga, ach du liebe Zeit, die hatte ich in meiner Wut völlig vergessen. Sie war die Hauptperson in diesem widerlichen Drama. Ich stand auf und wollte sie trösten, doch sie stieß mich wütend von sich und schrie mich mit einer ins Mark gehenden Verzweiflung an:
„Das habe ich nur dir zu verdanken. Hätte ich nicht diese wahnwitzige Idee gehabt, dich mitzunehmen, wäre das alles nicht passiert!“ Das saß.
Wie recht sie hatte, schoss es mir durch den Kopf. Ich kam mir auf einmal völlig überflüssig vor. Ja, wie ein Eindringling. Still zog ich mich ins Gästezimmer zurück. Wieder einmal war Helgas Traum vom Heiraten geplatzt.
Erst als ich im Zimmer war, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, in was für einer beschissenen Situation auch ich mich befand. Keine Heirat, keine Bleibe – keine Bleibe keine Arbeit. Wie soll es denn jetzt mit mir weitergehen. Ich war erst acht Monate in England, wovon ich die ersten vier Monate in London kaum Gelegenheiten hatte, Englisch zu lernen. Dementsprechend waren meine Englischkenntnisse noch sehr mau. Meine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung hatte ich nur fürs Krankenhaus bekommen. Gleich am nächsten Morgen beim Frühstück besprach ich meine unglückliche Situation mit Erna.
„Na ja, bis du eine Arbeit gefunden hast, kannst du erst einmal hierbleiben“, schlug sie mir netterweise vor.
„Meinst du, ich bekomme hier einen Job als Au-pair-Mädchen?“, fragte ich sie, „denn eine andere Tätigkeit als im Haushalt oder im Krankenhaus darf ich hier als Deutsche ja nicht ausüben.“ „Wir werden uns gleich einmal die Zeitung besorgen, da steht immer was drin“, machte Erna mir Mut. So verbrachte ich die nächsten Tage mit Jobsuche. Helga und Erna verstanden sich wirklich gut und so allmählich hatte sich Helga auch wieder beruhigt und sah ein, dass wohl die Schuld allein bei Marek lag und nicht bei mir.
Keine drei Tage später, kamen Erna und Helga auf eine glorreiche Idee, zumindest für sie beide. Sie tüftelten an einem Plan, bei dem ich die Hauptrolle spielen sollte. Sozusagen eine Wiedergutmachung meinerseits! Wie sie wohl meinten. Helga führte das Wort und schlug mir völlig überraschend ein unmoralisches Angebot vor:
„Weißt du eigentlich Lisa, dass Erna mit ihrem Mann Micha, eine sehr unglückliche Ehe führt?“
„Ja …?“ Überrascht schaute ich Erna an. „Den Eindruck habt ihr beide bisher aber nicht auf mich gemacht.“
„Doch, doch“, warf nun Erna ein, „jetzt, wo ihr hier seid, spielt er den braven Ehemann, aber er hat es faustdick hinter den Ohren, ich halte es kaum noch mit ihm aus.“
„Aha, das ist ja furchtbar, nur was habe ich damit zu tun?“
„Na ja, damit Erna unschuldig geschieden werden kann, wenn sie die Scheidung einreicht. Deshalb könntest du ihr einen großen Gefallen tun. Denn nur wenn Erna unschuldig geschieden wird, muss Micha Unterhalt für Erna und ihre gemeinsame Tochter zahlen“, übernahm Helga wieder das Wort.
„Ich? Wieso ich?“, hakte ich nach. Noch ahnte ich nichts.
„Ja weißt du Lisa, Micha hat Erna erzählt, dass er dich sehr attraktiv findet und schon verstehen kann, dass Marek lieber dich haben wollte.“
Nun wurde ich hellhörig und gespannt zugleich, was wohl als nächstes kommt. Ehrlich gesagt, das Kompliment von dem gutaussehenden und charmanten Micha schmeichelte mir schon.
„Deshalb finden wir“, erläuterte Helga deren Plan, „wäre es doch ganz einfach für dich, solange du hier wohnst, zuerst mit ihm zu flirten, wenn er dann richtig heiß auf dich ist, gehst du mit ihm ins Bett.“
Ich traute meinen Ohren nicht. Nun hatte ich meinen zweiten Schock in nur wenigen Tagen. Nachdem ich mich einigermaßen wieder gesammelt hatte, antwortete ich wütend:
„Ihr seid ja übergeschnappt, total übergeschnappt, ich war noch nie mit einem Mann im Bett, wie stellt ihr euch das vor? Ich werde doch nicht mein erstes Mal mit einem Mann ins Bett gehen, den ich zwar sympathisch finde, aber nicht liebe.“
„Nein, nein, soweit sollst du auch nicht gehen“, unterbrach mich Helga, „wenn ihr im Zimmer verschwunden seid, werden Erna und ich vor der Tür lauschen und bevor es richtig zur Sache geht, öffnen wir die Tür und du bist gerettet. Und Erna hat endlich einen Beweis fürs Gericht“, beendete sie ihren gemeinsam ausgetüftelten Plan. Gespannt auf meine Reaktion sahen mich beide an.
„Tut mir leid Erna, aber da muss ich passen, sowas kann und will ich nicht mitmachen, da könnt ihr noch so viel reden.“ Ich stand auf und verließ das Zimmer, um draußen frische Luft zu schnappen.
So einfach wie die beiden es sich dachten, war es für mich nicht, auch wenn Erna und Micha, rein äußerlich, nicht zusammenpassten. Vielleicht war sie ein Fehltritt in seinem Leben, wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt. Und gleich beim ersten Mal war sie schwanger geworden. Woraufhin er sich verpflichtet fühlte, sie zu heiraten. So war es in vielen Ehen. Wenn sich dann die Frau scheiden lassen wollte, konnte sie es nur mit einem triftigen Grund tun, wie zum Bespiel, wenn er fremdgegangen war. Dann musste er nach der Scheidung nicht nur den Unterhalt für seine Kinder, sondern auch für seine Frau unter Umständen für ein ganzes Leben zahlen. Micha tat mir leid. Denn die wahren Hintergründe habe ich nie erfahren.
Schon am nächsten Tag bekam ich eine Arbeit. Das Haus habe ich nie wieder betreten. Helga, Erna und Micha habe ich für immer aus den Augen verloren.
Schmetterlinge im Bauch
Bei Tom und Mary fand ich neben Arbeit auch ein neues Zuhause. Mitten in der Stadt direkt gegenüber dem Rathaus besaßen sie das kleine ‘Swan Hotel‘ mit einer dazugehörigen Gaststätte. Das heißt, die Hoteletage war völlig veraltet und für unbewohnbar erklärt worden. Nur die gut gehende Gaststätte war noch in Betrieb. In zwei Jahren wollten Mary und Tom auch sie schließen und zu ihrem Sohn nach Kanada auswandern, der dort verheiratet war. Nicht nur sie haben mich, auch ich habe die beiden schon nach kurzer Zeit ins Herz geschlossen. Umgehend besorgte Tom mir die notwendige Arbeits – und Aufenthaltsgenehmigung. Das Glück reichte mir mal wieder die Hand.
Viel zu tun hatte ich nicht im Haushalt, der über dem Pub lag. Das Kochen erledigte Mary. Nachmittags war für uns alle frei. Um 17 Uhr wurde der Pub geöffnet. Tom, ein großer schlanker Mann mit rötlichem Haar, war für die Bar zuständig und Mary für die Gäste, die an den Tischen in den verschiedenen Räumen saßen. Abends durfte ich Tom hinter der Bar beim Zapfen der Biere helfen. Eine willkommene Abwechslung. Nebenbei erfuhr ich von den Gästen am Tresen allerlei Wissenswertes über Land und Leute. Im Riesentempo verbesserten sich nun meine Sprachkenntnisse. Zwei Eingangstüren, einen Haupteingang für gehobene Gäste und einen Seiteneingang für die einfachen Gäste, sprich das Fußvolk, führten in den Pub. Für sie standen im Raum rechts vom Tresen auch einige Tische und Stühle. Nur eine Bedienung gab es für sie nicht, sie mussten selbst ihre Getränke vom Tresen abholen. Komischerweise hielten sich beide Parteien auch streng an diese Regel. Jeder wusste genau, zu welchem Bereich er gehörte. Das heißt, Ausnahmen kamen schon mal vor, dass ein Gast der gehobenen Klasse sich in der Tür irrte und durch die Seitentür hereinkam. Umgekehrt habe ich es nicht erlebt.
Während ich ein Bier zapfte sah ich aus dem Augenwinkel, wie zwei junge Männer durch die Seitentür eintraten und schnurstracks auf die rechte Seite des Biertresens zusteuerten. „Hallo“, sagte ich kurz, während der eine von ihnen schon mal zwei Bier bestellte. Schnell wandte ich mich wieder dem Zapfhahn zu, denn ich spürte, wie mich der eine von beiden fixierte. Viel zu schnell waren die Gläser mit Pale Ale gefüllt. Keine drei Minuten, wie man in Deutschland ein gepflegtes Bier zapft. In diesem Moment hätte ich sie gut gebrauchen können, um mich wieder zu sammeln. Als ich den beiden das Bier hinstellte, schaute mich der Dunkelhaarige mit seinen tiefgründigen, dunkelbraunen Augen durchdringlich an, sodass ich, wie von einem Blitzschlag getroffen, völlig hilflos dastand. Das muss er gemerkt haben, denn er rettete die Situation in dem er fragte:
„Wo kommen Sie denn her?“
„Wieso?“, stotterte ich, „warum wollen Sie das wissen?“
„Nur so“, antwortete er kurz.
Als ich meine Gefühle wieder einigermaßen im Griff hatte, sagte ich überspielt selbstbewusst:
„Das ist kompliziert, mein Vater kommt aus Frankreich, meine Mutter aus Holland und geboren bin ich in Südafrika.“
Stimmte zwar nicht, aber solche Spielchen liebte ich.
Er lächelte verschmitzt. Siegessicher entgegnete er: „Aha, ist ja interessant, aber nicht wahr, ich halte Sie für eine Deutsche!“
Ich war baff. Er war der Erste, der mich in England für eine Deutsche hielt, denn komischerweise hielten mich die meisten eher für eine Nordspanierin oder Französin. Vielleicht, weil ich braunes Haar und eine zierliche Figur hatte. Verdammt gutaussehender Typ, schoss es mir noch einmal durch den
Kopf: groß, schlank, volle Lippen und ein schmaler Oberlippenbart, der sein ebenmäßiges Gesicht zierte.
„Und? Wo kommen Sie her?“ Nun war ich neugierig.
„Aus Pakistan“, erwiderte er amüsiert. Wahrscheinlich ahnte er, dass ich nicht mal wusste, wo Pakistan lag. Und das stimmte, ich hatte keinen blassen Schimmer, wo sich dieses Land versteckt hielt.
Umwerfend, wie der aussieht, dachte ich noch einmal, als er wenig später die Gaststätte gemeinsam mit dem Blonden wieder verließ.
Vergiss ihn, der ist zwei Nummern zu groß für dich – und damit war die Sache für mich erledigt.
Bis ..., ja bis einige Tage später der große Blonde wieder durch die Seitentür hereinspaziert kam und wieder direkt auf den Tresen zusteuerte. Leider allein. Komisch, dachte ich, warum kommen sie ausgerechnet durch die Seitentür? Wissen sie nicht, für welche Besucher der Eingang reserviert ist?
„Ein Bier bitte!“, unterbrach er meine Gedanken. Seine Stimme war freundlich, aber sie klang ein wenig verlegen.
„Ja, gern“, antwortete ich und dachte: Nur ein Bier? Schade, das heißt, der andere Typ kommt heute nicht.
Als ich ihm das Bier hinstellte, begann er ein Gespräch mit mir. Bereits beim dritten Satz fiel er mit der Tür ins Haus. Ein wenig unbeholfen fragte er:
„Wenn Sie Zeit und Lust haben, würde ich Sie gerne ins Café einladen.“ Es klang so, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Außer sein gutes Aussehen, hatte er nichts von einem Weltmann, so wie der andere.
„Danke, sehr nett von Ihnen, doch solange ich hier im Pub arbeite, lasse ich mich von niemandem einladen, das ist mein Prinzip“, kam die rasche Antwort meinerseits. Ein wenig zu schnell, wie auswendig gelernt. Als Entschuldigung fügte ich noch hinzu: „Das müssen Sie verstehen, man wird schnell als leichtes Mädchen verschrien, wenn man gleich mit jedem Mann loszieht.“ Eine leichte Röte stieg ihm ins Gesicht. Völlig überstürzt trank er sein Glas leer. Ohne auch nur ein weiteres Wort zu verlieren, verließ er den Pub. Komisch, beim letzten Mal hatte ich ihn kaum beachtet. Eigentlich schade, schwärmte ich doch für groß, blond und blauäugig. Und dann diese Sorte von Blond mit einer leicht gebräunten Haut. Ausgerechnet den lässt du laufen, wegen eines Schwurs, sinnierte ich.
Keine halbe Stunde war vergangen, da tauchte doch tatsächlich der dunkle Typ auf. Genau wie beim ersten Mal lehnte er sich lässig an den Tresen und bestellte ein Bier. Heute war er wortkarg und damit beschäftigt, mich zu beobachten. Allmählich wurde mir unheimlich zumute. Heiß und kalt lief es mir über den Rücken. Fang jetzt bloß kein Gespräch an, garantiert fängst du dann wieder an zu stottern, schoss es mir durch den Kopf. War ich bei dem Blonden noch sehr selbstbewusst, so fühlte ich mich jetzt hilflos und klein. Nach einer ganzen Weile, ich hatte gerade nichts am Zapfhahn zu tun, setzte er sich auf den Barhocker und stützte seinen Kopf auf die rechte Hand. Aus seinem schwarzen Haar fiel ihm eine Locke in die Stirn, was seinem Gesicht einen sanften Ausdruck verlieh.
„Wenn ich es mir recht überlege“, unterbrach er die Stille, „finde ich Sie zu schade hier am Tresen zu stehen, um Bier auszuschenken!“
„Wieso das denn? Was soll denn diese Bemerkung?“, hakte ich nach. Der spinnt wohl. Ich war glücklich und zufrieden mit meinem Job. Allmählich gewann ich mein Selbstbewusstsein zurück und konterte:
„Nicht jeder hat das Glück, Eltern zu haben, die ihren Kindern ein Studium finanzieren.“ Das hatte er mir letztes Mal erzählt. „Außerdem, darf ich als Deutsche hier in England nur im Haushalt arbeiten. Hier am Tresen darf ich nur stehen, solange Tom in der Nähe ist. Die Genehmigung hat er extra für mich besorgt. Ich bin verdammt gerne hier!“ Ich war auf seine Antwort gespannt.
„Mag ja sein, aber wenn man sich verbessern kann, warum nicht?“, kam es prompt zurück.
„Was meinen Sie mit verbessern?“
„Na ja, William Morris, mein Freund und Kommilitone auf dem College, kommt aus einem sehr einflussreichen Elternhaus. Sie besitzen in Bolton mehrere Textilfabriken. Wenn die wollen, können sie Ihnen jeden Job geben, den sie möchten.“
„Zum Beispiel?“
„Im Büro zum Beispiel.“
„Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, das darf ich gesetzlich nicht!“
„Sie haben aber auch gerade gesagt, dass Sie hier im Pub nur arbeiten dürfen, weil Tom Ihnen von der Behörde eine Genehmigung besorgt hat. Genauso könnten so mächtige Leute wie die Morris‘ auch für Sie eine Genehmigung fürs Büro bekommen. Leuchtet Ihnen das nicht ein?“
„Klingt plausibel, nur der Haken ist, ich habe noch nie im Büro gearbeitet, wie soll das funktionieren“, gab ich kleinlaut zurück.
„Auch im Büro gibt es leichte Tätigkeiten, die man schnell lernen kann, wenn man will. Sehen Sie, nun sind wir schon ein ganzes Stück weiter“, und nach einer Weile fuhr er fort, „ich schlage vor, am Sonntag nehme ich Sie zum Nachmittagstee bei den Morris‘ einfach mit. Dann können Sie sich schon mal gegenseitig kennenlernen.“
„So einfach ist das?“ Ungläubig schaute ich ihn an.
„William ist mein bester Freund, ich gehe dort ein und aus, aber zu Ihrer Beruhigung werde ich William vorher Bescheid sagen.“ Siegessicher lächelte er und ehe ich antworten konnte, meinte er:
„Passt es Ihnen am Sonntag, um halb vier?“
Ich kam gar nicht mehr zum Nachdenken, sondern überdachte schnell meinen Zeitplan:
„Sonntag, ja das könnte passen, aber wo wollen wir uns denn treffen?“
„Wenn Sie nicht möchten, dass ich Sie hier abhole, können wir uns auch vor dem Capitol Kino treffen, das ist nur um die nächste Straßenecke. Ist das okay für Sie?“
„Ja, in Ordnung!“
„Also dann bis Sonntag!“ Er stand auf und verließ das Lokal.
Meine Gedanken kreisten nur noch um das Treffen am Sonntag mit diesem geheimnisvollen Menschen, der sich Frank nannte, aber nicht so hieß, wie ich erst viel später erfuhr. Sein islamischer Name war Aminullah. Er meinte, das könne sich kein Europäer merken. Und so blieb er auch für mich einfach Frank.
Zwei Tage noch bis Sonntag, ich konnte es kaum erwarten. Immer wieder holte ich meine Klamotten aus dem Schrank und probierte alles durch. Doch nichts gefiel mir so richtig, außer vielleicht der weiße enge Rock und die schwarzen Pumps mit den hohen Absätzen. Todschick fand ich sie und mit ihren zwölf Zentimetern die richtige Höhe, um nicht zu klein neben dem großen Frank zu wirken.
Irgendwann fand ich mich in einer Boutique wieder und probierte allerlei Zeug an. Schließlich wollte ich so elegant wie möglich aussehen und entschloss mich für eine rosafarbene Strickjacke unter der ich nichts als einen BH trug, das schmeichelte meiner Figur.
Mein langes Haar bändigte ich zu einem Pferdeschwanz. Zufrieden mit meinem Outfit stiefelte ich los. An jedem Schaufenster, an dem ich vorbeikam, betrachtete ich mein Spiegelbild mit Genugtuung.
Frank wartete bereits vor dem Kino auf mich und strahlte mich mit seinen dunklen Augen geheimnisvoll an. Innerhalb von Sekunden war es um mich geschehen. Mein Herz fing an zu rasen, meine Wangen glühten und Schmetterlinge kreisten in meinem Bauch. Ich verlor völlig aus den Augen, warum wir beide dieses Date hatten. Ich sah nur noch ihn.
Dann ging alles blitzschnell. Er begrüßte mich, nahm meinen Arm und führte mich ins Innere des Kinos. Ein kurzer Geistesblitz und ich stotterte:
„Aber wir wollten doch“ – „Später!“, antwortete er nur.
Die Dunkelheit des Kinosaals nahm uns gefangen. Zielsicher führte Frank mich nach hinten in die letzte Reihe. Kaum hatten wir uns auf die weichen Polster der Kinosessel niedergelassen, legte er seinen rechten Arm um mich, mit der linken Hand drehte er mein Gesicht zu sich und presste seine warmen vollen Lippen leidenschaftlich auf die meinen. Versunken im Taumel der Gefühle verging die Zeit wie im Flug. Bis ich mich vor Erschöpfung langsam von Franks Lippen löste. Welche Filme während der ganzen Zeit liefen, habe ich gar nicht mitbekommen. Denn in England konnte man so lange im Kino sitzen bleiben, wie man wollte, ständig liefen mehrere Filme nacheinander.
Jede erdenkliche Minute verbrachten wir von da an gemeinsam. Wir gingen in Parks spazieren oder fuhren mit dem Zug ans Meer nach Blackpool. Nur etwas störte mich an Frank. Er rauchte nicht! Ich auch nicht!
Aber das war für mich was anderes. Ich war eine Frau. Aber ein Mann, der nicht rauchte, war für mich unmännlich. Hatte ich bisher nicht kennengelernt. Ob in der Kneipe oder auf der Straße, ob meine Brüder oder Freunde, jedes männliche Wesen, das ich kannte, rauchte. Und auch auf der Leinwand: Kein Filmheld, der nicht einen Glimmstängel im Mund hatte. Das, so meinte ich eines Tages zu Frank, wünsche ich mir auch von ihm. Beim nächsten Treffen hatte er dann auch so einen Glimmstängel zwischen den Fingern. Nur anders als die übrige Männerwelt – zwischen Zeige – und Mittelfinger. Völlig linkisch und mit leicht verzogenem Gesicht zog er an der Zigarette, so als würde er pures Gift in sich hineinziehen. Was ja stimmte. Beim nächsten Treffen schnitt er eine gequälte Grimasse und meinte: „Mir tut vom Rauchen der Brustkorb weh.“ „Okay, dann lass es lieber“, meinte ich gnädig.
Muss-Ehe in England
Nach sechswöchigem Gefühlsrausch und geschwollenen Lippen wachte ich nachts plötzlich von einer zur anderen Sekunde auf und fragte mich: Was machst du da eigentlich? Wo soll das hinführen? Du wolltest doch noch die große weite Welt erobern und keine feste Beziehung eingehen. Wach auf. Das hier geht ja viel zu schnell. Als hätte ich mich in dieser Nacht neu programmiert, verschwand von Tag zu Tag ein Schmetterling nach dem anderen aus meinem Bauch, bis sie alle ausgeflogen waren. Anstelle der Schmetterlinge betrachtete ich nun Frank mit kritischen Augen und ehe ich mich versah, gab ich ihm den Laufpass. Einfach so, aus dem Bauch heraus, ohne eine Erklärung. Wie ein begossener Pudel stand Frank vor mir, als ich ihm kurz und bündig mitteilte: „Es ist Schluss mit uns beiden, ich will noch keine feste Beziehung.“
Nur, diese Rechnung habe ich ohne Frank gemacht. So einfach wollte er mich nicht gehen lassen. Er schrieb mir einen seitenlangen Liebesbrief, so wunderschön und theatralisch geschrieben, dass ich fast rückfällig wurde. Ich versteckte den Brief in der untersten Schublade und zwang mich, den Brief und auch Frank endgültig zu vergessen. Hin und wieder schickte er noch einen Studentenkollegen in den Pub, der mich umstimmen sollte. Je mehr Frank versuchte mich zurückzugewinnen, desto bockiger wurde ich und war felsenfest davon überzeugt, alles richtig zu machen. Eines Nachmittags kamen zwei Halbstarke zur Seitentür reingeschneit. Sie lümmelten sich an die Bar, taxierten mich von oben bis unten, bis schließlich einer von ihnen sagte: „Na, so schön bist du nun auch wieder nicht, dass du so einem Typ wie Frank den Laufpass gibst! Eingebildete blöde Kuh!“ Mit verachtenden Blicken verließen sie den Pub wieder. Die wollten mich doch tatsächlich einschüchtern. Ich wusste gar nicht, dass Frank solche Typen kannte.
Keine drei Wochen waren seit der Trennung mit Frank vergangen, da erhielt ich einen Brief von meiner Mutter: sie kommt mich besuchen. Was habe ich mich gefreut. Tom und ich holten sie vom Bahnhof Manchester ab. Während wir im Auto zurück nach Bolton fuhren, sagte ich wie beiläufig zu ihr: „Übrigens Mama, mit meinem neuen Freund Frank habe ich Schluss gemacht.“ In meinem ersten Liebesrausch hatte ich ihr von Frank geschrieben.
„Wie bitte, das ist nicht dein Ernst?“ Ihre Stimme klang enttäuscht, was mich wunderte.
„Warum bist du enttäuscht? Du kennst ihn doch gar nicht.“
„Weil ich extra aus Deutschland komme, um ihn kennenzulernen.“
„Wie bitte? Mama, ich dachte du bist meinetwegen gekommen?“
„Na ja“, gab sie klein bei, „klar bin ich auch deinetwegen gekommen.“
Geglaubt habe ich es nicht, nun war ich enttäuscht.
Kaum war meine Mutter da, erschien auch Frank auf der Bildfläche. Woher wusste er, dass meine Mutter da war? Überall schien er seine Spione zu haben. Er ließ also noch immer nicht locker. Während ich hinterm Tresen stand und meine Mutter auf dem Barhocker saß, stand er plötzlich neben ihr. Diesmal war er sogar durch den Haupteingang erschienen. Nun entwickelte Frank eine völlig andere Strategie. Er nahm mich gar nicht wahr. Er ignorierte mich einfach, so als kenne er mich überhaupt nicht. Er bestellte zwei Bier und setzte sich mit meiner Mutter an einen Tisch gegenüber der Stirnseite der Bar, genau an die Stelle, wo die Zapfhähne standen. Aus meinem Blickwinkel beobachtete ich sie, wie sie mit Händen und Füßen miteinander redeten. Denn meine Mutter konnte kein Wort Englisch. Aber sie schien ihn zu verstehen – wie, war mir schleierhaft. Ständig nickte sie mit dem Kopf. Beide lachten viel. Frank hatte eine einmalige Gabe, er beherrschte eine eigene Körpersprache, die andere zu verstehen schienen.
Nach Feierabend, als wir in meinem Zimmer waren, meine Mutter schlief gemeinsam mit mir im großen Doppelbett, erwähnte sie kurz: „Er hat mich morgen ins Kino eingeladen.“
Aha, dachte ich, scheint eine Spezialität von ihm zu sein. Danach war es nicht um mich, sondern um meine Mutter geschehen. Sie redete nur noch von ihm. Was für ein charmanter Mann er sei, wie gut er aussieht, wie gebildet er ist und so weiter. „Kind, du trittst dein Glück mit Füßen“, stellte sie dann irgendwann fest.
Doch ich war resistent und zuckte nur mit den Schultern. „Dann ist es eben so!“, gab ich schnippisch zurück. Von nun an sagte sie auch nichts mehr.
Für Mary war es selbstverständlich, dass meine Mutter nicht nur mit mir im Zimmer schlief, auch zu den Mahlzeiten gehörte sie dazu. Am Tage kutschierte sie uns mit ihrem Auto durch die Gegend. Mary und meine Mutter waren sich sehr ähnlich. Beide waren schlank, beide hatten kurze, lockige, fast schwarze Haare und beide waren von fröhlicher Natur. Glücklich fuhr meine Mutter zurück nach Deutschland. Ich glaube, sie war froh, dass ich es bei Tom und Mary gut getroffen habe.
Hin und wieder tauchte Frank im Pub auf. Auch jetzt beachtete er mich nicht. Sein Plan funktionierte. Mein Interesse an ihm keimte langsam wieder auf. Das muss er gemerkt haben. Denn plötzlich sagte er:
„Ab Morgen soll das Wetter wieder besser werden, das wäre doch die Gelegenheit, mal wieder ans Meer zu fahren. Wie ist es, hast du Lust mitzukommen?“
„Hm, morgen nicht, vielleicht übermorgen, da habe ich frei.“
„Gut, wann soll ich dich abholen?“
„Wann fahren die Züge?“
„Immer zur vollen Stunde.“
„Reicht es, wenn du mich um halb zwölf abholst?“
„Ja, dann bis übermorgen.“
Frank hatte recht, es war für diese Jahreszeit ein ungewöhnlich warmer Herbsttag. Punkt zwölf Uhr saßen wir im Zug nach Blackpool. Zwar hatte ich keine Schmetterlinge mehr im Bauch, trotzdem fühlte ich mich sehr wohl, als wir barfuß Hand in Hand am Strand entlangschlenderten. Wir aßen Fisch und Chips und am späten Nachmittag tanzten wir beim Tanztee eng umschlungen zum neuen Hit von Conny Francis
„Who‘s sorry now?“
Spät abends erreichten wir gerade noch den letzten Zug nach Bolton. Glücklich ließen wir uns im schmalen Abteil des Zuges auf eine der beiden Polsterbänke nieder. Wir waren allein im Abteil. Und weil jedes Abteil eigene Türen zum Aus- und Einsteigen hatte, konnte auch niemand während der Fahrt in unserem Abteil auftauchen. Frank sprang auf und fummelte mit ausgestreckten Armen an der Deckenbeleuchtung rum.
„Was machst du denn da?“ Ungläubig schaute ich zur Decke.
„Wart’s ab“, und schon wurde es dunkel im Abteil.
„So, bis Bolton wird niemand hier reinkommen, sie werden denken, das Licht sei kaputt.“ Zufrieden setzte er sich wieder neben mich und flüsterte mir leise ins Ohr:
„Oh, my Darling, I love you, I love you very much.“
Diese Nacht blieb nicht ohne Folgen. Mir wurde angst und bange. Nun war ich doch zu weit gegangen. Ich war schwanger, gleich beim ersten Mal. Ich fand das Leben ungerecht.
Frank wollte mich auf der Stelle heiraten. Heiraten? Das passte nicht in meine Zukunftspläne. Nun stürzte ich in ein Gefühlschaos. Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich. Meine Träume von Frankreich und Amerika – alles dahin. Aus und vorbei. Außerdem war ich mir gar nicht sicher, ob ich Frank auch so lieben würde, wie er mich. Ich zweifelte. Ein Baby? Was mach ich mit einem Baby? Ich war noch weit entfernt von Muttergefühlen.
Heirate ich Frank nicht, müsste ich allein, entweder mit dickem Bauch oder mit Kind, nach Deutschland zurückkehren. Welche Schande das für mich bedeutete, konnte ich mir leicht ausmalen. Alle würden mit dem Finger auf mich zeigen! So zerbrach ich mir Tag und Nacht den Kopf. Bis ich mich tatsächlich entschied, Frank zu heiraten.
Nun musste ich mir auch noch die Genehmigung von meiner Mutter besorgen, denn ich war noch keine 21! Da sie ja vernarrt in Frank war, hat sie es vermutlich gern gemacht.
Bei Tom und Mary war es anders.
„Oh Lisa, warum nur? Du bist noch viel zu jung. So lange kennst du ihn noch nicht, um gleich zu heiraten. Ausgerechnet einen Pakistani, eine völlig andere Kultur“, ihre Stimme klang verzweifelt.
Sie schaute durchs Fenster auf den Rathausplatz und sagte mit schwacher Stimme:
„Schau Lisa, dort draußen laufen so viele nette junge Männer aus unserem Kulturkreis rum.“ Sie wurde blass im Gesicht und sagte leise:
„Tom und ich hatten so viel vor mit dir. Wir mögen dich gern, sehr gern sogar und dachten schon darüber nach, dich zu
adoptieren. Wenn wir in ein, zwei Jahren nach Kanada auswandern, wollten wir dich mitnehmen. Warum nur, Lisa?“ Meine Gedanken überschlugen sich:
Wieso mich adoptieren? Wieso nach Kanada auswandern?
Wieso keinen Pakistani heiraten?
Meine Gefühle gerieten völlig durcheinander. Ich fühlte mich überfordert. Ebenso leise wie Mary antwortete ich:
„Weil ich schwanger bin. Und weil ich ihn liebe.“
Einen Tag nach meinem zwanzigsten Geburtstag war es dann so weit.
Mary, Tom und ich standen in der Empfangshalle des Standesamtes und warteten gespannt auf Frank und seine Freunde.
Endlich. Als sei er gerade einem Film entsprungen durchquerte er, durchgestylt wie immer, lässigen Schrittes die Halle und kam direkt auf mich zu. Der Duft seines Aftershaves erfüllte den Raum. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, während er sich leicht zu mir runter beugte. Ohne ein einziges Wort zu verlieren, schaute er mir tief in die Augen, während seine