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Beschreibung

Literaturwissenschaftliche Annäherungen an das facettenreiche Werk der Autorin von »weiter leben«. Durch ihr 1992 erschienenes Buch "weiter leben. Eine Jugend" ist Ruth Klüger (1931-2020) weit über ihr Fach, die Germanistik, hinaus bekannt geworden. Auch ihr literaturwissenschaftliches und dichterisches Werk findet in jüngster Zeit verstärkte Beachtung. Die in diesem Band versammelten Aufsätze europäischer und amerikanischer Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler nehmen das Gesamtwerk Klügers in den Blick und decken unerwartete Querverbindungen zwischen den verschiedenen Gattungen ihres Schreibens auf. Dabei kommen ihre innovatorischen Beiträge zu den Jewish Studies und zu einer feministischen Literaturwissenschaft ebenso zur Sprache wie ihre wissenschaftlich bedeutsame Dissertation zum barocken Epigramm. Nicht zuletzt werden ihre frühen Versuche, sich als amerikanische Autorin zu etablieren, rekonstruiert und durch ein Werkverzeichnis erschlossen. Die Beiträge dieses Bandes werden entsprechend der von Ruth Klüger selbst praktizierten Zweisprachigkeit jeweils in ihrer Originalsprache in Deutsch und Englisch gedruckt. Mit Beiträgen von: Sigrid Bauschinger, Gesa Dane, Heinrich Detering, Kai Evers, Konstanze Fliedl, Mark H. Gelber, Barbara Hahn, Gail K. Hart, Irène Heidelberger-Leonard, Irene Kacandes, Meredith Lee, Peter C. Pfeiffer, Daniela Strigl und Thedel v. Wallmoden

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»Ich kann eigentlich nichts als lesen und schreiben.«

Zum literarischen undliteraturwissenschaftlichen Werk von Ruth Klüger

Herausgegebenvon Gesa Dane und Gail K. Hart

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2023

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Marion Wiebel, Wallstein Verlag,

unter Verwendung des Titelblatts von

Pandora. Quarterly for Women. Hg. von Ruth K. Angress u. a., I (1962), H. 1.

ISBN (Print) 978-3-8353-5387-9

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-8428-6

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-8429-3

Inhalt

GESA DANE / GAIL K. HART Einleitung / Introduction

THEDEL V. WALLMODEN (Göttingen) Wie alles anfing. Die Veröffentlichung von weiter leben. Eine Jugend im Wallstein Verlag

IRENE KACANDES (Lebanon, N. H.) Considering weiter leben and Still Alive in the Context of Holocaust Life Narratives

DANIELA STRIGL (Wien) Anleitung zum Unduldsamsein. Ruth Klüger: eine Ansicht in sieben Facetten

GAIL K. HART (Irvine) Knowledge and Anger. The Epistemic Foundations of Ruth Klüger’s Autobiographical Work

HEINRICH DETERING (Göttingen) Ursprung des deutschen Epigramms. Ruth Klügers Dissertation zur Dichtung des Barock

IRENE HEIDELBERGER-LEONARD (London) »Der Jude als Frau«. Antisemitismus und Antifeminismus in Ruth Klügers Leben und Werk

MARK H. GELBER (Beer Sheva) Ruth Klüger’s Jewish Sensibility and her Jewish Poetry

SIGRID BAUSCHINGER (München) »Was ich wirklich wollte, war Gedichte schreiben.« Die Lyrikerin Ruth Klüger

MEREDITH LEE (Santa Ana) Ruth Klüger and Poetry. An Appreciation

KONSTANZE FLIEDL (Wien) Vom Umgang mit Menschen

KAI EVERS (Irvine) Ruth Klügers Katastrophen. Literaturgeschichte als Aufforderung zum Lesen

PETER C. PFEIFFER (Washington, DC) »Mein Vater war ein Kaufmann.« Ökonomien in Adalbert Stifters Der Nachsommer

BARBARA HAHN (Berlin) Ein Seil und ein Abgrund

GESA DANE (Berlin) Ruth Klüger und Ruth Anvoy

Werkregister

GESA DANE / GAIL K. HART

Einleitung / Introduction

Ruth Klüger: Dieser Name war in Deutschland bei Erscheinen ihrer Autobiographie weiter leben. Eine Jugend im Jahr 1992 so gut wie unbekannt. Wohl nur wenige wussten, dass Ruth Klüger bereits im Sommer 1945, als Vierzehnjährige, zwei Gedichte, Auschwitz und Der Kamin, publiziert hatte. Das hat sich mit dem Erfolg von weiter leben entschieden verändert. Inzwischen ist Ruth Klüger über ihr Fach, die Germanistik, hinaus bekannt geworden. Neben ihrem literaturwissenschaftlichen Werk findet auch ihr literarisches Werk in jüngster Zeit stärkere Beachtung, sie hat allerdings auch früh in englischer Sprache publizierte Gedichte und Erzählungen hinterlassen, auch literarische Übersetzungen hat sie vorgelegt. Im vorliegenden Band werden das literarische und das literaturwissenschaftliche Werk Ruth Klügers in den Blick genommen, die einzelnen Beiträge dieses Bandes antworten auf je eigene Weise auf die zum Lesen anregende Hochschullehrerin, die innovative Literaturwissenschaftlerin, auf die Lyrikerin und die Erzählerin, die Germanistin und die Literaturkritikerin. Das literarische und literaturwissenschaftliche Werk, so wie es vorliegt, zusammenzusehen, ermöglicht es, unerwartete Verbindungen zwischen den verschiedenen Genres herzustellen. Diese Zusammenschau zeigt auch, dass Klüger, lange bevor sie sich literarischer und wissenschaftlicher Prosa zuwandte, Gedichte geschrieben hat. weiter leben ist und bleibt wohl ein zentraler Knotenpunkt ihres Werks, von hier aus führen aber Wege zur jungen Lyrikerin ebenso wie zur Literatur- und Kulturwissenschaftlerin.

»Ich kann eigentlich nichts als lesen und schreiben«, so hat Ruth Klüger über sich selbst in dem Film Das Weiterleben der Ruth Klüger von Renata Schmidtkunz gesagt.[1] Die Lakonik dieser Wendung verdeckt ein wenig, welch eine existientielle Bedeutung für Ruth Klüger das Lesen und das Schreiben gehabt haben. Hinweise darauf finden sich vornehmlich in ihren autobiographischen Schriften. Für Klüger waren Lesen und Schreiben je unterschiedliche Zugänge zur Welt, Möglichkeiten, sich der Welt zu- oder von ihr abzuwenden. Auch um den Verstand nicht zu verlieren: »Ich hab den Verstand nicht verloren, ich hab Reime gemacht.«[2]

Von ihrer frühen »Lesesucht«[3] erzählt sie in weiter leben, eine Reaktion besonders auf die sich immer weiter einengenden äußeren Lebensverhältnisse nach dem März 1938. Sie erzählt, wie sie alles las, was für sie erreichbar war. Die Klassiker, namentlich Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller und Franz Grillparzer, wären da zu nennen. Auch wenn Lesen hier meist das Lesen von Literatur meint, so nahm die siebenjährige Ruth Klüger auch die Schaukästen, in denen der Stürmer aushing, auf das Genaueste zur Kenntnis. In Theresienstadt, wohin sie und ihre Mutter im September 1942 deportiert wurden, gab es kaum Bücher, wie Klüger betont. Und so berichtet sie auch nicht von Lektüren, allerdings von den Versuchen innerhalb der Lagergemeinschaft, das Unterrichtsverbot für Kinder zu unterlaufen: »Häppchen einer Schulbildung, Brocken einer Kultur«[4]. Im Lager Christianstadt erreichten sie nur zwei Groschenromane, wie sie zuweilen dort kursierten. Schließlich bat ihre Mutter einen Vorarbeiter in der Fabrik um ein Buch, denn »ihre kleine Tochter würde so gerne wieder etwas lesen«[5]. Der Wunsch wurde erfüllt und so erhielt Ruth Klüger ein »halbzerissenes Schullesebuch«[6]. Sie kommentiert dies im Rückblick: »Ich war selig. Das Geschenk übertraf meine Erwartungen. Eine wohlbekannte Tür hatte sich wieder geöffnet, ich hatte einen vertrauten Zugang zur Welt wiedergefunden.«[7] Die psychoanalytischen Gesprächsangebote eines New Yorker Arztes brachten sie eher zur Verzweiflung. »Lesen [war] Rettung«[8], stellt sie fest.

Das Lesen von Literatur ist nun aber weit davon entfernt, erbauliches Lesen zu sein. Im Gegenteil: Literatur, so Ruth Klüger, scheint uns »ein Zugang zur Wahrheit oder zumindest eine Methode, die Wirklichkeit in den Griff zu bekommen. Wir hören, lesen, schauen Erdichtetes, dabei enttäuscht uns die Literatur; was wir gesucht haben, ist am Ende immer noch nicht gefunden, und so versuchen wir es aufs Neue«[9]. Dieses beständige Nachfragen ist charakteristisch für Klügers intellektuelle Haltung. Sie gab sich nie mit wohlklingenden Worten zufrieden.

Und Schreiben? Schreiben, so bekennt sie in unterwegs verloren, entspreche bei ihr »offensichtlich einem Bedürfnis«[10]. Gedichte hat sie immer – wenn auch zuweilen mit längeren Unterbrechungen – entworfen und, wenn es möglich war, aufgeschrieben.[11] Als Kind, das erwähnt sie kurz, habe sie zuweilen Tage gebraucht, »um sich eine Strophe zurechtzulegen«[12]; aus der Zeit in Theresienstadt erinnert sie sich an »sehnsüchtige Gedichte über Heimat und Freiheit«[13], die sie verfasst hat. In Auschwitz kam ihr die Idee, dass sie Zeugnis ablegen sollte, vielleicht »ein Buch ›Hundert Tage im KZ‹«[14]. Diesen Roman hat sie nicht geschrieben, aber Gedichte, die sie, wenn überhaupt, nur in entlegenen Organen publizieren konnte. Das änderte sich nach dem Erfolg von weiter leben.

In weiter leben hat sie insgesamt sieben ihrer Gedichte eingefügt, von denen fünf hier ein erstes Mal veröffentlicht wurden. Doch alle Gedichte sind lange, zum Teil Jahrzehnte, vor weiter leben entstanden. Viele ihrer Gedichte können als stückhafte sprachliche Annäherung an das gelesen werden, was sie weder verdrängen konnte noch wollte – und was sich dem Verständnis verschloss, als bestätige sich das, was die fünfzehnjährige Ruth Klüger kurz vor der Emigration im Juli 1947 an Martin Walser schrieb: »Aber ich fürchte, dieser häßliche, unbegreifliche Trümmerhaufen Europa läßt sich nicht so leicht vergessen.«[15]

Als Hochschullehrerin hat sie im Bereich der deutschsprachigen Literatur geforscht und gelehrt, dies aber in einer Breite, die außergewöhnlich war: vom Mittelalter über die Frühe Neuzeit bis weit hinein ins 20. Jahrhundert. Eine Gemeinsamkeit von wissenschaftlichem und literarischem Werk fällt auf: Ruth Klügers vielfältige Bezüge auf biblische Überlieferungen und ihr produktiver Umgang mit ihnen – im Modus des Wissens. In zahlreichen Gedichten arbeitet sie mit der Bild- und Sprachwelt der jüdischen Überlieferung. Ihre Dissertation The Early German Epigram[16] belegt ihre Vertrautheit mit der christlichen Überlieferung, das gilt ebenso für ihre Rilke-Übersetzung oder ihren frühen Aufsatz The Christian Surrealism of Elisabeth Langgässer[17], um jeweils nur Beispiele zu nennen.

Die Breite ihres Werkes und ihrer Schreibweisen sollen durch das Werkregister, das keine Gesamtbibliographie ersetzen kann, dokumentiert werden. Zu Recht gilt Klüger als »one of her generation’s most versatile and courageous scholars in German studies on both sides of the Atlantic«[18]. Die Beiträge dieses Bandes werden in ihren Orginalsprachen, Deutsch und Englisch, präsentiert, entsprechend der von Ruth Klüger selbst praktizierten Zweisprachigkeit.

 

This volume of essays on Ruth Klüger’s literary and critical writings was originally conceived in anticipated celebration of the thirtieth anniversary of the publication of her best-selling autobiography weiter leben. Eine Jugend.[19] Though Klüger was already well-known to readers and practitioners of German Studies and Women’s Studies, weiter leben expanded the reach of her notoriety as writer, critic, and public intellectual. As it was translated into many languages, European, Slavic, Scandinavian, and Asian and eventually into English – she kept the English rights and did not publish her translation until after her mother’s death – this exceptional little book made ripples around the world, winning prizes, inspiring debate, and enlivening university classrooms.

Unfortunately, during the early stages of this volume’s preparation, on 5 October 2020, Klüger passed away at the age of 88, and what had been intended as an anniversary tribute to her autobiography and its reception morphed into a broader critical review of her life’s work. The excellent and diverse essays within address the autobiographical work, mainly weiter leben and its continuation, unterwegs verloren[20], as well as Klüger’s poetry, fiction, and literary critical writings. Klüger wrote and revised her poetry throughout her lifetime and many of these poems appear, along with her commentary in Zerreißproben. Kommentierte Gedichte [21]. There are also individually published poems, and translations of the poetic work of other authors.[22] As for fiction, she wrote numerous short stories and other fictional pieces, some of which have been published, many of which are only accessible in the archives of the Österreichische Nationalbibliothek, where Klüger’s papers are available to scholars. The editors hope that the essays we are presenting in this volume will inspire further scholarly engagement with the work of Ruth Klüger.

Ruth Klüger was many things. Like Gotthold Ephraim Lessing, one of her favorite writers, she was a gambler, an avid blackjack player who enjoyed time spent at the tables in Las Vegas. She was fascinated by the idea of chance and luck and even began a novel addressing these themes. She was a lover of animals and of conversation, a fan of restaurant cuisine at many levels, a dedicated coffee drinker, a card-carrying member of the American Civil Liberties Union, and a bumper-sticker displaying advocate of Amnesty International. She served as a Professor of German Studies at several institutions in the United States, ultimately finding a professional home at the University of California, Irvine, where she lived and worked with a brief interruption (six years at Princeton) from 1976 until 2020. She retired in 1994, but continued to work, write, visit classes, and counsel students until shortly before her death. Klüger wrote her poems, interpretations of poems, stories, essays, editorials and books in English and in her native German. It is in recognition of her bilingual body of work that we have produced a bilingual collection of critical pieces and tributes.

Our title, Ich kann eigentlich nichts als lesen und schreiben (all I can really do is read and write), stems from Klüger’s description of her capacities in the documentary film, Landscapes of Memory or Das Weiterleben der Ruth Klüger (2011). While providing a modest assessment of her work, the statement also conveys her intense focus on the written word and her lifelong dedication to reading, writing, and interpreting texts for her readers and her students. Reading and writing were the air she breathed. Beginning in earliest childhood when she memorized Schiller ballads and scrutinized transit tickets, she developed a vast erudition that, combined with her extraordinary intuition, made it possible for her to produce exceptional literary texts – the fiction and poetry mentioned above – astute and original literary criticism, and autobiographical self-reflections grounded in wisdom and clear-eyed assessment of the various habits of the human species.

In one sense, Klüger’s great work was her life and she herself is the subject of many of these pieces, including several laudatios associated with the prizes and honorary degrees that were awarded to her. We have also collected critical accounts of Klüger’s own literary work, especially her poetry. Our volume contains significant material on both her original poetry and her many published interpretations of the poetry of others, as well as assessments of her inspiring critical work.

When she began publishing professionally, Klüger went by the name of Ruth Angress or R. K. Angress. Her first book appeared under the latter name, the 1971 monograph on the German Baroque epigram, The Early German Epigram. A Study in Baroque Poetry[23]. It was well received, with one reviewer writing: »Dr. Angress inaugurates the serious study of seventeenth-century German epigrammatic writing and gives this […] poetry the treatment it deserves but seldom gets: he is always to the point.«[24] The pronoun, likely prompted by a 1970s expectation that such genre-defining scholarship had issued from a masculine brain, evokes one of the core sets of values that guided Klüger’s work, namely her feminism. She regularly called out sexism and discrimination in classic texts, in the academy, and in public discourse and explored the issues of how women read and how men read, whether background determines understanding, and whether biological differences enable or inhibit scholarly production. Her subtle reasoning on these matters is already strongly evident in a paper she presented in 1975, called, somewhat wryly, German Studies: The Woman’s Perspective.[25]

Another factor in Ruth Klüger’s thinking and its application to her writing was her rock-hard sense of right and wrong and her will to see right endorsed and wrong exposed. She was an enemy of prejudice, having suffered from stereotyping and discrimination as a woman, a woman academic, and a Jew. She could identify the victim’s perspective in literary texts and films, even when it was being downplayed by the main narrative. Reading the biblical story of Abraham and Isaac, she bypassed Abraham’s patriarchal agonies and considered the boy about to be sacrificed. What did Isaac think when his beloved father bound him and raised the knife?[26] We need such readers, critics who can clearly see what is happening in literature and in life and how the Dominant Viewpoint tends to distort and impede our understanding. Our contributors to this volume show in various ways how Ruth Klüger brought us a fuller picture of human endeavor through her deep and multi-faceted engagement with literature and through her thoughtful communication of her life experience.

 

* * *

 

Wir danken allen sehr herzlich, die an dem Zustandekommen dieses Bandes beteiligt waren, den Beiträgern und Beiträgerinnen, die mit ihren Texten einen je eigenen Blick auf das Werk von Ruth Klüger ermöglichen. Unser Dank gilt auch dem Wallstein Verlag für die Aufnahme des Bandes in das Verlagsprogramm. Andrea Knigge hat im Verlag das Projekt betreut, ihr danken wir sehr für die inspirierende und konstruktive Zusammenarbeit. Auch Lisa-Marie Hempel (Berlin) gilt unser Dank, sie hat uns bei der Vorbereitung der Drucklegung des Bandes außerordentlich unterstützt.

Gesa Dane / Gail K. Hart,

Berlin – Irvine im Mai 2023

THEDEL V. WALLMODEN

Wie alles anfing

Die Veröffentlichung von weiter leben. Eine Jugend im Wallstein Verlag

Die enorme Wirkung, die Ruth Klügers Buch weiter leben. Eine Jugend seit der Veröffentlichung im Jahr 1992 entfaltet hat, hat auch eine Vielzahl von Fragen aufgeworfen. Diese beziehen sich sowohl auf die äußeren Bedingungen und das Zustandekommen der Publikation als auch auf erzähltheoretische Überlegungen sowie auf Fragen des eigenen Konzepts der Autorschaft der Schriftstellerin Ruth Klüger. Dazu sollen im Folgenden einige Aspekte beleuchtet werden, für die überlieferte Korrespondenz, Dokumente der Verlagsarbeit und auch die Erinnerung an Gespräche Hinweise geben können.

Zuerst ist vom Zustandekommen der Publikation zu berichten, um das sich, vermutlich auch wegen des überragenden Erfolgs, Mutmaßungen und Legenden angelagert haben. Dabei ist der äußere Rahmen schnell erzählt. Ruth Klüger hat hierüber selber Auskunft gegeben.

Ich kam zuerst im Jahre 1985 nach Göttingen, zur Tagung der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG). Diese Vereinigung war nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden und hatte sich jahrzehntelang wie die Katze um den heißen Brei um Deutschland herumgeschlichen und in anderen Ländern ihre Zelte aufgeschlagen. […] Aber 1985 war die Quarantäne vorbei, und die IVG kam nach Göttingen. Das wurde ein großes Volksfest unter der Leitung von Albrecht Schöne, in dem die ganze Stadt sich aufmachte, um die Menschen zu begrüßen, die in aller Herren Länder ihr Brot mit der Vermittlung der deutschen Sprache und Literatur verdienen. Der Himmel war blau, die Sonne schien durchgehend, so dass ich den Eindruck gewann, Göttingen sei ein erlesener Urlaubsort. […] Als die paar Tage um waren, war ich sicher, dass ich in dieses zauberhafte Göttingen zurückkehren wollte. Zwei Jahre später bot sich die Möglichkeit, das Kalifornische Studienzentrum in Göttingen zu leiten.[1]

Was die Autorin hier mit nonchalantem Understatement berichtet, lässt sich aber auch aus anderer Perspektive erzählen. Mit ihrem Plenarvortrag Wunsch- und Angstbilder: Jüdische Gestalten aus der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts[2] und ebenso mit ihrer heiteren Interpretation des Gedichts Der Rock[3] von Christian Morgenstern auf dem den Kongress abschließenden großen ›Zeltfest‹ war Ruth Klüger die herausragende und geradezu charismatische intellektuelle Persönlichkeit dieser akademischen Großveranstaltung. Schon allein die für sie typische und im Jahr 1985 im Wortsinne unerhörte Anrede des Auditoriums »Meine sehr geehrten Herren und Damen« ließ aufhorchen. Und nicht nur auf die jüngeren Zuhörer wirkte der offene und dialogische Vortragsstil, der auch Klügers wissenschaftliche Prosa kennzeichnet, ungemein attraktiv. Es entstand der unmittelbare Eindruck, gemeinsam über literarische Texte nachzudenken und in ein Gespräch einzutreten. Im Rückblick wird man leicht verstehen, dass diese akademische Sprechweise schon allein dadurch so gewinnend war, dass sie sich deutlich vom Gestus damaliger akademischer Mandarine abhob. Als Ruth Klüger dann im Juni 1988 nach Göttingen kam, um die Leitung des Kalifornischen Studienzentrums zu übernehmen, ergab es sich geradezu folgerichtig, dass sie auch als ständiger Gast in das Doktorandenkolloquium von Albrecht Schöne eingeladen wurde.

Da war ich vom ersten Tag an nicht mehr Touristin oder Besucherin, ich musste mich einrichten, ordentlich Deutsch reden, ich hatte Arbeit und Verpflichtungen […]. Durch die Beziehung zur Universität lebte ich zum ersten Mal unter Deutschen, vor allem auch jungen Deutschen, darunter mein späterer Verleger […].[4]

Die Treffen des Doktorandenkolloquiums, die gemeinsame Teilnahme an einer Tagung mit dem German Department der Hebräischen Universität in Jerusalem vom 2. bis zum 10. Dezember 1989[5] und nicht zuletzt der Umstand, dass Ruth Klügers damalige Göttinger Wohnung sich in der gleichen Straße befand, in der ich wohnte, bot die Gelegenheit für Begegnungen. So lassen sich viele der in weiter leben geschilderten Gespräche, bei denen die Problematik der Sagbarkeit des aus Wien, aus Theresienstadt und aus den Lagern Erinnerten mit den Erfahrungen der jüngeren deutschen Gesprächspartner konfrontiert wird, auf Gespräche zurückführen, die im Kontext von Seminarsitzungen, Mensabesuchen oder bei zufälligen Begegnungen auf der Straße stattgefunden haben. Erinnerungskultur, Geschichtspolitik, zeithistorische Forschungen zum Nationalsozialismus und natürlich vor allem die deutschsprachige Literatur von ihren Anfängen bis in die Gegenwart waren die Gesprächsthemen.

Im Kapitel »Epilog«[6] beschreibt Ruth Klüger ihren Verkehrsunfall am 4. November 1988 und die dabei erlittene schwere Schädel-Hirn-Verletzung mit »Hirnblutung«[7]. In späteren Gesprächen über diesen uns alle bewegenden Unfall, der sich ausgerechnet in unserer Stadt zugetragen hatte, hat sie immer wieder erwähnt, dass diese traumatische Körpererfahrung und der Kontrollverlust über Bewusstsein und Erinnerung geradezu notwendig in den Entschluss mündeten, »diese Erinnerungen zu schreiben«[8]. So begann sie im Frühjahr 1989 auf einem damals in Deutschland noch ziemlich ungebräuchlichen Laptop mit der Niederschrift des Buches.

Das entstehende Manuskript, das ergab sich ganz unmittelbar aus vielen Gesprächssituationen, kursierte dann im Verlauf des Jahres 1990 oder vielleicht schon etwas früher in ihrem damaligen universitären und freundschaftlichen Umfeld. So bekam auch ich irgendwann, nach meiner Erinnerung war es allerdings erst im Frühjahr 1991, die Gelegenheit zur Lektüre. Es wird nicht verwundern, dass ich von dieser Form des dialogischen Erzählens zwischen den Zeit- und den Erfahrungsebenen sofort fasziniert war. Was lag also näher, als Ruth Klüger die Publikation im Wallstein Verlag vorzuschlagen?

Aus der Feder eines Verlegers mag es selbstgerecht klingen, wenn man rückblickend konstatiert, wie überwältigend der Lektüreeindruck eines Manuskripts gewesen ist, zumal wenn das Buch später eine so anhaltende und diskursprägende Rezeption erfahren und einen so großen kommerziellen Erfolg erzielt hat, wie es dann bei weiter leben eingetreten ist. Wie auch immer: In diesem Fall kann es nicht anders beschrieben werden. Aber mit meinem Verlagsangebot war die Publikation noch keineswegs entschieden.

Wie selbstverständlich setze ich hier übrigens den Titel ein, den das Buch später tragen sollte: weiter leben. Eine Jugend. Allerdings stand die Titelformulierung zu diesem Zeitpunkt noch keineswegs fest. Wenn ich mich richtig erinnere, war das Manuskript, das ich lesen durfte, noch mit ›Aussageverweigerung‹ überschrieben. Ob es schon einen Untertitel gab, erinnere ich nicht. Aber von der Diskussion über den Titel wird noch zu berichten sein.

Weil es offenbar ein Topos ist, dass literarische Meisterwerke oft verkannt werden, rankt sich auch um weiter leben das Gerücht, das Buch sei von zahlreichen anderen Verlagen abgelehnt worden. Das trifft jedoch nicht zu. Vielmehr war es so, dass die Autorin über mein Verlagsangebot zwar erfreut war und sehr freundlich signalisierte, sich das Buch im damals in seinen allerersten Anfängen stehenden Wallstein Verlag im Prinzip vorstellen zu können, aber zunächst müsse die Antwort eines anderen Verlags abgewartet werden, dem sie das Manuskript angeboten habe. Für diese Anfrage habe sich ein alter Freund bei seinem Verlag verwendet. Dieser alte Freund, eine Bekanntschaft aus Ruth Klügers Sommersemester 1946 an der Regensburger Universität vor der Auswanderung nach Amerika, war Martin Walser. In weiter leben firmiert er noch als der Student Christoph.[9]

Walser also, »einer der angesehensten Schriftsteller Deutschlands«[10], hatte die Autorin bei der Arbeit am Manuskript bestärkt. Erst nach seiner Lektüre war sie sich »ganz sicher«[11] und schließlich war es sein brieflicher Applaus – »was Du für eine Schriftstellerin bist«[12] –, der die Entscheidung bekräftigte, den Text tatsächlich veröffentlichen zu wollen. Durch Vermittlung von Martin Walser lag das Manuskript also zur Prüfung im Suhrkamp Verlag, und ich machte mir wenig Hoffnung, dass sich die Gelegenheit zur Veröffentlichung in meinem jungen und damals sehr kleinen Verlag bieten würde.

Auch hatte Walser ausdrücklich geraten: »Und denk an keinen kleinen Verlag.«[13] So war die Verlagsfrage also aus meiner Sicht völlig in der Schwebe, bis ich folgenden Brief erhielt:

 

62 Whitman Ct.

Irvine, CA 92715

1. November 1991

 

Lieber Herr von Wallmoden,

 

anbei die Kopie eines Briefs an den Suhrkamp Verlag, den ich eben aufgegeben habe. Ich glaube tatsächlich nicht mehr, daß Unseld mein Manuskript haben will, eher daß er es schon längst abgelehnt hätte, wenn er den Autor seines Bestsellers, der es empfohlen hatte, nicht bei guter Laune halten wollte. Ich denke, ich geb ihm noch 14 Tage, höchstens drei Wochen. Hoffentlich haben Sie es sich seither nicht anders überlegt, und wollen mein Buch noch immer herausgeben. Übrigens könnte ich versuchen, Walser zu überreden, ein Vorwort dazu zu schreiben. Was meinen Sie?

Haben Sie eigentlich eine FAX Nummer? Wenn ja, schicken Sie sie mir bitte. Meine steht im Brief an Unseld.

Mir geht es dieser Tage gesundheitlich wieder besser, und ich möchte gerne wieder unterrichten, allerdings meine Stelle nur 50 % oder 60 % ausfüllen. Das durchzusetzen verursacht ein betäubendes Kreischen in der bürokratischen Maschinerie unserer Universität, so daß es vielleicht doch nicht gehen wird, obwohl mein Department es möchte und ich seit meiner Rückkehr nur mit liebenswürdigen und zuvorkommenden Menschen in der Verwaltung zu tun hatte. Es gibt zu viele Stellen, zu viele Behörden, nichts wird zentral verwaltet. Typisch für Amerika, Stärke und Schwäche dieses Landes, für mich im Augenblick nur ein Nachteil.

Auf jeden Fall komme ich nächstes Jahr wieder nach Deutschland, entweder im April (falls ich pensioniert bin) oder im Juni (falls ich wieder unterrichte).

 

Seien Sie herzlich gegrüßt. Ich melde mich so oder so noch einmal in diesem Monat.

Ihre

Ruth Kluger

 

Und hier der beigefügte Brief an den Suhrkamp Verlag:

 

Briefkopf der University of California, Irvine

1.11.1991

 

Herrn Dr. Siegfried Unseld

Suhrkamp Verlag

Postfach 101945

6 Frankfurt 1

 

Sehr geehrter Herr Dr. Unseld,

 

vor knapp drei Monaten sandte ich Ihnen, auf Anraten von Martin Walser, ein Buchmanuskript mit dem Titel Aussageverweigerung. Seither habe ich keine Nachricht von Ihnen erhalten, abgesehen von einer kurzen Bestätigung. Und so nehme ich an, daß die Chancen einer Veröffentlichung bei Suhrkamp oder Insel wohl gering sind. Nun hat sich ein guter Bekannter, der vor einigen Jahren einen kleinen Verlag in Göttingen gegründet hat, bereit erklärt, das Buch zu übernehmen. Da er eine Veröffentlichung im Frühjahr 1992 verspricht und mir die englischen Übersetzungsrechte überlassen will, an denen mir deshalb liegt, weil ich selbst im Begriff bin eine englische Fassung zu schreiben, die sich von der deutschen wesentlich unterscheidet, so würde ich gerne zusagen. Wenn das Manuskript doch noch bei Ihnen Aussichten hat, lassen Sie es mich bitte per FAX wissen. (Die Post ist langsam und hierzulande außerdem unverläßlich.) Meine FAX Nummer: 714 725-2379.

Die dazugehörige Adresse lautet:

Prof. R. Kluger

School of Humanities, German

UCI

Falls ich in absehbarer Zeit nichts höre, darf ich annehmen, daß Sie mein Manuskript nicht brauchen können.

 

Mit freundlichen Grüßen,

Ihre

Ruth Klüger

 

Die »14 Tage, höchstens drei Wochen« dauerte es nicht einmal, denn schon fünf Tage später traf die Absage des Suhrkamp Verlags als Fax bei Ruth Klüger ein:

 

Briefkopf: Suhrkamp Verlag

Dr. Dr. h.c. Siegfried Unseld

 

Frankfurt, 6. November 1991

 

Sehr geehrte Frau Klüger,

 

ich danke für Ihren Brief vom 9. August und für die Zusendung Ihres Manuskripts Aussageverweigerung. Alle, die es hier gelesen haben, sind sehr berührt vom Inhalt, von der Lebensgeschichte des jüdischen Mädchens, von ihrer Kindheit in Wien, ihren Erlebnisse[n] in der Nazizeit und ihren späteren Erfahrungen in den USA. Ihr Manuskript ist ebenso erschütternd wie bedrückend und erhellend. Es ist ein autobiographischer Text, und das ist vielleicht auch seine Schwäche. Jedes Leben und jedes Schicksal ist ein besonderes – gerade im Holocaust, aber als Autorin schaffen Sie nicht jene literarische Form, die es dem Leser möglich macht, Ihre Geschichte nachzuvollziehen, sich mit einem Teil Ihrer Geschichte zu identifizieren.

Bücher, die wir im Suhrkamp und Insel Verlag herausbringen, müssen in erster Linie literarischen Ansprüchen genügen. Bitte haben Sie Verständnis.

Das Manuskript schicken wir Ihnen mit gleicher Post zurück.

 

Mit freundlichen Grüßen

Siegfried Unseld

 

Damit war die Verlagsentscheidung gefallen, und wir konnten mit der Arbeit an dem Buch beginnen. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei betont, dass ich den Absagebrief des Verlegers Siegfried Unseld hier nicht aus Rechthaberei und schon gar nicht mit einem Unterton von Häme mitteile. Wer über Jahre in einem Verlag oder einem Lektorat Entscheidungen zu treffen hatte, wird seine eigene Liste von Fehlern und Fehlentscheidungen vorlegen können. Es ließe sich wohl für jeden und jede eine Liste der Manuskriptabsagen zusammenstellen, bei denen man sich im Nachhinein die Augen reibt und nur wundern kann, wie derartige Fehler passieren können.

Ruth Klüger hat die Formulierung »ebenso erschütternd wie bedrückend« später oft in Gesprächen zitiert, und es bedarf keiner weiteren Erklärung, dass sie diese Lesart ablehnte. Ich fand damals wie heute allerdings mehr noch das ästhetische Urteil im Brief überraschend, das Manuskript genüge den »literarischen Ansprüchen« des Verlags nicht. Ich hatte den Text vom ersten Satz an als »sprachliches Kunstwerk« wahrgenommen, eine Formulierung, auf die Ruth Klüger später in unseren Gesprächen nicht unzufrieden, aber doch gerne ironisch reagiert hat.

Den Ablehnungsbrief hat sie später in den größeren Zusammenhang eines gescheiterten Kontaktes zum Suhrkamp Verlag und zu Siegfried Unseld gestellt.[14] Diese Details werden aber wohl erst durch spätere Briefveröffentlichungen und durch die im Entstehen begriffene Biographie, an der Irene Heidelberger-Leonard arbeitet, geklärt werden.

In der Rückschau ist auch bemerkenswert, dass der mit Datum vom 13.12.1991 von mir unterschriebene und dann zur Unterschrift nach Amerika geschickte Verlagsvertrag bereits, so wie in Ruth Klügers Brief an Siegfried Unseld erwähnt, tatsächlich unter »§ 1 Verlagsrecht. Ausgenommen ist das Recht einer Bearbeitung und Übersetzung in englischer Sprache« die Nicht-Übertragung der englischsprachigen Rechte formuliert. Wir hatten über diese Ausschlussklausel schon früh bei meinem Verlagsangebot gesprochen, und die Autorin hatte zwei Gründe genannt, weshalb sie die englischsprachigen Rechte vom Vertrag auszunehmen wünschte. Der eine Grund war der lange gefasste und auch bereits im Brief an Siegfried Unseld erwähnte Plan, das Buch selbst zu übersetzen.

In einem Brief vom 12.12.1991 schreibt Ruth Klüger an mich: »Die englische Version wird sich an mehreren wesentlichen Stellen von der deutschen unterscheiden. (Die Göttinger Komponente wird weitgehend wegfallen und angeredet werden vor allem die amerikanischen jungen Leute, die ich kenne, meine Studenten, meine Kinder.)«

Deshalb müsste und sollte diese Übersetzung, darüber hatten wir ausführlich gesprochen, keine wörtlich exakte Übersetzung sein. Auch hierin wird deutlich, wie sehr das Buch einem literarischen Erzählkonzept folgt, da es für ein deutsches Publikum auf Intertextualität setzt, indem hierzulande sehr bekannte wie auch weniger bekannte Texte sowohl als memorierte Gedichte eine Funktion übernehmen als auch als Teil von kollektiver Textkenntnis der Leser einen Bedeutungshorizont konstituieren. Für Letzteres ist der Osterspaziergang aus Goethes Faust[15] vielleicht das sinnfälligste Beispiel. Es ist sofort nachvollziehbar, dass ein textuelles Vorwissen und Verständnis eine Bedeutungsaufladung bewirkt, die sich nicht deutschsprachigen Lesern nicht gleichermaßen erschließt. Eine direkte Übersetzung könnte diese intertextuelle Dimension zwar adäquat abbilden, aber nicht funktional äquivalent nachbilden. Diesen Transfer in die amerikanische Erinnerungskultur und möglicherweise auch in den amerikanischen literarischen Kanon wollte sich die zweisprachige Schriftstellerin Ruth Klüger verständlicherweise selbst vorbehalten.

Der zweite Grund, die englischsprachigen Rechte nicht an den Wallstein Verlag zu geben, war privater Natur. Die Autorin hatte den Wunsch, ihrer damals 89-jährigen Mutter die Publikation vorzuenthalten. Emotionale Rücksichten, die in der Schilderung der komplexen Mutter-Tochter-Beziehung begründet sind, liegen auf der Hand. Angesichts der früh eintretenden großen internationalen Resonanz hat sich der Plan, dieses Buch nur in Deutschland – und in Amerika unbemerkt – zu publizieren, später als Illusion erwiesen. Aber das ahnten Autorin und Verlag zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht. Mir jedenfalls schien es durchaus plausibel, dass ohne eine englische Übersetzung niemand in Amerika von dem Buch erfahren würde.

Erst neun Jahre nach der deutschen Ausgabe erschien das Buch in Ruth Klügers eigener englischer Fassung unter dem Titel Still Alive. A Holocaust Girlhood Remembered im Verlag The Feminist Press. Alma Hirschel war im Jahr zuvor verstorben. Aber natürlich hatte sie über Freunde aus Europa von dem Erfolg des Buches gehört und – so erzählte die Autorin – keineswegs an der Darstellung Anstoß genommen. Alma noch in Irvine getroffen zu haben und in der kalifornischen Sonne Margaritas mit ihr getrunken zu haben, gehört zu den eindrücklichsten Begegnungen, die ich dem Buch verdanke.

In die 1992 erschienene Ausgabe weiter leben. Eine Jugend setzte die Autorin die Widmung »Den Göttinger Freunden – ein deutsches Buch«. Die neun Jahre später erschienene englische Fassung Still Alive. A Holocaust Girlhood Remembered, New York 2001, trägt die Widmung »In memory of my mother / Alma Hirschel / 1903 – 2000«.

Zum Umgang mit dem Verlagsrecht an Ruth Klügers Buch gehört noch eine weitere Verabredung, die wir mündlich getroffen haben, ohne sie zu irgendeinem Zeitpunkt zu verschriftlichen. Aber diese Verabredung galt für mehr als zehn Jahre nach Erscheinen von weiter leben. Sie betraf die im Buch enthaltenen Gedichte. Die Autorin wünschte, der Verlag sollte ausnahmslos alle Anfragen, diese Gedichte in Anthologien, Zeitungen und sogar in Schulbüchern separat nachzudrucken, abschlägig beantworten. Es gab später zahlreiche Lizenzanfragen, aber der Verlag hat sich strikt an diese Vereinbarung gehalten. Ruth Klüger vertrat in jenen Jahren den Standpunkt, ihre Gedichte seien nicht als eigenständige Lyrik aufzufassen, sondern hätten ihren literarischen Ort nur im Kontext der Erzählung. Spätestens mit dem Band Zerreißproben. Kommentierte Gedichte[16] hat sie diese Position zumindest in Teilen revidiert. Dort steht jedes Gedicht allein auf einer Seite für sich, wie es als typographische Anordnung von Gedichten üblich ist. Zugleich ist ihnen aber auf der jeweils folgenden Seite ein Kommentar beigegeben, der die Unmittelbarkeit des Gedichts aufhebt und es wieder in einen von der Autorin selbst hergestellten Deutungs- und Kommentierungsrahmen stellt.

Wenn ich eingangs nach Ruth Klügers Konzept von Autorschaft fragte, so wäre eine mögliche Antwort, dass sie sich schon sehr früh als Lyrikerin verstanden hat. Von der Bedeutung, die gebundene Sprache für sie hatte, hat Ruth Klüger ohnedies immer wieder gesprochen und geschrieben. Ganz abgesehen davon, dass sich ein großer Teil ihrer wissenschaftlichen und literaturkritischen Arbeiten, beginnend mit der Dissertation,[17] mit Lyrik befasst, finden sich in weiter leben zahlreiche Hinweise darauf, wie überlebenswichtig das Memorieren und Aufsagen von Gedichten und das eigene Gedichteschreiben für sie war. Und dennoch: Als Konzept ihrer Autorschaft hat sich Ruth Klüger, nach meiner Einschätzung, nie eindeutig als Lyrikerin definiert. Auch hat sie nie einen Gedichtband im strengen Sinne veröffentlicht, denn Zerreißproben folgt einer Textpräsentation, die sich von Gedichtbänden anderer Autorinnen und Autoren unterscheidet. In Gedichtbänden ist es normalerweise nicht üblich, dass Autoren ihre Texte selbst interpretieren. Ein Ausdruck dieser Ambivalenz scheint mir der zuvor erwähnte Wunsch gewesen zu sein, der Ruth Klüger bewogen hat, den Verlag zu bitten, die Gedichte aus weiter leben nicht separat zum Nachdruck freizugeben. Zugleich hat ihre lebenslange lyrische Textproduktion zum Ausdruck gebracht, dass sie sich, wenn auch mit starker Ambivalenz, als Dichterin verstand. Dieser Widerspruch im Konzept ihrer Autorschaft lässt sich am Beispiel eines Briefs der von Ruth Klüger außerordentlich geschätzten Gertrud Kolmar verdeutlichen. Geradezu als Gegenmodell zu einer literarischen Autorin postuliert Kolmar im Brief an ihre Schwester: »Ich bin eine Dichterin, ja, das weiß ich; aber eine Schriftstellerin möchte ich niemals sein.«[18]

Im Brief vom 1. November 1991 hatte Ruth Klüger auch erwähnt, sie »könnte versuchen, Walser zu überreden, ein Vorwort dazu zu schreiben«, und die Frage angeschlossen: »Was meinen Sie?« Ich habe es damals für keine gute Idee gehalten und den Gedanken nicht einen Moment verfolgt. Mir schien, dies berge in mehrfacher Hinsicht das Risiko von Missverständnissen. Ein Vorwort, das auf literarische Prominenz setzte, hätte in meinen Augen einen falschen Unterton gehabt. So etwas ist verlegerisch möglich, vielleicht sogar manchmal sinnvoll, wenn die Schreibweise des Werks, für das um Aufmerksamkeit geworben werden soll, und die Schreibweise der sich dafür verwendenden Autorität einander verwandt sind. Möglich ist es auch, wenn es Verbindungen über das Sujet gibt. Aber diese Konstellationen sind selten. Mir schien die Gefahr zu groß, es könnte als gönnerhafte Geste verstanden werden –, natürlich ohne dass Martin Walser dies intendiert hätte. Auch erinnerte es zu sehr an die Praxis des 18. und 19. Jahrhunderts, als Autorinnen der Fürsprache männlicher Autoren bedurften oder sich sogar männlicher Pseudonyme bedienten, um die Seriosität oder Ernsthaftigkeit ihrer Texte zu untermauern. Es gab also gute Gründe, nicht auf diesen Vorschlag einzugehen, bei dem Ruth Klüger an die wirtschaftlichen Interessen des Verlags gedacht haben mag. Aber ganz besonders deshalb wünschte ich kein Nachwort und schon gar kein Vorwort, weil ich fand, dass dieses Buch es nicht nötig hatte.

Nachworte und Vorworte berühren die Frage, ob man im Literaturbetrieb etwas von der Aura oder Resonanz eines Werks auf ein anderes übertragen kann. Das trifft beispielsweise bei Rezensionen aus prominenter Feder zu, die womöglich an strategischen Punkten der Medienlandschaft und zu strategisch gewählten Zeitpunkten im Wettbewerb um Aufmerksamkeit platziert werden. Es ist möglich, dadurch Wirkungen im literarischen Feld zu erzielen. Mit viel Erfahrung und guter Vernetzung kann man versuchen, solche Dinge zu planen. Manchmal gelingt es sogar.

Als Ruth Klügers Buch im Sommer 1992 erschien, verfügten wir nicht im Entferntesten über die Möglichkeit, mit solchen Strategien der Aufmerksamkeitsökonomie zu agieren. Und dennoch gab es für mich einen Aspekt von Anschluss an die Aura eines anderen Werkes, den ich mehr als dreißig Jahre nach dem Erscheinen von weiter leben immer noch richtig finde, obwohl ich ihn damals in seiner Funktionalität naiv überschätzt habe.

Etwa gleichzeitig mit Ruth Klügers Manuskript hatte ich die Erzählung Die Absonderung[19] von Georges-Arthur Goldschmidt gelesen. Ich war von der Erzählweise dieses Buchs, das heute ebenfalls als kanonisches Werk der Holocaust-Literatur gilt, vollkommen überwältigt. Diese literarische Gestaltung einer inneren Wirklichkeit der erlebten Ausgrenzung und Verfolgung bedeutete für mich geradezu einen Paradigmenwechsel unter den Werken, die üblicherweise als Holocaust-Literatur bezeichnet werden. Das 1991 im Verlag von Egon Ammann erschienene Buch hat einen anthrazitfarbenen Schutzumschlag, in den ein Foto montiert ist, das unverkennbar den jungen Goldschmidt zeigt. Um eine visuelle Verbindung zu diesem für mich in vieler Hinsicht benachbarten Buch herzustellen, bat ich den Gestalter, auch für weiter leben einen anthrazitfarbenen Fond zu verwenden.

Wenn ich heute den Umschlag der Erstausgabe betrachte, kommt er mir mit seiner Montage von vier kleinen Bildern, jedes in einer der vier Grundfarben des Farb-Offsetdrucks – Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz –, auf einem anthrazitfarbenen Fond ungelenk und überfrachtet vor. Die vier Abschnitte des Buchs – Wien, die Lager, Deutschland, New York – sind repräsentiert durch ein Foto vom Stephansdom, eines vom Lagertor von Auschwitz-Birkenau, durch ein Foto vom Göttinger Gänselieselbrunnen und durch ein Foto der Skyline von New York.

Dieser naive Versuch, ein Buch durch farbliche Korrespondenz mit einem anderen Buch visuell oder gestalterisch in Verbindung zu bringen und dadurch eine Überleitung in der Rezeption herzustellen, ist weder damals noch später bemerkt worden.

Vor einiger Zeit habe ich Georges-Arthur Goldschmidt davon erzählt. Er hat sich gefreut, dass sein Buch Die Absonderung in einem Atemzug mit einem anderen Meisterwerk genannt wird.

Schon früh hat Sigrid Bauschinger darauf hingewiesen, dass weiter leben einerseits vieles mit der, wie sie es nennt, »Shoa-Literatur«[20] gemeinsam hat, sich zugleich aber auch in vieler Hinsicht von den Büchern überlebender Männer unterscheidet. Während andere Bücher, die man mit weiter leben verglichen hat, von Frauen geschrieben wurden, die nicht überlebt haben, allen voran das Tagebuch der Anne Frank, hat Ruth Klüger selbst auf die große Bedeutung hingewiesen, die das Buch Gebranntes Kind sucht das Feuer[21] der Überlebenden Cordelia Edvardson für ihr eigenes Schreiben gehabt hat.[22] Anhand von Edvardsons Buch argumentiert Klüger, dass »die Ichform […] auch die angemessene Form der formalen Zeugenaussage« ist und sich zugleich bei »manchen Werken eine solche Last des Ichgefühls« einstellt, »daß die Autoren dieses Ich spalten«[23].

Bezeichnenderweise trägt Edvardsons Buch die Gattungsbezeichnung ›Roman‹, obwohl niemand auf die Idee kommen würde, das Buch als fiktionalen Text zu lesen. Die Gattungsbezeichnung ›Roman‹ verweist vielmehr auf Literarizität und eine literarische Erzählstrategie. Insofern war Ruth Klügers Manuskripttitel ›Aussageverweigerung‹ mit seiner Negation plausibel, handelte es sich hier doch explizit nicht ausschließlich oder vordergründig um eine »formale[ ] Zeugenaussage«.

Die Publikation eines Textes, der in hohem Maße das erzähltheoretische Problem der Differenz von erinnerter erzählter Zeit und dem Zeitpunkt des Erzählens reflektiert, war deshalb mit dem Problem der Titelformulierung ebenso wie mit der Frage konfrontiert, ob dem Titel auch eine Gattungsbezeichnung oder ein Untertitel hinzugefügt werden sollte. Das eben erwähnte Buch von Georges-Arthur Goldschmidt trägt die Gattungsbezeichnung ›Erzählung‹. Sieht man einmal davon ab, dass der Gebrauch von Gattungsbezeichnungen für Prosa ab einem bestimmten Seitenumfang einigermaßen schwankend ist, so haben doch die Bezeichnungen ›Erzählung‹ und ›Roman‹ den Aspekt von Literarizität und mithin auch von Fiktionalität gemeinsam.

Übertragen auf die Überlegungen zu Titel und Untertitel von Ruth Klügers Buch erschien jedoch die Bezeichnung ›Roman‹ unpassend. Hier galt es, eine Titelformulierung zu finden, die einerseits Literarizität, also ein literarisches Erzählverfahren, signalisierte und zugleich das Missverständnis ausschloss, dass es sich bei dem Text um Fiktion, um erfundene Wirklichkeit handelt. Vor diesem Hintergrund sind auch Ruth Klügers oben zitierte Überlegungen zur »Ichform« im Kontext einer Zeugenaussage wichtig, um zu verstehen, warum der ursprüngliche Manuskripttitel Aussageverweigerung nicht beibehalten wurde.

Deshalb will ich zumindest in Umrissen die damals erwogenen Titelformulierungen und die Diskussion nachzeichnen, die schließlich zum endgültigen Titel führten. Buchtitel sind rezeptionsleitende Signale, und zusammen mit dem Buchumschlag ›plakatieren‹ sie förmlich eine Leseanweisung. Deshalb verdienen die erwogenen und verworfenen Titel für das Buch, das als weiter leben. Eine Jugend seinen Weg gemacht hat, Aufmerksamkeit und haben diese in der Forschung bereits gefunden.[24]

Wie oben erwähnt, ist im Verlagsvertrag vom 13. Dezember 1991 bereits der spätere Titel weiter leben als Haupt- und Eine Jugend als Untertitel festgehalten. Wann der frühere Manuskripttitel ›Aussageverweigerung‹ verworfen wurde, erinnere ich nicht mehr. Möglich ist auch, dass andere Leserinnen und Leser Argumente gegen den Titel vorgebracht hatten, die trotz der Negation mit dem überdeutlichen Verweis auf Faktizität begründet waren, anstatt die Literarizität des Erzählverfahrens zu betonen. Denkbar ist auch, dass uns ›Aussageverweigerung‹ als negative Formulierung ganz einfach nicht zur Lektüre des Buches einzuladen schien. Jedenfalls bestanden wohl Zweifel, ohne dass der Titel ›Aussageverweigerung‹ zu diesem Zeitpunkt schon völlig verworfen worden wäre.

Am 19. November 1991 schrieb Ruth Klüger:

 

Lieber Herr von Wallmoden,

 

[…] Zur Zeit gefällt mir der Titel ›Aufenthalte‹ am besten. Was meinen Sie? Das ist wie ›Stationen‹ ohne die unwillkommene religiöse Anspielung. Könnten Sie herausfinden, ob das ein geschützter Titel ist? Er würde auch zu Ihrem vorgeschlagenen Umschlag passen.

 

Offenbar war auf diesen gefaxten Brief ein Telefonat gefolgt, denn am 25. November 1991 heißt es in einem Brief von mir: »Über die Titelfrage konnten wir uns noch nicht einigen.«

Am 28. November 1991 folgte ein ausführlicher Brief von mir, in dem es abermals um die Titelfrage ging:

 

Liebe Frau Klüger,