Ich konnte nichts für dich tun - Eva Terhorst - E-Book

Ich konnte nichts für dich tun E-Book

Eva Terhorst

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Beschreibung

Der Tod eines geliebten Menschen ist besonders schwer zu verarbeiten, wenn dieser den Weg des Suizids gegangen ist. War es eine Tat aus akuter Verzweiflung oder die Folge einer langjährigen Depression? Gab es Anzeichen? Hätte ich etwas tun können? Erschwerend kommt hinzu, dass der Suizid in unserer Gesellschaft weitgehend tabuisiert ist. Die Trauerberaterin und Autorin Eva Terhorst bietet konkrete Informationen und Hilfestellungen, um diese schwere Zeit besser zu bewältigen. Sie zeigt betroffenen Angehörigen auf, wie sie jenseits von Schock, Entsetzen und Schuldgefühlen ihren Weg der Trauer finden können.

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Eva Terhorst

Ich konnte nichts für dich tun

Trauern und weiterleben

nach einem Verlust durch einen Suizid

 

 

 

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Arunas Gabalis – shutterstock

Autorenfoto: © privat

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

 

ISBN (E-Book) 978-3-451-80848-7

ISBN (Buch) 978-3-451-60020-3

Inhalt

Einleitung
Teil I: Suizid verstehen
Kapitel 1: Zahlen und Fakten
Definition und Sprachgebrauch
Warum es wichtig ist, über Suizid Bescheid zu wissen
Der Konflikt zwischen der Furcht vor Nachahmung und dem Bedarf an Aufklärung
Erschütternde Zahlen
Traurige Fakten
Falsche Vorstellungen über Suizid
Kapitel 2: Suizid in der Geschichte und in der Sicht verschiedener Religionen und Gesellschaften
Warum es wichtig ist, über vergangene und andere Haltungen zu Suizid Bescheid zu wissen
Suizid in der Geschichte
Suizid in der Sicht verschiedener Religionen und Gesellschaften
Suizid in der Diskussion: Suizid auf Verlangen und Sterbehilfe
Kapitel 3: Ursachen für Suizid
Niemand ist »suizidal«
Innere Faktoren
Äußere Faktoren
Stigmatisierung von suizidgefährdeten, depressiven und psychisch kranken Menschen
Spätfolgen von Übergriffen und psychischer oder sexueller Gewalt
Teil II: Trauer bei Suizid
Kapitel 4: Das große Warum
Warum habe ich nicht bemerkt, wie schlecht es dir geht?
Warum bin ich meinem Gefühl nicht gefolgt?
Warum schien es keinen Ausweg zu geben?
Wie einsam muss sich das anfühlen?
Das Urvertrauen ist erschüttert
Die Sehnsucht wird immer größer
Kapitel 5: Schuld und Schuldgefühle
Schuldgefühle machen Sinn
Schuldgefühle und Angst
Kapitel 6: Die Kraft der Trauer
Wie kann ich nach dem Suizid eines nahen Angehörigen weiterleben?
Wie kann ich das Leben eines Menschen würdigen, der dieses Leben selbst beendet hat?
Zu sich finden: Wie Trauer hilft
Was kommt jetzt, wie geht es weiter? – Über die Phasen der Trauer
Warum geht es mir noch immer so schlecht?
Wenn Innen und Außen wie ein riesiges Durcheinander erscheinen
Kapitel 7: Über den Umgang Ihres Umfelds mit Ihnen – und wie Sie dem begegnen können
Hilflose und verunsicherte Freunde und Bekannte
Wie Sie anderen begegnen können
Kapitel 8: Wo Sie als Angehöriger Hilfe bekommen
Trauerbegleitung
Therapeutische Begleitung
Traumatherapie
Wegweiser zu professionellen Hilfen
Teil III: Suizidprävention
9. Kapitel: Wenn Hilfe möglich ist
Stufen der Vorbereitung eines Suizids
Mögliche Anzeichen für einen bevorstehenden Suizid
Was nicht hilft
Was helfen kann
Verhaltensregeln bei akuter Suizidgefahr
Wohin Sie sich wenden können
Depression rechtzeitig behandeln
Empfehlungen für die Lektüre
Glossar zu Trauma und Traumatherapie
Wegweiser zu den Affirmationen, Übungen und Traumreisen
Über die Autorin

Einleitung

Mit dem Tod eines geliebten Angehörigen zurechtzukommen, ist eine der größten Herausforderungen, die das Leben uns abverlangt. Als Angehörige bleiben wir oft hilflos und überfordert zurück. Wenn ein Mensch sein Leben gelebt hat und dann ganz natürlich aufgrund von Altersschwäche und schwindender Lebenskraft hi­nübergeht, ist der Tod jedoch meistens leichter zu akzeptieren, als wenn ein Mensch nach unserem Empfinden vor seiner Zeit geht, wenn wir das Gefühl haben, er hätte sein Leben oder zumindest einen Teil davon noch vor sich gehabt. So ist der Verlust eines geliebten Menschen durch eine tödliche Krankheit oder einen Unfall ein von den Angehörigen schwer zu tragendes Schicksal. Wurde der Tod wie bei Suizid vom Verstorbenen selbst herbeigeführt, dann ist es eine kaum zu bewältigende Aufgabe, zu verstehen und zu akzeptieren, dass dieser Mensch selbstbestimmt seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Die Fragen nach dem »Warum«, nach den Ursachen, nach der Schuld oder Mitschuld, nach den Möglichkeiten, ob und wie dieser äußerste Schritt hätte verhindert werden können, graben sich tief in die Seele. Sie rauben betroffenen Angehörigen und Freunden den Schlaf und den inneren Frieden.

Der erste Teil des Buchs steht unter der Überschrift »Suizid verstehen« – denn dies ist ein großes Anliegen von betroffenen Angehörigen; zudem kann ein besseres Verständnis über die vielfältigen Aspekte von Suizid ein wesentlicher Beitrag dazu sein, dass häufiger verzweifelte Menschen diesen Weg doch nicht gehen und sich rechtzeitig Hilfe holen.

Suizid ist hierzulande die dritthäufigste Todesursache und wird in unserem und auch in anderen Kulturkreisen massiv tabuisiert. Suizid totzuschweigen hat damit zu tun, dass Nachahmungstaten befürchtet werden; doch andererseits ist Aufklärung wichtig. Über den Konflikt zwischen beidem und darüber, warum es wichtig ist, über Suizid Bescheid zu wissen, erfahren Sie mehr im ersten Kapitel, in dem es um Zahlen, Fakten und Hintergründe von Suizid geht.

Im zweiten Kapitel werfe ich einige Schlaglichter darauf, wie Suizid in der Vergangenheit gesehen wurde und in verschiedenen Kulturen und Religionen heute gesehen wird. Diesen Abschnitt halte ich so knapp wie irgend möglich, doch es ist wichtig, dass wir uns für die große Bandbreite der Haltungen, die es zu Suizid gab und gibt öffnen. Dies ist die Grundlage dafür, besser verstehen zu können.

Anschließend werden die verschiedenen Ursachen von ­Suizid beschrieben; dabei gehe ich auf die möglicherweise »inneren« Ur­sachen, wie genetische oder seelische, ebenso ein wie auf eher »­äußerliche« Auslöser, wie beispielsweise den Verlust eines geliebten Menschen oder finanziellen Ruin. Außerdem befasst sich ein Abschnitt mit den Folgen der Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen und Suizid sowie mit Spätfolgen von Gewalt.

Im zweiten Teil werden die Wege der Trauer bei Suizid beschrieben, die Schwierigkeiten und Hürden ebenso wie die Möglichkeiten, die sich betroffenen Angehörigen dennoch bieten. Zuerst, im vierten Kapitel, geht es um die drängenden Warum-Fragen, die sich betroffene Angehörige wieder und wieder stellen: Warum konnte ich nichts für dich tun? Warum konnte es geschehen, dass ich meinem geliebten Menschen nichts angemerkt habe? Warum hat er, warum hat sie nicht mit mir gesprochen?

Im fünften Kapitel wird das bei Suizid schwierigste Thema behandelt, das nahezu alle Angehörige und Freunde beschäftigt, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß: Schuld und Schuldgefühle.

Danach geht es um die Kraft der Trauer, um das Weiterleben, auch um die Würdigung des Lebens des Verstorbenen, der sein Leben selbst beendet hat. Und es gibt Anregungen, wie Angehörige in dieser Zeit für sich sorgen können.

Im siebten Kapitel gehe ich ausführlich darauf ein, wie Familienmitglieder, Freunde, Bekannte, Kollegen mit Suizid umgehen – und wie betroffene Angehörige wiederum damit zurechtkommen können. Denn da Suizid noch immer tabuisiert wird, sind die Reaktionen im Umfeld oft hilflos, nicht unterstützend, eher entkräftend und belastend.

In vielen, in wohl den meisten Fällen ist es für Angehörige zu schwer, den Verlust ihres geliebten Menschen durch Suizid allein beziehungsweise mit – verunsicherten – Familienangehörigen und Freunden zu bewältigen. Darum werden im achten Kapitel professionelle Hilfsangebote aufgezeigt.

Im abschließenden dritten Teil geht es um Suizidprävention. Es werden Hinweise für Menschen gegeben, die meinen, eine Person in ihrem nahen Umfeld zu haben, die möglicherweise suizidgefährdet ist: Was hilft nicht und was kann in bestimmten Situationen vielleicht helfen?

Mit diesem Buch versuche ich, mich dem Thema Suizid (oder wie früher gesagt wurde »Selbstmord«) so gut es geht anzunähern. Dabei begegnet mir eine Vielfalt von Gründen und Ursachen für den finalen Schritt. Einige davon sind zwar nicht für alle, aber für eine breitere Masse nachvollziehbar, wie der sogenannte Freitod bei einer quälenden und tödlichen Krankheit, bei der Sterbehilfe in Anspruch genommen wird. Andere Gründe, sich selbst das Leben zu nehmen, erscheinen uns als nie und nimmer hinnehmbar. Genau deshalb lohnt es sich, genauer hinzusehen und mehr davon zu verstehen, denn je aufgeklärter wir alle über diese häufige Todesursache sind, umso eher sind wir in der Lage, mit dem Geschehen umzugehen. Möglicherweise können wir in einer bestimmten Situation bereits im Vorfeld kompetenter handeln und in manchen Fällen dazu beitragen, andere Lösungen für eine scheinbar ausweglose Lage zu finden.

Es ist für mich beim Schreiben dieses Buchs eine große Herausforderung gewesen, die Balance zu halten zwischen dem Verständnis für die Menschen, die sich das Leben genommen haben, und für die, die nun damit leben müssen, dass ein geliebter Mensch nicht mehr weiterleben wollte beziehungsweise konnte. Eben diese Balance herzustellen ist auch immer wieder die Herausforderung für betroffene Angehörige: den geliebten Menschen zu verstehen und andererseits die eigenen Fragen und Bedürfnisse in den Blick zu nehmen.

Als liebende Tochter einer mit Sicherheit liebenden Mutter, die sich das Leben genommen hat, und als Trauerbegleiterin habe ich persönlich und beruflich viel mit diesem Thema zu tun. Ich wünsche mir, dass ich mit diesem Buch den durch Suizid betroffenen Angehörigen Orientierung und einen Leitfaden geben kann, sodass sie dieses schwere Thema besser in ihr Leben integrieren können. Denn nach dem Suizid eines geliebten Menschen gehört es nun zu der eigenen Biografie, Angehöriger eines Suizid-Opfers zu sein. Das zu akzeptieren und den Verlust des geliebten Menschen zu bewältigen kann einen schweren und langen Weg bedeuten. Auf diesem Weg möchte ich Sie mit meinem Buch unterstützen.

Teil I: Suizid verstehen

Kapitel 1: Zahlen und Fakten

Definition und Sprachgebrauch

Suizid ist die vorsätzliche Beendigung des eigenen Lebens. Einem Suizid gehen objektive und/oder subjektive Einengungen voraus, die durch seelische, körperliche, kulturelle und ideologische Ursachen bedingt sind.

Das früher gebräuchliche Wort »Selbstmord« wird nicht mehr verwendet, denn Mord liegen laut Strafgesetzbuch Eigenschaften wie Heimtücke, Grausamkeit, Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier, sonstige niedere Beweggründe und Ermöglichungs- oder Verdeckungsabsichten zugrunde. Das trifft auf Menschen, die Suizid begehen, nicht zu; sie befinden sich in höchster seelischer Not und sind keine Mörder.

Auch der Begriff »Freitod« wird heute vermieden, da es der Handlung etwas Freiwilliges, Selbstbestimmtes und Romantisches beigibt, was nicht der Realität entspricht.

Warum es wichtig ist, über Suizid Bescheid zu wissen

Dieses Buch ist vor allem für Menschen gedacht, die einen geliebten Menschen durch Suizid verloren haben und nun an sich und der Welt zweifeln. Sich selbst zu töten gilt als letzter Ausweg, doch oftmals wird es gar nicht bemerkt, dass es jemandem so schlecht geht, dass er nicht mehr leben kann. Manchmal ist es sogar so, dass Menschen, die nach außen hin sehr fröhlich oder sogar glücklich erscheinen, ihr Leben selbst verkürzen. Für Angehörige und Freunde ist das mehr als erschütternd und überhaupt nicht nachvollziehbar. Darum ist es wichtig, mehr über die Hintergründe von Selbsttötungen zu erfahren. Wenn ein Suizid in unserem nahen Umfeld geschieht und wir uns nur oberflächlich und mit Halb­wissen damit beschäftigen, kann das zu Gedankengängen führen und uns in Gefühlswelten bringen, die uns nicht weiterhelfen, sondern im Gegenteil bewirken, dass wir uns in unserem bisher geborgenen Umfeld unsicher fühlen und Schuldgefühle entwickeln. Meistens sind Schuldgefühle in solchen Fällen unbegründet, doch um das herauszufinden, benötigen wir tiefergehende Informationen.

Im Ganzen gesehen unterscheiden sich Suizide, und seien sie sich in manchen Fällen noch so ähnlich. Einige der vielfältigen Informationen in diesem Buch mögen daher für Ihren persönlichen Fall gänzlich unwichtig erscheinen, andere geben Ihnen Hinweise und Aufschluss auf die bestimmte Situation, in der der Mensch, den Sie verloren haben, gesteckt haben könnte. Die ausführlichen Informationen über Suizid und Trauer sollen Ihnen helfen, den Verlust und das Geschehen zu bewältigen. Ich möchte Sie auch zu Verständnis dafür geleiten, dass es völlig in Ordnung ist, sich unter diesen Umständen komplett überfordert zu fühlen, und dass es manchmal wichtig ist, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auch darüber Bescheid zu wissen ist wichtig.

Zudem sollten wir wissen, wie wir handeln können, wenn es Anzeichen dafür gibt, dass es jemandem nicht gut geht und er möglicherweise suizidgefährdet ist. Besonders empfänglich für solche Anzeichen sind oft Personen, die einmal den Suizid eines geliebten Menschen erleben mussten. Es ist wichtig zu wissen, wie wir die betreffende Person ansprechen und ihr helfen können.

Natürlich ist Suizid ein sehr belastendes Thema, mit dem sich keiner freiwillig beschäftigen möchte. Also befassen wir uns erst dann damit, wenn es zu spät ist. Kennen wir uns aber besser darin aus, brauchen wir nicht mehr so viel Angst und Abwehr dagegen zu haben. Es kann uns nicht mehr so leicht beherrschen, denn wir haben Handwerkszeug zur Verfügung, um damit umzugehen. Das macht uns stärker und mutiger, und so kann es möglich sein, dass wir jemandem in seinen dunkelsten Zeiten einen Weg aufzeigen können.

Sterben gehört zu unserem Leben und die jährlichen Zahlen bestätigen, dass Suizid für viele unserer Mitmenschen zum Leben gehört. Das kann jeden von uns treffen, und das wiederum bedeutet, uns betrifft dieses Thema, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht.

Der Konflikt zwischen der Furcht vor Nachahmung und dem Bedarf an Aufklärung

Ein Grund dafür, dass oft sehr vorsichtig oder gar nicht über Sui­zid berichtet wird, ist die Furcht vor Nachahmung. Der Nachahmungseffekt gilt inzwischen als wissenschaftlich belegt. Er wird auch Werther-Effekt genannt: 1774 erschien Goethes »Die Leiden des jungen Werther«, ein in Briefform gehaltener Roman. Darin löst die Hauptfigur im Alter von 24 Jahren sein durch eine unerfüllte Liebe hervorgerufenes seelisches Leid durch Selbsttötung. Das Werk erschien anonym und trat eine Lawine an Suiziden in der gleichen Altersgruppe los. Das ging so weit, dass man sogar die Toten in gleicher Kleidung wie Werther vorfand; oft hatten sie auch das Buch bei sich. Dieser dramatischen Epidemie versuchten einige Städte und Landkreise Herr zu werden, indem der Verkauf des Buches verboten und unter Strafe gestellt wurde. Auch die 13 Jahre später leicht veränderte Fassung forderte erneut viele Todesopfer.

Ähnlich begründete erhöhte Suizidraten gibt es auch heute in besonderen Fällen, beispielsweise wenn sich ein bekanntes und beliebtes Pop-Idol das Leben nimmt. Die Verehrung kann tödlich enden, wenn eine Person krankhaft auf das Idol fixiert ist und sich im Tod mit ihm verbinden will. Deshalb wird die Presse nachhaltig dazu angehalten, am besten gar nicht oder nur sehr verhalten über solche Fälle zu berichten. Da der Nachahmungseffekt wissenschaftlich eindeutig erwiesen ist, ist das sicher gerechtfertigt; andererseits trägt dies dazu bei, dass das Thema Suizid tabuisiert wird und eine Aufklärung darüber schwierig ist.

Einem Suizid gehen Probleme voraus. In unserer Gesellschaft sind wir darauf ausgerichtet, dass eine Selbsttötung in keinem Fall eine Lösung für ein Problem darstellen soll. Da die Zahlen aber zeigen, dass Selbsttötung sehr wohl als Ausweg genutzt wird, wird nach und nach trotz der erhöhten Nachahmungsgefahr mehr über Suizid informiert. Denn es hat sich gezeigt, dass Aufklärung Suizide verhindern kann.

Erschütternde Zahlen

Laut WHO stellt Selbsttötung eines unserer größten Gesundheitsprobleme dar. In Deutschland sterben jährlich mehr als 10.000 Menschen an Suizid. Die Dunkelziffer liegt etwa 25 Prozent höher. Das ist ein Zehntel der Versuche, die unternommen werden, denn dabei handelt es sich in Deutschland um die erschütternd große Zahl von jährlich mehr als 100.000 Versuchen. Bei einem Vergleich der Suizidrate (Suizide pro 100.000 Einwohner) zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz stellten sich die Zahlen1 2013 wie folgt dar: Deutschland 18,9, Österreich 25,6, Schweiz 21,0 Suizide pro 100.000 Einwohner.

Weltweit vollziehen etwa 800.000 Menschen jährlich Suizid, mehrere Millionen Menschen versuchen es. Das bedeutet, dass sich alle 40 Sekunden jemand das Leben nimmt, fast jede Minute unternimmt jemand einen Versuch.

Alters- und länderübergreifend lässt sich ablesen, dass dreimal häufiger Männer als Frauen durch Suizid aus dem Leben gehen. Das mag damit zusammenhängen, dass sie sich seltener Hilfe bei Angehörigen, Freunden oder in Therapien suchen. Es gilt immer noch als männlich, seine Probleme mit sich selbst auszumachen. Ebenso scheinen Männer, die sich professionelle Hilfe suchen, auch weniger in der Lage zu sein, die Möglichkeiten einer Therapie auszuschöpfen. Diesen Schicksalen gehen oft lange und seelisch wie körperlich quälende Monate und Jahre voraus, von denen die Angehörigen ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen sind.

In der Bundesrepublik lassen sich bei den Suizidraten teilweise deutliche Unterschiede ablesen. So lagen die Suizidraten 2013 in Sachsen und Sachsen-Anhalt bei 16,5 und 16,3 wohingegen sich in Nordrhein-Westfalen und Berlin Raten von 9,8 und 10,2 ablesen ließen2. Diese Unterschiede sind teilweise darin begründet, dass es in den neuen Bundesländern noch nicht so viele Beratungs- und Therapieangebote wie in den alten Bundesländern gibt. Auch gibt es bundesländerübergreifend in ländlichen Gebieten zu wenig Angebote für Menschen in Konflikt- und Krisensituationen. Dies ist eine weitere Bestätigung dafür, wie wichtig eine versierte Aufklärung und eine gute Gesundheitsversorgung sind, die genügend Therapieplätze für uns alle bereit hält.

In Deutschland gibt es die höchste Anzahl an Suizidopfern im Alter zwischen 50 und 55 Jahren; hier unterscheidet sich die Rate auffallend von den Raten in anderen Altersklassen.

Die genannten Zahlen gehen ebenso wie die folgenden auf den Suizid-Welt-Report der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zurück3, wobei die Ausführungen sich auf Deutschland beziehen, aber insgesamt auf Österreich und die Schweiz übertragbar sind4.

Risikogruppen

Suizid ist ein allgemeines Thema, das sich durch alle Alters-, Bildungs- und sozialen Schichten zieht. Allerdings gibt es durchaus Gruppen mit erhöhtem Risiko. Zu diesen gehören ältere Männer, Homosexuelle, junge Frauen mit Migrationshintergrund (vermutlich durch die erhöhte Gewalt, die sie zu ertragen haben), Frauen in Lebenskrisen, Ärztinnen und Ärzte, ganz besonders Neurologen und Psychiater, narzisstisch gestörte Menschen und Personen in existenziellen, wirtschaftlichen Nöten.

Risikofaktoren

Zu den häufigsten Risikofaktoren zählen in der Vergangenheit unternommene Suizidversuche, Angststörungen, Depressionen sowie übermäßiger Konsum von Alkohol und anderen Drogen. In 90 Prozent der Suizide spielen psychische Erkrankungen, ganz besonders Depression eine vorherrschende Rolle; dabei sind Frauen und Männer gleichermaßen betroffen. Alkohol und Drogen als Mit­ursache sind mehr bei den Männern zu finden, wohingegen Angststörungen häufiger bei Frauen mitwirken.

Kindersuizid

Für Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 14 und 24 Jahren ist die häufigste Todesursache Suizid, was sehr alarmierend ist. Zwischen 3 und 9 Prozent der Kinder in diesem Alter begehen einen Suizidversuch. Sogar jeder fünfte Jugendliche hat Suizidgedanken. Ursachen dafür können psychische Störungen, familiäre Belastungen und soziale wie kulturelle Faktoren sein. Depressive Erkrankungen und Anorexie gehören zum Gefahrenkatalog mit dazu. 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die eine Selbsttötung vorgenommen haben, waren psychisch erkrankt. Von diesen sind weit unter 50 Prozent therapeutisch behandelt worden. Das liegt zum einen daran, dass der desolate Zustand nicht erkannt wurde, zum anderen gibt es einfach zu wenige Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen. Auch hier ist Aufklärung für Ärzte, Lehrer und Eltern sehr wichtig.

Alterssuizid

Im Alter steigen die unheilbaren Krankheiten, es sind schon andere liebe Angehörige verstorben, man fühlt sich nutzlos, weil man geistig und körperlich nicht mehr Schritt mit der Jugend halten kann, man bewertet sich als Last, die dem Staat auf der Tasche liegt, und fühlt sich oft nach dem Verlust eines Partners sehr allein. All diese Faktoren führen zu einer 70-prozentigen Suizidrate im Alter, was auch als »Ungarisches Muster« bezeichnet wird. Woher der Name genau stammt, ist nicht belegt. Es ist aber gut möglich, dass er damit zusammenhängt, dass Ungarn zu den Ländern zählt, in denen die Suizidrate mit am höchsten ist. Fakt ist, dass sich im Alter ungefähr doppelt so viele Frauen das Leben nehmen wie in allen anderen vorausgehenden Lebensphasen; allerdings liegen auch hier die Suizide bei den Männern immer noch deutlich höher. Dabei werden die Suizide wohl nicht präzise erfasst, weil sie häufig mit »weichen« Methoden wie Überdosierung oder durch Weglassen der verordneten Medikamente durchgeführt werden.

Traurige Fakten

Suizid im Internet

Einerseits kann man im Internet eine Vielzahl von Foren finden, in denen man bei Suizidgedanken Hilfe finden kann. Hier kann man sich, ohne bewertet zu werden, über seine Absichten und Nöte austauschen, was oftmals den Druck mildert und neue, andere Wege als den Suizid eröffnet.

Andererseits birgt das Internet mittlerweile jedoch auch ein hohes Risikopotenzial, denn dort können Anleitungen zum Suizid gefunden werden; es gibt auch Foren, in denen sich Menschen ­regelmäßig über ihren Todeswunsch austauschen und sich über die Möglichkeiten beraten. Es wird sich im Internet sogar zum Suizid verabredet; extreme Vorfälle, wie Suizid, während die Live-Webcam läuft, haben sich leider auch ereignet. Einige Suizide wurden auch im Vorfeld im Internet angekündigt.

Mehr über die Chancen und Gefahren von Suizidforen erfahren Sie unter www.suizidforen.de.

Erweiterter Suizid

Ein erweiterter Suizid findet am häufigsten unter Familienmitgliedern statt. Hierbei wird nicht unterschieden, ob die Betroffenen zuvor nach ihrem Einverständnis gefragt wurden. Beispielsweise möchten suizidale Eltern, die durch eigene Hand aus dem Leben gehen wollen, ihre Kinder nicht zurücklassen und nehmen sie, meistens im Schlaf, mit auf die letzte Reise.

Doppelsuizid

Oft sind es Paare, die beschließen, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden, wie Heinrich von Kleist und Henriette Vogel, 1811; Kronprinz Rudolf und seine Geliebte Mary Vetsera, 1889; Hans Fallada und sein Freund Hanns Dietrich von Neckar, 1911, als Duell getarnt, Fallada überlebte schwerverletzt;Stefan Zweig und seine Frau Charlotte, 1942 in Brasilien; Adolf Hitler und Eva Braun,1945 in Berlin.

Massen- oder Gruppensuizid

Zu Massenselbsttötungen kann es kommen, um Belagerern und Feinden nicht in die Hände zu fallen. Wenn eine Massenvergewaltigung, -tötung und Versklavung durch die Eroberer befürchtet wird, kann es Betroffenen darum gehen, dem in Freiheit zuvorzukommen. Solche Fälle finden wir sowohl in der Antike als auch in der Neuzeit. Ein solches Geschehen in unserer Zeit, das die Welt erschüttert und ratlos zurückließ, war 1994 der Massensuizid der Sonnentempler in der Schweiz durch rituelle Verbrennung.

Welt-Suizid-Präventionstag

Seit 2003 findet jedes Jahr am 10. September der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der International Association for Suicide Prevention (IASP) ausgerufene Welt-Suizid-Präventionstag statt. Damit soll die Öffentlichkeit für dieses Thema sensibilisiert werden. Weltweit wird in vielen Kirchen mit einem Gottesdienst und Fürbitten an die durch Suizid verstorbenen Menschen gedacht. Seit September 2014 gibt es in Deutschland zudem die Aktion 600 Leben (www.600leben.de), durch die die Aufmerksamkeit für dieses Thema erhöht werden soll: 600 junge Menschen legen sich in Berlin vor dem Brandenburger Tor auf den Boden und lassen sich nach und nach von Passanten aufhelfen. Denn unter den etwa 10.000 Suizidopfern in Deutschland sind 600 junge Menschen.

Suizidmethoden

Ein Suizid kann aktiv herbeigeführt werden, indem die betreffende Person sich gezielt eine tödliche Verletzung oder auf andere Weise tödlichen Schaden zufügt. Man spricht von passivem Suizid, wenn eine Person den eigenen Tod herbeigeführt hat, indem sie nicht mehr für sich sorgte und keine lebensnotwendigen Nahrungsmittel oder Flüssigkeiten zu sich genommen oder lebenswichtige Medikamente abgesetzt hat.

Aktive Suizidarten

• Erhängen (50 Prozent)• Sprung oder Sturz in die Tiefe (10 Prozent)• Vergiftung durch Gift oder Medikamente (8 Prozent)• Erschießen, meist Kopfschuss (5 Prozent)• Schienentod (5 Prozent)• Abgase oder Gase (2 Prozent)• Ertrinken• Ersticken

Passive Suizidarten

• Mangelnde oder fehlende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme• Verweigerung einer lebensnotwendigen Behandlung• Einstellen der Einnahme von lebensnotwendigen Medikamenten

Falsche Vorstellungen über Suizid

Über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte haben sich zahlreiche Vorurteile über Suizid bei uns eingebürgert. Entsprechend schwer und langwierig ist es, diese aus dem allgemein vorherrschenden Denken wieder herauszubekommen. Deshalb möchte ich hier versuchen, wenigstens einige schwerwiegende Fehlinformationen richtigzustellen und auszuräumen:

Falsch ist: »Wer darüber spricht, sich umbringen zu wollen, wird es nicht tun«

Diese Annahme trifft nicht zu. Aussagen oder Andeutungen zu Sui­zidgedanken oder -absichten sollten immer ernst genommen werden und zum Nachfragen animieren. 80 Prozent der Suizide werden vorher angekündigt. Vielen Menschen gelingt die Selbsttötung nicht beim ersten Mal. 38 Prozent der Männer und 46 Prozent der Frauen unternehmen innerhalb des ersten Jahres nach dem ersten Suizidversuch einen weiteren.

Falsch ist: »Wer vorhat, Suizid zu begehen, ist sowieso nicht davon abzuhalten«

Auch das ist eine Fehleinschätzung. Wenn jemand plant, sich das Leben zu nehmen, dann liegt das in den meisten Fällen daran, dass seine Wahrnehmung der Situation so eingeschränkt ist, dass ihm andere Lösungswege nicht in den Sinn kommen. Mit Hilfe kann sich dieser Tunnelblick jedoch wieder weiten und zum Positiven verändern.