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Der Wunsch, den Jakobsweg zu wandern und einfach mal rauszukommen, ist für viele Menschen ein Traum - egal, ob man gesund, stark und ausdauernd ist. Auch Menschen mit Behinderung gehen diesen Weg, um ihre Grenzen auszutesten, um auf ein Wunder zu hoffen oder vielleicht, um mal etwas anderes zu erleben. Genau das will ich auch. Etwas Neues sehen und hören - auch als Nichtsehender und Nichthörender, denn ich bin taubblind. Ich möchte dich auf meine Reise mitnehmen. Hier in meinem Buch kannst du mich begleiten. Ich möchte Leute in der Nähe und in der Ferne berühren und so auf das Schicksal von Tausenden von Menschen aufmerksam machen, die taubblind sind. Wir sehen uns!
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Seitenzahl: 221
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PROLOG
DEMONSTRATION FÜR TAUBBLINDHEIT
WAS IST TAUBBLINDHEIT?
VORBEREITUNG
PLANUNG
DOKUMENTARFILM
JAKOBSWEG
ABREISE, 19.04.2017
ANKUNFT, 20.04.2017
1. TAG, 21.04.2017
2. TAG,22.04.2017
3. TAG 23.04.2017
KINDHEIT UND KRANKHEIT
4. TAG: MONTAG, 24. APRIL 2017
1983 – ENTDECKT
5. TAG: DIENSTAG, 25. APRIL 2017
KLOSTERSCHÜLER
6. TAG: MITTWOCH, 26. APRIL 2017
7. TAG: DONNERSTAG, 27. APRIL 2017
KLOSTERGESCHICHTEN
8. TAG: FREITAG, 28. APRIL 2017
9. TAG: SAMSTAG, 29. APRIL 2017
10. TAG: SONNTAG, 30. APRIL 2017
AUSBILDUNG
11. TAG: MONTAG, 1. MAI 2017
12. TAG: DIENSTAG, 2. MAI 2017
13. TAG: MITTWOCH, 3. MAI 2017
FREUNDE
14. TAG: DONNERSTAG, 4. MAI 2017
15. TAG: FREITAG, 5. MAI 2017
16. TAG: SAMSTAG, 6. MAI 2017
SPIELSUCHT
17. TAG: SONNTAG, 7. MAI 2017
18. TAG MONTAG, 8. MAI 2017
19. TAG: DIENSTAG, 9. MAI2017
20. TAG: MITTWOCH, 10. MAI 2017
RENTE
21. TAG:
22. TAG:FREITAG,12.MAI2017
23. TAG: SAMSTAG, 13. MAI 2017
WAS IST EIN MOBILITÄTSTRAINING?
24. TAG: SONNTAG, 14. MAI 2017
25. TAG: MONTAG, 15. MAI 2017
26. TAG: DIENSTAG, 16. MAI 2017
TAUBBLINDHEIT LEBEN
WAS IST DAS TAUBBLINDENWERK?
27. TAG: MITTWOCH, 17. MAI 2017
28. TAG: DONNERSTAG, 18. MAI 2017
TBA
29. TAG: FREITAG, 19. MAI 2017
30. TAG: SAMSTAG, 20. MAI 2017
31. TAG: SONNTAG, 21. MAI 2017
AUTOFAHREN
32. TAG: MONTAG, 22. MAI 2017
33. TAG: DIENSTAG, 23. MAI 2017
34. TAG: MITTWOCH, 24. MAI 2017
CASANOVA
35. TAG:
36. TAG: FREITAG, 26. MAI 2017
37. TAG: SAMSTAG, 27. MAI 2017
38. TAG: SONNTAG, 28. MAI 2017
HOBBYS
39. TAG: MONTAG, 29. MAI 2017
40. TAG: DIENSTAG, 30. MAI 2017
41. – 44. TAG:
WIEDER ZU HAUSE IN ROTTWEIL
NEUBEGINN
FAZIT
DER TAUBBLINDE STERN
Der Jakobsweg und ich
Vor vielen Jahren, als ich nicht taubblind, sondern nur sehbehindert und schwerhörig war, und Sendungen im Fernsehen noch verfolgen konnte, sah ich eine Dokumentation über den Jakobsweg, die mich sehr beeindruckte. Ich verstand aber aufgrund meiner Schwerhörigkeit nicht genau, wo dieser Jakobsweg liegt. Die Landschaften und Tiere, die ich sah, und die englische Sprache, die ich undeutlich im Hintergrund hörte, verknüpfte ich in meiner Vorstellung nicht mit Europa. Ich stellte mir stattdessen vor, der Jakobsweg läge irgendwo in Amerika, und auf ihm zu pilgern schien deshalb ein unerreichbarer Traum, den ich mit der Zeit wieder vergaß.
Nachdem sich mein Sehvermögen im Jahr 2010 sehr schnell verschlechterte und ich Ende 2010 vollends erblindete, ging ich in das Taubblindenwerk nach Hannover und machte dort eine soziale Rehabilitation. Der Leiter dieser Maßnahme hieß Herr Jacobs. Sein Name erinnerte mich an den Jakobsweg, und ich sagte ihm, dass ich mir den Traum einer Pilgerreise nie werde erfüllen können, weil der Pilgerpfad sich auf einem anderen Kontinent befinde. Herr Jacobs erklärte mir, dass der Jakobsweg aber hier in Europa, in Spanien, liegt. Ich war total sprachlos. Und trotzdem blieb der Jakobsweg lange nur ein Traum, denn ich dachte mir: blind und hochgradig schwerhörig hunderte von Kilometern pilgern? Vergiss es!
Erst 2014 klopfte der Traum vom Jakobsweg erneut an meine Tür. In der Zeit war meine Taubblinden-Assistenz Linda einmal in der Woche für mich im Einsatz und dadurch arbeiteten wir viel und intensiv zusammen. Kurz vor Weihnachten erzählte ich ihr bei Kaffee und Kuchen von meinem Traum zu pilgern. Sie sagte zu mir, dass sie mich gerne dabei begleiten würde – und ich wusste erst einmal gar nicht, was ich sagen sollte. Darauf war ich nicht gefasst gewesen.
Zu Weihnachten bekam ich von ihr mein erstes Hörbuch geschenkt. Hören ist anstrengend für mich, und ich selbst hätte mir nie eines gekauft. Es war Ich bin dann mal weg von Hape Kerkeling, in dem er seine Erlebnisse der Pilgerwanderung beschreibt. Ich habe es gleich sieben Mal hintereinander angehört. Ich habe die Ohren gespitzt, jedem Wort gelauscht, ich lief quasi mit Hape auf diesem Weg. Im Internet forschte ich dann nach dem Jakobsweg. Ich wollte alles über die Strecken, die Berge und die Dauer der Etappen erfahren. Und allmählich schien mein Traum vom Pilgern gar nicht mehr so unmöglich. Was es allerdings bedeutete, als Taubblinder den Jakobsweg zu gehen, das wurde mir erst nach und nach bewusst. Ich ging mit großem Ehrgeiz an mein Projekt heran und der wurde noch größer, als ich im Februar 2015 mit der konkreten Planung begann.
Taubheit ist bekannt – da kann man gut sehen. Blindheit ist bekannt – da kann man gut hören. Für beide Behinderungsformen gibt es entsprechende Gesetze, Hilfsmittel, ein Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis, welches uns zu besonderen Leistungen und Vergünstigungen berechtigt, Beratungsstellen und Dolmetschende. Wir taubblinden Menschen sind aber nicht „nur“ taub oder „nur“ blind – wir haben beide Behinderungen gleichzeitig. Daraus ergibt sich eine ganz eigene Form der Behinderung. Das Leben mit Taubblindheit ist eine schwierige Sache. Nichts zu sehen und nichts zu hören ist kraftraubend. Viele Betroffene haben diese Kraft nicht oder nicht mehr, und auch Angehörige, Freunde und Familie können uns nicht immer unterstützen. So leben die meisten Taubblinden sehr isoliert, gefangen in einem begrenzten Raum, den sie gut kennen, ohne Kontakte nach draußen. Was ist das anderes als ein Gefängnis? Ich selbst kenne das nur zu gut.
Das Thema Taubblindheit wird in der Gesellschaft und in der Politik fast überhaupt nicht thematisiert und deshalb fehlt oft das Verständnis dafür. Schon seit über zehn Jahren kämpfen Betroffene, Einrichtungen, Institutionen, Verbände und Stiftungen gemeinsam für die Anerkennung als eigenständige Krankheit und auch für das Merkzeichen TBL. Jahrelang ohne Erfolg, denn in der Politik wurde die Entscheidung darüber von einer Legislaturperiode auf die nächste vertagt. Seit Dezember 2016 gibt es endlich das Merkzeichen TBL, aber noch bleiben viele unserer Fragen offen. Gesetze, die dieses Merkzeichen durch weitere Maßnahmen unterstützen würden, wurden nämlich nicht erlassen.
Meine Idee war es deshalb, mich auf dem Jakobsweg zu zeigen und Taubblindheit auf diese Weise sichtbar zu machen. Ich wollte mit Menschen, die neugierig sind, darüber ins Gespräch kommen. Und zwar mit Pilgerinnen und Pilgern aus der ganzen Welt. Mir war es wichtig, dass Taubblindheit ein Gesicht bekommt und mehr Menschen etwas über uns erfahren. Auch, um der Welt da draußen zu zeigen: Es gibt allein in Deutschland etwa 12.000 Menschen, die nicht sehen und hören können und deshalb auch von anderen nicht gesehen und nicht gehört werden. Für sie wollte ich mich auf den Weg machen, für Anerkennung kämpfen und zeigen, was alles möglich ist, nämlich als gesunder taubblinder Mensch im Leben zu stehen, seinen Alltag zu bewältigen und den eigenen Weg zu gehen.
Nichts sehen und nichts hören zu können – oder so wenig, dass es für Mobilität und Kommunikation nicht ausreicht – das ist Taubblindheit. Auge und Ohr sind unsere beiden Fernsinnesorgane, mit denen Menschen über die Entfernung Dinge wahrnehmen können, weshalb diese beiden Sinne so immens wichtig sind. Der Tastsinn ist für taubblinde Menschen der Ersatz für Augen und Ohren. Ich kann von meiner weiteren Umgebung nichts wahrnehmen, wodurch sich mein Umfeld auf eine Armeslänge beschränkt. Nur über die Kommunikationsmöglichkeit der Hände kann ich die Dinge des Alltags erleben, Geschichten von draußen, von der Politik und dem Weltgeschehen erfahren.
Manche Menschen sind von Geburt an taubblind. Auch Unfälle oder schwere Krankheiten können Taubblindheit verursachen. Die häufigste Ursache aber ist das Usher-Syndrom: Viele Betroffene kommen schwerhörig oder gehörlos zur Welt. Später entwickeln sie dann eine schleichend zunehmende Erblindung durch eine Rückbildung der Netzhaut. Farbenblindheit, Nachtblindheit und Tunnelblick sind zu Beginn typische Einschränkungen. Es gibt drei verschiedene Typen des Usher-Syndroms:
Typ 1: gehörlos geboren und zunehmend sehbehindert/blind
Typ 2: schwerhörig geboren und zunehmend sehbehindert/blind
Typ 3: Verschlechterung von Hören und Sehen im Laufe des Lebens
Da es bis heute nur hinauszögernde Behandlungsmöglichkeiten gibt, endet diese Krankheit meistens mit der totalen Blindheit. Das war auch bei mir so. Als Kleinkind wurden bei mir eine Sehbehinderung und Schwerhörigkeit festgestellt, und erst als Erwachsener erblindete ich vollständig. Danach musste ich mein Leben vollkommen umstellen und mein Alltag veränderte sich komplett. Mir wurden beispielsweise das Fahrradfahren, Skifahren und Fußballspielen verboten. Dass mein Leben aber damals nicht endete, sondern trotzdem abenteuerlich weiterging, will ich euch in meinem Buch erzählen.
Taubblinde haben eine Behinderung und sind nicht krank. Wir haben Verstand und Gefühle, genau wie alle anderen. Wir können selbstständig leben, aber wir brauchen dabei Assistenz. Taubblinde Menschen haben Wünsche, Träume und Bedürfnisse – nur deren Erfüllung stellt uns vor besonders große Herausforderungen.
Im Februar 2015 machte ich mich daran, meinen Traum vom Pilgern auf dem Jakobsweg endlich in die Tat umzusetzen. Ich ging zum jährlichen Gesundheits-Check beim Hausarzt und ließ mich von oben bis unten untersuchen. Meine Assistentin Linda wusste über passende Wanderausrüstung Bescheid. Wir gingen gemeinsam in ein großes Sportgeschäft und kauften eine komplette Ausstattung. Bis dahin hatte ich wirklich gar keine Ahnung von guter Ausrüstung –weder von Wanderschuhen und passender Kleidung noch von einem Rucksack oder dem, was man sonst noch braucht. Zum Glück hatte ich Linda an meiner Seite.
Jetzt musste ich nur noch wandern lernen. Genauer gesagt, mich in den neuen Wanderschuhen mit verschiedenen Bodenstrukturen vertraut machen und üben, mich auf meine Assistentinnen einzulassen und ihnen beim Führen zu vertrauen. Anfang 2015 begann ich mit eintägigen Wanderungen im nahegelegenen Schwarzwald. Gleichzeitig organisierte ich meinen Traum, das Projekt „TBL-Jakobsweg 2017“. Eine schlechte Nachricht kam Ende 2015. Bei meiner Mutter wurde Krebs in fortgeschrittenem Stadium festgestellt und man sagte mir, dass sie nicht mehr lange leben würde. Dadurch legte ich meine Pläne zunächst auf Eis. Sie starb im April 2016 und wurde in Rottweil beerdigt. Erst danach konnte ich wieder an den Jakobsweg denken.
Im Frühling 2016 wagte ich meine erste große Wandertour: Mit meiner Assistentin Lydia lief ich um den Bodensee, eine Strecke von etwa 260 Kilometern. Vierzehn Tage lang wanderten wir fast täglich. Das war ein wichtiger Schritt für mich, bei dem ich viele Erfahrungen für den Jakobsweg sammeln konnte. Es war der Test, ob ich täglich Strecken von 20 bis 30 Kilometer schaffen konnte, und es war auch wichtig, meine Wandergeschwindigkeit zu ermitteln. Dazu mussten wir verschiedene sogenannte Begleittechniken ausprobieren. Im Alltag bin ich bei jeder Unternehmung darauf angewiesen, dass mich eine Assistenz begleitet und führt. Und das funktioniert so: Die Assistenz steht links von mir und hält ihren Arm langgestreckt an ihrer Seite, sodass ihr seitlicher Körper stabil ist. Ich hebe meinen linken Arm an den Oberarm der Assistenz, und halte mich an ihrem Ellenbogen fest, indem ich mit den Fingern auf der einen, mit dem Daumen auf der anderen Seite greife, sodass meine Hand ein U formt. Das nennt man den Zangengriff.
Die Assistenz geht dabei immer einen Schritt vor mir. Während des Mobilitätstrainings scherzte mein Trainer immer, dass dann die Assistenz als erstes in den Abgrund fällt, während ich noch oben stehe. Aber im Ernst, es gibt dafür einen guten Grund. Wenn wir zum Beispiel an einen Kantstein kommen, merke ich automatisch, dass die Assistenz vor mir einen Schritt nach oben oder unten macht, und so kann ich mich darauf vorbereiten. Streckt die Assistenz den Arm nach hinten, bedeutet das mir, dass ich hinter ihr laufen soll, wenn zum Beispiel ein schmaler Durchgang kommt, durch den nur eine Person passt. In dieser Position gehe ich mit meiner Hand runter zu ihrer und strecke den Arm nach vorne durch. So ist zwischen dem Körper der Assistenz und meinem ungefähr ein Meter Spielraum. Würde ich genau hinter ihr laufen, könnte ich ihr in die Füße treten. Das ist die Standardführungsposition im Alltag.
Allerdings ist diese Technik auf einer Wanderung, bei der man sich fünf oder sechs Stunden auf diese Art festhält, ungeeignet. Die arme Assistenz würde dabei ja blaue Flecken bekommen – und ich einen Krampf im Arm. Deshalb haben wir uns für den Jakobsweg andere Führtechniken überlegt. Beispielsweise habe ich von einer Sporttasche den Gurt abmontiert und hinten bei meiner Assistenz an den Rucksack gehängt, sodass ich wie beim Reiten auf einem Pferd die Zügel in der Hand halten kann. Das klappt sehr gut, ist aber auf langen Strecken ebenfalls sehr mühsam. Wir würden beispielsweise manchmal mehrere Kilometer nebeneinander, dann wieder einen Kilometer hintereinander wandern, und jedes Mal müssten die Zügel abgenommen und wieder eingepackt werden. Eine andere Möglichkeit ist es, sich hinten am Rucksack der Assistenz festzuhalten, wo viele Schnüre und Laschen herunterhängen. Das ist besonders praktisch auf sehr schmalen Wegen. Wenn die Assistenz einen großen Rucksack aufhat, kann sie ihre Hand nämlich nicht nach hinten strecken. Wenn die Schnüre lang genug sind, kann ich mich stattdessen daran festhalten. Allerdings spürt die Assistenz mich in diesem Moment nicht, und wir müssen dann über Lautsprache kommunizieren. Wenn eine schwerhörige Assistentin mich begleitet, mache ich ihr Klopfsignale auf den Rucksack, um ihr zu bedeuten, dass sie losgehen oder anhalten soll. Manchmal benutzten wir auch einen Ring aus Schnürsenkeln welcher den Vorteil hat, dass sich unsere Körper nicht die ganze Zeit berühren müssen. Auf der anderen Seite ist diese Führtechnik nicht stabil genug, wenn der Weg steinig ist oder eine schwere Stelle kommt, und man muss sich sehr konzentrieren.
Zurück zur Vorbereitung: Während meiner Probetour um den Bodensee bekam ich Kniebeschwerden, die mir das Wandern schwer machten. Aber ich kämpfte mich durch und kam nach den geplanten zwei Wochen ans Ziel. Nach dieser ersten großen Wandertour begann jedoch mein rechter Fuß zu schmerzen, und auch nach zwei Wochen tat er mir noch im Alltag weh. Zu den Ursachen der Beschwerden kann man sagen: Ich bin recht klein, hatte in letzter Zeit auf irgendeine Weise zehn Kilogramm an Gewicht zugelegt, habe außerdem O-Beine und noch dazu einen Hohlfuß. Deshalb bekam ich vom Orthopäden Einlegesohlen für meine Wanderschuhe.
Einen Monat später, im Juli, begann meine zweite große Wandertour, diesmal im Schwarzwald auf dem deutschen Jakobsweg. Der Jakobsweg ist hier etwa neunzig Kilometer lang und in fünf Etappen eingeteilt. Er verläuft von Loßburg über Alpirsbach, Wolfach, Zell am Harmersbach bis nach Gengenbach. Er führt über Berge und durch Täler, was anspruchsvoller ist als die Tour um den Bodensee. Diesmal waren es drei Assistentinnen, die mich begleiteten: Jana, Linda und Carola. Wir probierten aus, wie es ist, wenn die Assistentinnen während der Wanderung wechseln, und experimentierten mit weiteren Führtechniken. Die Wanderung im Schwarzwald war mir wichtig, um die steilen Berge und Täler zu trainieren. Dank der Schuheinlage bekam ich dieses Mal keine Knie- oder Fußbeschwerden – ein gutes Zeichen!
Assistenz: Für die Pilgerreise hatte ich geplant, täglich zwischen 15 und 20 Kilometer zu wandern und zwischendurch einige Pausentage einzulegen. Damit ich mich nicht jeden Tag neu in einer Unterkunft orientieren muss, habe ich diese im Voraus so ausgewählt, dass wir mehrere Tage in einer Herberge verbringen und von dort aus die Strecke in Tagesrouten wandern werden. Eine Assistentin würde uns mit dem Auto abends abholen und am nächsten Tag wieder am gleichen Punkt absetzen, damit wir dort weiterwandern können, wo wir am Tag zuvor aufgehört haben. Das ist wichtig, weil ich im Vorhinein nicht planen kann, wie viele Kilometer ich pro Tag schaffe und so flexibel entscheiden kann, wann es für den Tag genug ist.
Wir würden in Hotels und Ferienwohnungen übernachten. Natürlich wäre es preisgünstiger, in Pilgerherbergen unterzukommen, aber als taubblinder Mensch ist es zu schwierig, auf mich allein gestellt in einem großen, unbekannten Raum mit vielen anderen Pilgern zusammen zu übernachten. Die Geräuschkulisse ist einfach zu laut, das Gerede zu undeutlich und es gibt zu viele Gefahrenquellen: Wird gerade etwas Wichtiges gesagt oder hat nur jemand einen Scherz gemacht? Spielt sich etwas Gefährliches ab? Spricht man über mich? Spricht man mich an, aber ich reagiere nicht, oder nicht angemessen? Liegen Rucksäcke und Wanderschuhe im Weg? Lehnen Wanderstöcke an den Betten? Außerdem kann man in Herbergen nicht im Voraus planen, wo meine Assistentinnen ihren Schlafplatz haben werden. Sind sie in meiner Nähe? Gibt es getrennte Schlafräume für Männer und Frauen? Fragen und Stolperfallen, Geräusche, verschiedene Sprachen sowie ein ständiges Kommen und Gehen, und das 41 Tage lang, bedeuten für mich enormen Stress. Deshalb habe ich mich für Hotels und Ferienwohnungen entschieden. In einem Hotel kann ich abschalten und Energie tanken und mich, nachdem ich das Zimmer erkundet habe, auch frei bewegen. Auf der Pilgerreise werde ich täglich und zu jeder Zeit besonders auf Assistenz angewiesen sein. Auf unbekannten Wegen kann ich keinen Schritt allein gehen. Das gilt auch in den Unterkünften.
Sieben Assistentinnen waren bereit, mich auf dem Jakobsweg zu begleiten: Linda, Katharina, Carola, Emma, Maria, Anita und Petra. Jeden Tag sollten drei von ihnen im Einsatz sein, zwei, die mich abwechselnd führen, sowie morgens und abends in der Unterkunft eine Dritte. Zudem brauchen die Assistentinnen ab und zu einen freien Tag und müssen sich erholen. Hat eine Assistentin einen Tag frei, bleiben zwei weitere, um Assistenz zu leisten. Dasselbe gilt auch bei Krankheit oder Verletzung.
Da ich blind und schwerhörig bin, brauche ich erfahrene und qualifizierte Assistentinnen. Das gibt mir Sicherheit in der Planung und schafft die Voraussetzung dafür, dass ich den ganzen Jakobsweg gehen kann, ohne eine Etappe wegen fehlender Assistenz auszulassen. Geplant habe ich, dass ich drei Assistentinnen in meiner Heimatstadt Rottweil treffe und wir gemeinsam mit dem Auto nach Spanien fahren. Nicht alle Assistentinnen können während der 40-tägigen Wanderung durchgehend zur Verfügung stehen. Daher soll ein Team das andere nach zwei oder drei Wochen ablösen. Die sieben Assistentinnen arbeiten selbstständig neben- oder hauptberuflich als Taubblindenassistenz. Deshalb werden sie auch für ihren Einsatz bezahlt: Für sie ist es Arbeit und kein Urlaub.
Während der Schwarzwaldwanderung wurden wir in den ersten drei Tagen von einem Kamerateam aus Köln begleitet. Auch das war Teil der Vorbereitung, denn das Kamerateam hatte vor, die Pilgerreise filmisch zu begleiten. Es sollte ein 90minütiger Dokumentarfilm über mich und mein JakobswegProjekt entstehen. Dafür war es wichtig, dass wir uns gegenseitig kennenlernten. Der Film sollte anschließend im Fernsehen und im Kino laufen. Während der letzten Tage im Schwarzwald kam auch noch ein kleines Radioteam aus NRW dazu. Die beiden Reporter wanderten mit uns mit, führten Interviews und machten Aufnahmen für verschiedene Radiobeiträge. Für den Dokumentarfilm soll uns das Kamerateam ab Reisebeginn in Rottweil für zwei Wochen auf dem Jakobsweg begleiten und ebenfalls in Hotelzimmern oder Ferienwohnungen übernachten. Nach zwei Wochen soll das gesamte Team dann wieder mit dem Auto nach Deutschland zurückfahren. Spoiler: Planmäßig wäre die Regisseurin ebenfalls nach Deutschland zurückgefahren. Trotzdem ist sie geblieben und mit uns auf dem Jakobsweg weitergelaufen. Sie wollte wohl nichts verpassen. Es wurde ein 97-minütiger Dokumentarfilm geschnitten und im deutschen Fernsehen auf 3sat ausgestrahlt. Weil ich aber ganze 41 Tage lang auf dem Jakobsweg unterwegs war, zeigt dieser Film nur Ausschnitte, also einen kleinen Bruchteil der tatsächlichen Ereignisse.
Mein Projekt begann am 19. April 2017. Wir fuhren von Rottweil über Frankreich bis an die spanische Grenze zum Startpunkt des Jakobswegs.
Von Saint-Jean-Pied-de-Port bis Santiago de Compostela
Dauer: 21. April 2017 bis 31. Mai 2017
Wanderstrecke: 800 Kilometer
Pilgertage: 41
Abfahrt in Rottweil: Nun war es soweit – mein Traum, den Jakobsweg zu pilgern, wurde endlich wahr. Alles war gepackt. In der letzten Nacht schlief ich teils gut und teils schlecht. Am frühen Morgen holte Linda mich mit dem Auto ab, das wir von der Firma Help-Tech aus Horb am Neckar, die Blindenhilfsmittel vertreibt, gestellt bekommen haben. Beim Abschiedsfrühstück im „Alten Backhaus Lüthy“ trafen wir meine Freunde und die beiden weiteren Assistentinnen, Carola und Katharina. Sogar der Bürgermeister kam vorbei, um mich zu verabschieden, und hielt eine kleine Rede. Träumte ich? Oder wurde mein Traum jetzt wirklich war?
Fahrt bis Uhart-Cizé (Frankreich, in der Nähe von Saint Jean Pied de Port, dem Ausgangspunkt der Pilgerreise).
Die nächsten zwei Tage fuhren wir etwa 1.280 Kilometer durch Frankreich, zum Startpunkt des Jakobswegs, den kleinen Ort St. Jean Pied de Port. In unserer ersten Pilgerherberge „La Coquile Napoléon“ wurden wir herzlich vom Pilgervater und dessen Familie aufgenommen. Vincente und seine Frau, ihr kleiner Sohn, ein Hahn, eine Katze und zwei Hunde empfingen uns. Nach der Besichtigung lud Vincente uns zu einem „Willkommenswein“ ein. Mit einer wilden Mischung aus Französisch, Spanisch und Englisch verstanden wir uns prächtig. Vincente sprach langsam und war sehr geduldig. Er erzählte von anderen Pilgern und unserer Route, die morgen vor uns lag. Es war eine paradiesische Atmosphäre und der ideale Beginn für meine Wanderung
Von Uhart-Cizé zur Marienstatue (vor Brix Thibault) Strecke: ca. 10,5 Kilometer
Die Nacht war kurz. Ich schlief erst gegen halb eins ein, musste aber trotzdem um sechs Uhr aufstehen. Am Morgen erwartete uns ein typisch französisches Frühstück mit Baguette und Marmelade. In Hotels sind Butter und Marmelade oft in kleinen Portionen verpackt. Das hilft mir, auch in einer fremden Umgebung alles selbstständig vorzubereiten. Hier standen aber auf dem Tisch kleine Gläschen mit Marmelade, Butter und ein Korb Brötchen – das war für mich als Blinder unübersichtlich und nicht einfach zu meistern. Zu Hause schaffe ich das alles allein, weil ich meine Finger benutzen kann, um die Butter abzutasten und die richtige Menge auf mein Brot zu streichen. Aber als Gast stecke ich meine Finger selbstverständlich nicht in Lebensmittel, die auch andere essen wollen. Deshalb war ich an diesem Morgen am Frühstückstisch sehr unsicher und fühlte mich tollpatschig bei dem Versuch, die Butter auf mein Messer zu bekommen. Katharina bemerkte, dass ich Schwierigkeiten hatte, und fragte mich, ob sie mir helfen könne. Sie nahm meinen Teller und bestrich mein Brot mit Butter und Marmelade. „Ich bin sehr erstaunt darüber, dass Katharina dir dein Brot schmiert“, sagte Linda. Katharina war verwirrt, und ich hatte den Eindruck, dass sie sich nicht sicher war, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Darauf antwortete ich Linda mit einem Schmunzeln, dass ich mich von Katharina gerne verwöhnen lasse.
Beim Frühstücken hörte ich plötzlich einen Schrei, der sich anhörte, als könnte er von einem Vogel stammen. Und tatsächlich, meine Assistentinnen bestätigten, dass es einen Graupapagei im Wohnzimmer gab. Er saß in seinem Käfig und kratzte mit dem Schnabel in seiner leeren Schale, um Futter zu bekommen. Der Pilgervater öffnete den Vogelkäfig und der Papagei flog heraus und durch das Fenster nach draußen. Wir staunten nicht schlecht, dass der Papagei sich so im Freien aufhalten durfte.
Danach hatten wir Zeit, unsere erste Wanderung vorzubereiten. Der Herbergsvater Vincente setzte den ersten Stempel in unsere Pilgerpässe, die man bei jeder Etappe vorzeigt, um vorweisen zu können, dass man den Jakobsweg wirklich gewandert war. Das erste Assistenzteam bestand aus Katharina, Carola und Linda. Die Sonne schien und es war kein Wölkchen am Himmel zu sehen. Es waren schon einige Pilger unterwegs. Auf dem Weg gab es heute einiges zu fühlen und zu riechen, und Linda beschrieb mir vieles mit Lautsprache: Wir zerrieben wilden Oregano zwischen den Fingern und tasteten riesige Agaven ab – aber vorsichtig, die haben Stacheln! An einem Zaun hingen Schafwollfetzen, die ich befühlen konnte, außerdem gab es Kühe und Schafe auf der Weide und auch Eidechsen haben wir gesehen. Die meisten Wege waren geteert, nur ab und zu liefen wir auf steinigen Wegen oder über Wiesen. Wir kamen am ersten Haufen abgelegter Steine vorbei, auf den auch ich einen Stein von zu Hause gelegt habe. Auf dem Jakobsweg begrüßen sich die Pilger mit dem Gruß „buen camino“, das heißt: guten Weg. Das finde ich wunderschön.
Der Weg führte fast zehn Kilometer lang nur bergauf, doch wir kamen flott voran. Ein Pilger sprach mich auf Englisch an, ob sich das Hilfsmittel, das wir zum Führen benutzten, bewährt. Das Hilfsmittel war der flexible Ring aus drei geflochtenen Schnürsenkeln, mit dem wir bei der Umwanderung des Bodensees geübt hatten. Die Assistenz hält ihn dabei mit ihrer rechten Hand fest, ich greife ihn mit meiner linken Hand von der anderen Seite. Das gibt viel Spielraum zwischen den beiden Händen, ohne dass diese auf langen Strecken aneinander reiben. Ein anderer Pilger kam auf mich zu und sagte: „You are amazing.“ Das heißt: Du bist wunderbar! Mich freut es immer, wenn ich angesprochen werde. Für den Jakobsweg hatte ich mir extra mehrere dunkelblaue T-Shirts mit der gelben Aufschrift „TBL-Jakobsweg“ und der Jakobsmuschel bedrucken lassen. Das Wort Deafblind steht in großer Schrift auf Bauchhöhe. Mein Rucksack wurde später auch mit dem Schriftzug gekennzeichnet, was Lindas Idee war. So konnte ich die Öffentlichkeit beim Pilgern auf meine Taubblindheit aufmerksam machen. Linda hatte ich für mein Projekt zur Teamleiterin ernannt, falls es Probleme geben sollte oder Schwierigkeiten unter den Assistentinnen. Die Teamleitung sollte die Situation aufklären und auch mich unterstützen und mir zur Seite stehen. Auf Linda konnte ich mich voll und ganz verlassen.
Auf dem letzten Stück der Etappe kam uns Katharina schon entgegen, und lief bis zum Auto mit uns mit. Beim Parkplatz stand auf mehreren Felsbrocken eine Marienstatue mit Kind. Maria hatte eine Krone auf, aber warum, das wurde mir nicht ganz klar. Ich war froh, dass der erste Tag so gut gelaufen war. Deshalb gönnte ich mir in der Herberge Orisson ein Radler und einen baskischen Käsekuchen – köstlich!
Zusammen mit dem Kamerateam, das in einer anderen Unterkunft wohnte, aßen wir auf der Terrasse unserer Pilgerherberge gemütlich zu Abend. Auf einmal hörten wir den Papagei schreien und die Assistentinnen sahen sich suchend um, wo er sein könnte. Er hatte sich auf einem Baum im Hof versteckt, flog zum nächsten Baum und schrie noch lauter, um auf sich aufmerksam zu machen. Der Herbergsvater wusste dadurch, dass er wieder zurück in seinen Käfig wollte und öffnete das Fenster. Der Papagei würde dort brav die Nacht verbringen. Unser Tisch stand unter einem Vordach auf der Terrasse, und der Papagei flog unter das Dach, ganz nahe über unseren Köpfen. Das offene Fenster war genau hinter mir, sodass ich einen starken Windstoß spürte und das laute Flattern seiner Flügel hören konnte. Das Essen schmeckte hervorragend, und eine belgische Pilgerin mit ihrem Sohn saß auch bei uns. Nach dem Essen setzten Katharina, die beiden belgischen Pilger und ich uns an einen anderen Tisch im Innenhof und unterhielten uns. Eine Katze kam zu uns und wir streichelten sie ausgiebig. Dann verabschiedeten wir uns und gingen ins Bett.
Gedanken zum Tag: Angst vor schlechtem Wetter unbegründet!
Von der Marienstatue nach Roncesvalles
Strecke: ca. 15 Kilometer