Ich sehe, was du brauchst - Kathrin Hohmann - E-Book

Ich sehe, was du brauchst E-Book

Kathrin Hohmann

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Beschreibung

Eltern wollen ihre Kinder liebevoll in die Zukunft begleiten. Dennoch greifen sie manchmal auf Verhaltensweisen zurück, die sie eigentlich nicht mögen. Dann fühlen sie sich unwohl und fragen sich, wie es anders geht: wie sie mit ihrem Kind auf Augenhöhe bleiben und respektvoll kommunizieren können. Für solche Eltern auf der Suche hat die Beziehungsexpertin und Pädagogin Kathrin Hohmann dieses Buch geschrieben. Darin zeigt sie, wie Väter und Mütter auf der Grundlage bedürfnisorientierter Elternschaft ihr Kind besser verstehen können. Überzeugend macht die Autorin deutlich, dass der Weg zu einem erfüllten Miteinander über das Verständnis der eigenen Prägungen und das Hinterfragen unserer – teils problematischen und dennoch akzeptierten – Gewohnheiten im Umgang mit Kindern führt. Anhand vieler Szenen und Berichte von Eltern erfahren die Leser:innen, wie der ehrliche und liebvolle Blick auf die Bedürfnisse aller einen neuen Weg frei macht: hin zu Vertrauen, Wertschätzung, Leichtigkeit und Glück. Ein einfühlsamer Ratgeber für positive Familienbeziehungen.    Mit einem Vorwort der Bestseller-Autorin Danielle Graf 

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Kathrin Hohmann

Ich sehe, was du brauchst

Wie wir Kinder heute in die Welt begleiten

Für all die Kinder dieser Welt

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: — geviert,

Umschlagmotiv: © Stocksy/Raymond Forbes LLC

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, SRL

Illustrationen: Frau Sonnenberg

ISBN Print 978-3-451-60134-7

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83260-4

Inhalt

Vorwort von Danielle Graf

Einleitung

1. Ich sehe, was du brauchst!

Bedürfnisorientierung als Weg

Bedürfnisse erkennen – und ihnen Raum geben

Feinfühligkeit braucht Achtsamkeit

Ein Blick zum Kind: Der „Kreis der Sicherheit“

Ein Blick zu dir: Gefühlsarbeit als Herausforderung

Unser Kräftehaushalt

Du bist wichtig!

2. Elternschaft mit Hindernissen

Die Welt im Wandel: Neue Anforderungen

Herausforderungen gewaltfrei begegnen

Ohne Strafen geht es doch!

Grenzverletzungen und Strafen erkennen

Konflikte sind Wachstumsmomente

3. Verhaltensmuster und wie wir sie verändern

Die Geschichte in uns

Selbstreflexion: Die Reise zurück

Die Macht unserer Worte

Perfektion behindert

4. Kinder heute in die Welt begleiten

Werte als Basis

Autorität neu denken: Erziehungsstile im Vergleich

Du darfst stolz sein!

5. Leuchttürme für deinen Alltag

Leuchtturm 1: Zugewandt führen

Leuchtturm 2: Grenzen als Orientierung

Leuchtturm 3: Alle Gefühle dürfen sein!

Leuchtturm 4: Mit-Sein und den Moment teilen

Leuchtturm 5: Stressoren und Selbstregulierung

Leuchtturm 6: Werte als Richtungsweiser

Leuchtturm 7: Brüche reparieren

Leuchtturm 8: Wertschätzung

6. Einfache Wege aus Hilflosigkeit und Überforderung: Tools für deinen Alltag

Literaturverzeichnis

Endnoten

Über die Autorin

Vorwort

Strenge, Disziplin, Gehorsam, Strafen und Konsequenz wurden viele Jahrzehnte lang als unabdingbar für eine erfolgreiche Erziehung betrachtet. Doch die Forschung zeigt, dass strenges, unnachgiebiges und autoritäres Erziehen Folgen für die psychische Gesundheit von Kindern hat. Es wirkt sich langfristig negativ auf ihr Selbstwertgefühl aus, führt dazu, dass sie das Gefühl der Hilflosigkeit verinnerlichen und als Erwachsene nicht gut mit ihren Gefühlen umgehen und Stress oft schwer bewältigen können.

Glücklicherweise sehen wir Kinder mittlerweile mit ganz anderen Augen als unsere Eltern und Großeltern. Wir wissen, dass Zweijährige ihre Emotionen nur sehr schwer selbst regulieren können und auch Gefühle wie Wut wichtig sind und ausgelebt werden sollten. Wir wissen, dass die Entwicklung der Impulskontrolle auch im Grundschulalter noch nicht abgeschlossen ist und Kinder darauf angewiesen sind, dass wir ihnen helfen, sich selbst zu regulieren. Wir wissen, dass unangemessenes Verhalten nicht dazu dient, uns absichtlich zu provozieren oder Grenzen auszutesten, sondern immer ein Signal dafür ist, dass wichtige Grundbedürfnisse unseres Kindes nicht erfüllt sind. Daher versuchen wir nicht mehr, das Symptom „schlechtes Verhalten“ durch Bestrafungen und andere entwürdigende Maßnahmen zu bekämpfen, sondern hinter das Verhalten zu schauen, die Ursachen zu verstehen und immer wieder mit unseren Kindern ins Gespräch zu kommen. Das Ziel der heutigen Erziehung sind nicht mehr angepasste und funktionierende Kinder, stattdessen wünschen wir uns für unsere Kinder eine sichere Bindung, die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit und ein stabiles Selbstwertgefühl. Ich sehe, was du brauchst zeigt, was es dafür braucht und wie wichtig es ist, dass auch wir Eltern uns selbst mit viel Aufmerksamkeit begegnen.

Das umfangreiche Wissen über die kindliche Entwicklung verbunden mit dem Wunsch, es anders als die eigenen Eltern zu machen, und die nach wie vor fehlende Vereinbarkeit von Beruf und Familie führen in vielen Familien zu einem hohen Grad an Erschöpfung. Wir sind darauf bedacht, möglichst alle Bedürfnisse unserer Kinder zu erkennen und schnell und feinfühlig zu erfüllen. Problematisch ist, dass wir uns dabei immer wieder überfordern und unsere eigenen Bedürfnisse schnell aus den Augen verlieren. Aus Sorge, etwas falsch zu machen, haben wir außerdem manchmal Schwierigkeiten damit, Grenzen klar zu Formulieren oder die Führung zu übernehmen, wenn dies notwendig wäre, weil unsere Kinder entwicklungsbedingt Situationen noch nicht ausreichend gut selbst einschätzen können.

In unsere Elternschaft haben wir einen Perfektionsanspruch entwickelt, dem man nicht gerecht werden kann – aber auch gar nicht muss! Viel wichtiger ist es, achtsam mit den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen umzugehen und die Aufgabenverteilung in der Familie im Auge zu behalten. Dieses Buch zeigt, wie wir Kinder achtsam und bedürfnisorientiert begleiten können, aber gleichzeitig unser eigenes Wohlbefinden im Blick behalten können. Es ermutigt uns als Elternpaar, darüber ins Gespräch zu kommen, ob die Verteilung der Care-Arbeit und des Mental Loads so gestaltet ist, dass alle Beteiligten ausreichend Zeit und Kraft für Selbstfürsorge haben.

Ein weiterer wesentlicher Aspekt für die Erziehung auf Augenhöhe ist die Verarbeitung der eigenen Kindheit. Durch unsere eigene Prägung greifen wir immer wieder auf Verhaltensweisen zurück, die uns selbst widerfahren sind und von unserem Gehirn als „normaler Umgang mit Kindern“ abgespeichert wurden. Kathrin erklärt, warum diese unseren Kindern schaden, wie wir aus unseren Verhaltensmustern ausbrechen und was wir stattdessen tun können. Sie zeigt, wie wir Stressoren schneller erkennen und unsere Fähigkeiten zur Regulation unserer Emotionen verbessern können, so dass unser Familienleben entspannter wird und der Umgang mit unseren Kindern mehr Leichtigkeit gewinnt.

In diesem Buch steckt eine einzigartige Mischung aus fundiertem Wissen über die kindliche Entwicklung, langjähriger Berufserfahrung im pädagogischen Bereich und jede Menge Herz und Liebe zu Kindern. Es begleitet und unterstützt Eltern, sich selbst und ihre Kinder besser zu verstehen und macht Mut, die besonderen Herausforderungen der bedürfnis- und beziehungsorientierten Elternschaft zu meistern. Ich wünsche Dir viel Spaß mit diesem großartigen und einfühlsamen Wegweiser, der eindrucksvoll und pragmatisch zeigt, wie wir unseren Kindern Halt geben, zugewandt führen und zur Orientierung liebevoll Grenzen setzen.

Danielle Graf

Einleitung

Täglich erlebe ich Situationen, in denen Kinder auf einfühlsame Weise begleitet werden. In diesen Augenblicken verspüre ich eine innere Erleichterung, mein Stresspegel sinkt schlagartig. Anders ist es, wenn ich beobachte, dass Kindern von Erwachsenen Trost, Schutz oder Verständnis verwehrt wird und sie in ihrem Handeln missverstanden werden. In solchen Momenten überkommen mich Trauer, Wut oder sogar Hilflosigkeit. Es schmerzt mich zutiefst, und eine innere Stimme drängt mich dazu, mich einzuschalten und den Kindern eine Stimme zu verleihen.

Kinder in ihren Gefühlen und Bedürfnissen zu verstehen und ihr Verhalten zu entschlüsseln, ist oft keine einfache Aufgabe. Besonders dann nicht, wenn wir selbst mit Herausforderungen und Stress konfrontiert sind oder unsere eigenen Bedürfnisse in unserer Kindheit falsch interpretiert oder übersehen wurden.

In meinen Augen sollte es nicht dem Zufall überlassen sein, wie ein Kind aufwächst. Schließlich haben alle Kinder von Geburt an die gleichen Rechte – zumindest theoretisch. In der Praxis jedoch hängt es von den Umständen ab, in welches Umfeld sie hineingeboren werden. Kein Kind kann sich aussuchen, ob es in Wohlstand oder Armut aufwächst, ob es in Deutschland oder anderswo auf der Welt seine Kindheit verbringt und welche Art von Bezugspersonen seine Entwicklung begleiten. Es hängt von den zufälligen Faktoren des Lebens und dem individuellen Schicksal ab, in welche Welt Kinder hineinwachsen. Und auch wir waren einst solche Kinder, die ihre Herkunft nicht wählen konnten.

Wir alle, die dieses Buch in den Händen halten, haben unsere eigene Geschichte in uns. Jeder von uns trägt seinen Rucksack gefüllt mit Erlebnissen und Erinnerungen, die uns gestärkt und geprägt haben, aber auch mit Schmerz und Leid. Und auch unsere Bezugspersonen haben ihre eigenen Geschichten und Erfahrungen.

Doch eins haben wir alle gemeinsam: Wir tragen die Verantwortung dafür, den uns anvertrauten Kindern eine friedliche Kindheit zu ermöglichen, fernab von körperlichem und seelischem Leid. Kinder haben ein Recht darauf, geschützt, gefördert und in ihrer Entwicklung unterstützt zu werden. Sie sollten Sicherheit, Geborgenheit, Anerkennung, Wertschätzung und Liebe erhalten, ohne dass sie sich diese verdienen müssen.

Diese Verantwortung lastet auf einigen Schultern schwer, und so begegnen mir in meinen Workshops und Beratungen Eltern und pädagogische Fachkräfte, die sich überfordert fühlen. Menschen, die an ihre Grenzen stoßen, die Ohnmacht und Erschöpfung spüren. Menschen, die schwer an ihrer eigenen Geschichte tragen und hart an sich arbeiten, um diese nicht weiterzugeben. Menschen, die ihr Bestes geben und unter dieser Last drohen zusammenzubrechen. Aber auch Menschen, die unerreichbar scheinen, umgeben von einer harten Hülle.

Für all diese Menschen habe ich dieses Buch geschrieben. Es ist ein Buch über unsere Elternschaft, die uns täglich viele Glücksmomente beschert und uns gleichzeitig darin herausfordert, in die von uns gewünschte Richtung zu segeln. Den Kurs der achtsamen und bedürfnisorientierten Elternschaft zu halten, kann im Trubel des Alltags mächtig schwer sein. Immer mehr Eltern fühlen sich erschöpft und dem Burn-out nahe. Andere sind verunsichert und fragen sich, wie sie ihre Kinder im Alltag bestmöglich begleiten können, ohne dabei auf Strafen und andere althergebrachte Erziehungsmethoden zurückzugreifen. Auf diese Fragen findest du in diesem Buch Antworten. Es bietet dir Übersetzungshilfen für alltägliche Momente mit deinem Kind und enthält vielfältige Tools, die du nach Belieben ausprobieren kannst.

Im Vorfeld des Buches habe ich mit vielen Eltern gesprochen und zudem eine Umfrage1 durchgeführt, um genauer zu erfahren, wie es Eltern im Familienalltag geht, welche Situationen für sie besonders schwierig sind, was ihnen hilft und worauf sie selbst stolz sind. Kinder liebevoll, mit Fürsorge und in Geborgenheit zu begleiten und dabei auf Strafen zu verzichten, ist der gewünschte Weg vieler Familien. Was in den Rückmeldungen jedoch auch deutlich wurde und was mich beängstigt, ist die Tatsache, dass Elternschaft für einen Großteil der Familien herausfordernd und erschöpfend ist.2 Es gibt viele Stellschrauben, an denen wir drehen müssten, um uns vor dem Ausbrennen zu schützen. Einige dieser Schrauben sind für uns schwer zugänglich, sie betreffen zum Beispiel die Politik, aber auf andere haben wir Zugriff. Um diese soll es in diesem Buch gehen; es soll dir Anreize und Entlastung schenken. Wie ein guter Freund beim Teetrinken möchte mein Buch dir zur Seite stehen, Ideen schenken und liebevolle und vor allem leicht umsetzbare Impulse geben. Versteh es bitte als ein Angebot wie ein buntes, reichhaltiges Buffet, an dem du intuitiv entscheidest, welche Idee du gern mitnehmen und ausprobieren magst und welche du getrost liegen lässt.

Warum ich dieses Buch schreibe

Ich habe diese Vision in mir: Ich möchte, dass Kinder ihre persönlichen Schätze – ihre Persönlichkeit, ihre Eigenarten, ihre Charakterzüge und die Begabungen, die sie mitbringen, wenn sie zu uns stoßen – bewahren können. Dass sie Menschen begegnen, die sie beim Wachsen begleiten, ohne an ihnen zu ziehen, sie zu verbiegen oder gar zu brechen. Damit dies möglich ist, braucht es Begleitpersonen, die Kinder verstehen lernen, um ihnen bestärkend zur Seite zu stehen.

Kinder brauchen zugewandte Übersetzer:innen, die nicht ihr Verhalten bewerten, sondern ihre Signale wahrnehmen und die meist unsichtbaren Bedürfnisse dahinter erkennen. Ich habe dieses Buch geschrieben, um dir als Übersetzerin zur Seite zu stehen und dich an meinen Erfahrungen und Kenntnissen teilhaben zu lassen.

Ich selbst wuchs in Ostberlin in einem grundsätzlich liebevollen Zuhause auf, mit Eltern, die an mich glaubten. Bereits sehr früh wurde ich ganztägig außerfamiliär – weniger behütet – betreut. Der Wind dort wehte rau und kühl. Als ich nach dem Abitur ein Praktikum in einer Krippe machte, wurde ein inneres Feuer entfacht, das mich seither dazu antreibt, den mir anvertrauten Kindern eine Stimme zu geben. So studierte ich vor zwanzig Jahren Kindheitspädagogik und absolvierte einen Master in der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt Familie. Kurz darauf gründete ich einen eigenen Kitaträger in Berlin und leitete diesen über einige Jahre nach den Grundlagen der bindungsorientierten Pädagogik. Seit geraumer Zeit bin ich nun als Fortbildnerin und Beraterin für das Thema Bedürfnisorientierung tätig und komme täglich mit spannenden Menschen ins Gespräch. Daneben bin ich meinen Kindern zu Hause unfassbar dankbar für all die emotionalen Lernmomente. Sie sind mein größter Antrieb! Und es vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht intensiv mit dem Thema beschäftige oder mich durch sie mit Sätzen wie: „Mama, das ist aber keine gewaltfreie Erziehung!“ konfrontiert sehe.

Wäre ich Gärtnerin geworden, so wüsste ich vermutlich nach all der Lehr- und Lernzeit, wie ich mit den mir anvertrauten Pflanzen und Blumen umzugehen habe, damit sie prächtig gedeihen und kein Blatt welkt. Vermutlich würde nach all der intensiven Zeit, die ich – vielleicht ähnlich wie du – damit zugebracht habe, mehr und mehr zu erfahren, ein riesiger bunter Garten blühen, in dem sich Schmetterlinge und Bienen zu Hause fühlen.

Nun ist es mit der Fauna bekanntlich nicht so einfach wie mit der Flora, da wir Menschen keine studierbare Gebrauchsanweisung mit auf die Welt bringen, ganz individuell sind und im Vergleich zu den Pflanzen weit mehr und schwerer ablesbare Bedürfnisse haben. Und nicht nur das: Wir kommen zudem nicht unbeschrieben auf die Welt, sondern bringen bereits angeborene Merkmale (eine eigene Persönlichkeit, genetische Veranlagungen etc.) mit. Und je nachdem, wie die Umwelt – also auch wir als die engsten Bindungspersonen – auf diese reagieren, verändern Kinder sich in unterschiedlicher Art und Weise. All das macht es tagtäglich so spannend und auch herausfordernd!

Die uns anvertrauten Kinder in ihrer Entwicklung zu begleiten, ist ein vielschichtiger und intensiver Weg, der kein Ende zu haben scheint. Ein Leben lang haben wir unzählige Anlässe, an denen wir üben dürfen, das Elternteil zu sein, das wir uns selbst als Kind gewünscht haben. Ich bin dankbar, dass ich dich ein kleines Stück auf deiner Reise begleiten darf.

Kathrin Hohmann

1. Ich sehe, was du brauchst!

Bedürfnisorientierung als Weg

Werden wir Eltern, tritt eine riesige Veränderung ein, von der wir zuvor nicht ahnten, was diese mit uns macht. Jede Reise durch die Elternschaft ist individuell und nicht mit einer anderen vergleichbar. Was uns vereint, ist vermutlich, dass wir ein bestimmtes Bild oder ein gewisses Ideal in uns tragen, wie wir uns ein Leben mit Kind(ern) vorstellen.

Je nach unseren Erfahrungen und Vorbildern stehen wir den Herausforderungen gelassen oder eher angespannt gegenüber. Ich erinnere mich sehr gut daran, dass ich, als ich vor vierzehn Jahren das erste Mal Mutter wurde, keine Sekunde daran zweifelte, dass mir diese Aufgabe spielend von der Hand gehen würde. Ich war mir sehr sicher, für diesen „Job“ gewappnet zu sein, schließlich hatte ich Kindheitspädagogik studiert und bereits viele Erfahrungen im Umgang mit Kindern gesammelt. Was ich dabei völlig außer Acht ließ, war, dass ich im Job die Verantwortung nur stundenweise trug. Ich wusste so viel – und irgendwie gleichzeitig auch nichts. Und obwohl im Laufe der Jahre meine Erfahrungen als Mutter wuchsen, so fühlte und fühle ich mich durch neue Entwicklungsschritte immer wieder neu auf die Probe gestellt. Auch meine anfängliche Überzeugung, dass ich mit jedem weiteren Kind und wachsender Erfahrung gelassener werden würde, musste ich überdenken, denn mit jedem weiteren Kind, das ich in unserer Familie begrüßen durfte, lernte ich ein neues und einzigartiges Individuum kennen.

Welche Eltern wir sind und wie wir unsere Elternschaft empfinden, hängt mit so vielen Faktoren zusammen und anders als anfangs gedacht, war mein Studium nicht der Garant dafür, die „perfekte“ Mutter zu sein. Um unserer Wunschvorstellung von dem Elternteil, das wir gerne sein würden, zu entsprechen, befinden wir uns auf einer – ich würde meinen – lebenslangen Reise, auf der es keine Pausen gibt. Manchmal fühlt sich diese wie Urlaub an und manchmal wie schwere Arbeit. Und all das darf sein und ist okay!

Mein persönlicher Weg veränderte sich grundlegend, als ich begann, mich mit einer achtsamen und bedürfnisorientierten Begleitung von Kindern zu beschäftigen und diese in mein Leben zu integrieren.3 In diesem Buch möchte ich dich ohne Anspruch auf Vollständigkeit ein Stück an meinen Erkenntnissen teilhaben lassen, die für mich im täglichen Miteinander einen Unterschied machen. Und bei all dem ist das Entscheidende nicht, was wir tun, sondern vielmehr, wie wir es tun. Unsere innere Haltung ist ausschlaggebend. Hierbei spielen drei Grundpfeiler für mich eine wichtige Rolle: unsere Gefühle, unsere Bedürfnisse und unsere Grenzen.4

Die eigenen Gefühle spüren, erkennen und ausdrücken zu können und letztlich zu regulieren, ist für unsere Gesundheit wichtig. Denn wenn wir auf unsere Gefühle nicht hören, diese unterdrücken oder auch fehldeuten, versperren wir den Gefühlen ihre wichtige Funktion. Gefühle sind in uns spürbar, sie gehören uns selbst, und auch wenn es sich oft anders anfühlen mag, sie werden nicht von außen hervorgerufen. Mein Ärger und meine Wut gehören mir, genauso wie meine Freude. Sie entstehen zum einen durch Gedanken, denn je nachdem, wie wir über etwas denken, so fühlen wir auch.5 Stell dir vor, du hast es gerade eilig und denkst: „Ich komme sicher zu spät und dann bekomm ich richtig Ärger.“ Vermutlich wirst du angespannter und ängstlicher sein, als wenn du denkst: „Wenn ich Ruhe bewahre, schaffe ich alles. Ich brauche mir keine Sorgen zu machen, alles ist gut so, wie es ist.“

Zum anderen entstehen Gefühle durch Bedürfnisse. Wir können unsere Gefühle wie einen inneren Kompass nutzen, denn sie zeigen uns an, ob unsere Bedürfnisse erfüllt sind oder um Erfüllung bitten oder gar drängen. Daher ist es in der bedürfnisorientierten Begleitung ein Ziel, die Kinder in ihren Gefühlen feinfühlig wahr- und ernst zu nehmen, sodass sie lernen, ihre eigenen Gefühle zu verstehen, zu übersetzen und zu regulieren. Hierbei weisen mir verschiedene Grundsätze den Weg.

Jedes Gefühl darf sein. Gute oder schlechte Gefühle gibt es nicht. Natürlich gibt es Gefühle, die wir lieber fühlen als andere. Verstehen wir hingegen die Funktion von Gefühlen, dann erkennen wir, dass ihre Bewertung uns daran hindert, sie ganz neutral als Signalgeber zu nutzen. Im Grunde fühlen wir immer, auch im Schlaf, und tun somit uns selbst und auch unseren Kindern Gutes, wenn wir lernen, unsere bunte Gefühlspalette anzunehmen, statt sie zu unterdrücken oder zu beurteilen. Dadurch können wir – mit etwas Übung – diese innere Kraft, die unsere Gefühle mit sich bringen, für uns gebrauchen. Studien haben gezeigt, dass bereits circa sechs Monate alte Babys Ärger und auch Angst empfinden, wenn sie einen entsprechenden Reiz wahrnehmen. Während Angst uns Menschen beschützen will, motivieren uns Ärger und Frustration, für uns einzustehen und Grenzen zu setzen. Spüren wir Trauer, dann bedauern oder betrauern wir etwas, was uns sehr am Herzen liegt. Und bei jedem Gefühl werden bestimmte Körperreaktionen ausgelöst.

Körperliche Reaktionen auf Gefühle

Ärger/Wut: schnellere Atmung, Hitze, Anspannung, Weinen, Erstarrung, Überreaktion etc.Trauer: Schluchzen oder Weinen, gesenkte Schultern, Wortlosigkeit, tiefes Atmen, Rückzug etc.Angst: erstarrter Gesichtsausdruck, Herzklopfen, Anspannung, Erstarrung, Zusammenzucken oder Zittern etc.Scham: Errötung des Gesichts, Vermeidung von Blickkontakt, Bewegungslosigkeit, aber auch Lachen oder Grinsen etc.Freude: lebhafter Gesichtsausdruck, gespannte Körperhaltung, Lachen etc.

Es gibt Situationen, in denen wir uns unseren Gefühlen hingeben, während wir sie in anderen eher unterdrücken, überspielen oder uns von ihnen ablenken. Meist holen uns die Gefühle früher oder später ein und machen auf sich aufmerksam, sofern wir sie nicht zugelassen haben. Das kann Minuten, Tage oder auch Jahre später sein, und schlimmstenfalls führt eine Unterdrückung von Gefühlen zu psychischen Störungen. Daher ist es umso wichtiger, Kinder zu befähigen, ihren eigenen Kompass von Beginn an verstehen zu lernen und ihnen dabei als Übersetzer:in zur Seite zu stehen.

Als ich mir diese Aufgabe zu Herzen nahm, erkannte ich, dass dies bedeutete, dass ich zuerst meinen eigenen Kompass verstehen lernen und „verschüttete“ Gefühle neu entdecken musste. Begleiten wir also Kinder in ihren Gefühlen nach dem Grundsatz, dass jedes Gefühl willkommen ist, – so gilt dies auch für uns. Auch wir dürfen traurig, wütend, verärgert, einsam, ängstlich, fröhlich, glücklich und zufrieden sein. Während dies für einige Menschen so normal ist, wie zu atmen, so weiß ich aus meinen Fortbildungen und Beratungen, dass für andere Menschen der Weg zum Fühlen und Übersetzen der eigenen Gefühle verschlossen scheint. Sätze wie: „Sei nicht so wütend!“ oder „Du brauchst nicht traurig sein!“ führen dazu, dass wir Gefühle verkennen und verneinen und schlussendlich verlernen, sie als Signalgeber wahrzunehmen.

Alle Menschen haben die gleichen Bedürfnisse, nutzen hingegen unterschiedliche Strategien, sich diese zu erfüllen. Unsere Bedürfnisse sind unser Antrieb, und in jedem Augenblick versuchen wir, uns mit unserem Tun unsere Bedürfnisse bestmöglich zu erfüllen. Wir Menschen, unabhängig von Alter oder Herkunft etc., haben die gleichen Bedürfnisse und meist auch mehrere zur gleichen Zeit in unterschiedlicher Ausprägung. Um uns ein Bedürfnis zu erfüllen, gibt es viele unterschiedliche Wege, diese nennen wir Strategien. Wir Erwachsenen sind selbst verantwortlich für die Strategie, die wir zur Erfüllung eines Bedürfnisses wählen. Kinder benötigen hierbei oft Unterstützung. Beobachtest du beispielsweise, wie Sami auf dem Spielplatz ein anderes Kind schubst, ist das Schubsen die Strategie, mit der er sich ein Bedürfnis – möglicherweise nach Verbindung, Kontakt oder Spiel – erfüllen möchte. Während wir Strategien beobachten können, also beispielsweise das Schubsen, sind Bedürfnisse als solche nicht sichtbar. Dies macht es uns oft schwer, die Bedürfnisse hinter einer Handlung zu deuten. Unsere Bedürfnisse lösen keine Konflikte aus, sondern es sind vielmehr unsere Strategien, die mit der Strategie eines anderen kollidieren oder gar eine Grenze überschreiten können. So auch, wenn Sami schubst und damit das Spiel des anderen Kindes stört.

Stell dir vor, ich beginne, neben dir Seil zu springen, während du gerade ein Buch liest. Du erfüllst gerade dein Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung, wohingegen ich mich bewegen möchte. Unsere Strategien kommen sich vermutlich in die Quere und du spürst eine Grenze in dir, die sagt: „Ich will Ruhe und ich will nicht, dass du hier neben mir springst!“ Allein das Erkennen der eigenen und der Bedürfnisse anderer und das Wissen, dass unser Tun das Ziel hat, sich ein Bedürfnis zu erfüllen, kann Verständnis hervorrufen und befähigt uns, einander zu sehen und unsere Reaktion abzuwägen, statt in dem Konflikt zu verharren.

Jedes Verhalten hat einen Sinn und ist der Versuch, sich ein Bedürfnis zu erfüllen. Wir Menschen stehen für unsere Bedürfnisse ein und kämpfen immer für uns und nicht gegen andere. Diese Leitsätze haben mir persönlich eine neue Perspektive eröffnet und immer, wenn mir ein Verhalten begegnet, das ich nicht verstehe, das ich ablehne oder durch das ich mich herausgefordert fühle, denke ich, dass das Verhalten sich nicht gegen mich richtet. Der Mensch, und dabei kann es sich um ein wütendes Kind handeln oder um eine genervte Kassiererin, schützt damit sein bzw. ihr Bedürfnis. Die Strategie, die es oder sie dafür wählt, kann ich richtig doof finden und dies auch zum Ausdruck bringen. Wenn ich dieses Verhalten jedoch nicht als Angriff werte, so schütze ich mich davor, in den Kampf zu gehen. Diese Gedanken beruhigen mich, und dadurch verändern sich meine Gefühle. So bewahre ich auch mich selbst davor, gewaltvoll zu handeln. Und wenn ich selbst Verärgerung oder Trauer fühle, lädt mich dies dazu ein, meine Grenze zu erkennen und zu schützen. Sinnbildlich spüre ich meine Grenze wie einen Hula-Hoop-Reifen, der mich umgibt und durch die Handlungen oder Worte eines Gegenübers überschritten werden kann. Der Philosoph Immanuel Kant formulierte einst so treffend: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt.

Statt Grenzen als Distanz und Abwehr zu betrachten, lade ich dich ein, sie als Instrumente der Selbsterhaltung zu sehen, die uns anzeigen: „Achtung, schütze dich!“ Unsere Grenzen machen deutlich, was wir wollen oder was wir nicht wollen. Manchmal kennen Erwachsene und Kinder keine besseren Strategien und schützen sich, indem sie dabei einen anderen Menschen von sich schubsen oder gar angreifen. Und ohne Frage wären an dieser Stelle andere Strategien besser. Wir haben es in der Hand, ob wir auf diese „Selbstverteidigung“ mit Gegengewalt reagieren oder mit Verständnis und Liebe. Ich bin definitiv für Letzteres und übe es an jedem Tag. Mal gelingt es gut, mal weniger, und das ist okay!

Viele Jahre hatte ich zwei Grundpfeiler der Bedürfnisorientierung fest im Blick, die Gefühle und die Bedürfnisse, übersah aber die Bedeutung der Grenzen. Die Folge davon kann Erschöpfung aufgrund dauerhafter „Bedürfnisvertagung“ sein oder auch Unzufriedenheit und Unsicherheit. Mich überkamen Zweifel, ob ich meinen Kindern haltgebend zur Seite stehen kann. Mittlerweile weiß ich: Ja, das geht! Dabei haben für mich die individuellen seelischen und auch körperlichen Grenzen immer mehr an Bedeutung gewonnen. Ich habe erkannt, dass es für unser familiäres Miteinander wichtig ist, meine eigenen Grenzen zu kennen und diese zu benennen. Dadurch werde ich besser verstanden und lebe den Kindern vor, wie auch sie ohne Sorge für sich einstehen können und lernen, die Grenzen anderer zu achten. Werde ich heute gefragt, ob ich am Nachmittag Plätzchen backen möchte, gehe ich einen Moment in mich und überlege sehr genau, ob ich dem beherzt zustimmen oder beispielsweise aufgrund von Zeitnot oder Erschöpfung bewusst ablehnen möchte oder eine Alternative vorschlage. Ich achte heute auch bewusst darauf, wo genau meine Grenzen verlaufen, um am Ende des Tages möglichst noch einen Hauch von Kraft für eine liebevolle Abendbegleitung übrig zu haben.

Der Erwachsene hat einen Erfahrungs- und Wissensvorsprung und steht den Kindern begleitend und schützend zur Seite. Bleiben wir einen Moment bei den Plätzchen: Für ein Kind ist das Backen eine tolle Idee, wenn es an den Geschmack von Keksen denkt oder an das lustige Matschen und Kneten des Teigs. Und aus der Idee heraus entsteht der dringende Wunsch, das Plätzchenbacken so schnell wie möglich umzusetzen. Es denkt nicht daran, wie lange das Herstellen des Teigs dauert, dass die Butter für das morgige Frühstück auch noch reichen muss oder wie aufwendig es ist, nach dem Spaß wieder aufzuräumen. Wir Erwachsene haben diesbezüglich viel mehr Erfahrung, an der wir die Kinder teilhaben lassen sollten. Auf ihrer Basis wägen wir den Wunsch ab und treffen eine Entscheidung. Dieses Szenario kann vielseitig ausfallen: Wir stimmen zu, weil wir sowohl die Zutaten, die Zeit und die Energie haben, wir finden einen Kompromiss oder wir entscheiden uns dagegen. Wünsche und Bedürfnisse sind nicht dasselbe. Hinter einem Wunsch steckt immer ein Bedürfnis und mit Wünschen versuchen wir, uns ein Bedürfnis zu erfüllen. So kann hinter dem Wunsch, Kekse zu backen, das Bedürfnis nach Verbindung, Neugierde, Spaß und Genuss stecken. Und dieses lässt sich vielleicht auch auf andere Weise stillen.

Bedürfnisorientierung bedeutet: