Ich träume deutsch ... und wache türkisch auf - Nilgün Tasman - E-Book

Ich träume deutsch ... und wache türkisch auf E-Book

Nilgün Tasman

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Beschreibung

"Mädchen werden als Bräute geboren", mit diesem Satz wird Nilgün groß. Doch sie sehnt sich nach Freiheit und sie nimmt sie sich das Beste aus dem türkischen und dem deutschen Leben. Sie erlebt hautnah, was es heißt, Wurzeln und gleichzeitig Flügel zu haben - Flügel, die ihr wachsen, um die vielen Hindernisse auf ihrem Weg zu überwinden. Nilgün Tasman hat es geschafft: Wunderbar poetisch erzählt sie die Geschichte einer ganzen Generation.

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Seitenzahl: 220

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Nilgün Taşman

Ich träume deutsch... und wache türkisch auf.

Eine Kindheit in zwei Welten

Impressum

Titel der Originalausgabe:Ich träume deutsch…und wache türkisch auf.Eine Kindheit in zwei Welten

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2008ISBN 978-3-451-29860-8

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011

Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de

Umschlagkonzeption: Agentur R•M•E Roland EschlbeckUmschlaggestaltung: Verlag Herder

Coverfoto: © Gottfried Stoppel. Fotografie. Waiblingen

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN (E-Book) 978-3-451-33880-9

ISBN (Buch) 978-3-451-06344-2

Inhaltsübersicht

MEINE GROSSMUTTER KONNTE...

Zwei Jahre Deutschland

Sei stolz, eine Türkin zu sein!

Vier halbe Hühnchen ohne Schwein bitte!

Gäste zu haben oder Gast zu sein, ist eine große Ehre

Die verlogene Wahrheit

Nur einmal an Weihnachten so sein wie die Deutschen

Straßen voller Sehnsucht

Sei stolz auf deinen Namen

Eine Muselmanin im Kindergarten

Das Beschneidungsfest

Keiner will mich haben!

Ab nach Anatolien

Alaca heißt bunt

Annem wird nie kommen

Die Hochzeit von Mahmut Ağas Sohn

Mein Freund Yalcin

Bald kann noch so lange sein

Nur wer Tinte leckt, wird seinem Volk dienen

Kısmet ist, wenn Menschen nicht selbst entscheiden

Eine Brücke zwischen Deutschland und Babaanne

Der lang ersehnte Schulbeginn

Alle Väter sind gleich

Ein Baum ohne Wurzeln

Bittere Träume

Aus Töchtern werden Bräute

Plötzlich eine Frau

Frauen haben keinen Namen

Gebrochene Flügel

Eine Eurasierin breitet ihre Flügel aus

Ein Brief aus der Türkei

MEINE LIEBEN LESERINNEN UND LESER

Glossar

Für Ulrich und Can LeonAnnem, Babam ve Ablam için

|5|MEINE GROSSMUTTER KONNTE NICHT LESEN, aber sie nahm immer wieder eines ihrer Bücher in die Hand und blätterte es Seite für Seite durch. Es waren die Bücher meines Großvaters, die meine Babaanne in einer Holztruhe sorgfältig aufbewahrte.

„Kinder, in jedem Buch stecken nicht nur Geschichten, sondern auch Menschen. Menschen, die uns an der Hand nehmen und durch das Leben begleiten. Menschen, die wir ins Herz schließen, die wir lieben, hassen oder die wir uns zum Vorbild nehmen. Menschen, von denen wir viel lernen können.“

Meine Schwester fragte dann immer: „Babaanne, du kannst doch gar nicht lesen, warum blätterst du das Buch durch?“

„Allah sei gnädig, mein Kind, man hat mir das Lesen nie beigebracht. Aber ein Buch erinnert mich an die Geschichten, die mir unser Vater immer vorgelesen hat. Bücher werden von Menschen geschrieben, die viel Tinte geleckt haben. Wenn ich die Buchstaben berühre, dann habe ich das Gefühl, als würde ich auf Reisen gehen“, sagte sie und wiegte sich dabei hin und her wie eine Zypresse im Wind.

Babaanne hatte ihr Dorf in Anatolien noch nie verlassen und sie war auch nirgendwo gemeldet. Eigentlich gab es meine Babaanne gar nicht, bis mein Vater auf die Welt kam. Erst mit seiner Geburt wurde auch sie registriert.

„Wenn ihr groß seid und in einer großen Stadt lebt, müsst ihr dort unbedingt in die Schule gehen, damit ihr so klug werdet, wie es einst mein Vater war. Nur Menschen, die in ihrem Leben Tinte geleckt haben, sind kluge Menschen“, sagte Babaanne zu meiner Schwester und zu mir.

Mein Urgroßvater war ein belesener Mann, der leider sehr früh starb. Er hinterließ meiner Urgroßmutter und den |6|neun Kindern viel Land und das Haus. Meine Großmutter war mit nur neun Jahren die Älteste. Sie musste ihrer Mutter helfen und konnte keine Schule besuchen. Aber von meiner Babaanne erzähle ich Ihnen später mehr, wenn ich Ihnen von der Zeit berichten werde, die meine Schwester Mine und ich bei ihr in Anatolien verbrachten.

Ich hoffe, dass Sie die kleine Nilgün ein Stück auf ihrem Weg ins Leben begleiten werden. Zu Beginn ihrer Erzählungen ist sie fünf Jahre alt und wird Sie an den Erfahrungen und Erlebnissen ihrer Kindheit in einer schwäbischen Kleinstadt und bei der Großmutter in der Türkei teilhaben lassen.

Als ich über meine Kindheit zu schreiben begann, hatte ich das Gefühl, diese Zeit noch einmal zu erleben. So waren auch die Worte auf meiner Zunge die eines kleinen Mädchens. Doch am Ende der Erinnerungen wird Nilgün zu einer Erkenntnis kommen, die sie glücklich und erwachsen macht.

|7|Zwei Jahre Deutschland

1968 stand in den türkischen Zeitungen, dass in Süddeutschland Gastarbeiter gesucht werden. Mein Vater, der als Schreiner auf der Werft in Istanbul arbeitete, bewarb sich, ohne meine Mutter zu fragen, und bekam nach einer gründlichen Untersuchung sofort die Zusage für eine Einreisegenehmigung. Ein Freund, der sich mit ihm beworben hatte, wurde wegen seiner schwarzen Zähne abgelehnt. Man musste kerngesund sein, um eine Einreisegenehmigung nach Deutschland zu erhalten.

Meine Mutter war von der Idee, nach Deutschland zu gehen, gar nicht begeistert.

„Wir wissen nicht mal, wie man Deutschland schreibt, wie sollen wir da klarkommen?“, fragte sie und wollte nicht von Istanbul weg.

Meine Eltern wohnten damals in einer kleinen Zweizimmerwohnung mitten in der Stadt. Meine Schwester war vier Jahre alt und ich gerade mal sechs Monate.

„Wir waren arm, aber glücklich. Wir hatten türkische Erde unter den Füßen“, sagte meine Mutter später immer.

Baba versprach Annem, höchstens zwei Jahre in Deutschland zu bleiben. Nur, bis wir genügend Geld für ein eigenes Haus gespart hätten.

So machten wir unsere erste große Reise mit dem Zug. Die Beamten am Zoll in Deutschland müssen sehr nett gewesen sein. Sie lachten, weil bei den meisten Türken im Reisepass als Geburtsdatum der 1.Januar eingetragen war. Viele Türken wurden, wie meine Babaanne, erst Jahre später registriert, und die meisten Eltern wussten dann nicht mehr, wann ihre Kinder geboren waren. Also gab man entweder |8|den 1.Januar oder den 15.August an. Bei meinem Baba stand der 15.August und bei meiner Anne der 1.Januar im Pass.

Wir wurden mit noch fünfzehn weiteren Türken am Bahnhof in Stuttgart von zwei Männern in Empfang genommen, die ein Schild mit der Aufschrift „Karl Kübler“ hoch hielten. Das war der Name der Firma, in der mein Baba arbeiten sollte. Einer der Männer war ein Landsmann von uns, der von den Neuankömmlingen wie ein Heiliger verehrt wurde, denn alle waren erleichtert zu sehen, dass es in Deutschland bereits Türken gab, und froh darüber, dass sie von jemandem abgeholt wurden, der sie verstand.

„Ich werde Bruder Mustafa nie vergessen, denn er war ein Stück Heimat in der Fremde“, sagte meine Anne später noch oft mit Tränen in den Augen.

Wir wurden in einem Mehrfamilienhaus untergebracht und bekamen eine Zweizimmerwohnung, die bereits eingerichtet war.

Die ersten Wochen und Monate müssen eine ganz schlimme Zeit für unsere Eltern gewesen sein. Mein Vater hatte einen Teil seines ersten Gehalts im Voraus bekommen, aber er wusste nicht einmal, wo man etwas zu essen einkaufen konnte.

Jahrelang konnten meine Schwester und ich nicht genug von den Geschichten aus dieser Anfangszeit bekommen. Meine Lieblingsgeschichte war die vom ersten Einkauf meiner Eltern:

Sie zeigten auf alles mit dem Finger und sprachen türkisch. Meine Mutter zeigte auf Bananen. „Muz“, sagte sie auf Türkisch und die Verkäuferin antwortete: „Banane?“

„Banane“ heißt auf Türkisch „mir egal“.

Meine Mutter zeigte erneut auf die Bananen und die Verkäuferin sagte wieder: „Banane“.

|9|Meine Eltern fühlten sich beleidigt und liefen einfach weiter.

Viele Geschichten, die uns Anne von früher erzählte, waren schön und lustig. Aber wenn wir lachten, sagte sie immer: „Heute lachen wir darüber, damals haben wir geweint.“

In einer Sache waren sich alle türkischen Gastarbeiter einig: Sie wollten auf jeden Fall nur zwei Jahre in Deutschland bleiben. Nur so lange, bis sie sich ein eigenes Haus leisten konnten, wie unsere Eltern auch.

Wenn man unseren Eltern damals gesagt hätte, dass die geplanten zwei Jahre irgendwann zu zwanzig Jahren werden würden, wäre meine Anne wahrscheinlich sofort umgekehrt.

Sei stolz, eine Türkin zu sein!

Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz als Kind gehört habe. „Stolz“ ist glaube ich das wichtigste Wort bei uns Türken. „Wer keinen Stolz mehr hat, kann sich gleich begraben lassen“, sagte mein Vater immer.

Meine vier Jahre ältere Schwester Mine ging inzwischen bereits in die Schule. Ich war erst fünf und noch zu jung für die Schule. Weil ich nicht katholisch war, wurde ich auch nicht in den Kindergarten aufgenommen. Aber da wollte ich sowieso nicht hin. Meine Anne und ich gingen manchmal zum Bäcker und kamen auf unserem Weg an diesem Kindergarten vorbei. Über der Eingangstür hing ein großes Kreuz aus Holz. Darauf war ein Mann mit einem Dornenkranz auf dem Kopf, und in seinen Händen und Füßen steckten Nägel. Das sah ganz schrecklich aus.

|10|Anne beruhigte mich und erklärte: „Das ist der Prophet Isa. Du musst keine Angst haben. Er war ein guter Prophet und wurde von Allah vor Mohammed auf die Erde geschickt. Die Menschen wollten nicht an ihn glauben und bestraften ihn mit dem Tod!“

Wir gingen auch mal in den Kindergarten hinein, um uns vorzustellen,aber eine „Muselmanin“ wollten die Nonnen dort nicht aufnehmen. Ich freute mich darüber, da es mir zu Hause alleine mit Tekir, unserem türkischen Kater, viel besser gefiel.

Wir wohnten immer noch in dem Mehrfamilienhaus, das uns bei unserer Ankunft zugewiesen worden war, und waren ganz stolz auf unsere Zweizimmerwohnung mitten in der Stadt. Die meisten türkischen Familien hatten viel kleinere Wohnungen als wir. Das Einzige, was wir uns sehnlichst wünschten, war ein Fernseher. Baba hatte uns zwar versprochen, so bald wie möglich einen zu kaufen, aber leider konnten wir uns noch keinen leisten.

Onkel Ali, der Freund von unserem Baba, hatte für seinen Fernseher nichts bezahlt. Onkel Ali besaß ganz viele Dinge, die wir nicht hatten, und er fuhr mehrmals im Jahr mit seinem Ford Taunus in die Türkei. Onkel Ali war ein guter Geschäftsmann und Anne war von seinen Geschichten immer ganz begeistert.

Baba sagte: „Ali ist eine Müllratte und hat überhaupt keinen Stolz. Er ist ein Eşoleşek!“

„Na und? Er versteht sein Geschäft und wird sicher in ein paar Jahren für immer in die Heimat zurückkehren, wovon wir nur träumen können“, antwortete Anne und vergoss dabei jedes Mal ein paar Tränen.

Wir hatten viele Freunde und bekamen oft Besuch. Manchmal kamen so viele, dass die Frauen im Schlafzimmer auf |11|dem Bett saßen und die Männer im Wohnzimmer auf dem Boden.

Meistens war es lustig und traurig zugleich, und immer ging es um die Heimat. Allerdings gefiel das unseren deutschen Nachbarn nicht. Die bekamen nämlich nie Besuch.

Ali Amca sagte immer: „Die Deutschen sind anders als wir. Sie haben keine Freunde und unterhalten sich nur kurz auf der Straße.“

Es war in der Tat so, wie Ali Amca es beschrieb. Die Deutschen bekamen nie Besuch, aber sie redeten dafür beim Bäcker und im Supermarkt sehr lange mit den Verkäuferinnen oder unterhielten sich mit ihren Nachbarn auf der Straße.

Anne sagte: „Jedes Land hat seine eigenen Sitten, deshalb sind wir Türken anders und werden es auch immer bleiben!“

Wir sahen unsere Nachbarn morgens, wenn sie zur Arbeit gingen, und abends, wenn sie wieder zurückkamen. Manchmal wurde es bei uns sehr laut, wenn viele Freunde da waren. Dann klopften die Nachbarn von oben auf den Fußboden oder sie klingelten und baten um mehr Ruhe. Meine Anne ging dann gleich in die Küche, holte einen Teller mit Gebäck, drückte ihn dem Nachbarn in die Hand und entschuldigte sich. Danach stellten alle fest, dass es die Deutschen mit uns auch wirklich nicht immer einfach hätten. Wir wären eben anders, viel gastfreundlicher und warmherziger als die Deutschen. Dabei lächelten sich alle zufrieden und stolz an.

Unsere Eltern verließen das Haus morgens sehr früh, um zur Arbeit zu gehen. Meine Schwester wurde jeden Morgen von unserer Kuckucksuhr geweckt und kam trotzdem immer zu spät in die Schule. Ihre Lehrerin schickte ihr sogar mal einen Brief nach Hause. Aber den zerriss Mine gleich. Ich blieb mit unserem Kater Tekir alleine, bis Mine mittags zurückkam. |12|Das durfte niemand wissen, da mich sonst das Jugendamt geholt hätte.

„Die Deutschen kennen da keine Gnade, Nilgün! Du darfst eigentlich nicht alleine zu Hause bleiben. Die nehmen dich einfach mit, und du musst bei einer deutschen Familie leben, und wir würden uns nie wieder sehen“, sagte Anne jeden Morgen, bevor sie aus dem Haus ging.

Ich durfte das Haus ohne Mine nicht verlassen, aber ich durfte aus dem Fenster schauen. Und für den Fall, dass mich jemand fragen würde, wo meine Anne ist, hatte ich eine überzeugende Antwort auswendig gelernt:

„Meine Mama ist Brot kaufen gegangen. Ich darf nicht mit Fremden sprechen, und sie kommt in fünf Minuten zurück!“ Eigentlich war ich ja auch nie alleine. Unser Kater Tekir war immer bei mir.

Tekir war auch „Türke“ und verstand kein deutsch, wie unsere Eltern. Meine Anne sagte immer: „Tekir ist ein Stück Heimat, und eines Tages wird er mit uns für immer zurückkehren!“ Dabei glänzten Tränen in ihren Augen.

Tekir und ich saßen stundenlang am Fenster, und ich kann mich nicht erinnern, dass es mir irgendwann einmal langweilig geworden wäre, denn es gab immer etwas zu sehen und zu entdecken.

In unserer Straße lebten natürlich auch andere Kinder. Die meisten von ihnen waren schon in der Schule, so wie meine Schwester Mine.

Paola und Giuseppe gingen in die gleiche Schule. Mine und ich waren fast jeden Tag mit den beiden zusammen. Obwohl unsere Eltern kein Italienisch und kein Deutsch sprachen und die Eltern von Paola und Giuseppe auch nur italienisch konnten, mochten sie sich sehr. Sie konnten sich sogar, jeder in seiner Sprache, verständigen. „Menschen müssen |13|nicht die gleiche Sprache sprechen, um sich zu mögen“, sagte Anne.

Von unserem Wohnzimmerfenster aus konnten wir zu Familie Schäufele sehen. Das waren ganz feine Menschen, und sie hatten als Einzige in der Straße ein großes Haus, das sie ganz alleine bewohnten. Sie hatten nur eine Tochter. Ihr Name war Helene.

Helene spielte immer alleine und ab und zu schaute sie aus dem Fenster und lächelte mich an. Ich hatte noch nie mit ihr gesprochen oder mit ihr gespielt. Ich wusste nur, dass sie Helene hieß. Helene durfte nicht mit uns spielen. Ihr Papa wollte das nicht. Ich wusste nicht, was er dagegen hatte, aber vielleicht lag es auch daran, dass sie erst vor kurzem in unsere Straße gezogen waren und uns nicht kannten. Mein Baba mochte Herrn Schäufele gar nicht. „Der meint, er sei was Besseres, weil er Beamter ist und auf dem Rathaus arbeitet, dieser Eşoleşek!“, schimpfte er jedes Mal, wenn es um Herrn Schäufele ging. Ich mochte Herrn Schäufele sehr. Ich war mir sicher, dass er ein wichtiger Mann sein musste. Herr Schäufele trug jeden Tag einen Anzug und eine Krawatte. Er ging jeden Morgen um die gleiche Zeit aus dem Haus und kam auch immer um die gleiche Zeit zurück.

Helene saß bei schönem Wetter auf den Stufen vor ihrer Haustüre und spielte mit ihren Barbiepuppen. Sie sah aus wie eine Prinzessin mit ihren rosa Kleidern und den dazu passenden Schuhen. Sogar ihre Strümpfe und Haarschleifen waren in den Farben auf ihre Kleider abgestimmt.

Helene hatte Haare wie Gold, Augen wie das Marmarameer und eine wunderschöne helle Haut. Meine Schwester war auch ungewöhnlich hellhäutig, weil die Vorfahren meiner Anne vom Schwarzen Meer stammen. Die Menschen dort sind bekannt für ihre helle Haut und ihre blauen Augen.

|14|Meine Anne war ganz anders als die übrigen türkischen Frauen. Annem hatte eine helle Haut, dunkle Augen und sie trug kein Kopftuch wie die meisten türkischen Frauen. Sie hatte Haare, die aussahen wie Milchkaffee, und wenn wir auf eine Hochzeit gingen, schminkte sie sich sogar. Meine Anne war eine sehr schöne Frau und meine Großmutter hatte sie Adalet genannt. Das heißt Gerechtigkeit. Als meine Anne auf die Welt kam, wurde mein Großvater gerade aus dem Gefängnis entlassen. Deshalb hatte sie den Namen „Gerechtigkeit“ bekommen.

Der Name meines Babas war Hasan, aber was das heißt, weiß ich leider nicht. Er war nicht schön. Er hatte schwarze Haare, schwarze Augen und eine dunkle Haut.

Ich hatte auch wenig Farben auf dem Kopf. Meine Augen und meine Haare waren schwarz, und ich sah mit meiner dunklen Haut aus wie die meisten türkischen Kinder. Aber ich war schöner als mein Baba. Baba nannte mich immer „Kara Kızım“, meine schwarze Tochter. Mine nannte er „Pamuk Kızım“, meine Watte-Tochter.

Allah sei gnädig, aber Mine war alles andere als ein luftiges Watteflöckchen. Sie war dick, groß und hatte mit ihren neun Jahren schon richtige Brüste.

„Bald werden sie an unserer Tür klopfen und um deine Hand anhalten, wenn du weiterhin so wächst!“, sagte Anne zu Mine und war immer ganz stolz auf ihre „Watte-Tochter“.

Ich dagegen wurde neben Mine meistens übersehen. Ich war für mein Alter zu klein, hatte schwarze Locken und von Brüsten konnte ich nur träumen.

Aber da war ich nicht die Einzige. Meine Freundin Helene hatte auch noch keine Brüste und war nur wenig größer als ich.

Paola, Giuseppe und Mine konnten Helene nicht leiden. |15|„Die sieht aus wie eine Puppe und ist genauso dumm wie ihre Eltern“, sagte Mine immer, wenn sie an Helene vorbeilief. Helene tat dann so, als ob sie Mine nicht hören würde, und spielte weiter mit ihren Puppen.

Mine war manchmal sehr ungerecht und blöd, aber ich musste auf sie hören.

Ich hatte zwar noch nie mit Helene gesprochen, aber sie war trotzdem meine Freundin.

Onkel Ali war wieder mal bei uns und erzählte ausführlich, was er für großartige Sachen vom Sperrmüll mit in die Türkei genommen und dort für viel Geld verkauft hatte. Er leerte alle Altkleidertonnen bei uns im Ort, und seine Familie in Ostanatolien flickte die Kleider wieder zusammen. Danach verkaufte Onkel Ali alles auf dem Bazar.

„Du verstehst dein Geschäft Bruder Ali, wir sind zu dumm, um so etwas zu machen. Wir haben ja noch nicht mal einen Fernseher“, jammerte Anne und warf Baba einen bösen Blick zu. Baba verdrehte wie immer die Augen, streckte die Arme Richtung Allah und sagte: „Schick mir Geduld, mein gnädiger und großer Allah!“ Danach schlürfte er seinen Tee weiter.

Onkel Ali war an den Armen und im Gesicht schwarz behaart wie ein Affe. Seine Familie wohnte in der Türkei, und seine Frau war so dick wie die Kuh meiner Großmutter. Onkel Ali zeigte uns oft Fotos von seinen beiden Töchtern und sagte dann immer: „Ich hoffe, meine Mädchen heiraten bald einen reichen Mann, damit ich nicht mehr so hart arbeiten muss.“ Dabei schaute er nach oben und schenkte Allah ein Grinsen.

„Möge Allah euch bald zusammenbringen, Bruder Ali, und ich hoffe, dass es nicht mehr lange dauert, bis wir alle |16|wieder in unsere Heimat zurückgehen können!“, sagte meine Anne traurig.

„Inşallah“, seufzte Onkel Ali.

Wir spielten gerade Verstecken, als Herr Schäufele von der Arbeit nach Hause kam. Immer sah ich ihn an und hoffte, dass er mich nur ein einziges Mal bemerken würde. Manchmal tat ich so, als würde ich niesen, oder ich hustete laut. Aber alles war umsonst. Herr Schäufele nahm mich nicht wahr. Er hatte immer viele Akten unter dem Arm und lief zielstrebig auf sein Haus zu.

Seine Frau stand jeden Tag zur gleichen Zeit am Fenster und wenn sie ihren Mann kommen sah, stellte sie sich in die Eingangstür und begrüßte ihn ganz höflich mit einem Nicken.

Als Herr Schäufele wieder einmal mit schnellen Schritten auf dem Heimweg war, stolperte er plötzlich, schrie und fiel mitsamt seinen Akten auf den Boden. Mine, Paola und ich standen da und keiner traute sich auch nur ein Wort zu sagen. Aber dann stürzte ich los, sammelte die umherliegenden Akten ein, nahm die Tasche von Herrn Schäufele, legte sie unter seinen Kopf und rannte weg. Ich klingelte bei Frau Schäufele und rief gleichzeitig um Hilfe. Sie sah aus dem Fenster, und als sie ihren Mann auf der Straße liegen sah, eilte sie weinend heraus.

Frau Schäufele hockte nur da und tat gar nichts, außer dass sie ganz schlimm weinte. Wir hatten zu Hause ein rotes Kästchen, in dem Pflaster, Verband und eine Telefonnummer war, die wir in Notfällen anrufen sollten. Ich war zwar erst fünfeinhalb, konnte aber trotzdem lesen.

Ich schnappte den Kasten und klopfte bei unserer Nachbarin, da sie die Einzige im Haus war, die ein Telefon besaß. |17|Ich erzählte ihr, was passiert war, und sie rief sofort einen Krankenwagen. Dann rannte ich wieder zu Herrn Schäufele, der immer noch wie tot auf dem Boden lag. Ich gab seiner Frau den Verbandskasten und hoffte, dass sie endlich etwas unternehmen würde. Sie sah mich nur an und weinte weiter. Kurz darauf hörten wir die Sirene vom Krankenwagen.

Zwei dicke Männer stiegen aus, legten Herrn Schäufele auf eine Liege und setzten ihm eine Maske auf den Mund.

„Wollen Sie mitkommen?“, fragte der eine Mann, während er die Liege in den Wagen schob. Frau Schäufele schüttelte nur den Kopf und legte ihren Arm um Helene.

Frau Schäufele stützte sich auch auf meine Schulter, während sie zum Haus zurückging, und zum ersten Mal durfte ich ein deutsches Haus betreten.

Die Treppen waren bedeckt mit einem blauen Teppich. Der Boden war so weich wie unser Bett. An der Wand hingen getrocknete Blumen und wunderschöne Bilder von Bergen und grünen Wiesen.

Helene und ihre Mama schluchzten ganz fürchterlich.

„Ihr müsst nicht weinen. Dein Papa ist nicht tot, und er wird bald wieder nach Hause kommen!“ Ich versuchte, die beiden zu trösten.

Frau Schäufele nahm meine Hand und stammelte: „Aber was sollen wir denn jetzt tun?“

„Sie müssen zu Ihrem Mann in die Klinik gehen. Das hat meine Anne auch gemacht, als Baba einen Unfall hatte.“

„Und was ist mit Helene?“

Ich richtete mich auf und sagte: „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bleibe bei Helene und wir warten, bis Sie wieder zurückkommen.“

Frau Schäufele nahm ihre Handtasche, zog ihre grüne Strickjacke an und verließ immer noch weinend das Haus. |18|Ich nahm Helene an der Hand und wir gingen ins Wohnzimmer. Ich war glücklich und sehr stolz auf mich!

Das war die Chance, endlich bei Helene zu sein und dieses schöne Haus von innen zu sehen. Ich wollte alle Räume anschauen, bevor Helenes Eltern wieder zurückkamen. Ich lief durch das Haus und konnte es kaum fassen. Ich dachte, wenn unser Haus so groß und so schön wäre, hätten wir sicher all unsere Verwandten aus Istanbul und Ostanatolien zu uns eingeladen. Dann wäre meine Anne bestimmt nicht so oft traurig und hätte auch kein Heimweh mehr.

Im Wohnzimmer standen außer einem großen Schrank eine braune Couch und ein großer Tisch aus Holz. Schäufeles hatten natürlich auch einen Fernseher und einen großen schwarzen Sessel, der davor stand.

„Da dürfen wir nicht sitzen, der Sessel gehört meinem Papa“, sagte Helene ganz leise und nahm mich an der Hand.

„Wie? Dein Papa hat einen eigenen Sessel? Und du? Hast du auch einen eigenen Sessel?“

„Ja, komm, ich zeig dir mein Zimmer“, sagte Helene. Sie hatte ein eigenes Zimmer, ganz für sich alleine! Mein Herz schlug bis zum Hals und ich war sehr aufgeregt. Es war ein Prinzessinnenzimmer. Auf ihrem kleinen Bett saßen ganz viele Puppen und Stofftiere. Der Tisch und ihr Stuhl waren rosa und an den Wänden hingen Poster von Tierbabys.

„Mit dieser Puppenstube hat schon meine Mama gespielt, aber ich darf sie nur anschauen. Erst wenn ich groß bin, darf ich damit spielen“, sagte Helene und nahm die weiße Tülldecke ab. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so Schönes gesehen.

Kleine Schränkchen, Stühle, Tische, einen Schaukelstuhl, eine Badewanne und sogar einen Küchenherd gab es in der Puppenstube.

|19|Ich wollte unbedingt und sofort damit spielen und dieses kleine Stühlchen nur ein Mal in der Hand halten!

„Helene, deine Eltern sind doch gar nicht da, lass uns damit spielen!“ Ich versuchte, Helene zu überreden, aber sie wollte nicht.

„Nein, ich zeige dir etwas viel Schöneres, komm, Bosporus.“

„Warum nennst du mich so? Ich heiße nicht Bosporus, ich heiße Nilgün!“

„Mein Papa sagt das immer, und ich dachte, das wäre dein Name.“ Helene sah beschämt auf den Boden.

Dachte Herr Schäufele wirklich, dass alle Türken Bosporus hießen?

Wir umarmten uns, und meine Freundin Helene drückte mich ganz fest an sich.

In diesem Haus gab es unendlich viele Zimmer. Ich wusste nicht gleich, in was für einem Zimmer wir jetzt waren, bis ich den Herd entdeckte. Der ganze Raum war voll mit Schränken und Regalen. Wir hatten in unserer Küche nur einen alten Schrank, und meine Anne stellte die Töpfe unter das Waschbecken. Schäufeles hatten auch in der Küche Stühle, die aussahen, als hätte man sie zusammengeklebt und um die Ecke gestellt. Helene sagte, das sei eine Eckbank. Das hatte ich auch noch nie gesehen.

„Wie viele Zimmer habt ihr eigentlich, verirrst du dich hier nicht?“

„Nein, so viele sind es nicht. Ohne Speisekammer sind es drei Zimmer und die Küche.“

Ich kam aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Die Familie Schäufele hatten eine Kammer, die so groß war wie die Küche und voller Lebensmittel. Wir hatten kein extra Zimmer für unsere Lebensmittel, und wir aßen im Wohnzimmer auf |20|dem Boden, von einem großen Tablett, das uns meine Großmutter geschenkt hatte.

Plötzlich klingelte es an der Tür, und wir rannten beide zum Fenster. Mine stand wütend draußen und schrie mich auf Türkisch an. Ich solle sofort nach Hause kommen, Anne würde bald da sein. Aber ich streckte ihr nur die Zunge raus. Ich wollte unbedingt noch einen letzten Blick auf die Puppenstube werfen. Ich genoss jeden Schritt auf diesem blauen, weichen Teppich.

Leider wurde meine Besichtigung kurze Zeit später von Helenes Eltern unterbrochen. Herr Schäufele durfte das Krankenhaus schon wieder verlassen, weil er nur einen Schwächeanfall gehabt hatte, aber seine Frau weinte immer noch.

„Jetzt hör endlich auf zu weinen. Das ist doch nichts Schlimmes!“, schimpfte Herr Schäufele und legte seine Hand auf die Schulter seiner Frau.

Danach holte er tief Luft, schaute mich an, und ich bekam wie üblich Angst.

Herr Schäufele bedankte sich bei mir und versprach, dass ich ab und zu Helene besuchen dürfe. „Aber nicht zu oft!“, sagte er mit erhobenem Zeigefinger.

„Ja, danke, Herr Schäufele, das mache ich sehr gerne“, antwortete ich ganz leise und verabschiedete mich von allen.

Ich hätte laut losschreien können vor Freude. Das war der Durchbruch! Ich war die Einzige, die Schäufeles Haus je von innen gesehen hatte. Ich war so stolz auf mich und wollte es unbedingt meiner Anne erzählen.

Als ich nach Hause kam, stand Anne bereits in der Küche und kochte.

„Anne, stell dir vor, was heute passiert ist. Ich habe Herrn Schäufele das Leben gerettet, und ich darf jetzt Helene besuchen, wann immer ich will!“

|21|Anne schien gar nicht hinzuhören, und sie freute sich auch nicht darüber.