Ich vernichte dich - Brad Parks - E-Book
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Ich vernichte dich E-Book

Brad Parks

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Beschreibung

Melanie ist eine gute Mutter. Sie liebt ihr Kind und ihren Mann. Doch jetzt hat man ihr den Sohn genommen. Ihre Wohnung wurde durchsucht. Sie soll Kokain im Kinderzimmer versteckt und ihr Kind im Internet zum Verkauf angeboten haben. Haltlose Vorwürfe, aber wie kann sie sich davon befreien? Jemand will sie vernichten. Jemand, der die Macht dazu hat. Hat sie überhaupt eine Chance? Die Katastrophe lauert an diesem Montagabend vor dem Haus der Tagesmutter, als Melanie mit den Worten überfallen wird: "Ihr Sohn ist nicht hier. Er befindet sich in der Obhut des Sozialamtes." Für die junge Mutter bricht ihre heile Welt zusammen: Sie wird beschuldigt, ihren Sohn vernachlässigt zu haben, mit Kokain zu dealen, den Stoff im Kinderzimmer gelagert zu haben und darüber hinaus auch noch ihr Kind im Internet zum Verkauf angeboten zu haben. Haltlose Vorwürfe, aber wie kann sie ihre Unschuld beweisen? Und wichtiger noch: Wer will sie auf diese Weise vernichten? Wer will ihr so viel Böses, ihr Leben in Trümmern sehen? Als Melanie auf eigene Faust der Sache auf den Grund geht, steht sie vor einem schier übermächtigen Gegner, der alles tun wird, damit sie keine Chance hat. Ein intensiver und fesselnder Thriller des vielfach ausgezeichneten Erfolgs-Autor Brad Parks ("Nicht ein Wort")

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Seitenzahl: 568

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BRADPARKS

ICH VERNICHTE DICH

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Irene Eisenhut

FISCHER E-Books

Inhalt

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. KapitelDanksagung

Für Alice Martell – mit Dank für ihr Talent, ihre Hingabe, ihre Weisheit und ihre unendliche Liebenswürdigkeit

1. Kapitel

Er trug seinen besten Anzug, der normalerweise Beerdigungen vorbehalten war.

Sie hatte ihre Perlen angelegt, da sie sich dadurch mütterlicher fühlte.

Arm in Arm gingen sie über den zementierten Weg zum Sozialamt des Shenandoah Valley, das in dem metallverkleideten Gebäude untergebracht war. Die Umgebung war nicht begrünt, nicht ausgeschmückt, es gab keinen Versuch, sie einladender zu gestalten. Als kommunale Behörde war das Sozialamt weder gewillt, solche gestalterischen Verschönerungen vorzunehmen, noch verfügte es über einen Etat hierfür. Ihre Klientel kam nicht freiwillig her.

Der Mann blieb vor der Eingangstür stehen.

»Vergiss nicht: Wir sind perfekt«, sagte er zu seiner Frau.

»Das perfekte Paar«, erwiderte sie.

Er öffnete die Tür, und sie gingen durch einen kahlen Betonziegelgang zum Hauptwartebereich. Auf einem Schild stand geschrieben: HINWEIS: KEINEWAFFEN.

Vor den Wänden des Raums, den sie bald darauf betraten, standen ringsherum blaue Kunstlederstühle, und überall hingen Warnungen, die darauf hinwiesen, keinen Betrug mit Essensmarken zu begehen. Ein paar Menschen, deren Los es war, in Familien geboren worden zu sein, die schon über mehrere Generationen hinweg in Armut lebten, blickten auf und starrten sie an. Männer in Anzügen und Frauen mit Perlenketten waren an diesem Ort kein üblicher Anblick.

Ohne den anderen Wartenden Beachtung zu schenken, durchquerten der Mann und die Frau den Raum und meldeten sich bei einer Empfangsdame, die verschanzt hinter einer dicken, durchsichtigen Scheibe aus Plastik saß. Ihre Arbeit konnte schwierig sein: Sie reichte von der Bewilligung von Zuschüssen und der Ablehnung von Anträgen bis hin zur Abholung missbrauchter und vernachlässigter Kinder aus der eigenen und deren Unterbringung in eine andere Familie. Derlei Vorfälle hatte es gegeben.

Nach zirka einer Minute empfing die zuständige Familiensachbearbeiterin den Mann und die Frau. Die Sachbearbeiterin trug eine eckige Brille und einen straff gebundenen Pferdeschwanz. Sie begrüßte den Mann und die Frau mit Namen, lächelte dabei herzlich und umarmte sie.

Ihr heutiges Treffen unterschied sich völlig von ihrer ersten Begegnung, die etwa drei Monate zurücklag und in der es lediglich ein nüchternes Händeschütteln und berechtigtes Misstrauen gegeben hatte. Ehepaare wie diese betraten nicht einfach so das Sozialamt von Shenandoah Valley und meldeten sich freiwillig als Pflegeeltern. Ehepaare wie diese – die über finanzielle Mittel und Verbindungen verfügten und deren Auftreten nahelegte, dass sie es nicht gewöhnt waren, auf das zu warten, was sie haben wollten – wandten sich entweder an private Adoptionsagenturen oder reisten ins Ausland, um sich Kinder zu besorgen: nach Osteuropa, wenn sie ein weißes Kind haben wollten; nach Afrika, Asien oder Südamerika, wenn es ihnen egal war.

Im Ernst, was machen Sie hier?, hatte die Sachbearbeiterin sie fragen wollen.

Doch dann hatte sie mit ihnen ein Gespräch geführt, und die beiden hatten sie überzeugt. Sie erzählten ihr von den vergeblichen Versuchen, schwanger zu werden, und von den Tests, die offenbarten, dass sie nie eigene Kinder bekommen könnten.

Aber sie wollten unbedingt eine Familie haben und hatten deshalb entschieden, ein Kind vor Ort zu adoptieren. Warum ins Ausland fahren, wenn es bedürftige Kinder hier in der eigenen Gemeinde gab? Sie wollten die Liebe, die in ihnen war, weitergeben.

Die Familiensachbearbeiterin versuchte, ihnen zu erklären, dass es bei dem von ihnen gewählten Weg keine Garantien gab. Es könnten Monate oder sogar Jahre vergehen, bis ihnen ein Kind zugeteilt werden würde. Selbst dann könnte es sein, dass sie es nur zur Pflege bekamen und es später wieder an die leibliche Mutter zurückgeben müssten. Adoption sei immer nur die letzte Option. Vorrangiges Ziel für die Sozialämter sei es – ganz zu schweigen von den in Virginia geltenden Gesetzen –, die Kinder mit ihren leiblichen Eltern wieder zusammenzuführen.

Als die Frau das hörte, kaute sie an ihren Fingernägeln. Der Mann wirkte unbeirrt.

Nach dieser ersten Unterhaltung hatte das Elternorientierungsgespräch stattgefunden, dem die Schulungen gefolgt waren. Sie hatten sich Notizen gemacht, Fragen gestellt und sich so verhalten, als wollten sie diese Schulungen als Klassenbeste abschließen.

Der Rundgang in ihrem Haus, bei dem sämtliche Räumlichkeiten auf ihre Tauglichkeit zur Unterbringung eines Kindes hin überprüft worden waren, hatte zu keinerlei Beanstandungen geführt. Es war alles vorhanden gewesen, von den Kindersicherungen bis hin zu den Rauchmeldern.

Und das Kinderzimmer? Mustergültig. Ein Kinderbett, das den üblichen Standard weit übertraf. Die Windeln, ordentlich gestapelt. Die Wände, frisch in Hellblau gestrichen.

»Blau?«, hatte die Familiensachbearbeiterin gefragt. »Was, wenn es ein Mädchen ist?«

»Ich habe da so ein Gefühl«, hatte der Mann geantwortet.

Sie wurden auf etwaige Vorstrafen hin überprüft. Die vorgelegten Gehaltsabrechnungen zeigten, dass sie über genügend Einkommen verfügten, um ein Kind zu ernähren. Ihre Konten quollen förmlich über vor Rücklagen.

Hausversicherung, vorhanden. Autoversicherung, vorhanden. Lebensversicherung, vorhanden. Ihr Arzt hatte bestätigt, dass beide, sowohl die angehende Mutter als auch der angehende Vater, bei bester Gesundheit waren. Die von ihnen als Referenz angegebenen Personen überschlugen sich vor Lob.

In den dreizehn Jahren, in denen die Familiensachbearbeiterin mittlerweile beim Sozialamt tätig war, hatte sie schon mit Hunderten von Familien zu tun gehabt. Doch selbst die liebenswertesten, vernünftigsten und besten hatten irgendwelche Probleme.

Diese Familie nicht. Sie war noch nie zwei Menschen begegnet, die besser vorbereitet waren.

Sie waren das perfekte Paar.

Das Sozialamt von Shenandoah Valley vergab offiziell keine Plätze unter den potentiellen Pflegefamilien. Doch wer sollte schon oben auf der Liste stehen, wenn nicht sie, falls ein Kind zu vergeben war?

Selbst zu diesem Termin waren sie so adrett erschienen, als würden sie an einer wichtigen, öffentlichen Feier teilnehmen. Dabei waren sie in dieses schäbige Büro ohne Fenster nur noch einmal gekommen, um ein Stück Papier entgegenzunehmen. Es war ihre Bescheinigung, die ihnen bestätigte, alle notwendigen Maßnahmen absolviert zu haben, um Pflegeeltern zu werden.

Sie strahlten vor Glück, als sie das Dokument in den Händen hielten. Jetzt war es amtlich, jetzt waren sie Pflegeeltern.

Noch mehr Umarmungen. Noch mehr lächelnde Gesichter. Die Empfangsdame trat hinter ihrem Schutzwall hervor, um Fotos zu machen. Es war für dieses Paar ein ganz besonderer Anlass.

Dann verabschiedeten sie sich.

»Und was ist, wenn der ganze Aufwand umsonst war?«, fragte die Frau, als sie das Gebäude verließen.

»War er nicht«, versicherte ihr der Mann.

»Du glaubst wirklich, dass es dazu kommen wird?«

Er beugte sich zu ihr.

»Mach dir keine Sorgen!«, sagte er. »Wir werden im Nu ein Kind haben.«

2. Kapitel

Wenn man eine berufstätige Mutter ist, so wie ich, weiß man eins ganz genau: Eine gute Kinderbetreuung – sicher, bezahlbar und zuverlässig – ist seltener als ein lupenreiner Diamant und mindestens doppelt so viel wert. Sie ist das Bindegewebe, die Luft in den Lungen und das lebenswichtige Vitamin, das alle anderen Aktivitäten überhaupt erst möglich macht.

Die Kehrseite einer Kinderbetreuung ist die, dass man im Prinzip handlungsunfähig ist, wenn man sie verliert, insbesondere im Fall eines Kleinkinds.

Genau diese Katastrophe versuchte ich an jenem Dienstagabend abzuwenden. Es war Anfang März. Ich raste mit meinem Auto zu Ida Ferncliffs Haus und richtete dabei ein Auge auf die Straße und eins auf die Uhr, die erbarmungslos in Richtung 18.00 Uhr tickte.

Mrs Ferncliff war die Tagesmutter unseres mittlerweile drei Monate alten Sohns, Alex, der mit sechs Wochen in die Kinderbetreuung gekommen war. Sie war im Umgang mit Kindern und Babys so magisch wie Harry Potter – geduldig und freundlich, fürsorglich und ruhig, nichts brachte sie aus der Fassung.

Im Umgang mit Erwachsenen glich sie eher Voldemort. Mein Mann, Ben, nannte sie Der Kaiser, nach Kaiser Wilhelm. Und das nicht nur wegen ihres Schnurrbarts. Sie hatte Regeln, die sie eisern befolgte, und genau das Gleiche erwartete sie von ihren Mitmenschen.

Eine dieser Regeln besagte, dass die Kinder bis um spätestens 17.30 Uhr abgeholt werden sollten. Es gab eine Gnadenfrist von fünfzehn Minuten, doch Mrs Ferncliffs Vorstellung von Gnade ging mit dem Schürzen der Lippen und einem bitterbösen Blick einher. Nach 17.45 Uhr verhängte sie eine Strafe von zwanzig Dollar, plus einem Dollar für jede weitere Minute.

Holte man sein Kind nach 18.00 Uhr ab, stellte das einen Grund zur Kündigung des Vertrags dar. Jenes Vertrags, den ich, Melanie A. Barrick, und mein Mann, Benjamin J. Barrick, unterzeichnet hatten. Mrs Ferncliff hatte mir klargemacht, dass sie nicht zögern würde, die Nach-achtzehn-Uhr-Klausel anzuwenden, als ich einmal um 17.52 Uhr, einmal um 17.47 Uhr und einmal um 17.58 Uhr vor ihrer Haustür stand, da meine Schichtablösung, der widerliche Warren Plotz, jeweils mit mehr als einer halben Stunde Verspätung eingetrudelt war, so dass ich mich hatte sputen müssen, um es noch rechtzeitig zu schaffen.

Meine Beschwerden über Warrens Unpünktlichkeit waren ins Leere gelaufen. Die Tatsache, dass er der Sohn des Firmeninhabers war, gab ihm anscheinend das Recht, sich wie ein Flachwichser verhalten zu dürfen. Dabei lautete die erste Regel bei Diamond Tracking, dass der Schreibtisch des Disponenten – die lebenswichtige Verbindung für sechsundvierzig Trucks, die kreuz und quer durchs Land fuhren und deren Ladung aus verderblicher Frischware bestand – rund um die Uhr besetzt sein musste.

Außerdem konnte ich es mir nicht erlauben, diesen Job zu verlieren. Der Stundenlohn betrug achtzehn Dollar, und ich musste keinen Eigenanteil leisten für eine Krankenversicherung ohne Selbstbeteiligung. Ein Vorteil, der unbezahlbar war, seitdem wir Alex hatten. Wir kamen so in den Genuss kostenloser Kindervorsorgeuntersuchungen.

Mein Job als Disponentin in einer Spedition stellte zugegebenermaßen nicht die Karriere dar, die ich mir erhofft hatte, als ich mein Studium an der University of Virginia summa cum laude abschloss. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich mit einunddreißig Jahren einer sinnvollen Arbeit in einer Organisation mit sozialer Verantwortung nachgehen würde.

Doch diese hochgesteckten Ziele stießen mit den Realitäten des Jahres 2009 zusammen, meinem Abschlussjahr. Wie sich herausstellte, sollte es der schlimmste Zeitpunkt in der Geschichte des heutigen Amerikas sein, um den Arbeitsmarkt zu betreten. Doch mein Fachgebiet, die englische Literatur, übertraf noch mein grässliches Timing. Damit war ich zwar welt- und wortgewandt, aber praktisch unvermittelbar.

Nach fünf Jahren und unzähligen erfolglosen Bewerbungen –  fünf Jahren, in denen ich entweder arbeitslos war oder als Bedienung bei Starbucks jobbte und Caffè latte servierte – konnte ich endlich diese Stelle ergattern, auf die ich nicht mehr verzichten wollte. Selbst wenn das bedeutete, dass Warren Plotz’ ständige Unpünktlichkeit mir fast jede zweite Woche einen Herzinfarkt bescherte.

Es war 17.54 Uhr, als ich auf die Ampel des Statler Boulevard zufuhr, der entlang der östlichen Seite von Staunton, einem idyllischen Städtchen im Shenandoah Valley mit zirka 25000 Einwohnern, einen Halbkreis bildet. Eigentlich gefiel mir die gemächlichere Gangart in Staunton, außer sie trat in Form von Autofahrern auf, die zwischen sich und dem nächsten Fahrzeug einen Abstand von sechs Autolängen pflegten, so dass man ständig die Fahrbahn wechseln musste, um an ihnen vorbeizukommen.

Ich brauchte vom Statler Boulevard bis zu Mrs Ferncliffs Haus genau sechs Minuten, wie ich aus bitterer Erfahrung wusste. Sollte ich es über die Ampel schaffen, während die Uhr noch immer 17.54 Uhr anzeigte, wäre ich auf der sicheren Seite. Gerade noch so.

Doch dann, ich war noch immer einhundert Meter davon entfernt, sprang sie auf Gelb. Aus Gründen, die nur die Ampelschaltungsgötter kannten, dauerte es eine halbe Ewigkeit bis zur nächsten Grünphase. Ich würde es niemals rechtzeitig schaffen, wenn ich anhielte. Mrs Ferncliff würde den Vertrag kündigen, und wir wären gezwungen, uns eine neue Kinderbetreuung zu suchen.

Eine völlig aussichtslose Sache. Das wusste ich schon jetzt. Ben – in Alabama in einer afroamerikanischen Familie aufgewachsen, die kein Geld besaß – war Doktorand und bezog nur ein kleines Gehalt, so dass wir uns keine dieser tollen Kindertagesstätten leisten konnten, die versprachen, dass das Kind schon bis zum dritten Lebensjahr die Quantentheorie beherrschte. Uns blieben nur Tagesmütter übrig, die, so schien es, entweder Kettenraucherinnen waren, nachlässige Urgroßmütter oder Menschen, die es für ungefährlich hielten, wenn ein Kleinkind ab und zu abgeblätterte bleihaltige Farbe einatmete.

Ich trat aufs Gaspedal. Nur Nanosekunden bevor ich die dicke weiße Linie überfuhr, sprang die Ampel auf Rot.

Egal. Ich hatte es geschafft und atmete erleichtert aus.

Da sah ich die blauen Lichter eines Polizeiwagens in meinem Rückspiegel leuchten.

 

Einen Strafzettel und dreiundzwanzig Minuten später bog ich hektisch in die kurze Einfahrt von Mrs Ferncliffs Haus ein. Ich schnappte mir den Zettel, da ich hoffte, dass Der Kaiser so Milde walten lassen würde. Dann stieg ich aus dem Auto, ging die wenigen Stufen zur Haustür hinauf und drehte den Türgriff um.

Die Tür war verschlossen.

Das war eigenartig, denn Mrs Ferncliff ließ die Tür normalerweise offen, da sie die Kinder nicht gern unbeaufsichtigt ließ.

Ich klingelte und wartete. Fünfzehn Sekunden. Dreißig Sekunden. Dann klingelte ich noch einmal.

»Mrs Ferncliff, ich bin’s, Melanie Barrick«, rief ich. Sie war drinnen im Haus und stocksauer auf mich. Das wusste ich. »Es tut mir leid, dass ich zu spät bin. Man hat mich bei der Arbeit mal wieder aufgehalten, und dann musste ich mich so sehr beeilen, dass die Polizei mich angehalten hat. Ich … ich hätte Sie auch angerufen, aber ich kann mein Handy nicht finden.«

Ich klang jämmerlich. Absolut jämmerlich. Obwohl ich in der Geschichte der Menschheit nicht die schlechteste Erziehungsberechtigte war – diesen Titel hatten meine Eltern schon vor langer Zeit erworben, als sie mich mit neun Jahren zur Adoption freigaben –, fehlte nicht mehr viel dazu.

»Es tut mir leid, okay?«, fuhr ich fort. »Schrecklich leid. Können Sie bitte die Tür aufmachen?«

Immer noch keine Antwort. Vielleicht sammelte sie nur die Sachen von Alex ein, um sie durch die Tür zu reichen, zusammen mit meinem Kind.

Und dem Vertrag, markiert mit der Achtzehn-Uhr-Kündigungsklausel.

Ich stand eine weitere Minute auf der Veranda – musste ich dafür etwa auch einen Dollar zahlen? – und wurde allmählich wütend. Wie lange wollte sie mich mit ihrem Schweigen noch bestrafen? Ich schlug mit der Hand gegen die Tür.

»Mrs Ferncliff, bitte!«, flehte ich. »Es tut mir leid, dass ich zu spät bin. Sehr viel zu spät bin. Es tut mir leid, dass ich eine schreckliche Mutter bin. Es tut mir alles furchtbar leid.«

Immer noch keine Antwort.

Schließlich erklang Mrs Ferncliffs strenge Stimme. »Gehen Sie weg! Gehen Sie, oder ich rufe die Polizei.«

»Okay, in Ordnung. Geben Sie mir einfach nur Alex, und ich verschwinde.«

Und dann sagte Mrs Ferncliff einen Satz, der einen elektrischen Schlag von mehreren Gigawatt durch meinen Körper jagte.

»Alex ist nicht mehr da.«

Ich schnappte unwillkürlich nach Luft. »Wie bitte?«

»Er ist beim Sozialamt.«

Der Elektroschock raste mittlerweile von meinen Füßen zum Kopf. Ich wusste, dass Mrs Ferncliff eine strenge Person war, aber das hier war krankhaft.

»Sie haben mein Kind dem Sozialamt übergeben, weil ich zwanzig Minuten zu spät dran bin?«, brüllte ich.

»Ich habe Ihr Kind nicht dem Sozialamt übergeben. Da war jemand vor ein paar Stunden hier und hat ihn mitgenommen.«

»Was? Warum? Was zum …«

»Fragen Sie das Sozialamt! Und jetzt gehen Sie! Verlassen Sie mein Grundstück!«

»Mrs Ferncliff, warum hat das Sozialamt Alex mitgenommen? Ich habe keine Ahnung, was hier los ist.«

»Gut, dann sag ich’s Ihnen«, schrie sie. »Man hat mir alles über Sie erzählt. Ich hoffe, dass man das Kind so weit wie möglich von Ihnen wegbringt.«

»Wovonreden Sie denn?«

»Ich hole jetzt die Polizei.«

»Könnten wir bitte … einfach nur ein vernünftiges Gespräch miteinander führen?«

Keine Antwort.

»Bitte, Mrs Ferncliff, bitte!«

Doch sie hatte das Antworten eingestellt. Ihre Stimme drang durch die Tür. Sie sprach laut mit der Polizei von Staunton – das war beabsichtigt – und erklärte, dass ein Eindringling gegen ihre Tür hämmere und sie um ihre Sicherheit besorgt sei.

Ich spürte, dass ich keine andere Wahl hatte. Die unnachgiebige Mrs Ferncliff würde ihre Meinung nicht mehr ändern. Also verließ ich die Veranda und kehrte zu meinem Auto zurück.

Ich setzte mich hinein. Mir war klar, dass ich Alex finden musste. Doch ich war zu verwirrt, um strukturiert zu denken und einen Plan zu fassen, wie ich das bewerkstelligen könnte.

»Man hat mir alles über Sie erzählt. Ich hoffe, dass man das Kind so weit wie möglich von Ihnen wegbringt.«

Was meinte sie damit überhaupt? Alex war weder unterernährt, noch hatte er Blutergüsse oder wurde in irgendeiner Weise misshandelt.

Ich konnte es mir nur so erklären, dass sich jemand beim Sozialamt über mich beschwert hatte. Wenn man wie ich als Pflegekind aufgewachsen ist, lernt man schnell, dass es eine bestimmte Sorte von Mensch gibt – eine gemeine, widerliche, nachtragende Unterart eines Untermenschen –, die das Sozialamt anonym anruft und es als Waffe einsetzt. Und das nur aus Boshaftigkeit, weil sie einen Nachbarn, einen Kollegen oder eine andere Person abgrundtief hassen.

Ich konnte einfach nicht glauben, dass es in meinem Leben so eine Person gab. Warren Plotz war zu sehr damit beschäftigt, seine Arbeitszeiten zu verschlafen, um eine derartige Heimtücke an den Tag zu legen. Ich hatte keine Nachbarn, mit denen ich Streit hatte. Ich hatte keine Feinde.

Zumindest keine, von denen ich wusste.

Ich fuhr rückwärts aus der Einfahrt, damit Mrs Ferncliff mir nicht die Polizei auf den Hals hetzen konnte.

Panik stieg in mir auf.

Alex ist nicht mehr da.

Er ist beim Sozialamt.

Ich versuchte mir einzureden, dass es ein Missverständnis war, doch es gelang mir nicht. Ich wusste es besser. Das Sozialamt kam nicht einfach vorbei und nahm ein Kind mit, nur weil eine Tagesmutter sich über die Unpünktlichkeit der Mutter ärgerte. Sie tauchten nur auf, wenn ein Grund vorlag. Beziehungsweise wenn sie glaubten, dass ein Grund vorlag.

Und sie gaben das Kind erst wieder zurück, wenn es auch dafür einen Grund gab.

Das hatte ich während der Zeit gelernt, als ich in staatlicher Obhut war. Doch ich hatte in meiner Jugend eine noch größere Lektion gelernt – eine Lektion, die mich gerade einholte wie ein Echo aus vergangenen Zeiten. Ich hatte damals vor Wut geschäumt, weil ich aus einer stabilen, netten Pflegefamilie herausgerissen wurde und ohne ersichtlichen Grund wieder in ein Pflegeheim gesteckt wurde.

»Das ist eine Katastrophe«, stöhnte ich.

»Süße, so ist nun mal das Pflege-System«, antwortete sie mir. »Die Katastrophe ist immer näher, als du denkst.«

3. Kapitel

Ein dünner Schweißfilm überzog meinen Körper, als ich losfuhr. Ich verließ mich beim Lenken des Autos auf mein motorisches Gedächtnis, da ich nicht das Gefühl hatte, Herr meiner Gliedmaßen zu sein.

Ich bog von Mrs Ferncliffs Straße auf den Boulevard ab. Die gelbe Doppellinie am Fahrbahnrand sah verschwommen aus. Entweder lag es am Schweiß oder an den Tränen. Ich wollte dringend Ben anrufen. Doch neben seiner Dissertation und den beiden Kursen, die er als Lehrassistent gab, arbeitete er auch noch Teilzeit als Tutor am Lernzentrum der James Madison University. Er nahm nie einen Anruf entgegen, wenn er seine Studenten unterrichtete.

Außerdem war mein Handy unauffindbar. Selbst eine intensive Suche an den üblichen Stellen – dem Tisch neben der Haustür, der Wickeltasche, den Sofakissen und so weiter – hatte am Morgen nichts erbracht.

Der einzige Mensch, den ich mit einer Angelegenheit wie dieser behelligen konnte, war Marcus Peterson. Er hatte als Geschäftsführer in dem Starbucks Café gearbeitet, in dem ich als Aushilfe beschäftigt gewesen war. Mittlerweile war er einfach ein lieber Freund, der alles stehen und liegen lassen würde, um mir zu helfen. Das Problem war nur, dass seine Kontaktdaten in meinem Handy und nicht in meinem Kopf gespeichert waren. Wer wusste heutzutage schon noch die Nummern seiner Freunde auswendig?

Ansonsten gab es niemanden, an den ich mich wenden konnte. Der Rest meiner Freunde war entweder zu weit weg, oder ich hatte keinen regelmäßigen Kontakt. Bens Eltern lebten in Alabama, und meine existierten nicht. Das war eine der bitteren Realitäten, die man erkannte, wenn man in Pflegeheimen und Pflegefamilien aufwuchs: Lief mal etwas schief, gab es keine Familie, die einen seelisch aufrichtete.

Ich fuhr zum Sozialamt, ohne dass ich einen richtigen Plan hatte, und hoffte verzweifelt, dass Alex noch dort war. Oder dass ein Mitarbeiter noch spät arbeitete und seinen Aufenthaltsort kannte.

Die nächstgelegene Dienststelle befand sich im Gebäudekomplex der Bezirksverwaltung am Ende der Hauptstraße in Verona. Das Sozialamt des Shenandoah Valley war eine von zwei Behörden, die ich in meiner Jugend kennengelernt hatte. Das Gebäude war ein nüchterner, fensterloser Bau, der einem Lagerhaus ähnelte. Was passend war. Wenn man als Kind ständig zwischen Heimen hin- und hergeschoben wird, kommt man sich wirklich so vor, als würde das Sozialamt einen lagern.

Als ich um 18.45 Uhr auf den Parkplatz fuhr, stand nur noch ein einziges Fahrzeug da, ein kleiner Chevy. Vielleicht war sein Besitzer noch immer im Gebäude und konnte mir etwas über den Verbleib meines Sohnes sagen.

Der Eingang der Angestellten befand sich auf der linken Seite. Ein kleines Licht, eingefasst in einem Schutzgitter, brannte über dem Eingang. Es gab weder eine Klingel noch eine Gegensprechanlage.

Da ich nicht wusste, wie ich mich sonst bemerkbar machen sollte, trommelte ich mit der Faust gegen die Tür.

Das führte erst nur dazu, dass mir die Hand weh tat. Ich bin ein Meter fünfundsechzig groß und wiege vierundfünfzig Kilogramm, womit ich kaum eine Gefahr für eine stabile Stahltür darstelle. Trotzdem legte ich meine ganze Kraft in die Schläge hinein, so dass das kastenförmige Gebäude wie eine große Basstrommel erschallte. Der Fahrer dieses Chevy musste mich hören.

Ich hämmerte rhythmisch gegen die Tür: vier Schläge, eine kurze Pause, vier Schläge.

Bumm! Bumm! Bumm! Bumm! Warten. Bumm! Bumm! Bumm! Bumm! Warten.

Schließlich ertönte eine Stimme. »Kann ich Ihnen helfen?«

Es war die Stimme einer Frau, auf der anderen Seite der Tür.

»Ja! Danke, danke!«, sagte ich. Mir war klar, dass ich überdreht klang. »Ein Mitarbeiter vom Sozialamt ist heute bei der Tagesmutter meines Sohnes aufgetaucht und hat ihn mitgenommen. Und ich … ich wollte jetzt nur mit jemandem sprechen, um die ganze Sache zu klären.«

Ich bemühte mich, nicht den Eindruck zu machen, als würde mich schnell etwas aus der Fassung bringen.

Es entstand eine kurze Stille.

»Hat man Sie denn nicht angerufen, oder jemand ist bei Ihnen vorbeigekommen?«

Ihre Frage klang, als wäre das ungewöhnlich. Als würde es sogar gegen die Regeln verstoßen. Und es war in der Tat ungewöhnlich, oder? Man konnte einer Mutter doch nicht einfach das Kind wegnehmen, ohne dieses Vorhaben in irgendeiner Art anzukündigen.

»Nein. Nein, niemand«, antwortete ich erleichtert. Ich hatte allein durch die Frage schon das Gefühl, dass diese Frau vernünftig oder zumindest bereit war, mit mir zu sprechen.

»Okay, warten Sie einen Augenblick! Wie heißen Sie?«

»Melanie Barrick. Mein Sohn heißt Alex. Man hat ihn aus dem Haus von Ida Ferncliff geholt. Sie wohnt in der Churchville Avenue, und ich weiß … ich weiß nicht einmal, warum.«

»In Ordnung. Lassen Sie mich einen Anruf machen. Ich bin gleich wieder da.«

»Danke«, sagte ich. »Vielen Dank.«

Ich stand da und starrte auf die Tür. Die Außentemperatur betrug ungefähr fünf Grad. Ich war aus dem Büro gegangen, ohne nach meiner Jacke zu greifen. Egal. Mein Herz raste derart schnell, dass ich die Kälte nicht wahrnahm.

Ich hoffte, dass mein Sohn gerade untersucht wurde. Er lächelte gern, hatte knubbelige Knie und blaugraue Augen, die stets aufmerksam umherblickten. Die Untersuchung würde ergeben, dass er unmöglich misshandelt worden sein konnte.

Wahrscheinlich hatte das Sozialamt versucht, mich anzurufen, doch wir haben keine Festnetzleitung; und auf meinem abhandengekommenen Handy hatte sich wahrscheinlich sofort die Mailbox eingeschaltet, da der Akku leer war.

Das würde sich jetzt alles aufklären. Es würde zwar eine Weile dauern, ja – beim Sozialamt dauerte alles eine Weile –, doch Alex würde abends wieder bei uns zu Hause sein. Er würde in seinem Kinderbett schlafen und in der Nacht hungrig aufwachen. Ich würde ihn stillen. Alles wäre so wie immer. Unsere ganz normale Routine.

Ich hörte ein zaghaftes »Hallo« von der anderen Seite der Tür.

»Ja, hallo. Ich bin hier«, antwortete ich und beugte mich zur Tür, als würde ich so Alex näher kommen.

»Ich habe mit meiner Vorgesetzten über Ihren Fall gesprochen. Sie müssen morgen früh wiederkommen.«

Da explodierte etwas in meinem Kopf.

»Was?!«, schrie ich. Und das nicht deshalb, weil ich sie nicht gehört hatte.

»Es tut mir leid. Das waren ihre Worte. Sie hat gemeint, dass man Ihnen dann die weitere Vorgehensweise erklären könnte.«

Die weitere Vorgehensweise? Waren wir jetzt Teil einer Vorgehensweise?

»Aber wo ist mein Sohn?«, fragte ich.

»Tut mir leid, das kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Nein, warten Sie!«, rief ich verzweifelt. »Sie können mir nicht einfach meinen Sohn wegnehmen und dann nichts dazu sagen. Ich bin … ich bin seine Mutter. Ich habe Rechte. Das ist … das ist verrückt. Können Sie nicht wenigstens die Tür aufmachen und mit mir sprechen?«

»Tut mir leid, Mrs Barrick«, sagte die Frau. Ihr Ton klang jetzt bestimmter. »Sie werden morgen früh wiederkommen müssen.«

»Nein, nein!«, schrie ich. »Das ist nicht richtig. Sie haben einen Fehler gemacht, einen Riesenfehler. Ich weiß, dass eine Anzeige gegen mich erstattet worden sein muss. Aber was immer da behauptet wird, ist gelogen. Sie werden belogen. Menschen tun das, wissen Sie. Sie benutzen Sie, um sich zu rächen. Das sollten Sie wissen.«

Ich machte mir keine Gedanken darüber, dass ich klang wie eine Irre.

»Kommen Sie morgen früh wieder, Mrs Barrick!«, sagte die Frau. »Ich muss jetzt gehen.«

»Könnte ich bitte persönlich mit Ihrer Vorgesetzten sprechen? Das ist … Ich bin doch keine schlechte Mutter. Ich würde meinem Kind nie etwas antun. Schauen Sie ihn sich doch nur an! Es geht ihm gut. Sehen Sie das denn nicht? Bitte!«

Ich erhielt keine Antwort. Also schlug ich gegen die Tür.

»Bitte!«, rief ich. »Bitte helfen Sie mir.«

Die nächsten fünf oder zehn Minuten wiederholte ich meine Bitte immer wieder in verschiedenen Versionen und wurde zunehmend hysterischer.

Ich wusste einfach zu viel über das System der Kinderfürsorge und hatte seine Defizite am eigenen Leib erfahren. Ich hatte erlebt, wie die eigentlich guten Absichten durch Uneinsichtigkeit und Unsinnigkeit einer prinzipiell unübersichtlichen Bürokratie verdreht werden konnten. Ich hatte zu viele gerissene Erwachsene kennengelernt, die sich die mangelnde Kontrolle zunutze machten. Sei es die dauerfaule Sozialarbeiterin, die nur das Nötigste machte, um ihre Stelle zu behalten, oder die Pflegefamilie, der es lediglich ums Geld ging, wenn sie ein Kind aufnahm.

Ja, sie waren in der Minderheit. Aber selbst die guten Menschen warf man in diesen zu großen und zu schwerfälligen Apparat, der zu sehr damit beschäftigt war, sich um die kollektive Gestörtheit der Gesellschaft zu kümmern. Dass eine derart sperrige Organisation genauso viele Probleme schuf, wie sie löste, war daher fast unvermeidlich.

Menschen, die in dieser Welt gefangen waren, nannten die Fürsorge einfach nur »das System«, was wirklich die perfekte Bezeichnung für etwas derart Kaltes, Komplexes und letztendlich Unpersönliches war. Sobald man im System steckte, verlor man einen Teil seiner Menschlichkeit. Die Familie wurde zu einer Akte, die von einem gestressten, unterbezahlten, überarbeiteten Beamten zum nächsten weitergereicht wurde.

Ich hatte in meiner eigenen zerrütteten Kindheit zu viel erlebt und mich zu sehr anstrengen müssen, um mich von diesem Irrwitz zu befreien, als dass ich noch einmal in die Fänge des Systems geraten wollte.

Das würde nicht geschehen. Das durfte nicht geschehen.

Nicht mit meinem Sohn.

Denn ich wusste ganz genau, wie die Sache weiterlaufen würde. Sobald das System einen erst mal erfasst hatte, war es schwierig, wieder herauszukommen, da dessen kollektive Maschinerie wie ein riesiger Stahlschlund funktionierte, der einen zwischen den spitzen Schneidezähnen gefangen hielt und immer weiter zerlegte, wenn man sich drehte oder wand.

Eltern waren für das Sozialamt so lange schuldig, bis ihre Unschuld bewiesen war, egal was im Gesetz geschrieben stand. Die Sozialarbeiter dachten entweder von Beginn an so, oder sie nahmen diese Denkweise sehr schnell an. Ich hatte es selbst so erfahren. Wann immer das Sozialamt sich mit meinem Fall beschäftigte, stand die leise Vermutung im Raum, dass ich eigentlich Abschaum war.

Man tat so, als wäre man an meiner Meinung interessiert, sprach von einem partnerschaftlichen Verhältnis und von Zusammenarbeit. Doch in Wahrheit bestimmten die Sozialarbeiter, wo es langging, sie zogen im Hintergrund die Fäden.

Das Sozialamt hatte also bereits entschieden, wo Alex die Nacht verbringen würde. Eine andere Person – irgendein Fremder, irgendeine Pflegemutter oder Heimleiterin, die mir noch nie begegnet waren und die sich nie so um mein Kind kümmern könnten wie ich – hielt jetzt also meinen Sohn in den Armen.

Oder auch nicht. Vielleicht lag er mit einer schmutzigen Windel in einem Kinderbett und schrie vor Hunger. Oder es erging ihm noch schlimmer.

Was immer ich tun würde, ob weinen, Zeter und Mordio schreien oder mich vor Schmerz auf den Boden werfen, nichts davon würde etwas nützen. Ich sackte weinend gegen die Tür und sank auf den kalten Betonboden.

Die Frau war nicht mehr da.

So wie Alex.

4. Kapitel

Alle Menschen haben ein Laster.

Bei den einen sind es Zigaretten, bei den anderen Alkohol oder Pornos.

Bei Amy Kaye war es etwas nicht ganz so Zerstörerisches, dafür aber umso Peinlicheres.

Es war Dancing with the Stars. Die Reality-TV-Show – in der gutaussehende Promis und durchtrainierte, professionelle Tänzer ein Paar bilden und in einem Wettkampf beschwingter Bedeutungslosigkeit gegeneinander antreten – war ihre Droge, ihr Seelentröster-Essen, ihre Obsession. Na ja, auf jeden Fall eine ihrer Obsessionen.

Niemand im Gericht des Augusta County hätte vermutet, dass die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin, deren Wissen über Gesetze selbst einige der Richter einschüchterte, ihre Abende gern auf der Couch verbrachte, eingerollt unter einer Decke, und sich diese seichte Sendung ansah; oder dass sie manchmal weinte, wenn die Teilnehmer ausschieden (und stets weinte, wenn sie weiterkamen); oder dass ihr Hund, Butch, selbstverständlich mit ihr zusammen unter der Decke lag, obwohl die Couch eigentlich für ihn tabu war.

Amy gab derartige Details einfach nicht preis – genauer gesagt, gab sie überhaupt keine persönlichen Details preis. Sie hatte schon zu oft erlebt, dass diese gegen einen Staatsanwalt verwendet wurden.

Sie bemühte sich um ein Bild, das nur auf ihr Können und ihre Leistung beschränkt war. Amy trug kurzgeschnittenes dunkles Haar, kein Make-up und kleidete sich konservativ. Niemand kannte ihr genaues Alter (zweiundvierzig), ob sie verheiratet war (war sie, mit einem Mann) oder ob sie Kinder hatte (hatte sie nicht und vermisste sie auch nicht besonders). Man wusste nur, dass sie Softball in der gemischten Mannschaft der örtlichen Freizeitliga spielte. Sie gehörte dem Team des Büros des Sheriffs an, wo sie sich als erstklassige Besetzung für die Position der Third Base herausgestellt hatte.

Das führte natürlich zu Gerüchten, sie sei lesbisch. Doch das war ihr egal.

Was im Gericht geschah, sollte eigentlich nichts mit dem persönlichen Charakter zu tun haben, sondern mit den Gesetzen. Und innerhalb dieser Gesetze hatte die Person, die den Bundesstaat Virginia vertrat, eine gewisse Funktion einzunehmen. Die Aufgabe war mehr als nur ein Job. Die Aufgabe war eine Pflicht, auf die man einen Eid geschworen hatte. Und Amy hatte vor, dieser Pflicht so gut wie möglich nachzukommen.

Zumindest so lange, bis Dancing with the Stars ins Spiel kam. Dann konnte das Gesetz warten.

In der neuesten Staffel war einer der Teilnehmer ein Sportler, der einmal bei Olympia teilgenommen hatte. Er hatte durch einen Skandal in der Boulevardpresse viel von seinem Glanz eingebüßt, doch seine Beliebtheit war trotzdem in die Höhe geschnellt, wie es ihm nicht einmal eine Goldmedaille hätte bescheren können. Er war de facto der Bad Boy. Amy drückte ihm die Daumen, hauptsächlich deshalb, weil er ständig sein Hemd auszog. Seine Bauchmuskeln waren einfach phänomenal.

Er hatte mittlerweile das Halbfinale erreicht. Amy hatte sich mit einer Schüssel Popcorn bewaffnet und war bereit, ihn anzufeuern. Butch lag neben ihr.

Genau in dem Moment, als der Vorspann über den Bildschirm flimmerte, klingelte ihr Handy auf dem Couchtisch.

Sie warf stirnrunzelnd einen Blick darauf. Im Display leuchtete der Name Aaron Dansby.

Dansby war der ordnungsgemäß gewählte Bezirksstaatsanwalt des Augusta County. Das machte ihn eigentlich zu Amys Chef, obwohl die Wirklichkeit komplizierter aussah. Selbstverständlich hatte Dansby Jura studiert und sein Examen abgelegt, doch er war nur dem Titel nach Anwalt.

Ansonsten war er in jeder Hinsicht ein Politiker, von seiner gepflegten Fönfrisur, dem Zahnpastalächeln, der wunderhübschen Ehefrau – einer ehemaligen Kosmetikberaterin von Estée Lauder –, bis hin zu seinem erlesenen Stammbaum. Sein Vater war zuerst Staatsanwalt, anschließend Senator und dann wieder Staatsanwalt von Virginia gewesen, bis sein Sohn Aaron das Alter erreicht hatte, um den Posten zu übernehmen. Aarons Großvater war Abgeordneter im Kongress und sein Urgroßvater Gouverneur von Virginia gewesen.

Es hieß, dass Aaron Dansbys Ziele mindestens genauso hochgesteckt waren. Obwohl er erst einunddreißig war, sagten ihm die älteren Parteimitglieder bereits eine große Zukunft voraus. Er saß seine Zeit als Staatsanwalt nur ab. Seine juristische Arbeit war für ihn nicht viel mehr als Mittel zum Zweck.

Das Handy klingelte erneut.

Amy war versucht, es zu ignorieren. Sie hatte die Stelle in Augusta County unter anderem deshalb angetreten, da Dansby sich als Bezirksstaatsanwalt noch einarbeiten musste und Zeit brauchte, seine Stützräder loszuwerden; so lange würde sie als stellvertretende Staatsanwältin eine große Entscheidungsbefugnis haben. Sie hatte dafür ihren Posten beim Bezirksstaatsanwalt in Fairfax County aufgegeben, für den sie auf einer unteren, stellvertretenden Ebene tätig gewesen war.

Drei Jahre später kümmerte sie sich noch immer um das Tagesgeschäft. Routineangelegenheiten waren Dansby ziemlich egal. Seine Aufmerksamkeit galt nur juristischen Fällen, die ein großes öffentliches Interesse versprachen. Dann saß er im Gericht auf dem vordersten Stuhl der Staatsanwälte, um bei der Presse und im Fernsehen die Lorbeeren für den Sieg einzuheimsen, wodurch sich sein Wunderknabenimage noch vergrößerte. Derweil machte Amy, die auf dem zweiten Stuhl saß, noch immer die ganze Drecksarbeit.

Das Handy klingelte weiter.

Dansbys Anruf zu ignorieren hatte einen Haken. Er rief nur dann an, wenn ein Fall medienwirksames Potential hatte.

Der Vorspann war zu Ende. Die Show würde gleich beginnen. Obwohl der Festplattenrekorder eingeschaltet war – manche Tänze musste sie einfach ein zweites oder drittes Mal anschauen –, sah sie sich die Sendung gern live an.

Aaron Dansby würde gleich in den herrlichen, luftleeren Raum der Mailbox geschaltet werden. Genau dorthin, wo er hingehörte. Doch Amy war nicht nur ein pflichtbewusster Mensch, sondern sie wusste auch, dass Aaron Dansby womöglich etwas vermasselte, das sie wieder geraderücken müsste, wenn sie das Gespräch nicht annehmen würde.

Also drückte sie blitzschnell die Pause-Taste des Festplattenrekorders und tippte auf ihr Handy.

»Amy Kaye«.

»Amy, ich bin’s, Aaron.«

»Was gibt’s?«

»Bist du beschäftigt?«, fragte er.

»Eigentlich ja.«

»Es dauert nur eine Sekunde«, sagte er, da er von Natur aus unfähig war, einen Wink zu verstehen. »Ich wollte dich nur vorab informieren, dass heute Nachmittag eine Riesenmenge Koks bei einer Razzia auf der Desper Hollow Road gefunden worden ist.«

»Okay.«

»Groß im Sinne von einem halben Kilo.«

»Wow«, sagte Amy und setzte sich auf. In Fairfax County, das direkt an Washington, D. C., grenzte, würden fünfhundert Gramm Kokain keine große Beachtung finden. Doch im verschlafenen Shenandoah Valley war es eine alarmierende Menge.

»Ich weiß. Ich habe es bereits der örtlichen Zeitung geleakt. Es wird morgen früh auf der Titelseite von The News Leader erscheinen. Und die Fernsehanstalten werden es ebenfalls gleich erfahren, damit sie es in den Nachrichten um 23.00 Uhr bringen können. Der Sheriff hat gesagt, dass er die Drogentüten bei der Pressekonferenz auslegen wird. Das werden großartige Bilder ergeben.«

Dansby hatte noch immer nicht verstanden, dass es nicht als Leak galt, wenn man den Medien vertrauliche Informationen weitergab und dabei namentlich erwähnt oder bildlich gezeigt wurde.

Genauso wenig begriff er, dass er mit seiner Vorliebe für Kameras – wodurch er Sheriff Jason Powers und seinen Männern ständig die Show stahl – Unmut in den eigenen Reihen säte, der eines Tages geerntet werden würde. Amy arbeitete mit einigen von Powers’ Mitarbeitern eng zusammen. Sie alle warteten bloß darauf, dass der Kerl, den sie spöttisch den »gediegenen Mr Dansby« nannten, sein Fett wegbekam.

»Aber das ist noch nicht das Beste«, fuhr Dansby fort, und Amy zuckte zusammen, da es in einer kriminellen Vereinigung, die Betäubungsmittel unter die Menschen brachte, so etwas wie »das Beste« nicht gab. »Die Frau, bei der man das Zeug gefunden hat, ist eine junge Mutter. Die Jungs vom The News Leader nennen sie bereits die ›Koks-Mami‹. Ich glaube, über diese Sache wird man noch länger reden. Sie hat das Potential, um sich in den sozialen Medien wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Das Fernsehen wird sich auf die Story stürzen.«

»Da bin ich mir sicher«, erwiderte Amy, schielte hinüber zu ihrem eigenen Fernseher und fragte sich, was sie bereits verpasst hatte. »Aber findest du nicht, dass wir die Angelegenheit dem FBI übergeben sollten, wenn du deinen Auftritt in den Medien gehabt hast. Das ist ziemlich viel Koks.«

Es gab keine konkrete Drogenmenge, wodurch ein Fall automatisch in die Zuständigkeit des FBI fiel. Die Entscheidung blieb dem örtlichen Bezirksstaatsanwalt überlassen. Doch ein halbes Kilo war normalerweise mehr als genug. Größere Drogenmengen wiesen auf weitreichendere Verteilernetze hin, die fast immer über die Grenzen eines Bundesstaats hinausgingen.

»Ich weiß«, sagte Dansby. »Aber den Fall möchte ich behalten. Ich denke, dass er uns noch viel Aufmerksamkeit bescheren wird. Und die Punkte dafür sollten wir einheimsen.«

Dansby verwies ständig auf »Punkte«, als würde das Wahlvolk eine riesige Tabelle führen. Amy hätte ihm für diese Aussage am liebsten einen Schlag mit der Bratpfanne verpasst.

»Außerdem«, fügte er hinzu, »ist sie weiß.«

Amy spürte, wie ihre Augen hervortraten. »Was spielt das denn für eine Rolle?«

»Na ja, du weißt doch, nach Mookie Myers.«

Demetrius »Mookie« Myers war der dickste Fisch, den Dansby in seiner Amtszeit hatte verhaften können, die mittlerweile mehr als drei Jahre betrug. Myers war der größte Kokaindealer im Shenandoah Valley seit Ende der 1980er Jahre. Der Fall befand sich mittlerweile in der Revision, doch die Staatsanwaltschaft hatte die Anklage seinerzeit souverän gewonnen, und Dansbys Ansehen war eindeutig gestiegen.

»Nein, weiß ich nicht«, entgegnete Amy.

»In der Black Community heißt es, dass wir nur farbige Dealer jagen«, sagte Dansby. »Ich will an dieser Frau ein Exempel statuieren und allen zeigen, dass wir harte Hunde sind und alle gleich behandeln. Die Grand Jury tritt doch am Freitag zusammen, oder? Was hältst du davon, direkt Anklage zu erheben?«

Eine direkte Anklageerhebung war eine Art Schnellverfahren in der Strafverfolgung. Wenn ein Tatverdächtiger aufgrund eines normalen Haftbefehls verhaftet wurde, wanderte der Fall zuerst zum Bezirksgericht. Dort fanden die Vorführung vor dem Haftrichter und die Kautionsanhörung statt, und der Strafverteidiger wurde festgelegt. Zwei Monate später erfolgte eine Voruntersuchung, in der ein Richter den Fall einer Grand Jury übertrug, die dann darüber entschied, ob die vorgelegten Beweise der Staatsanwaltschaft eine Anklage rechtfertigten.

Eine direkte Anklageerhebung ließ all diese Schritte aus. Sie wurde häufig bei Verbrechen angewendet, die im Zusammenhang mit Drogen standen. Dann wanderte der Fall direkt vor eine Grand Jury. Der Gerichtsschreiber stellte einen Haftbefehl aus, der zur Festnahme des Angeklagten führte.

Das einzige Risiko war, dass der Angeklagte sich nicht in Untersuchungshaft befand, bis die Grand Jury getagt hatte. Aus diesem Grund gab Amy der direkten Anklage nur dann den Vorzug, wenn die Verdächtigten noch nicht wussten, dass das Gesetz ihnen auf der Spur war – und nicht, wenn ein Durchsuchungsbefehl bereits ausgeführt worden war.

»Bist du dir sicher, dass du dieser Frau zwei Tage Zeit geben willst, um abhauen zu können?«, fragte Amy. »Ich glaube nämlich, dass jemand mit so viel Kokain auch genügend Geld auf die Seite geschafft hat, um so lange wie nötig unterzutauchen.«

»Sie wird nicht abhauen«, entgegnete Dansby in seinem fröhlichen, bestimmten Ton. »Sie hat einen Sohn. Das Sozialamt hat ihn bereits abgeholt. Solange wir das Kind haben, wird sie dableiben.«

»Ich hoffe, du hast recht.«

»Keine Sorge! Wir sind auf der sicheren Seite. Jedenfalls habe ich Powers schon mal gesagt, dass wir morgen früh mit der Bearbeitung des Falls beginnen werden. Wenn wir die Sache der Grand Jury am Freitag vorlegen wollen, müssen wir uns reinhängen.«

Amy spürte, wie sie ihren Rücken durchdrückte. »Das geht nicht. Ich führe morgen Vormittag ein Gespräch mit Daphne Hasper.«

»Daphne Hasper?«

»Ich habe dir ein Memo zu der Sache geschickt«, sagte sie. »Sie ist eines der Opfer des Flüsterers.«

Das war Amys andere Obsession. Die Obsession, die tatsächlich von Bedeutung war. Sie betraf eine Serie ungelöster Vergewaltigungsfälle im Shenandoah Valley in den letzten zwei Jahrzehnten. Alle diese Übergriffe hatten eines gemeinsam. Der Täter flüsterte stets mit seinen Opfern. Es gab mindestens acht Fälle, vielleicht aber auch fünfundzwanzig oder noch mehr. Die genaue Zahl war eigentlich unbekannt, da sich außer Amy niemand in diese Sache hineingekniet hatte.

Dansbys Reaktion schwankte normalerweise zwischen Gleichgültigkeit und Ablehnung, je nach seiner Laune, wenn Amy ihm davon erzählte. Dieses Mal war es Gleichgültigkeit.

»Ach, das«, bemerkte Dansby. »Das kann warten.«

»Nein, kann es nicht. Nicht, solange der Mistkerl noch immer frei herumläuft.«

»Diese Sache hier ist jetzt wichtiger.«

»Es soll wichtiger sein, dass du einen schnellen Erfolg in den Fernsehnachrichten präsentieren und noch mehr dieser geheimnisvollen ›Punkte‹ erzielen kannst, deren Anzahl scheinbar nur du mitzählst, als dass ein Mann hinter Gitter gebracht wird, der nachts in die Häuser von Frauen eindringt und sie vergewaltigt?«

»Sei nicht so überdramatisch!«

»Sei du kein Arschloch!«

Er verstummte. Ihm waren Unterhaltungen lieber, die sich an das Drehbuch hielten, und Reden, die er vom Teleprompter ablesen konnte.

Amys wütende Worte ließen Butch den Kopf heben. Jetzt legte er ihn schief.

»Ich glaube, dass die Angelegenheit mit der Koks-Mami dringender ist«, sagte Dansby in einem bedächtigeren Ton.

»Freut mich, dass du das glaubst, aber ich werde das Gespräch nicht absagen.«

»Nur ist dein sogenanntes ›Gespräch‹ eigentlich ein ›nochmaliges Gespräch‹, nicht? Denn diese Frau hat bereits mit der Polizei gesprochen.«

»Ja, damals. Nach der Vergewaltigung. Aber da wusste noch niemand von den anderen Fällen. Man hat jahrelang nicht mehr mit ihr gesprochen.«

»Na, wenn das so lange her ist, dann kannst du das Gespräch ja auch noch um ein paar Tage verschieben.«

»Nein, das kann ich nicht. Die Frau ist schon vor langer Zeit weggezogen. Sie ist nur für ein paar Tage auf Besuch bei ihrer Familie. Ich muss mit ihr sprechen, solange ich die Möglichkeit dazu habe. Du hast keine Ahnung, wie schwer es war, sie ausfindig zu machen und davon zu überzeugen, sich mit mir zu treffen.«

»Ich bin mir sicher, dass du es aufschieben kannst.«

»Noch einmal: Das kann ich nicht«, entgegnete Amy. »Und das werde ich auch nicht.«

»Ich habe Jason gesagt, dass du morgen früh mit einem seiner Mitarbeiter sprechen wirst.«

»Prima. Jasons Mitarbeiter werden auch noch am Nachmittag für mich zur Verfügung stehen. Diese Frau möglicherweise nicht. Ich werde dieses Gespräch nicht verschieben.«

Amy schrie fast in das Handy hinein. Butch, der dafür bekannt war, Konflikte zu vermeiden, betrachtete sie nervös.

Schließlich begann Dansby dagegenzuhalten. »Dir ist schon klar, dass du für den Bezirksstaatsanwalt arbeitest, oder? Ich könnte dich jederzeit feuern, wenn ich wollte. Und jetzt … jetzt erteile ich dir die Anweisung, dass du morgen den Fall der Koks-Mami bearbeitest.«

»Du erteilst mir eine Anweisung, Aaron? Das ist lachhaft. Das ist echt lachhaft. Eine Frage: Wann hast du das letzte Mal Anklage erhoben, als es um Trunkenheit am Steuer ging?«

Am anderen Ende der Leitung blieb es still.

»Ach ja, stimmt ja! Noch nie!«, rief Amy. »Also, wie wär’s? Am Donnerstag wird eine ganze Reihe davon vor dem Bezirksgericht verhandelt. Wenn ich mich recht entsinne, sind es drei oder vier Fälle. Wie wär’s, wenn du mal die Anklage vertrittst, statt dass ich deinen Job mache? Ich glaube nämlich, dass mindestens zwei der Angeklagten private Anwälte haben, und du kannst sicher sein, dass sie nicht im Traum daran denken werden, sich schuldig zu bekennen, wenn sie dich sehen. Sie werden Blut lecken und jedes noch so kleine Beweisstück auseinandernehmen, das du versuchst vorzulegen. Wenn du überhaupt weißt, wie du das zu machen hast. Der Alkoholtest wird dir so schnell um die Ohren fliegen, dass dir schwindlig wird. Würde Ihnen das gefallen, Herr Bezirksstaatsanwalt?«

»Hör auf … hör auf, so –«

»Ach, noch was!«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich habe dir noch gar nicht gesagt, was ›das Beste‹ daran ist. Ich werde es The News Leader stecken – nein, Entschuldigung, ich werde es The News Leader ›leaken‹ –, damit sie einen Reporter ins Gericht schicken. Normalerweise stellen sie diese Dinge ziemlich rasch ins Netz. Am Donnerstagnachmittag wird wohl jeder wissen, dass Aaron Dansby Betrunkene hat davonkommen lassen. Wie klingt das?«

»Das würdest du nicht wagen.«

»Doch. Würde ich. Willst du’s darauf ankommen lassen?«

Amy konnte praktisch hören, wie Dansbys Hintern gegen die Wand prallte, an die sie ihn gedrängt hatte.

»Du wirst morgen früh Jason anrufen. Sollte sein Mitarbeiter dich auch nachmittags treffen können, ist mir das egal«, sagte er und versuchte, sein Gesicht zu wahren. »Aber du solltest am Freitag besser verdammt gut vorbereitet sein! Diese Sache muss wasserdicht sein.«

»In Ordnung«, sagte sie.

Dann legte sie auf.

 

Butch starrte sie noch immer an.

»Ich weiß, ich weiß. Ich sollte mich wegen ihm nicht so aufregen«, sagte sie. »Aber er ist einfach ein Idiot.«

Butch leckte sich die Nase.

»Ich sollte wirklich aufhören, sein Kindermädchen zu spielen«, sagte sie.

Nur wussten beide, dass das nicht geschehen würde. Die Gesetze waren ihr heiliger als jede Art von Genugtuung, die sie möglicherweise empfinden würde, wenn sie zusähe, wie ein Blender wie Dansby auf die Nase fiel.

Butch legte den Kopf wieder auf die Couch. Er wollte lieber weiterkuscheln. Amy blickte zum Fernseher. Der Vorspann war noch immer eingefroren und forderte sie still auf, ihre weltlichen Sorgen für eine kurze Weile hinter sich zu lassen.

»Tut mir leid, mein Junge«, sagte sie. »Mir ist einfach nicht danach.«

Sie stand vom Sofa auf, woraufhin Butch seufzte, und ging in ihr Arbeitszimmer. Die Unterlagen zu diesem Fall füllten mittlerweile mehrere Schubladen eines Aktenschranks.

Begonnen hatte es mit einer beiläufigen Bemerkung eines jungen Beamten des Sheriffs, die er, wenige Monate nachdem Amy ihre Stelle in Augusta County angetreten hatte, machte. Eine junge Frau war in Weyers Cove vergewaltigt worden. Ein maskierter, messerschwingender Angreifer hatte sie attackiert. Seinen gesamten Monolog – der sehr viel »bitte«, »danke« und »es tut mir leid« beinhaltete – hatte er geflüstert.

»Hm, das ist eigenartig«, hatte der Beamte gesagt. »In Stewarts Draft hat es vor ein paar Monaten ebenfalls einen Typen gegeben, der bei einer Vergewaltigung geflüstert hat. Glauben Sie, dass es derselbe Kerl gewesen ist?«

Amy überprüfte den Fall in Stuarts Draft, doch sie konnte nicht abschließend klären, ob es eine Verbindung gab. Laut der Beschreibung war der Angreifer älter und größer gewesen.

Sie nahm den Fall trotzdem mit zu den Akten. Als ein paar Monate später wieder ein flüsternder Vergewaltiger zuschlug, begann sie sich umzuhören. Einer der älteren Beamten erzählte ihr, dass er sich an drei oder vier derartige Fälle erinnern könnte. Auf ihre Frage, warum er denn nie überprüft hätte, ob es zwischen den Fällen eine Verbindung gab, meinte er bloß: »Flüstern nicht die meisten Vergewaltiger?«

Also kniete Amy sich in die Sache hinein. Glücklicherweise war Jason Powers bereits seit sieben Jahren Sheriff, und sein Vater, Allen, hatte dieses Amt vorher vierundzwanzig Jahre lang innegehabt . Sämtliche Protokolle waren vorhanden, so wie auch die Beweise.

Amy sah sich alle ungelösten Fälle an, die sie zu sexuellen Übergriffen finden konnte, kämpfte in den vielen Stunden, die sie im Archiv verbrachte, gegen Hausstaubmilben an und entfernte zahlreiche Spinnweben. Sie arbeitete nachts, wenn ihr Mann, der in einem der vielen Restaurants von Staunton als Küchenchef arbeitete, nicht zu Hause war. Es war eine Puzzleaufgabe, doch sie förderte langsam und systematisch Beweise zu einem frei herumlaufenden Serienvergewaltiger zutage.

Der erste Fall, auf den sie stieß, stammte aus dem Jahr 1987. Doch sie verwarf ihn als Sonderfall, da er keine weiteren Verbindungen zu den aktuellen Fällen aufwies. Ein weiterer Vorfall ereignete sich 1997. Aber auch da war sie sich nicht sicher, ob er zu der Serie gehörte. Laut der Beschreibung der Zeugin hatte der Mann mit »leiser Stimme« gesprochen. Das könnte das Gleiche sein wie ein Flüstern, aber auch nicht.

In den nächsten fünf Jahren fanden keine Vergewaltigungen statt. Doch dann schlug der Täter dreimal innerhalb eines Zeitraums von neun Monaten zu, zwischen Ende 2002 und Anfang 2003. Bis 2005 geschah dann wieder nichts. 2007 und 2008 kam es zu jeweils einem Vorfall. Als die Vorfälle sich wieder zu häufen schienen, passierte dann erneut wieder nichts bis zum Jahr 2010.

Ab da schlug er öfter zu. Zwischen den einzelnen Fällen vergingen nur Monate, keine Jahre. Amy kam insgesamt auf zwanzig Fälle in den vergangenen sieben Jahren, plus der sieben Fälle aus dem Zeitraum vor 2010, ohne den Sonderfall von 1987 miteinzurechnen. Die Vergewaltigungen entsprachen ungefähr dem gleichen Muster.

Ein maskierter, behandschuhter weißer Mann, der laut Beschreibung der Opfer Ende zwanzig bis Anfang vierzig alt und zwischen 1,75 und 1,85 m groß war – das Alter war im Laufe der Jahre nach oben geklettert, doch es variierte noch immer gewaltig –, drang in die Häuser von allein lebenden Frauen ein. Seine Überfälle fanden meist am frühen Morgen statt. Er bedrohte sie mit einem Messer oder einer Pistole, bis sie nachgaben und sich ihrer Kleider entledigten, so dass er in sie eindringen konnte. Dabei war er stets höflich und sprach in einem Tonfall mit seinen Opfern, der als raunend, murmelnd oder flüsternd bezeichnet wurde; und er setzte tatsächlich nie eine der Waffen ein.

Das machte ihn für die Profiler zu einem klassischen Fall. Der Täter war ein machtmotivierter, selbstunsicherer Vergewaltiger, auch bekannt als Gentleman-Vergewaltiger, der während seiner Tat unter dem Irrglauben litt, diese Begegnungen wären irgendwie romantisch. Das Belästigen eines Opfers war für ihn eine Art verdrehten Werbens und stellte den Beginn dessen dar, was er für eine Beziehung hielt. Wenn das Opfer sich wehrte oder eine Möglichkeit fand, diesen romantischen Zauber zu zerstören – indem sie sich übergab, auf ihn pinkelte oder schrie –, brach der machtmotivierte, selbstunsichere Vergewaltiger häufig seinen Angriff ab.

Einige von ihnen wurden tatsächlich gefasst, weil sie ihr Opfer später kontaktierten. Denn in dem bizarren Weltbild eines solchen Vergewaltigers war diese Person quasi ihre Freundin.

Dieser Kerl hier war zu raffiniert dafür.

Amy hatte bis jetzt acht Fälle aufgedeckt, in denen die DNA übereinstimmten. Der Weg bis dorthin war lang, hart und beschwerlich gewesen. Völlig anders als in den Fernsehkrimis, in denen die DNA-Ergebnisse so schnell erbracht und geliefert wurden wie ein Menü von McDonald’s. Das konnte man getrost vergessen. In der wahren Welt brauchten DNA-Tests Zeit. Das staatliche Labor in Roanoke, wohin Amy das Beweismaterial gesendet hatte, schickte normalerweise seine Ergebnisse innerhalb von fünf bis sechs Monaten.

Es gab auch Fälle, in denen keine DNA vorhanden war. Der Vergewaltiger benutzte nie ein Kondom, ejakulierte aber häufig auf – und nicht in – seinen Opfern. Anschließend säuberte er alles sorgfältig und nahm oft die Bettlaken und die Kleidung mit. Mitunter hatte das Opfer dem Drang nicht widerstehen können, sich nach der Vergewaltigung zu duschen, oder die Frau hatte einen Tag oder noch länger gewartet, bis sie das Verbrechen meldete, so dass kein körperliches Beweismaterial mehr existierte.

Eine weitere, große Schwierigkeit bestand darin, dass die DNA nicht automatisch mit anderen, ungelösten Fällen verglichen wurde, wenn sie mit keiner in der Datenbank vorhandenen Person übereinstimmte, da es kein entsprechendes Suchprogramm gab. Dieser Vergleich musste manuell erfolgen, Fall für Fall. So konnte der Täter über einen derart langen Zeitraum unentdeckt bleiben.

Aufgrund der Übergriffe, die anfangs nur sporadisch stattfanden, vermutete Amy, dass der Vergewaltiger sich zuerst nur gelegentlich in Augusta County aufgehalten hatte und dann beschloss, hierherzuziehen. Vielleicht war er ein Geschäftsreisender. Oder ein Bauarbeiter. Oder ein Lkw-Fahrer.

Als Amy zum dritten Mal auf dieselbe DNA stieß, legte sie Dansby den Fall vor und schlug ihm vor, die Medien zu informieren. Wenn ein Vergewaltiger frei herumlief, hatten die Bürger von Augusta County das Recht, darüber Bescheid zu wissen. Außerdem könnte die Öffentlichkeit ihnen helfen, den Fall zu lösen – möglicherweise meldete sich jemand mit Informationen zum Angreifer oder lieferte eine bessere Beschreibung.

Dansby hörte Amy ruhig zu, bis er schließlich erkannte, dass sie weder den Täter eindeutig identifizieren konnte noch einen Verdächtigen hatte. Er bekam einen Wutanfall, der dem eines Kleinkinds ähnelte.

»Willst du etwa meine Karriere ruinieren?«, fragte er. »Wir können das den Medien nicht leaken, es sei denn, wir schnappen den Kerl.«

Für Dansby war dies ein Fall, der die Polizei im Allgemeinen und ihn im Besonderen in ein schlechtes Licht rückte: Da gab es einen Täter, der eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellte, und der sich darüber lustig machte, dass die Behörden nicht in der Lage waren, ihn zu fassen.

Das führte zu einem Riesenstreit und schließlich zu einem Kompromiss. Amy durfte weiterhin an dem Fall arbeiten, solange es ihre sonstigen Aufgaben nicht beeinträchtigte, sie die Sache von der Presse fernhielt und keiner der Frauen erzählte, dass sie möglicherweise Opfer eines Wiederholungstäters war. Für die Öffentlichkeit gab es keinen Serienvergewaltiger, der das Shenandoah Valley terrorisierte.

Amy hasste diesen Gedanken. Denn deshalb blieben Türen unverschlossen, Frauen setzten sich der Gefahr einer Vergewaltigung aus, ohne es zu wissen, und Beweismaterial wurde nicht gesammelt, da sie die Bevölkerung nicht um Hilfe bitten konnte. All das wegen Aaron Dansbys politischer Ambitionen.

Darüber konnte man sogar Dancing with the Stars vergessen, obwohl man dessen glühendster Anhänger war.

5. Kapitel

Als ich zusammengesackt vor dem Sozialamt des Shenandoah Valley saß, bestand mein Kopf aus einem Dickicht von Gedanken, die allesamt aus meiner verkorksten Kindheit und Jugend stammten.

Ich kam im Alter von zwei Jahren zum ersten Mal mit dem ›System‹ in Berührung. Mein Vater hatte in einem seiner besoffenen Wutanfälle meinen Arm gepackt und mich durch das Zimmer geschleudert, so dass ich einen Knickbruch erlitt.

Ich kann mich an den Vorfall selbst nicht mehr erinnern. Eine Sozialarbeiterin erzählte mir Jahre später davon. Es half mir, zu verstehen, warum mir der Arm manchmal weh tat, wenn es regnete.

Meine Mutter hat mir einmal erzählt, dass mein Vater nicht immer gewalttätig gewesen sei, sondern dass das Vatersein es in ihm »hervorgebracht« hätte. Sie hatten sich in der Marine kennengelernt, als beide in Norfolk stationiert waren. Die Schilderungen ihrer ersten Begegnungen mit Oberstabsbootsmann William Theodore Curran – für seine Freunde Billy – klangen märchenhaft. Sie waren Billy und Betsy. Beide stammten aus Kleinstädten in Pennsylvania. Er war ein großer, breitschultriger Mann, romantisch und charmant.

Doch das stand im Widerspruch zu seiner unehrenhaften Entlassung aus der Marine, die ausgesprochen wurde, als er mehrere Verstöße im betrunkenen oder verkaterten Zustand beging. Meine Mutter hatte schon Schwierigkeiten, ihre Arbeit in der Navy und die Erziehung meiner Halbschwester Charlotte unter einen Hut zu bringen, die aus einer kurzen, gescheiterten Ehe mit einem anderen Matrosen stammte. Als ihr Dienst bei der Marine endete, verband Dad ihren Abschied mit einem Heiratsantrag. Sie sagte bereitwillig ja.

Das frisch verheiratete Ehepaar Curran zog in das ländlich gelegene Northumberland County in Virginia, auch bekannt als Northern Neck. Sie hatten ein kleines Haus mitten im Wald, ohne Nachbarn in der Nähe, wo sie gerne lebten.

Vielleicht mochte Dad diese Abgeschiedenheit mehr als Mom.

Er arbeitete als Fischer. Ihr Leben verlief nach einem ziemlich einfachen Muster. Mein Vater fuhr hinaus zur See und war mitunter mehrere Wochen lang weg. Dann kehrte er zurück, glücklich und die Taschen voller Geld. Eine kurze Weile war das Leben beschaulich, bis er zu trinken begann.

Sein Rausch mündete normalerweise darin, dass er sich wegen einer Kleinigkeit (oder wegen nichts) aufregte und meine Mutter verprügelte, bis sie grün und blau war.

Ich kann mich an einen Vorfall erinnern, als er sich auf sie stürzte, weil im Mülleimer Ameisen herumkrabbelten – das Ergebnis ihrer schlampigen Haushaltsführung, behauptete er – und die Weinreben am Haus hochgerankt seien während seiner Abwesenheit.

Ein anderes Mal lag es am Geld, dass er wütend wurde. Oder er glaubte, dass sie mit einem Kerl geflirtet hatte. Oder es war ein Vergehen, das nur er verstand.

Am nächsten Morgen entschuldigte er sich stets und schwor, dass er so etwas nie wieder tun würde. Dann verabschiedete er sich zur See. Wenn er zurückkehrte, wiederholte sich der Ablauf. Es war wie eine Art grausamer Gezeiten.

Dass meine Mutter – die einmal klug und hübsch gewesen war und bestimmt bessere Alternativen gehabt hätte – bei ihm blieb, beweist, wie sehr die Psyche eines Menschen durch Misshandlung verändert werden kann. Doch darüber hinaus festigte sie auch noch die Beziehung, indem sie mich zur Welt brachte.

Ich glaube, dass ihr da schon klar war, in welcher Lage sie steckte. Eigentlich sollte ich mit zweitem Vornamen Hope heißen, nach der Großmutter meines Vaters. Doch als meine Mutter im Krankenhaus gefragt wurde, was in die Geburtsurkunde eingetragen werden sollte, änderte sie den Namen in Anne, ohne es meinem Vater zu sagen.

Neun Jahre nach mir geschah die Überraschung/der Unfall/das Wunder. Mein Bruder, Teddy, wurde geboren.

Ich weiß nicht, warum meine Mutter glaubte, dass sich mein Vater durch eine größere Kinderschar ändern oder sogar zähmen lassen würde. Denn das war nicht der Fall. Einige meiner frühesten Erinnerungen sind die an eine ganze Auswahl von Mitarbeiterinnen des Sozialamts, die mit sorgenvoll gerunzelter Stirn versuchten, Details aus mir herauszuholen, wenn mein Vater mal wieder ausgerastet war.

Meine Kindheit wurde zu einer Drehtür von Lebenssituationen. Ich verstand nie die Logik der Sozialarbeiterinnen: Einige der Wutausbrüche meines Vaters führten dazu, dass man mich von zu Hause wegholte, während andere (die mir viel schlimmer erschienen) keine Folgen nach sich zogen.

Ich begann, mich vor den Heimen zu fürchten. Sie konnten unter einer Schar von abgehärteten Pflegekindern, die gelernt hatten, um Liebe, Essen oder die Zuwendung von Erwachsenen zu kämpfen, egal wie wenig es davon gab, brutale Überlebenstests sein.

Die Unterbringung in Pflegefamilien war eher Glückssache. Manche waren nett, so dass ich weinte, wenn ich aus ihnen wieder herausgerissen und zu meinen Eltern zurückgeschickt wurde.

Bei anderen Familien ging es harscher zu, besonders bei denen, die Pflegekinder nur aufnahmen, um den Scheck zu erhalten. Der Staat bezahlte fünfhundert Dollar für meine Unterbringung sowie für Essen und Kleidung. Es war erstaunlich, wie manche Pflegeeltern es schafften, so wenig Geld für mich auszugeben.

Eine meiner Pflegemütter hatte neben drei Pflegekindern – zwei Jungen und mich – ein leibliches Kind. Ein Mädchen. Dieses Mädchen hatte ihr eigenes Zimmer, während ich mir ein Zimmer mit den beiden Jungen teilen musste. Wenn wir keine Schule hatten, wurden die drei Pflegekinder morgens hinausbefördert, unter dem Hinweis, dass wir erst zum Abendessen wieder zurückkehren könnten. Uns wurde ein kleines Lunchpaket in die Hand gedrückt, das ich normalerweise schon vormittags aufgegessen hatte. Ich erinnere mich an lange Nachmittage im Garten, von wo aus ich neidisch zu meiner Pflegeschwester spähte, die im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß und fröhlich vor sich hin mampfte.

In einer anderen Pflegefamilie war ich eines von acht Pflegekindern, die in zwei Schlafzimmern untergebracht waren. Die Pflegemutter genoss es, uns gegeneinander auszuspielen, und ermunterte uns, kleinere Vergehen zu berichten, um dann den Missetäter zu bestrafen. Einmal schnitt sie mir die Haare ab, nachdem eines meiner Pflegegeschwister mich wegen eines kleinen Essensvorrats angeschwärzt hatte, den ich im Schrank aufbewahrte. Das Haar hing zottelig an mir herunter, und sie führte mich in das Schlafzimmer der Jungen, wo ich, in meiner Unterwäsche stehend, sagen musste, dass ich eine Duckmäuserin und Lügnerin sei.

Nach meiner Unterbringung in Pflegefamilien folgte die Rückkehr nach Hause. Die Aufenthalte konnten von wenigen Monaten bis hin zu einem Jahr dauern, je nachdem, wie geschickt mein Vater die Ergebnisse seiner wütenden Hände verbergen und wie sehr er meine Mutter einschüchtern konnte, so dass sie schwieg.

Meine Mutter liebte mich auf ihre eigene Weise. Sie nannte mich »Mäuschen« – ein Name, bei dem ich noch immer Gänsehaut bekomme – und bürstete mein langes Haar sehr viel liebevoller als alle Pflegemütter dieser Welt. Sie sorgte stets dafür, dass ich Zugang zu Büchern hatte, und ich durfte so viel lesen, wie ich wollte. So konnte ich in Phantasiewelten abtauchen, die um einiges geordneter waren als mein eigenes Umfeld.

Doch das, was sie eigentlich hätte tun sollen, um mich zu beschützen, tat sie nicht. Und das war, Billy Curran für immer zu verlassen.