Nicht ein Wort - Brad Parks - E-Book
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Nicht ein Wort E-Book

Brad Parks

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Beschreibung

»Fans von Harlan Coben werden diesen Thriller lieben.« Library Journal Er ist Richter. Er liebt seine Familie. Das wissen auch die, die seine Kinder entführt haben. Damit er ein falsches Urteil spricht. Wird er Recht sprechen oder das Leben seiner Kinder retten? Wie weit wird er gehen? Kurzbeschreibung Es hätte ein normaler Mittwochnachmittag werden sollen, an dem Bundesrichter Scott Sampson seine beiden Kinder Sam und Emma zum Schwimmen begleiten würde. Doch dann erreicht ihn eine SMS seiner Frau, die besagt, dass sie die beiden von der Schule abholt. Als Alison später nach Hause kommt, sind die Kinder nicht bei ihr. Und sie hat auch keine SMS geschrieben. Stattdessen klingelt das Telefon. "Ihre Kinder sind in unserer Gewalt!" sagt eine Stimme. Wenn Scott sie wiedersehen will, hat er genaue Instruktionen in einem Drogenfall zu befolgen, der am nächsten Tag verhandelt werden soll. Plötzlich steht das Schicksal seiner gesamten Familie auf dem Spiel, und Scott Sampson muss die schwerste Entscheidung seines Lebens treffen: Wird er Recht sprechen oder seine Familie retten? Ein unglaublich aufwühlender und intensiver Thriller, der jedem Leser unter die Haut geht.

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Seitenzahl: 644

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BRADPARKS

NICHT EIN WORT

THRILLER

Aus dem Amerikanischen von Irene Eisenhut

FISCHER E-Books

Inhalt

Widmung1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950515253545556575859606162636465666768697071727374757677Danksagung

Ich bin mit einer großartigen Frau verheiratet,

die mir vor vielen Jahren sagte, ich solle

meinen Traum verwirklichen.

Sie ist es, die das seither möglich macht.

 

Dieses Buch – ganz besonders dieses – ist für sie.

1

Der erste Schritt, den sie gegen uns unternahmen, war so klein, so winzig, nicht mehr als ein kurzer Piepton in der dröhnenden Geräuschkulisse des Lebens, dass ich ihn überhaupt nicht als wichtig wahrnahm.

Er tarnte sich als SMS meiner Frau Alison, die um 15:28 Uhr am Mittwochnachmittag auf meinem Handy einging.

»Hallo, hab leider vergessen, dir zu sagen, dass die Kinder heute Nachmittag einen Arzttermin haben. Hole sie gleich ab.«

Meine einzige Reaktion auf diese unerwartete Unterbrechung war, wenn überhaupt, leichte Enttäuschung. Denn der Mittwoch war mein Tag, SCHWIMMENMITDAD, ein in unserer Familie so hochangesehenes Ritual, dass es deshalb sogar verdiente, in Großbuchstaben geschrieben zu werden. Die Zwillinge und ich pflegten dieses Ritual mittlerweile schon drei Jahre. Anfangs ähnelte es eher einer kalkulierbaren Katastrophe, in der es darum ging, die Kinder vor dem Ertrinken zu bewahren. Doch seitdem hat es sich zu etwas sehr viel Erfreulicherem entwickelt. Sam und Emma, inzwischen sechs Jahre alt, haben sich in wahre Wasserratten verwandelt.

Die fünfundvierzig Minuten, die es normalerweise dauerte, bis einer von ihnen mit den Zähnen zu klappern begann und mir bedeutete, dass sie genug hatten, waren einfach nur pures Vergnügen. Wir planschten herum, jagten uns gegenseitig von einem zum anderen Ende des Beckens oder spielten Wasserspiele, die wir selbst erfanden, wie unser geliebtes Baby-Hippo-Spiel. Es gibt nichts, was besser für die Seele ist als echter Spaß mit seinen Kindern, selbst wenn man aus der Rolle des Mama-Hippo nie herauskommt.

Ich liebte unseren Schwimmtag genauso sehr wie all die anderen wöchentlichen Rituale, die unser kleines familiäres Universum inzwischen bestimmten. Freitag zum Beispiel war Brettspiel-Tag, Sonntag Pfannkuchen-Tag (was könnte ein Sonntag sonst sein?) und Montag Mützen-Tanztag, was, na ja, wie der Name nun mal besagt, Tanzen beinhaltet. Mit einer Mütze auf.

Mag sein, dass nichts davon furchtbar spannend klingt. Und das Titelblatt einer Cosmopolitan wird bestimmt nie die Überschrift zieren: So beschert man seinem Mann den besten Pfannkuchen-Tag seines Lebens! Doch ich glaube mittlerweile, dass eine feste Routine die Basis einer glücklichen Familie und damit einer guten Ehe und eines zufriedenen Lebens ist.

So war ich leicht angesäuert, als mir an diesem Mittwochnachmittag die Freude unserer kleinen Routine genommen wurde. Einer der Vorteile in meinem Beruf als Richter ist es, dass ich meinen Terminplan bis zu einem gewissen Maß selbst bestimmen kann. Meine Mitarbeiter wissen, dass, egal welche Justizkrise uns an einem Mittwochnachmittag im Gericht ereilt, der ehrenwerte Scott A. Sampson um sechzehn Uhr das Büro verlässt, um seine Kinder aus dem Hort abzuholen und mit ihnen zum Schwimmbad des YMCA zu fahren.

Ich dachte darüber nach, mich trotzdem aufzumachen und ein paar Runden allein im Becken zu drehen. Vierundvierzig Jahre alte weiße Männer mit leichtem Bauchansatz und sitzender Tätigkeit sollten keine Gelegenheit verpassen, sich körperlich zu ertüchtigen. Doch je länger ich darüber nachdachte, umso verkehrter fühlte es sich an, ohne Sam und Emma schwimmen zu gehen. Und so fuhr ich stattdessen nach Hause.

Wir leben seit vier Jahren zurückgezogen in einem alten Farmhaus am York River, das wir als »die Farm« bezeichnen, weil wir in dieser Hinsicht nun mal nicht sehr kreativ sind. Die Farm liegt an einem Küstenstreifen Virginias, der als Middle Peninsula bekannt ist, in Gloucester County, drei Autostunden südlich von Washington D.C. entfernt.

Warum es uns dorthin verschlagen hat, das ist eine Geschichte, die in Washington begann, wo ich als rechte Hand für einen einflussreichen Senator der Vereinigten Staaten arbeitete. Sie setzte sich mit einem Vorfall fort, auch als DERVORFALL bezeichnet, ebenfalls in Großbuchstaben geschrieben, der mir einen Krankenhausaufenthalt einbrachte, was einen tendenziell die Prioritäten im Leben noch einmal überdenken lässt. Die Geschichte endete damit, dass ich als Bundesrichter nach Norfolk, Virginia, berufen wurde.

Es war nicht unbedingt das, was ich mir vorgestellt hatte, als mir in der sechsten Klasse zum ersten Mal die Zeitschrift Congressional Quarterly in die Hände fiel. Genauso wenig war es der typische Posten, mit dem man in den politischen Ruhestand versetzt wird. Arbeitstechnisch betrachtet, ähneln Bundesrichter Enten. Auch bei ihnen findet mehr unter der Oberfläche statt als allgemeinhin wahrgenommen wird.

Doch der Richterstuhl war auf jeden Fall besser als das, wohin DERVORFALL mich hätte bringen können. Nämlich in die Leichenhalle.

Alles in allem hatte ich mein Leben mit meinen beiden Kindern, meiner Frau, meinem Beruf und meiner Routine.

Zumindest bis zu jenem Mittwochnachmittag um 16:52 Uhr.

Da kam Alison nach Hause.

Allein.

***

Ich befand mich in der Küche und schnitt gerade Obst für die Lunchpakete der Zwillinge am nächsten Tag.

Alison betrat das Haus, und ich hörte die üblichen Geräusche. Das Öffnen der Tür, das Ablegen der Tasche, das Durchblättern der Post. Meine Frau arbeitet täglich von neun bis halb fünf in einer Einrichtung, in der sie Kinder betreut, deren geistige Behinderung so schwer ist, dass die örtlichen Schulen ihren Bedürfnissen nicht gerecht werden können. Ich finde diese Arbeit aufreibend, und sie würde mich völlig auslaugen. Doch sie kommt fast jeden Tag gutgelaunt nach Hause. Meine Frau ist für diesen Beruf wie geschaffen.

Wir haben uns an der Uni kennengelernt und sind seit dem dritten Semester zusammen. Ich habe mich damals in sie verliebt, weil sie wunderschön war und es dennoch klasse fand, dass ich die Namen aller 435 Kongressmitglieder kannte, einschließlich des Bundesstaates, den sie vertraten, und ihrer Parteizugehörigkeit. Wenn man so ein Kerl ist wie ich und tatsächlich eine Frau findet, die das mag, setzt man dann nicht alles daran, sie zu behalten?

»Hallo, Liebling«, rief ich.

»Hallo, Schatz«, antwortete sie.

Mir fiel sofort auf, dass ich die Zwillinge nicht hörte. Ein Sechsjähriger ist ein kleiner, lauter Racker, und zwei Sechsjährige noch viel mehr. Sam und Emma stürmen normalerweise immer stapfend und polternd ins Haus. Dabei plappern sie unentwegt vor sich hin, so dass ein ständiger Geräuschpegel von ihnen ausgeht.

Das Einzige, was noch auffälliger ist als der Lärm, den sie veranstalten, ist dessen Abwesenheit. Ich trocknete mir also die Hände ab und ging zum Eingang, um nachzusehen, wo sie waren.

Alison stand im Flur und blickte auf eine Rechnung.

»Wo sind die Kinder?«, fragte ich.

Sie blickte verwirrt hoch.

»Wie meinst du das? Es ist Mittwoch.«

»Ich weiß. Aber du hast mir doch eine SMS geschickt.«

»Was für eine SMS?«

»Na, die wegen des Termins beim Arzt«, erwiderte ich und wühlte in meiner Hosentasche nach dem Handy, damit sie sie lesen konnte. »Hier, bitte!«

»Ich habe dir keine SMS wegen irgendeines Termins bei einem Arzt geschickt«, entgegnete sie, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen.

Mit einem Mal wusste ich, wie es sich an einem Strand anfühlen musste, wenn das Wasser sich plötzlich kurz vor einem Tsunami zurückzieht. Man kann sich einfach nicht vorstellen, was da auf einen zurollen wird.

»Moment mal, willst du mir damit etwa sagen, dass du die Zwillinge gar nicht abgeholt hast?«, fragte Alison.

»Genau das.«

»Sind sie vielleicht bei Justina?«

Justina Kemal ist die türkische Studentin, die in unserem kleinen Gästehaus mietfrei wohnt und dafür unsere Kinder ein paar Stunden im Monat betreut.

»Das bezweifle ich«, erklärte ich. »Es ist Mittwoch. Sie …«

Mein Handy klingelte.

»Das ist wahrscheinlich die Schule«, meinte Alison. »Sag ihnen, dass ich gleich da bin. O Gott, Scott!«

Sie griff bereits in die Schale und packte ihren Schlüssel. Im Display erschien die Nummer als »UNTERDRÜCKT«. Ich nahm den Anruf an.

»Scott Sampson«, meldete ich mich.

»Hallo, Richter Sampson«, erklang eine belegte, dunkle und undeutliche Stimme wie durch einen Filter. »Sie freuen sich bestimmt, dass Ihre Frau zu Hause ist.«

»Wer ist da?«, fragte ich völlig dämlich.

»Und Sie fragen sich wahrscheinlich, wo Sam und Emma sind«, sagte die Stimme.

Mir hob sich der Magen. Mein Herz pochte gegen meinen Brustkorb. Blut schoss mir ins Gesicht und dröhnte in den Ohren.

»Wo sind sie?«, fragte ich. Wieder völlig dämlich.

Alison war schon halb aus der Tür hinaus, als sie stehen blieb. Ich stand stocksteif da, als würde ich gleich mit den Fäusten losschlagen.

»Skavron«, sagte die Stimme.

»Skavron«, wiederholte ich. »Was ist damit?«

Die Vereinigten Staaten gegen Skavron war ein Fall, in dem es um den Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz ging. Ich sollte morgen in meinem Gerichtssaal das Strafmaß verkünden. Anfang der Woche hatte ich mich damit beschäftigt.

»Sie werden morgen eine SMS mit Anweisungen zum Urteil erhalten«, erklärte die Stimme. »Wenn Sie Ihre Kinder wiedersehen wollen, werden Sie sie besser befolgen.«

»Welche Anweisungen? Was wollen …«

»Sie werden nicht zur Polizei gehen«, fuhr die Stimme fort. »Sie werden sich nicht an das FBI wenden. Und Sie werden auch sonst den Behörden nichts melden. Das Leben und Wohlergehen Ihrer Kinder hängt einzig und allein davon ab, dass Sie so weitermachen wie bisher und sich nichts anmerken lassen. Sie werden nichts unternehmen und nichts sagen. Kein Sterbenswort. Verstehen Sie?«

»Nein, warten Sie! Das verstehe ich nicht. Ich verstehe gar nichts.«

»Dann sage ich es Ihnen ganz deutlich. Sollten wir auch nur den Verdacht hegen, dass Sie mit den Behörden gesprochen haben, werden wir damit beginnen, Finger abzuschneiden. Sollte sich der Verdacht bestätigen, werden Ohren und Nasen dran glauben müssen.«

»Ich hab verstanden. Ich hab verstanden. Bitte, tun Sie ihnen nicht weh! Ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen. Bitte tun …«

»Kein Sterbenswort!«, warnte mich die Stimme noch einmal.

Dann war die Leitung tot.

2

Die Haustür stand noch immer offen. Alison blickte mich mit weit aufgerissenen Augen an.

»Was ist los?«, fragte sie. »Was ist passiert? Was meinst du mit ›Tun Sie ihnen nicht weh!‹?«

Ich konnte ihr in diesem Augenblick nicht antworten. Ich konnte nicht einmal atmen.

»Scott, sprich mit mir!«

»Die Kinder … Sie sind …« Ich musste mich zwingen, das Wort zu sagen: »… entführt worden.«

»Was?«, schrie sie.

»Diese Stimme … Er hat gesagt … Er will, dass ich in einem Fall, den ich verhandle, ein bestimmtes Urteil spreche … Er hat gesagt, dass, wenn wir zur Polizei gehen, er beginnen wird …« Ich fasste unwillkürlich mit den Händen nach meinem Gesicht und rang nach Luft. »… er beginnen wird, Finger abzuschneiden. Wir dürfen nichts sagen. Kein Sterbenswort, meinte er zu mir, oder …«

Mein Herz flatterte. Ich hatte das Gefühl, als wäre in der Luft nicht genügend Sauerstoff, obwohl ich so schnell atmete, wie ich konnte. Ich schwöre. Meine Brust wurde durch irgendeine riesige, unsichtbare Hand zerquetscht.

O Gott, dachte ich, ich habe gerade einen Herzinfarkt.

Atmen. Ich musste atmen. Doch ich konnte meine Lungen einfach nicht mit Luft füllen, sosehr ich es auch versuchte. Ich riss an dem Kragen meines Hemds herum, der zu eng geknöpft war. Nein, Moment, es war meine Krawatte, die mir die Kehle zuschnürte.

Ich fasste mit der anderen Hand nach meinem Hals, um das Kleidungsstück wegzureißen, das den Blutfluss zu meinem Hirn erschwerte, was immer es auch war. Dann bemerkte ich, dass ich überhaupt keine Krawatte mehr trug.

Mein Gesicht war wie ein Backofen, und ich schwitzte plötzlich aus sämtlichen Poren. Meine Füße und Beine kribbelten, und ich hatte das Gefühl, als würden sie gleich unter mir versagen. Alison schrie mich an.

»Scott, was ist los? Was meinst du damit, sie sind entführt worden?«

Ich nahm auf eine unwirkliche, losgelöste Weise wahr, wie ihre Adern seitlich am Hals hervortraten.

»Scott!«, rief sie, packte mich an den Schultern und schüttelte mich. »Verdammt nochmal Scott, was ist passiert?«

Diese Frage war für mich in dem Augenblick nicht zu beantworten, doch genau das schien Alison offensichtlich zu erwarten. Sie begann, gegen meine Brust zu trommeln. »Was ist passiert? Was ist los?«, brüllte sie.

Sie schlug weiter mit den Fäusten auf mich ein, bis mir in den Sinn kam, mich davor zu schützen. Als ich meine Hände hob, um Alison abzuwehren, glitt sie zu Boden, umklammerte ihre Knie und schluchzte. Es klang, als würde sie »O Gott« sagen. Vielleicht aber auch »Meine Kinder«. Oder beides.

Ich beugte mich vor, um sie hochzuheben, auch wenn ich nicht wusste, was das bringen sollte. Doch ich schaffte es nicht. Stattdessen zog mich die Anstrengung noch mehr nach unten. Ich sank zuerst auf ein, dann auf beide Knie. Mittlerweile war meine Sicht verschwommen. Ich hatte das Gefühl, das Bewusstsein zu verlieren, und stöhnte laut auf.

Irgendein schwach funktionierender Teil in meinem Hirn gab mir zu verstehen, dass ich mich zum Sterben hinlegen sollte. Ich ließ mich also seitlich fallen, rollte auf den Rücken und starrte keuchend zur Decke, in der Erwartung, dass alles schwarz werden würde.

Doch das geschah nicht. Mein Gesicht war noch immer rot, und ich hatte das Gefühl, mir würde gleich der Schädel vor Hitze platzen. In dem Moment begriff ich, dass in meinem Kopf zu viel Blut sein musste, nicht zu wenig.

Ich hatte keinen Herzinfarkt, sondern eine Panikattacke.

An Panikattacken stirbt man nicht. Ich musste meinen Körper zwingen, wieder zu funktionieren, auch wenn ich es nicht wollte. Sam und Emma brauchten mich. Sie brauchten mich dringender als je zuvor in ihrem Leben.

Dieser Gedanke bewirkte schließlich, dass ich mich wieder hochrappeln konnte. Ich krabbelte zur Wand und stützte meine Hand dagegen, um mich an ihr hochzuziehen. Anschließend schloss ich die Haustür. Warum, weiß ich nicht. Dann blickte ich auf den Boden, wo mein Handy gelandet war.

Ich hob es auf und begann, nach einer Nummer in meinen Kontakten zu suchen. Der Wunsch, meinen Kindern zu helfen, war plötzlich so stark wie noch vor wenigen Augenblicken der Wunsch, weiter zu atmen.

»Was … was machst du da?«, fragte Alison.

»Ich rufe die Marshals an.«

Der US-Marshal Service ist für meine Sicherheit innerhalb des Gerichtsgebäudes zuständig. Außerhalb davon unterliege ich der Verantwortung des Federal Bureau of Investigation. Ich hatte keine Nummern des FBI in meinem Handy gespeichert, sondern nur die des stellvertretenden Leiters der Marshals, der jedoch das FBI verständigen konnte.

»Wie bitte?«, stieß Alison hervor.

»Ich rufe den stellvertretenden Leiter …«

Alison sprang wie der Blitz auf und schlug mir das Telefon aus der Hand. Ich sah zu, wie es in die Ecke schlitterte.

»Hast du den Verstand verloren?«

»Warum hast du …«

»Du rufst ja wohl nicht ernsthaft den Marshal Service an.«

»Doch, ich …«

»Auf keinen Fall«, entgegnete sie mit schriller Stimme. Ihr Haar stand in allen vier Himmelsrichtungen ab.

»Hör mal, Ali, wir brauchen hier Unterstützung. Wir brauchen Menschen, die darin geschult sind, mit Entführern zu verhandeln. Wir brauchen das FBI. Sie verfügen über Möglichkeiten, von denen wir nicht einmal …«

»Auf keinen Fall«, meinte sie noch einmal mit Nachdruck, sollte ich sie beim ersten Mal nicht verstanden haben. »Was hat der Mann am Telefon zu dir gesagt? Dass sie den Kindern die Finger abschneiden, wenn wir zur Polizei gehen?«

Und Ohren. Und Nasen.

»Offensichtlich verfügen die Entführer genauso über Möglichkeiten, denn immerhin sind sie in der Lage, den Ursprung einer SMS vorzutäuschen«, fuhr sie fort. »Sie haben deine Handynummer. Außerdem wussten sie, wann ich nach Hause gekommen bin, und haben dich kurz danach angerufen. Das bedeutet, dass sie uns beobachten. Was hast du vor? Willst du etwa rausfinden, ob sie es wirklich ernst meinen? Sie meinen es ernst, okay? Wir müssen davon ausgehen, dass sie irgendwo da draußen im Wald sind.« Sie zeigte auf das große Waldstück zwischen unserem Haus und der Straße. »Und wenn sie ein Polizeiauto sehen, egal ob ein Zivilfahrzeug oder einen Streifenwagen, werden sie augenblicklich zum Messer greifen. Ich möchte keine abgetrennten Finger oder sonstigen Körperteile meiner Kinder per Post erhalten.«

Mir drehte sich der Magen um.

»Ich würde es mir nie im Leben verzeihen, wenn wir daran schuld wären, dass unsere Kinder verstümmelt werden«, sagte sie. »Ich habe diese Finger großgezogen.«

Damit war jede weitere Diskussion über das Thema beendet. Alison und ich halten uns für eines dieser modernen Paare, das sich die Pflichten der Kinderbetreuung teilt. Was auch stimmt. Jedoch nur so lange, bis wir uns in irgendeinem Punkt nicht einig sind. Dann tritt sehr deutlich zutage, dass wir tief im Innern doch altmodisch sind. In Bezug auf die Kinder hat Alison das Sagen.

»Okay. Was sollen wir deiner Meinung nach also tun?«, fragte ich.

»Du hast den Namen ›Skavron‹ erwähnt. Ist das der Fall, um den es den Entführern geht?«

»Ja.«

»Wann verhandelst du ihn?«

»Morgen.«

»Na, dann gibst du ihnen das, was sie von dir haben wollen. Genau das. Was immer es ist«, sagte sie. »Und morgen um diese Zeit wird all das hier vorbei sein.«

»Ich soll also ein Urteil in ihrem Sinne sprechen, und sie geben uns die Kinder unversehrt wieder zurück?«

»Genau so ist es.«

»Und das glaubst du? Weil Leute, die Kinder entführen, dafür bekannt sind, so ehrlich zu sein, oder was?«

Ihr Gesicht verzerrte sich.

»Tut mir leid«, sagte ich.

Sie blickte weg.

Vielleicht hätte ich noch weiter auf meinem Standpunkt beharrt, wäre mir nicht diese eine Sache eingefallen, die mir im Zusammenhang mit dem FBI einmal erzählt worden war. Wenn in einem Entführungsfall das Opfer getötet wird, droht Agenten kein Disziplinarverfahren. So etwas wird als nicht zu vermeidender, gelegentlicher Kollateralschaden betrachtet. Nur wenn der Entführer davonkommt, wirkt es sich negativ auf ihre Karrieren aus.

Das bedeutete also in unserem Fall, dass das FBI und die Familie Sampson sehr unterschiedliche Prioritäten hatten.

»Okay«, sagte ich. »Wir werden nichts sagen.«

3

Das einstöckige, holzverkleidete Haus hatte ein Mann errichtet, der vor allem in Ruhe gelassen werden wollte. Es lag tief in einem Wald, umgeben von Weihrauchkiefern, Marschland und Giftefeu, am Ende einer nur selten befahrenen Straße, die von verlassenen Bauernhöfen und verrosteten Wohnwagen gesäumt war. Der Landkreis war so dünn besiedelt, dass es nicht einmal eine Ampel gab.

Die einzige Verbindung zur Außenwelt war neben der Stromleitung eine Satellitenschüssel, die Fernsehen und Internet vom Himmel einfing. Fahrzeuge gelangten über einen schmalen, ausgefahrenen, unbefestigten Weg zum Haus. Die Zufahrt war mit einer verrosteten Kette verhängt, und an mehreren markanten Stellen befanden sich Schilder mit der Aufschrift ZUTRITTVERBOTEN!

Es war nicht das Ende der Welt. Es fühlte sich nur so an.

Vor dem Haus stand ein weißer Lieferwagen auf einer kleinen, mit Mulch ausgelegten Lichtung, die für eine Wendemöglichkeit gehalten werden konnte. Drinnen im Haus saßen in der Küche zwei Männer an einem runden Tisch. Beide trugen Vollbärte, waren kräftig gebaut und sofort als Brüder zu erkennen.

Der Ältere und etwas Größere der beiden las in einem Taschenbuch, dessen Buchrücken eingerissen war. Der Jüngere, etwas Dickere, wischte über sein iPad. Er spielte ein Spiel, das darauf ausgerichtet war, den Planeten zu beherrschen.

Als der Ältere sich an den Jüngeren wandte, sprach er in einer anderen Sprache.

»Du solltest ihnen jetzt was zu essen geben«, sagte er.

»Warum?«, entgegnete der Jüngere, ohne von seinem Spiel aufzusehen.

»Es sind Kinder. Sie müssen was essen.«

»Sollen sie doch verhungern.«

»Sie werden ruhiger sein, wenn wir ihnen zu essen geben.«

»Das wären sie auch, wenn wir sie festbinden würden.«

»Das hat unser Auftraggeber verboten.«

Die einzige Reaktion des Jüngeren darauf war ein Brummen. Der Ältere wandte sich wieder seinem Buch zu, ohne einen Schritt in Richtung Kühlschrank oder Küchenschrank zu machen. Der Jüngere zündete sich schließlich eine Zigarette an und nahm einen Zug, während er weiter mit dem Finger über sein iPad wischte.

Ein Satellitentelefon stand zwischen ihnen auf dem Tisch, eine Notwendigkeit an einem Ort, der so weit vom nächsten Handymast entfernt war. Als es klingelte, nahm der Ältere den Hörer ab und drückte die Lautsprechertaste, damit beide das Gespräch hören konnten.

»Ja?«

»Ich habe den Richter angerufen.«

»Und?«

»Er hat die Nachricht erhalten. Ich glaube zwar nicht, dass wir irgendwelche Schwierigkeiten mit ihm haben werden, aber du behältst ihn trotzdem im Auge, ja?

»Natürlich.«

»Die erste Lieferung ist heute Abend, richtig?«

»Ja.«

»Gut. Er soll sich bloß nicht sicher fühlen.«

»Wird er nicht.«

Der Anruf war beendet. Der ältere Bruder stellte das Telefon wieder zurück in die Mitte des Tischs. Dann zog er ein Jagdmesser mit einem langen Griff und einer gezackten Klinge aus einer Umhängetasche, die neben seinen Füßen auf dem Boden lag und gab es seinem jüngeren Bruder.

»Nun denn«, sagte er. »Zeit, sich an die Arbeit zu machen.«

4

Im Laufe der nächsten Stunde, als uns das ganze Ausmaß des schrecklichen Ereignisses vollends bewusst wurde, versuchten Alison und ich uns gegenseitig zu trösten. Vergeblich. Schließlich wanderten wir in unsere jeweiligen Bereiche im Haus, jeder in seine eigene Hölle.

Alison zog sich ins Wohnzimmer zurück, legte sich eine Decke über und starrte die Wand an, verloren in ihrem Schmerz. Gelegentlich hörte ich Geräusche ihres Kummers. Tiefes Luftholen und Erzittern, das sich in hörbares, leises Stöhnen verwandelte.

Die Versuchung, es ihr gleichzutun, war fast übermächtig. Wenn ich es mir erlaubt hätte, über die neuen Realitäten nachzudenken, darüber, dass die Grundlage unseres Lebens weggerissen worden war und sich rein gar nichts mehr darunter befand, dann hätte ich mich in eine Grube fallen lassen, um zu kapitulieren.

Doch der Wunsch, irgendetwas zu tun, um meinen Kindern zu helfen, egal wie sinnlos die Geste auch sein mochte, war größer.

Ich vertrieb jeden unnützen und grausamen Gedanken und schaltete den Laptop am Küchentisch ein, wo normalerweise die Kinder aßen, als könnte mich das ihnen irgendwie näherbringen. Ich rief das Fallbearbeitungsprogramm und elektronische Ablagesystem unserer Behörde auf, in dem alle Dokumente zu Fällen der Bundesjustiz gespeichert werden. Dann öffnete ich die Dateien, die zu dem Fall Skavron gehörten, der im Moment der einzig wichtige in meiner Prozessliste war.

Die Entführer meiner Kinder standen in irgendeiner Verbindung zu dem Angeklagten. Und vielleicht würde ich diese Verbindung irgendwo in den Unterlagen finden.

Bis 16:52 Uhr hätte ich behauptet, dass es am Fall Skavron nichts Bemerkenswertes gab. Ganz im Gegenteil, er war äußerst typisch. Die meisten Urteile, die Bundesgerichte zu fällen haben, befassen sich mit Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Damit tragen sie ihren Anteil am spektakulären Versagen der Politik im Kampf gegen die Drogen. Ich bearbeite jedes Jahr mindestens dreißig dieser Fälle.

Meine Mitarbeiter hatten den Fall für mich aufgearbeitet und mir am Montag gegeben. Ich hatte mit dem Bewährungshelfer telefoniert, der am Dienstag seinen Haftentscheidungshilfebericht verfasst hatte. Den heutigen Mittwoch hatte ich zum größten Teil damit verbracht, jenen Bericht in meinem Büro durchzulesen, der im Grunde die Lebensgeschichte des Angeklagten darstellt.

Rayshaun Skavron war in Danville geboren worden, einer gottverlassenen Stadt in der Mitte Virginias. Sein Vater trat nie in Erscheinung. Als er sechs war, verlor seine Mutter das Sorgerecht aufgrund ihrer Verhaftung wegen Drogenmissbrauchs. Er wurde daraufhin von einer Tante großgezogen. Seine erste Festnahme erfolgte mit dreizehn, und es schlossen sich viele weitere an. Der Grund waren Drogen und Waffen, Waffen und Drogen und dazwischen, zur Abwechslung, ein paar Verkehrsdelikte. Den Rest seiner Jugend verbrachte er mehrfach in Jugendstrafanstalten, bis er in die staatlichen Gefängnisse aufstieg.

Irgendwann zog es ihn nach Virginia Beach, vielleicht für einen Neuanfang, vielleicht aber auch, um an einem Ort zu leben, an dem die Polizei ihn nicht so gut kannte. Zwei Jahre lang wurde er nicht verhaftet, doch dann landete er ein richtig dickes Ding. Die Polizei, die Informationen eines Kronzeugen und Familienangehörigen nutzte, der von Skavrons krummen Touren genug hatte, konnte ihn mit einem geheimen Drogenversteck von fünf Kilogramm Heroin und kleineren Mengen Kokain und Crack in Verbindung bringen.

Man muss ihm zugutehalten, dass er dem Justizwesen die Kosten eines Verfahrens ersparte, da er sich auf einen Deal einließ und zustimmte, mit den Behörden zusammenzuarbeiten.

Die Größe des Drogenfunds hatte dazu geführt, dass der Fall vor einem Bundesgericht verhandelt wurde. Auch wenn der Deal sich für ihn vorteilhaft auswirken würde, waren die auf Bundesebene anzuwendenden Richtlinien zur Strafbemessung nur begrenzt dehnbar. Aufgrund seines Vorstrafenregisters und des von ihm begangenen Verbrechens blühte Rayshaun Skavron eine lange Haftstrafe.

Außer, wenn jemand möglicherweise sicherstellen wollte, dass das nicht geschah.

Aber wer? Und warum?

Mein Wissen über die Drogenwelt beschränkte sich auf meine Erfahrungen im Gerichtssaal. Soweit ich die Sache jedoch beurteilen konnte, war Skavron kein dicker Fisch, bestenfalls mittleres Management. Er erhielt seine Ware von einer Person, die in der Anklageschrift als nicht angeklagter Mitverschwörer Nr. 1 aufgeführt wurde. Auch wenn Skavron ein paar eigene Kunden hatte, fungierte er zumeist als Zwischenhändler. Er verpackte die Ware und verkaufte sie anschließend an andere Dealer oder Drogenabhängige, die sie dann auf der Straße vertickten.

Die Beweise ließen vermuten, dass es kein besonders lukratives Geschäft gewesen war. Vor seiner Festnahme und Inhaftierung lebte Skavron in einer kleinen Wohnung, fuhr einen in die Jahre gekommenen Chrysler und arbeitete gelegentlich als Koch, zuletzt in einer Einrichtung des betreuten Wohnens, wo ihm der Mindestlohn gezahlt worden war. Die Polizei hatte in seiner Wohnung 238 Dollar in bar beschlagnahmt. Er besaß weder ein Konto, noch hatte er eine Kaution hinterlegen oder einen privaten Anwalt engagieren können.

Wie sollte so jemand, der zudem noch hinter Gittern saß, das nötige Kleingeld aufgetrieben haben, um die Entführung der Kinder eines Richters zu organisieren? Ich dachte über die einzelnen Schritte nach. Zuerst war die SMS geschickt worden. Die Entführer mussten sicherstellen, dass ich die Kinder nicht abholen und auch nicht sofort nach ihnen suchen würde. Also sorgten sie dafür, dass »Alison« mir die Nachricht schrieb.

Die wahre Alison hatte nichts damit zu tun. Folglich mussten sie irgendwie das Telefonsystem gehackt haben. Wie meine Frau schon meinte, wir hatten es hier mit Leuten zu tun, die über Möglichkeiten verfügten.

Der nächste Schritt war die Entführung selbst, deren Details noch schwerer nachvollziehbar waren. Sam und Emma waren Schüler der ersten Klasse der Middle-Peninsula-Montessori-Schule. Es war eine sehr kleine Schule mit nur drei Erstklässlern, wo zwei Kinder nicht einfach unbemerkt verschwinden konnten.

Die Lehrer erlaubten auch den Schülern nicht einfach so, mit Fremden fortzugehen. Die Schule führte Listen, auf denen die Menschen verzeichnet waren, die die Kinder abholen durften. In unserem Fall waren das Justina und Alisons Familie, was im Einzelnen heißt, ihre Mutter, ihre beiden Schwestern und deren Ehemänner. War diese Schutzmaßnahme vielleicht durch irgendeine Täuschung umgangen worden?

Diese Vermutung und die SMS ließen mich zu dem Schluss kommen, dass derjenige, der hier die Strippen zog, schlau, diszipliniert und gut organisiert sein musste.

Doch nichts davon schien auf den in diesen Unterlagen beschriebenen Rayshaun Skavron zu passen. Jemand musste ihm zur Seite stehen, der viel raffinierter war als er selbst. Aber wer?

Die naheliegendste Antwort lautete: ein nicht angeklagter Mitverschwörer. Normalerweise ist das eine Person, die in der Nahrungskette etwas weiter oben steht. Jemand, der durch Skavrons Freilassung sicherstellen wollte, dass dieser in dem Prozess gegen ihn, also den nicht angeklagten Mitverschwörer, nicht aussagte.

Doch genau das war der springende Punkt. Die Bezeichnung »nicht angeklagter Mitverschwörer« besagte erst einmal nur, dass er nicht angeklagt war. Würde es nämlich einen gegen ihn anhängigen Prozess geben, stünde Skavron nicht bei mir vor Gericht. Dann würde die Bundesstaatsanwaltschaft zuerst den nicht angeklagten Mitverschwörer strafrechtlich verfolgen und irgendwann später dann Skavron. Sie kümmert sich um die größeren Fische stets zuerst.

Skavron besaß wahrscheinlich keine einzige nützliche Information gegen diesen nicht angeklagten Mitverschwörer. Das ist auch der Grund, warum Kartelle überhaupt so viele Zwischenhändler haben. Auf den Straßen zu dealen ist ein gefährliches Geschäft. Eines, wo es fast unmöglich ist, zwischen Kunden, verdeckten Ermittlern und/oder Informanten zu unterscheiden. Festnahmen gehören zum Geschäftsrisiko. Deshalb geben sich die echten Bosse nie direkt mit den Konsumenten ab, sondern richten zwischen sich und dem Chaos der Straße mehrere Schutzschichten ein. Eben jemanden wie Skavron.

Und sie hielten diese Schutzschicht immer schön dumm. Wahrscheinlich wusste Skavron nicht einmal, für welche Organisation er arbeitete.

Die Bundesstaatsanwaltschaft konnte diesen Fall nicht höher aufhängen. Aus Sicht der Strafverfolgung war Skavron eine totale Sackgasse.

***

Ein oder vielleicht zwei Stunden später betrat Alison laut schniefend die Küche. Ihre Augen waren gerötet.

»Was machst du da?«, fragte sie mit heiserer Stimme.

»Ich schaue mir nur die Unterlagen zu Skavron an. Ich hoffe noch immer … ich weiß auch nicht, dass mir irgendwas ins Auge springt.«

Sie ging zu einem der Küchenschränke und nahm sich ein Wasserglas. Trotz der offensichtlichen Anspannung, unter der sie stand, bewegte sie sich mit der gleichen Anmut wie damals an der Uni. Alison ist vierundvierzig, so wie ich, doch sieht man ihr das Alter kaum an. Sie hat noch immer die gleiche schlanke Gestalt wie vor mehr als zwanzig Jahren. Auch ihre Körperhaltung ist noch genauso gerade. Ihre Schultern, meine Frau hat tolle Schultern, wenn das nicht zu merkwürdig klingt, haben sich noch keinen einzigen Zentimeter der Schwerkraft gebeugt.

Sie hat ein paar graue Haare, doch fallen sie in ihrem natürlichen Aschblond nicht weiter auf. Während ich mir meiner Geheimratsecken und den immer tiefer werdenden Falten sehr bewusst bin, könnte ich schwören, dass Alison kaum altert. Oder ich bemerkte es einfach nicht. Das kann passieren, wenn man jemanden liebt.

Ich versuche nicht, sie als Inbegriff der Vollkommenheit darzustellen. Sie raucht heimlich bei der Arbeit und glaubt tatsächlich, ich würde es nicht bemerken. Sie stopft sich mit Schokolade und Chips voll, und ihr Stoffwechsel lässt sie damit ungestraft davonkommen. Sie ist eine schreckliche Autofahrerin.

Ich würde auch nie behaupten, dass wir eine perfekte Ehe führen, denn die gibt es sowieso nur in der Vorstellung von Singles und denen, die Grußkarten verfassen. Unsere Auseinandersetzungen zeichnen sich nicht durch ihre Lautstärke, sondern durch ihre grausame Stille aus. Es können ganze Tage vergehen, an denen wir kaum miteinander sprechen, beide zu stur, in der Sache nachzugeben, die den Streit auslöste. In diesen wortlosen, stillen Phasen unserer Ehe komme ich immer wieder an den Punkt, wo ich wirklich glaube, dass wir kurz vor der Scheidung stehen.

Doch irgendwann gibt einer nach. Und wenn wir in etwas gut sind, dann darin, einen Weg zu finden, um später darüber lachen zu können. Es gibt zwischen uns einen Running Gag, und zwar den, dass sie mit wehenden Fahnen zu Paul Dresser zurückkehrt. Paul Dresser war ihr Freund an der Highschool, und er wird mit jedem Jahr fescher, galanter und reicher. »Ach, weißt du, Paul Dressers Privatflugzeug wurde auf den Malediven aufgehalten. Ich denke, dann können wir genauso gut noch ein bisschen länger zusammenbleiben«, lautet ihr Spruch, wenn wir uns versöhnt haben.

Darüber hinaus steht eins zweifellos fest. Dieses erste Feuer, das ich verspürte, als ich sie sah, brennt noch immer in mir. Würde man mir mein Gedächtnis auslöschen und ich ein Zimmer betreten, in dem sich Alison und hundert andere Frauen befänden, würde ich noch immer sie mit nach Hause nehmen wollen. Meine Frau glaubt mir das zwar nicht, wenn ich ihr das erzähle, aber es ist wahr.

Sollte ich Alison also einen Augenblick bewundert haben, als sie sich ein Glas Leitungswasser eingoss, lag es nicht nur an meinem Muskelgedächtnis.

»Möchtest du auch einen Schluck Wasser haben?«, fragte sie.

»Nein danke.«

Alison betrachtete das Glas in ihrer Hand.

»Erst gestern Abend war Emma noch hier«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Genau hier. Sie wollte mir unbedingt beim Abwasch helfen. Da habe ich einen Stuhl genommen, sie daraufgestellt und abspülen lassen. Ich habe nur abgetrocknet. Sie kam mir so erwachsen vor.«

Alison glitt das Glas aus den Fingern. Sie schluchzte auf, noch bevor es in der Spüle zerbrach.

»He, he«, sagte ich, sprang von meinem Stuhl auf und eilte zu ihr.

Sie richtete sich nicht auf oder sah mich an, und so beugte ich mich vor und schlang meine Arme von hinten um sie. Ich hielt sie eine kleine Weile lang fest in dieser unbeholfenen Haltung, nur damit sie wusste, dass ich da war.

»Ich muss andauernd an sie denken«, sagte sie. »Wo sind sie gerade? Was machen sie in diesem Moment? Sind sie verletzt? Haben sie Angst?

»Ich weiß, ich weiß.«

Irgendwann im ersten Drittel von Alisons Schwangerschaft stellte sich ein unerwarteter Aspekt der Elternschaft bei mir ein. Mein Hirn entwickelte eine zusätzliche Region, deren einzige Aufgabe es war: die Sorge um meine Kinder. Selbst wenn der Rest von mir mit etwas völlig anderem beschäftigt ist, pocht dieser Teil sanft und unablässig vor sich hin.

Im Moment klopfte er.

»Ich glaube, ich stehe noch immer unter Schock«, meinte Alison. »Selbst wenn ich in der Lage wäre, alles zu verarbeiten, würde ich innerlich zumachen.«

»Ja«, sagte ich.

Sie versuchte, sich wieder zu fangen, indem sie tief Luft holte. Ihr gesamter Körper schwankte dabei. Ich strich ihr mit der Hand über den Rücken, in der Hoffnung, dass es sie beruhigte.

»Morgen um diese Uhrzeit wird dieses Grauen vorbei sein«, sagte ich. »Bis dahin müssen wir uns einfach zusammenreißen und das tun, was sie sagen. Dann kommt alles wieder in Ordnung.«

»Ich weiß, ich weiß. Ohne dass …«

Sie ließ den Satz unbeendet. Ich hielt sie noch weiter in den Armen.

»Scott, wenn wir sie verlieren, werde ich …«

»Schschsch. So dürfen wir nicht denken. Das bringt nichts.«

»Ich weiß, aber …«

»Schschsch«, sagte ich noch einmal, als könnte das Aussprechen des Gedankens ihm irgendwie Macht verleihen.

Wir standen da, ohne etwas zu sagen, bis sie irgendwann die Kraft fand, sich aus meinen Armen zu lösen. »Tut mir leid«, sagte sie noch einmal.

»Schon gut.«

Sie machte einen Schritt in Richtung Spüle. Ich ahnte, warum. Sie wollte das zerbrochene Glas wegräumen, doch ich hinderte sie daran.

»Lass das, darum kümmere ich mich.«

Sie hielt inne. »Okay. Ich glaube, ich werde mich etwas hinlegen.«

»Das ist eine gute Idee.«

»Würde … Würde es dir sonderbar vorkommen, wenn ich in eins der Kinderzimmer ginge?«

»Überhaupt nicht«, antwortete ich.

Sie nickte. Ich küsste ihr Gesicht, das noch immer feucht war von den Tränen. Dann verließ sie ohne ein weiteres Wort die Küche.

Während ich vorsichtig das zerbrochene Wasserglas aus der Spüle entfernte, dachte ich immer noch, dass irgendwann in mir Wut aufsteigen würde. Dass mich das Verlangen packen würde, gegen diese Leute auszuholen, die uns das angetan hatten. Dass ich beginnen würde, tödliche Rachephantasien zu entwickeln.

Doch ich verspürte nur eine völlige Ohnmacht, als ich vorsichtig die Glasscherben aufsammelte.

Es war für einen Mann meiner Profession ein ausgesprochen fremdes Gefühl. In unserer Demokratie sind die Bundesgerichte die einzigen Orte, an denen Diktatoren noch toleriert werden. Bundesrichter werden auf Lebenszeit ernannt. Wir müssen für unser Amt nicht kandidieren oder vor unseren Förderern kriechen. Um uns des Amtes zu entheben, ist ein Beschluss des Kongresses notwendig. In der täglichen Arbeit müssen wir uns vor keinem Dienstvorgesetzten oder Wähler verantworten, sondern einzig und allein vor unserem Gewissen.

Manche Anwälte bezeichnen Bundesrichter scherzhaft als kleine Cäsaren, nur ist dieser Witz nicht ganz von der Hand zu weisen. Wir besitzen in der Tat ein erstaunliches Maß an Macht. Einige meiner Entscheidungen können durch höhere Instanzen aufgehoben oder abgeändert werden, doch im Grunde genommen ist eine überraschend hohe Anzahl davon unanfechtbar.

Mit kaum mehr als meinem Bauchgefühl verkünde ich regelmäßig Urteile, die sich nachhaltig auf das restliche Leben anderer Menschen auswirken. Die reichsten Anwälte Virginias kuschen vor mir. Riesige Beamtenapparate sind gezwungen, meine Anweisungen zu befolgen. Wichtige Menschen unserer Gesellschaft sind nur eine unangenehme Entscheidung davon entfernt, in meinem Gerichtssaal um Gnade zu betteln, und mitunter zittern sie förmlich vor mir.

Mir ist klar, dass es nur an meiner Stellung und nicht an meiner Person liegt, die dieses anbiedernde Verhalten auslöst. Ich ermuntere diese Menschen nicht dazu. Manchmal bin ich ein widerwilliger Cäsar. Das ständige Schleimen der anderen ist mir peinlich.

Trotzdem, das ist bedingt durch die Arbeit.

Ob es mir gefällt oder nicht, ich repräsentiere Macht.

Ob es mir gefällt oder nicht, ich habe Macht.

Oder zumindest: Ich hatte sie einmal.

5

Nachdem ich gegen Mitternacht das zweite Mal die Dokumente zu Skavron durchgelesen hatte, ohne etwas zu finden, worauf ich nicht schon beim ersten Mal gestoßen war, ging ich nach oben in unser Schlafzimmer, um einen unglückseligen Versuch zu starten, Schlaf zu finden.

Er mündete darin, dass ich hellwach dalag, wenn auch mit geschlossenen Augen, und diese zusätzliche Region in meinem Hirn, die Region für die Kinder, das Ruder übernahm.

Ich dachte an Sam. Den tapferen, entzückenden Sam. Alison und ich bemühen uns, unsere Kinder nicht geschlechtertypisch zu erziehen. Trotzdem ist Sam ein hundertprozentiger Junge. Er verfügt einfach über ein gewisses Maß an Energie, das er täglich verbrauchen muss. Und wenn nicht? Dann wehe den Möbeln, Wänden und Menschen in seinem Dunstkreis. Manchmal, wenn uns sein Ungestüm am späten Nachmittag zu erdrücken droht, schicken wir ihn nach draußen, damit er ein paar Runden ums Haus laufen kann.

Danach wanderten meine Gedanken zu Emma. Zur süßen, bedachten Emma. Auch sie verfügt über eine gute Portion Energie, nur drückt sie sie eher emotional als körperlich aus. Sie ist unglaublich einfühlsam. Wenn Alison und ich uns laut unterhalten und in der Sache, die wir gerade besprechen, überhaupt nicht anderer Meinung sind, sondern lediglich eine angeregte Diskussion dazu führen, bittet Emma uns, mit dem Streiten aufzuhören. Die wenigen Male, die ich sie bisher habe zurechtweisen müssen, haben mich gelehrt, sanft vorzugehen und ihr erst zu versichern, dass ich sie unendlich liebe und das auch immer tun werde. Andernfalls kann ein schiefer Blick dazu führen, dass sie in Tränen ausbricht und damit jegliche Hoffnung auf ein Gespräch zunichtegemacht wird. Ich dachte über die Fragen von Alison nach – wo die beiden gerade waren und was sie machten – und spann mir mein eigenes Szenario zurecht, in dem sie sicher und unverletzt waren.

In meinem Wunschdenken hatten die Entführer eine Art Lüge erfunden, um die Kinder glauben zu lassen, dass das Ganze ein Spiel war, so dass sie nicht ganz verstanden, was gerade vor sich ging. Man gab ihnen weder Erdnussbutter noch Nüsse zu essen (Emma war gegen beides allergisch), sondern verwöhnte sie mit den drei Lieblingsspeisen aller Sechsjährigen. Pizza, Pasta und Chicken-Nuggets. Außerdem durften sie so viel Fernsehen schauen, wie sie wollten.

Die beiden wussten zwar, dass irgendwas komisch war, doch ging es ihnen eigentlich ganz gut. Immerhin hatte Sam seine Emma. Und Emma hatte ihren Sam. Solange die Zwillinge einander hatten, war alles halb so schlimm.

So sah mein Szenario im günstigsten Fall aus.

Das, wie es im schlimmsten Fall aussehen könnte, versuchte ich verzweifelt aus meinem Kopf zu verdrängen.

Die Zeit kroch vor sich hin. Gegen zwei Uhr schlich Alison leise ins Zimmer. Sie schlug die Bettdecke zurück und schlüpfte darunter. Wir lagen wortlos nebeneinander, jeder in seinen eigenen Kummer versunken.

Im Haus war es dunkel und still. Es gab seine üblichen Geräusche von sich, doch ohne die Zwillinge klang nichts davon richtig. Wir hatten uns zu diesem Ort hingezogen gefühlt, doch war es nicht unseretwegen gewesen, sondern der Kinder wegen. Wir kauften es, weil auf dem großzügigen Stück Land unzählige Bäume standen, die ihnen im Sommer Schatten spenden würden, und weil diese weitläufige Farm nur darauf wartete, von unzähligen Erinnerungen erfüllt zu werden, und weil wir wussten, dass sie den Fluss mit seinem weißen Sandstrand und dem sich sanft neigenden Ufer lieben würden. Alison sprach oft davon, wie wunderbar sie es fand, dass wir den Zwillingen eine Kindheit bereiteten, die so anders war als die der meisten Kinder der oberen Mittelklasse, deren Leben üblicherweise in einem gepflegten Eigenheim an einer Stichstraße stattfand.

Doch letztendlich kauften wir es, weil ich vor dem VORFALL ein fröhlicher Optimist gewesen war, der an das Gute im Menschen geglaubt hatte. Als mir dann das menschliche Potential an Bösartigkeit bewusst gemacht worden war, wollte ich meine Kinder an einem Ort großziehen, der möglichst sicher war. Ich hatte geglaubt, dass das viele Land und die vielen Bäume als eine Art Festung fungieren könnten und dass unsere Einfahrt, eine nicht befestigte Straße von knapp einer halben Meile, lang genug war, um die schlimmsten Übel der Welt wirksam fernzuhalten.

Erst jetzt begriff ich den Trugschluss. Sicherheit war ein Irrglaube, eine große Lüge, die wir uns einredeten, um die erschütternde Wahrheit über die menschliche Existenz zu verdecken. Diese Wahrheit lautete, dass die Grundlagen der Gesellschaft nicht in Stein gemeißelt, sondern in Sand geschrieben sind und von jedem mit genug Luft in den Lungen jederzeit weggepustet werden können.

Dieser Gedanke geisterte in meinem Kopf herum, während ich im Bett lag und die Zeit weiter schleppend verstrich. Ich versuchte, meine Träume zu fröhlicheren Zeiten zu lenken, die bestimmt noch vor uns lagen, denn das hier würde ja doch vorbeigehen. Schon bald. Das musste ich einfach glauben.

Langsam spürte ich, wie mein Körper in die Matratze einzusinken begann. Alisons Atmung war gleichmäßiger geworden. Ich dachte schon, ich könnte für ein, zwei Minuten wegdämmern.

Doch dann klingelte es an der Haustür.

***

Noch bevor das Ding-Dong der Klingel zu Ende geläutet hatte, war ich auf den Füßen. Alison setzte sich auf. Ich konnte das Weiße in ihren Augen sehen, das in der Dunkelheit gespenstig wirkte. Es war 3:17 Uhr.

Ich agierte, ohne viel nachzudenken, und war bereits auf dem Weg zur Schlafzimmertür.

»Warte, wo gehst du hin?«, fragte meine Frau, grimmig flüsternd.

»Wie meinst du das? Was, wenn das die Kinder sind?«

»Die Kinder? Du glaubst, die spazieren einfach zu unserer Haustür und klingeln?«

»Na ja, zusammen mit einem Polizisten.«

Ich war nicht stehen geblieben, um mit ihr zu diskutieren, und hatte bereits die Schlafzimmertür erreicht. Ich griff nach der Türklinke.

»Warte!«, rief sie, nachdem sie vom Bett aufgesprungen und mein Handgelenk gepackt hatte. »Glaubst du nicht, dass die Polizei uns zuerst angerufen hätte? Was, wenn es die Entführer sind? Was, wenn sie eine Waffe haben?«

»Bleib einfach hier!«, entgegnete ich und riss meinen Arm los.

»Scott«, rief sie hinter mir her, doch ich war schon zur Tür hinaus und die Treppe hinunter.

Wir besitzen eine Waffe, eine Neun-Millimeter-Smith-&-Wesson, die wir gekauft haben, als Alison schwanger und ich die meiste Zeit unterwegs war. Sie hatte scherzhaft gemeint, na ja, halb scherzhaft gemeint, dass ihre Mama-Bär-Gefühle ihr diese Notwendigkeit mitgeteilt hätten. Wehe dem Kriminellen, der sich mit Alison anlegt. Sie stammt aus einer Soldatenfamilie, und ihr Dad fand, dass das Band zwischen Vater und Tochter am besten bei nachmittäglichen Zielschießübungen zu knüpfen sei. Sie gewann als Jugendliche eine ganze Truhe voll mit Siegerschleifen. So wie sie mit der Smith & Wesson an dem Tag auf dem Schießplatz umging, an dem wir sie kauften, war davon auszugehen, dass ihre Fähigkeiten kaum nachgelassen hatten.

Dummerweise war die Waffe gerade in ihre Einzelteile zerlegt. Die eine Hälfte befand sich oben auf dem Dachboden und die andere Hälfte gut versteckt unter dem Waschbecken im Bad. Ich hatte auf dieser Maßnahme bestanden, nachdem ich für ein von mir entworfenes Gesetz die Statistiken zu unbeabsichtigten Todesfällen durch Schusswaffengebrauch recherchiert hatte. Die Zahlen sprachen für sich. Eine funktionsfähige Waffe im Haus stellte für Kinder eine weitaus größere Gefahr dar als alles andere, was draußen auf sie lauerte.

Zum ersten Mal bedauerte ich diese Entscheidung. Ich rief die mir zur Verfügung stehenden Alternativen ab. Küchenmesser, Schraubenzieher, Schürhaken. Meine Entscheidung fiel auf einen Golfschläger im Dielenschrank.

Die Absurdität der Situation, also dass ein sanfter Mann mittleren Alters glaubte, bewaffnete Angreifer mit einem Sechser-Eisen niederstrecken zu können, war mir noch nicht bewusst geworden. Ich huschte ins Wohnzimmer, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen und mir zumindest eine leise Vorstellung zu verschaffen, was mich erwartete.

So wie viele andere Farmhäuser in den Südstaaten besitzt auch unser Haus eine großzügige Veranda, die entlang der Vorderfront und den beiden Seiten verläuft. Unsere Veranda schmücken Korbmöbel und Futterhäuschen für Vögel, die die Kinder im letzten Sommer bemalt hatten, als Justina diesen Basteltick hatte. Vor der Veranda befinden sich ein Garten mit Magnolienbäumen und Weihrauchkiefern und diese lange, unbefestigte Straße.

Ich konnte nicht viel erkennen, als ich aus dem Fenster spähte. Die Veranda und der Teil des Gartens, der gerade erleuchtet war, schienen frei von menschlichen Wesen zu sein. Die Bäume und die Straße konnten in der Dunkelheit nur erahnt werden.

Ich umfasste noch einmal den Golfschläger und kehrte zum Eingang zurück. Ich legte die Türkette zurück, öffnete die Haustür vorsichtig und verbarg den größten Teil meines Körpers dahinter, sollte auf mich ein Hinterhalt warten.

Meine Vorsichtsmaßnahme war nicht notwendig. Es war niemand draußen. Ich hörte nur das entfernte Jaulen eines kleinen Rudels halbwilder Hunde, das manchmal durch den Wald streifte.

Dann blickte ich nach unten. Auf dem Boden stand ein Pappkarton, der mir bis zum Knie reichte. Seitlich befand sich der Schriftzug von Home Depot. Er war oben mit silbernem Band zugeklebt.

Ich stieß mit dem Fuß dagegen, um eine Vorstellung von seinem Gewicht zu bekommen. Was immer da drinnen war, war nicht schwerer als der Karton selbst. Ich horchte. Worauf? Vielleicht auf ein tickendes Geräusch? Ich hörte aber nichts.

Dann wurde mir bewusst, dass ich paranoid war. Wer immer hinter dieser Entführung steckte, brauchte mich lebend, zumindest bis zum Vormittag kurz nach 11:00 Uhr, damit ich seine wie auch immer lautenden Anweisungen befolgte. Ich ließ den Golfschläger fallen und riss den Karton auf.

Es befanden sich die Kleider meiner Kinder darin, die sie am gestrigen Tag zur Schule getragen hatten. Obendrauf lagen zwei durchsichtige Frühstücksbeutel mit abgeschnittenen Haaren. Genauer gesagt, mit den abgeschnittenen Haaren meiner Kinder. Das Haar von Sam war glatt und von der Sonne gebleicht. Das von Emma lockig und ebenfalls blond, aber einen Ton dunkler.

Meine Hand wanderte unwillkürlich zum Hals, eine typische Geste der Verletzlichkeit. Ein Richter verbringt sein Leben damit, Beweise zu prüfen. Ich brauchte nicht mehr als das, was ich in der Hand hielt, um zu erkennen, dass der Albtraum Wirklichkeit war. Ich musste mich am Türrahmen festhalten, um das Gleichgewicht zu behalten.

Als ich mich wieder beruhigt und ein paarmal tief durchgeatmet hatte, bemerkte ich, dass sich in dem Karton noch ein Umschlag befand. Er war so klein wie die Grußkarten, die normalerweise in Blumensträußen stecken. Ich riss ihn auf. Eine gefaltete Einlegekarte steckte darin. Die Nachricht darauf war in Blockschrift geschrieben:

RICHTER SAMPSON

BEFOLGEN SIE UNSERE ANWEISUNGEN ODER WIR WERDEN

BEIM NÄCHSTEN MAL MEHR ALS NUR EIN PAAR HAARE

ABSCHNEIDEN – FREUNDE VON RAYSHAUN SKAVRON

Ich starrte noch einmal hinaus in die Dunkelheit. Nichts hatte sich verändert. Mir fiel lediglich an dem Pfosten direkt neben der Treppe etwas auf, als ich meinen Blick wieder zur Veranda wandte. Etwas Eigenartiges.

Eines der Vogelfutterhäuschen fehlte.

6

Der Ton des Bewegungsmelders war laut genug, um den jüngeren Bruder in seinem Sessel zu wecken, wo er geschlummert hatte. Er stand auf, griff nach seinem Sturmgewehr, das zu Boden geglitten war, und ging zum Fenster.

Das grelle Licht von zwei Autoscheinwerfern schien auf die Lichtung vor dem Haus. Dann wurden sie mehrfach ein- und ausgeschaltet.

Das war das Zeichen dafür, dass alles in Ordnung war. Der Jüngere trat von den Jalousien weg und stellte die Alarmanlage aus. Sie war zwar alt und noch von dem Spinner installiert worden, der das Haus gebaut hatte, und besaß auch keine Verbindung mehr zum zentralen Überwachungsraum, doch machte sie noch immer genügend Krach, wenn eine Tür oder ein Fenster geöffnet wurde. Er hängte die Waffe zurück an den Haken an der Wand, dort, wo sie hingehörte. Als sein Bruder das Zimmer betrat, saß er mit seinem iPad am Küchentisch.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte der Jüngere.

»Gut«, antwortete der Ältere, als er die Alarmanlage wieder einstellte.

»Kein Problem mit der Lieferung?«

»Nein«, erwiderte der Ältere. »Gab’s irgendwelche Schwierigkeiten hier?«

»Eigentlich nicht. Irgendwann fing der Junge an zu jammern und meinte, er bräuchte was zu essen. Da hab ich ihm was gegeben, nur damit er die Klappe hält.«

»Ich hab dir doch gesagt, dass sie ruhiger sind, wenn sie was im Bauch haben. Was hast du ihnen gegeben?«

»Ein Brot mit Erdnussbutter und Marmelade. Deiner Meinung nach sollen amerikanische Kinder das ja mögen.«

»Haben sie’s gegessen?«

»Der Junge schon. Das Mädchen hat’s nicht angerührt.«

»Wird sie schon, wenn sie genügend Hunger hat.«

Der Jüngere nickte in Richtung der Schlafzimmer. »Der Junge hat viel geweint. Er fragt ständig nach seiner Mutter und seinem Vater. Das geht mir auf die Nerven.«

»Na, damit ist die Entscheidung dann ja wohl gefallen.«

»Welche?«

»Wen wir von beiden zuerst loswerden.«

7

An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Am nächsten Morgen waren lediglich die Bettlaken zerwühlt.

Die frühe Herbstsonne ging über Gloucester, Virginia, auf, nicht ahnend, dass sie auf das Leben zweier gequälter Seelen schien. Alison war bereits aufgestanden. Ich hörte sie unter der Dusche. Das Geräusch fließenden Wassers hatte mich wohl noch einmal eindösen lassen.

Denn schon einen Augenblick später war sie wieder zurück im Zimmer. Angezogen.

»Gehst du etwa zur Arbeit?«, fragte ich.

»O Gott, nein. Ich habe mich bereits krankgemeldet. Ich fahre zur Schule.«

Ich stützte mich auf dem Ellenbogen ab. »Das kannst du nicht. Kein Sterbenswort, haben sie gesagt, erinnerst du dich?«

»Klar. Aber ich … ich muss einfach ein paar Dinge wissen, mehr nicht. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht und nur gegrübelt. Ich meine, was ist da passiert? Jemand taucht einfach auf und nimmt unsere Kinder mit? Das muss ich begreifen. Oder zumindest versuchen, es zu begreifen, um nicht durchzudrehen. Abgesehen davon, werden die Lehrer wissen wollen, warum die Kinder heute nicht zur Schule kommen. Wir müssen ihnen dafür eine Erklärung geben.«

»Ich komme mit«, sagte ich und schwang meine Beine aus dem Bett.

»Besser nicht«, warf Alison ein. »Du bist Richter. Das schüchtert die Menschen manchmal ein.«

»Dann übernimmst du eben das Reden«, entgegnete ich. »Ich will einfach nur hören, was sie sagen.«

»Ich glaube nicht …«

Sie hielt inne. »Okay«, meinte sie dann.

Nach diesem Zugeständnis zwang ich mich unter die Dusche, die mir half, meine Lebensgeister wieder zu wecken. Genauso wie der Kaffee, den Alison gekocht hatte, als ich nach unten kam.

Wir verließen schnell das Haus, in dem es ohne die Kinder entsetzlich still war, und fuhren getrennt zur Middle-Peninsula-Montessori-Schule, die wir innerhalb einer Viertelstunde erreichten.

Gloucester County zeichnet sich nicht gerade durch Wohlstand aus, was sich in der Einfachheit der Schule widerspiegelt. Es war ein kleines Gebäude in Stahlbauweise, das am Rand eines Schotterparkplatzes lag. Die Schule, dieser kleine Hafen der Liebe und des Lernens, hatte durch die von den Schülern bemalten Außenwände immer fröhlich und einladend auf mich gewirkt.

Heute wirkte es grotesk.

Wir kamen ein paar Minuten nach acht Uhr an. Der Unterricht würde in weniger als einer halben Stunde beginnen.

»Ich übernehme das Reden«, stellte Alison noch einmal klar, als ich sie an ihrem Auto abholte.

»Selbstverständlich«, sagte ich.

Wir gingen über den Parkplatz. Die Steine knirschten unter unseren Schuhen. Die Eingangstür der Schule war prinzipiell verschlossen, und so klingelte Alison.

Kurz darauf erschien Suzanne Fridley, die Leiterin der Schule. Miss Suzanne war eine jener außergewöhnlich ruhigen Menschen, die in jedem anderen Umfeld als dem der schulischen Erziehung von Kindern am falschen Platz gewesen wäre. Ihre Art, mit Kindern umzugehen, war einfach magisch.

»Guten Morgen, Mrs Sampson. Guten Morgen, Richter Sampson«, begrüßte sie uns, als sie die Tür öffnete. »Bitte, kommen Sie herein! Was verschafft uns das Vergnügen?«

Wir standen im Eingang der kleinen Schule, die auch als Bibliothek diente. Ich blickte Alison an, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie das Wort ergreifen sollte.

»Die Frage klingt vielleicht etwas eigenartig«, begann meine Frau. »Aber wer hat gestern die Zwillinge abgeholt?«

Gelassen griff Miss Suzanne nach einem Klemmbrett, das auf einem kleinen Tisch neben der Tür lag, wo die Abholungen eingetragen wurden. Miss Suzanne blätterte eine Seite um.

Dann legte sie die Stirn in Falten. »Tja, das waren doch Sie.«

Sie wandte das Klemmbrett so, dass Alison das Blatt einsehen konnte. Tatsächlich war darauf vermerkt, dass Sam und Emma um 15:57 Uhr die Schule verlassen hatten. Unter der Spalte »Abgeholt worden von« stand »Mom« und daneben das Namenskürzel einer Mitarbeiterin.

Ich glaube, dass, wenn mein Name dort gestanden hätte, mir die Kinnlade heruntergefallen wäre. Doch Alison meinte nur: »Das ist doch Miss Pams Unterschrift, oder?«

»Ja, richtig.«

»Ist sie hier?«, fragte Alison.

»Einen Augenblick, bitte.«

Miss Suzanne wanderte gelassen ins nächste Zimmer und kehrte fünfzehn Sekunden später mit Miss Pam zurück, einer Hilfslehrerin der großmütterlichen Sorte.

»Richter Sampson und Mrs Sampson haben ein paar Fragen, was die Abholung ihrer Kinder gestern betrifft«, sagte Miss Suzanne. »Sie erinnern sich doch, die Zwillinge gestern aus der Schule gelassen zu haben?«

»Ja«, erwiderte Miss Pam verdutzt.

»Wer hat sie abgeholt?«

»Das war … Mrs Sampson«, antwortete Miss Pam und beäugte Alison, deren Gesicht rot wurde.

Das war der Zeitpunkt, wo ich mich in das Gespräch einklinkte. »Genau in diesem Punkt herrscht bei uns etwas Verwirrung. Die Kinder sind gestern von jemandem abgeholt worden, aber wir sind uns nicht sicher, von wem. Ich weiß, das klingt eigenartig, aber sind Sie sich sicher, dass es meine Frau war?«

Miss Pams Kopf schnellte von mir zu Miss Suzanne wieder zurück zu mir und dann zu Alison. »Tja, also, ich … ich denke schon«, erwiderte sie. »Sie haben doch eine … eine Baseballmütze und eine Sonnenbrille getragen, oder?«

Alison hatte zum letzten Mal eine Baseballmütze in der Öffentlichkeit nach durchzechten Nächten in ihrer Studentenzeit getragen.

»Haben Sie wirklich ihr Gesicht gesehen?«, hakte ich nach.

»Nein, nur ihren Hinterkopf. Sie trug einen Pferdeschwanz.«

»Hat sie irgendwas gesagt?«

»Äh …, nein«, antwortete Miss Pam.

Das war für mich der Beweis, dass es Alison nicht gewesen sein konnte, denn sie gehörte zu der »bitte« und »danke« sagenden Fraktion der Menschheit. Offensichtlich hatte sich jemand als meine Frau ausgegeben und eine Baseballkappe und eine Sonnenbrille aufgesetzt, um Unterschiede im Aussehen zu kaschieren.

»War es das richtige Auto?«, fragte ich.

»Selbstverständlich«, antwortete Miss Pam. Sie sah wieder zu Miss Suzanne. Es war ein verzweifelter Blick, in dem die Worte lagen: Helfen Sie mir bitte hier raus!

Es vergingen mehrere Sekunden. »Wir haben letztes Jahr diese Überwachungskamera installiert«, meinte Miss Suzanne schließlich. »Wenn Sie möchten, können wir uns gern das Video von gestern Nachmittag anschauen.«

»Das wäre großartig«, erwiderte ich.

»Kommen Sie mit!«, sagte sie.

Wir folgten ihr in ein enges Büro, das direkt neben dem Eingang lag. Sie setzte sich vor den Computer, auf dem kurz danach eine aktuelle Aufnahme der Schule erschien. Die Kamera war eigentlich auf die Eingangstür gerichtet, doch fing sie zumindest auch einen kleinen Teil des Parkplatzes ein.

»Lassen Sie mich das Band zurückspulen«, sagte Miss Suzanne.

Sie klickte mehrere Male. Die Uhr rechts oben in der Ecke begann rückwärts zu rollen. Aus dem Vormittag wurde Nacht, die allmählich zurück in die Abenddämmerung glitt und dann zu einem zunehmend sonnigeren Nachmittag wurde.

Schon bald huschte eine Reihe von Wagen und Pick-ups über den Bildschirm, alle rückwärtsfahrend. Ich nahm nichts Bemerkenswertes wahr, bis Alison »da« rief.

»Okay«, sagte Miss Suzanne.

Sie hielt das Video an und spielte es in normaler Geschwindigkeit ab. Die Uhr rechts oben in der Ecke zeigte »15:55:06«. Die nächsten zweiundsiebzig Sekunden geschah nichts. Dann um 15:56:18 glitt ein grauer Honda Odyssey Minivan links in den Bildschirm und hielt an.

Wir haben einen grauen Honda Odyssey Minivan, den wir vor ein paar Jahren gebraucht gekauft haben, damit Justina die Kinder mit dem Auto abholen kann.

Ich könnte nicht sagen, ob dieser graue Honda Odyssey Minivan unser grauer Honda Odyssey war. Fabrikat und Modell schienen jedoch identisch zu sein. Das Autokennzeichen war nicht zu erkennen, da nur die rechte Seite des Autos im Bildschirm auftauchte. Doch ich bemerkte einen Aufkleber der Middle-Peninsula-Montessori-Schule auf der rechten Seite der Heckscheibe, genau dort, wo unserer auch ist.

Das war entweder unser Wagen, der vielleicht aus unserer Einfahrt gestohlen und dann wieder zurückgegeben worden war, oder eine peinlich genaue Kopie.

Die Fahrerin trug eine Sonnenbrille und eine rosafarbene Baseballkappe, durch die ein blonder Pferdeschwanz gezogen war. Sie blickte geradeaus. Es hätte durchaus Alison sein können. Genauso gut aber auch nicht. Das Bildmaterial war zu unscharf, um das sagen zu können.

Um 15:57:13 erschien Miss Pam. Die Seitentür des Minivans glitt auf.

Als ich dann meine Kinder, meine zwei wunderschönen Kinder, aus dem Gebäude heraustrudeln sah, zuerst Sam, dann Emma, musste ich ein Keuchen unterdrücken und gegen das Verlangen ankämpfen, Miss Suzanne zu bitten, das Band anzuhalten, nur um die beiden zu betrachten.

Aber ich blieb still und beobachtete, wie der Minivan aus dem Bildschirm rollte. Ich blickte zu der Uhr, die 15:59:45 anzeigte.

Zwei Minuten und zweiunddreißig Sekunden. Nicht mehr als das war an Zeit notwendig, um unser Leben zu zerreißen.

»Möchten Sie sich die Szene noch einmal ansehen?«, fragte Miss Suzanne.

Alisons Hand war irgendwann beim Zuschauen zum Mund gewandert. Sie nahm sie herunter, straffte die Schultern und versuchte, sich wieder zu fassen.

»Nein, schon in Ordnung«, antwortete sie. »Wir haben Ihre Zeit schon lange genug in Anspruch genommen.«

»Kein Problem«, sagte Miss Suzanne, vielleicht noch verwirrter als vorher.

»Die Kinder werden heute nicht zur Schule kommen«, erklärte Alison.

»Ach ja?«, meinte Miss Suzanne.

»Sie haben beide gestern Abend Fieber bekommen«, sagte Alison. »Meine Mutter passt gerade auf sie auf«, fügte sie hinzu.

»Na, dann hoffe ich, dass es ihnen bald bessergeht.«

»Ja, danke. Wir finden selbst hinaus.«

Wir eilten nach draußen zum Parkplatz. Erst dort begann Alison zu schluchzen. Sie hatte es bis dahin unterdrückt. Ich ging zu ihr hin und legte meinen Arm um sie. Wütend starrte sie mich an.

»Geh weiter!«, blaffte sie mich mit zusammengebissenen Zähnen an. »Mach jetzt bloß keine Szene!«

Sie hatte dem Büro die ganze Zeit über den Rücken zugewandt. Sollte uns Miss Suzanne vom Fenster aus beobachten, musste sie nicht unbedingt etwas gesehen haben.

Ich war mir auch nicht mehr sicher, ob das noch von Bedeutung war, denn wir hatten sowieso einen Auftritt hingelegt, den nur zwei Menschen hinbekommen konnten, die ihren Verstand verloren hatten.

8

Alison rief mich an, kurz nachdem wir von dem Parkplatz heruntergefahren waren.

»Ich war das nicht«, sagte sie. »Ich hab die Kinder nicht abgeholt.«

»Das weiß ich doch.«

»Ich kann es einfach nur nicht glauben, dass sie zu einer Fremden ins Auto gestiegen sind. Haben sie mich wirklich nicht erkannt?«

»Es war für sie einfach nur ein ganz normaler Tag, an dem sie abgeholt wurden«, schlussfolgerte ich. »Sie hatten keinen Grund anzunehmen, dass irgendwas nicht stimmte.«

»Das ist alles nur so merkwürdig. Ich …« Sie hielt inne und atmete tief aus. »Ich weiß einfach nicht, ob ich mich weiter zusammenreißen kann.«

Mir ging es genauso, nur schien es mir nicht der richtige Augenblick zu sein, um das zuzugeben. Ich glaube, es gibt da dieses ungeschriebene Gesetz zwischen Eltern, nie gleichzeitig durchzudrehen.

»Wir müssen einen völlig geistesgestörten Eindruck hinterlassen haben, oder? ›Sagen Sie, wer hat unsere Kinder abgeholt? Wir sind als Eltern solche Komplettversager, dass wir selbst das nicht einmal wissen.‹ ›Oh, genau genommen, Sie! Sie Irre!‹«

»Ja, wir müssen ziemlich durchgedreht gewirkt haben«, pflichtete ich ihr bei. »Aber ehrlich gesagt, glaube ich, dass wir größere Probleme haben, als uns jetzt darüber Gedanken zu machen.«

»Ich weiß«, sagte sie leise. »Ich weiß.«

Ich war auf die Route 17 eingebogen, eine vierspurige Straße, die ein wahres Musterbeispiel ist für den in unserem Land herrschenden kitschig-bunten Kommerz. Fast-Food-Läden, Hotelketten, Einkaufszentren, Banken, Autowerkstätten und Tankstellen reihten sich aneinander.

»Okay, ich lass dich dann mal besser weiterfahren«, meinte sie. »Du sagst mir Bescheid, sobald die Kinder wieder bei dir sind, okay?«

»Natürlich. Hab Geduld! Der Albtraum wird bald vorbei sein.«

Wir beendeten das Telefongespräch. Ich hatte gerade die Coleman Bridge hinter mir gelassen, die über den York River führt, und fädelte mich auf die Interstate 64 ein, als mein Handy erneut klingelte. Ich dachte, Alison würde noch einmal anrufen. Doch im Display leuchtete ein anderer Name auf: FRANKLIN.