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Er begleitete den Salafisten-Prediger Pierre Vogel auf der Pilgerfahrt nach Mekka, war die rechte Hand des Islamisten-Führers Sven Lau: Dominic Musa Schmitz konvertierte als 17-Jähriger zum Islam und war tief in den Zirkeln der deutschen Salafisten-Szene verankert. Mit professioneller Propaganda warb er neue Anhänger, einige seiner Brüder kämpften für den "Islamischen Staat". Doch als er seinen besten Freund, einen Nicht-Muslim, im Namen Allahs verstoßen muss, beginnt er sich Fragen zu stellen. Kann ein Glaube mit so vielen Dogmen richtig sein? Schritt für Schritt löst er sich von seinen radikalen Brüdern. In seinem Buch erzählt Dominic Musa Schmitz, warum ein radikaler Islam für junge Deutsche attraktiv ist, wie er die Zeit in Salafisten-Kreisen erlebte: geprägt von Hass, bigotter Heuchelei und dem unbedingten Willen zum Gehorsam. Dieser hochaktuelle Bericht eines ehemaligen deutschen Salafisten zeigt dem Leser aus nächster Nähe, was junge Erwachsene dazu bewegt, sich zu radikalisieren, und wie das gefährliche Salafisten-Netzwerk – mitten unter uns – funktioniert.
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Das Buch
Mit 17 gerät er an eine Moschee-Gemeinde, in der Sven Lau wirkte. Dominic wird fanatischer Salafist. Er lebt streng nach Koran und Sunna, trägt Pluderhosen und Gebetsmütze, stimmt in »Alahu akbar«-Rufe mit ein und hört auf, Frauen die Hand zu geben.
Zu beten und Menschen zu missionieren wird sein neuer Lebensinhalt. Er wird Assistent des salafistischen Predigers Sven Lau, der die Propaganda übers World Wide Web für sich entdeckte. Dominic hilft ihm, via YouTube Clips zu verbreiten und damit die radikale Spielart des Islam in Deutschland zu verwurzeln. Einige seiner Brüder driften so sehr ab, dass sie sich der Terrormiliz »Islamischer Staat« anschließen.
In seinem Buch erzählt Dominic Musa Schmitz, warum er sich dem Islam und dem Salafismus zuwendete. Er berichtet, wie sich die Szene um Pierre Vogel und Sven Lau radikalisierte und was er dort erlebte: extremen Hass und bigotte Heuchelei, vorgestanzte Denk- und Sprechschablonen, unbedingten Willen zum Gehorsam. Nach und nach begreift Dominic, dass sein Heil nicht im Salafismus liegt. Er will sich nicht mehr vorschreiben lassen, was er zu denken und fühlen hat. So kehrt er Schritt für Schritt zurück aus der salafistischen Finsternis.
Ein schockierender und brisanter Insider-Bericht, der die salafistische Gefahr für alle greifbar macht.
Der Autor
Dominic »Musa« Schmitz, * 1987, wuchs nahe Mönchengladbach auf und befreite sich 2013 endgültig aus den Fängen des Salafismus. Heute betreibt er einen Online-Handel für Düfte und ist in der Aufklärungsarbeit tätig – unter anderem mit seinem YouTube-Kanal »MusaAlmani«, in dem er für einen friedlichen Islam wirbt.
»Ich halte Dominic Schmitz für eine Schlüsselfigur bei der Auseinandersetzung mit dem deutschen Salafismus, da er aufgrund seines eigenen Werdegangs gerade für diese gefährdeten Jugendlichen authentisch ist und somit einen großen Beitrag für eine Deradikalisierung leisten kann. Und ich bewundere sein Engagement, das nicht ganz ungefährlich für ihn ist, und seinen Mut.«
Claudia Dantschke – Leiterin von HAYAT-Deutschland, Beratungsstelle Deradikalisierung
Dominic Musa Schmitz
Ich war ein Salafist
Meine Zeit in der islamistischen Parallelwelt
Aufgeschriebenvon Axel Spilcker
Econ
Um die Persönlichkeitsrechte einiger Akteure zu wahren, wurden Namen und Details verändert. Alle in diesem Buch dargestellten Ereignisse, Szenen und Dialoge haben sich aber wie beschrieben so oder in sehr ähnlicher Weise abgespielt.
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ISBN: 978-3-8437-1254-5
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Alle Rechte vorbehalten
Über das Buch und den Autor
Titelseite
Impressum
Prolog
Vom Kiffer zum strenggläubigen Konvertiten
Rebellischer Eiferer
Engel und Dämonen
Musa, der Deutsche
Der digitale Brandstifter
Hochzeit binnen einer Woche
Die große Wallfahrt mit Pierre Vogel
Freund, Salafist, Terrorist
New Muslim Army
Meine dritte Pilgerfahrt
Der Zerfall der Sunnah-Moschee
Leben in zwei Welten
Schlüsselerlebnisse zum Ausstieg
Frag den Musa
Danksagung
Feedback an den Verlag
Empfehlungen
Da steht er unten vor der Haustür und krakeelt zu mir hoch in den dritten Stock.
»Dominic, komm runter«, brüllt der ungebetene Besucher durch die Sprechanlage.
»Warum?«, frage ich gereizt.
»Los, komm aus deiner Wohnung!«
Die Stimme nimmt einen bedrohlichen Unterton an: »Dominic, komm jetzt runter und sag mir das mal alles ins Gesicht«, schreit der Mann.
Ich gehe zum Fenster und betrachte mir den Wüterich unten auf dem Bordstein eine Weile. Er trägt einen Vollbart, ist Anfang 30, mittelgroß und trommelt permanent gegen die Haustür. Ein diffuses Gefühl der Angst beschleicht mich. Ismail, so wollen wir ihn nennen, führt sich auf wie ein Wahnsinniger.
Wohlweislich spricht er mich nicht mit meinem muslimischen Namen Musa an, so wie er mich früher genannt hat, als wir noch Freunde waren.
In seinen Augen bin ich ein Verräter, ein Aussteiger, kein wahrer Muslim mehr. Einer, der sich in seinem Videoblog sowie in Interviews mit TV- und Printmedien gegen das radikal-islamische Gedankengut der hiesigen Salafisten-Szene wendet. Einer jener vermeintlich weichgespülten Muslime, die dem wahren Glauben den Rücken gekehrt haben. Für ihn bin ich ein Abtrünniger, kein Bruder mehr.
In meinen YouTube-Clips wende ich mich offen gegen die Propaganda führender Hassprediger wie Pierre Vogel, Sven Lau oder Ibrahim Abou Nagie. Sie treiben Hunderte junger sinnsuchender Menschen mit falschen Dogmen über den Islam den Terrormilizen »Islamischer Staat« (IS) oder »Dschunud asch-Scham« in Syrien und im Irak in die Arme.
Drei meiner Weggefährten folgten dem Lockruf in den »Heiligen Krieg« gegen die Ungläubigen, die Kuffar. Einer dieser Dschihadisten kommandiert inzwischen eine »deutsche Einheit« einer tschetschenischen IS-Truppe. Dabei war Daniel früher ein eher scheuer, friedfertiger Mensch gewesen. Im Laufe der letzten Jahre wandelte er sich zu einem Hardcore-Salafisten.
Unten beginnt Ismail an meiner Haustür zu rütteln: »Komm jetzt runter und zeig, dass du so cool bist wie auf den Videos.«
So wie er reagieren viele meiner ehemaligen Mitstreiter, wenn sie mich auf der Straße in Mönchengladbach sehen. Die Brüder von einst wenden das Prinzip des Takfir gegen mich an: Ihrer Meinung nach bin ich ein Ausgestoßener aus der Gemeinschaft der wahren Gläubigen, weil ich mich von ihrer kruden salafistischen Lehre abgewandt habe.
Für sie gibt es keine Freundschaft zwischen Christen und Muslimen, keinen Frieden, sondern nur die islamische Mission (Da’wa). Wer sich weigert, den Glauben Allahs anzunehmen, wird auf ewig in der Hölle bestraft. So einfach, so unsinnig sind die Regeln.
Leute wie der Schreihals Ismail da unten sagen: »Du bist ein Heuchler, deswegen bist du raus.« Andere wiederum argumentieren: »Du bist sowieso raus, weil du nicht mehr unserem Weg folgst.« So oder so ist für mich das Leben nach meinem Ausstieg nicht leichter geworden.
Im Gegenteil. In Mönchengladbach geht es zu wie in einem großen Dorf. Zwangsläufig läuft man sich hier immer wieder über den Weg. Das gilt auch für ehemalige Freunde, die heute meine Feinde sind. Deshalb schaue ich mich immer wieder um, wer kommt aus welcher Richtung? Sobald ich meine Wohnung verlasse, schaltet mein Gehirn in eine Art Alarmmodus um. Automatisch scanne ich mein Umfeld, ein normales Leben ist längst nicht mehr möglich. Dreimal stand ich kurz vor einer Schlägerei. Im Internet und in den Kommentaren zu meinem Videoblog häufen sich die Drohungen.
Wenn ich etwa über die Kirmes in meinem Heimatviertel laufe, werfen mir viele junge Muslime böse Blicke zu. Oft sind es Jugendliche, die alles andere als einen gottgefälligen Lebenswandel betreiben. Sie kiffen, klauen, zocken Handys ab – und doch fühlen sie sich als die wahren Anhänger Allahs.
Ich aber gelte als der Heuchler (Munafiq), als ungläubiger Hund. Für salafistische Hardliner gibt es da nur ein Urteil: den Tod, weil ich ein sogenannter Abtrünniger bin (Murtad). Eine abstruse Weltsicht – gewiss, aber dennoch real und gefährlich.
Bis vor wenigen Jahren habe ich in vielen Aspekten genauso eindimensional gedacht, genauso gefühlt wie meine Gegner heute. Musa al-Almani haben sie mich damals genannt. Musa, der Deutsche. Musa, der Salafist. Ich war ein fanatischer Jünger Allahs.
Mit 17 Jahren bin ich zum Islam konvertiert, abgetaucht in eine fundamentalistische Parallelwelt voller Hass gegen alle Andersdenkenden, gegen die »ungläubigen« Christen und Juden. Vollgepumpt mit einer unbändigen Wut auf die normalen Bürger in meiner Heimatstadt Mönchengladbach, die nichts mit dem Koran am Hut hatten.
Ich war Musa, der Konvertit, ein Feind westlicher Werte, ein Gegner moderner Kleidung. Für mich gab es keine Musik mehr, kein Fernsehen, keine Frauen, keine Party, kein Spaß – keine Hobbys, keine Diskussion mehr, kein Nachdenken, kein kritisches Hinterfragen. Mein Leben orientierte sich an der Sunna, der Handlungsweise des Propheten Mohammed aus dem Frühmittelalter. Weltliche Gesetze kümmerten mich nicht. Als einzige Richtschnur folgte ich der Scharia, der islamischen Gesetzessammlung, die untreue Eheleute steinigen lässt und Dieben die rechte Hand abtrennt.
Doch das ist jetzt vorbei.
»Hör auf, über die Leute Lügen zu verbreiten«, schallt es zu mir herauf. Ismail redet sich weiter in Rage.
»Ich habe es nicht nötig, mich mit dir auseinanderzusetzen«, sage ich in die Sprechanlage. »Ich habe auch keine Angst vor dir.«
»Das ist mir egal«, erwidert Ismail, »die Zeit des Streichelns ist vorbei«, droht er in seiner sonderbar blumigen Sprache, die so typisch ist für Salafisten.
Lange Zeit dachte ich genauso wie der Randalierer an meiner Haustür, verblendet von der Idee, dass im Islam nur ein Gut oder Böse existiert. Wer nicht richtig glaubt, wer am Tag nicht fünf Mal die Gebete spricht und sich an die archaisch-salafistische Auslegung der Gebote des Propheten hält, der war in meinen Augen kein richtiger Muslim.
Ich folgte den Hasspredigern Pierre Vogel und Sven Lau, inzwischen Stars der stetig wachsenden Islamisten-Szene hierzulande. Vogel, ein Ex-Boxer aus Köln, gab mir im Jahr 2006 kurz nach meinem Übertritt zum Islam den Namen Musa, arabisch für Moses.
Schon damals erkannten beide die Bedeutung der Propaganda via Internet. Sven Lau machte mich zu seinem Videoproduzenten, der seine Botschaften über eigene YouTube-Kanäle ins World Wide Web einspeiste.
Ich gehörte zum engsten Kreis, als die salafistischen Ideologen in Mönchengladbach die Organisation »Einladung zum Paradies« (EZP) gründeten, die vom Verfassungsschutz beobachtet wurde, und eine ganze Stadt gegen sich aufbrachten.
Ich war Zeuge, wie Vogel und Lau über die Jahre hinweg ihre Anhänger radikalisierten, und bekam hautnah mit, wie sie ihre ursprünglichen Werte verrieten.
Durch die Werbung im Netz erfuhr das Projekt EZP weit über die niederrheinischen Grenzen hinaus ein Riesenecho. Pierre Vogel avancierte zu einem der führenden Web-Imame der Republik. Im Netz erreichte die Salafisten-PR schnell die Resonanz, die die alte Predigergarde um den Leipziger Vorbeter Hassan Dabbagh mit ihren Islam-Seminaren nie erreicht hatte.
EZP schien der Schlüssel für Da’wa zu sein, für die Mission, für den Siegeszug der Salafisten in Deutschland. Ein islamischer Gottesstaat zwischen Schleswig-Holstein und Bayern? Nicht lachen bitte. Es gibt Eiferer, die von so etwas träumen. Diese Menschen wollen keine Wahlen, kein Grundgesetz, kein Parlament, keine Toleranz, kein Miteinander der Religionen. Ginge es nach ihnen, herrschte fortan eine dumpfe islamisch-religiöse Diktatur, gälten Scharia und Todesstrafe.
Davon will ich in diesem Buch erzählen – von der geistigen Brandstiftung, die eine friedliche Religion wie den Islam für ihre militanten Zwecke pervertiert. Ich will von meinem Leben unter radikalen Salafisten berichten, von einem Dasein in einer Sekte, von der schleichenden Gehirnwäsche, an deren Ende ein junger Mann namens Dominic sein ganzes früheres Ich, sein kritisches Denken, sein Selbst ausgeknipst hatte, als würde er seine Seele verkaufen.
Ich erging mich in hohlen Phrasen. Schnell verfestigte sich bei mir das Bild der unterdrückten Muslime durch den Westen, angeführt durch die USA. Unsere Religion macht uns stark, hieß es. Wir weichen keinen Millimeter zurück, lautete die Devise.
Von diesem Standpunkt aus war der Weg nicht mehr weit zur späteren Dschihad-Ideologie. Der Heilige Krieg gegen die Ungläubigen, ausgetragen anfangs in Afghanistan nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York, fortgesetzt in Somalia, im Jemen, im nordafrikanischen Maghreb, im Irak und in Syrien – stets erzählte man uns, diese kriegerischen Auseinandersetzungen seien einzig die Schuld des Westens.
Die Flugzeugattacken in die zwei Türme des World Trade Center werteten wir als Fake. Nicht Osama Bin-Laden und sein Terrornetzwerk Al-Qaida standen hinter dem Massenmord. In unserem Kreis kursierten absurde Verschwörungstheorien: Entweder fungierten die Israelis als Drahtzieher oder gar die US-Amerikaner. Wir glaubten, die damalige republikanische Regierung Bush wolle auf diese Weise ihren imperialistischen Feldzug gegen die Muslime legitimieren.
Ich glaubte jedes Wort, jeden Satz der Tiraden der Salafisten-Prediger. Und zwar so sehr, dass ich alle meine Freunde, Bekannten, meine Eltern, mein ganzes früheres Umfeld hinter mir ließ.
Meine Schilderungen beginnen mit einem orientierungslosen Gesamtschüler, der keinen Bock mehr auf die Penne hat. Ich bin ein Scheidungskind. Kiffen, Saufen, Mädels, Rap-Songs bestimmen meinen Alltag – bis ich durch einen marokkanischen Freund den Koran entdecke.
Ich schließe Freundschaften, lerne das Leben in einer islamischen Gemeinschaft, in der Moschee, kennen. Die Menschen sind freundlich. Sie nennen dich Achi (Bruder), sie beten mit dir, sie essen mit dir, sie hören dir zu – du fühlst dich plötzlich ernst genommen, wie befreit. Dein früheres Leben erscheint dir sinnlos, du hast plötzlich deinen Platz gefunden, du willst nur noch eines: Allah dienen.
Du konvertierst, pilgerst nach Mekka, tauschst deine Jeans gegen einen langen Kaftan. Musik ist plötzlich haram (Tabu), keine Frauen, keine durchsoffenen Nächte mehr. Du lässt dir einen Bart wachsen, kürzt die Hosen unten auf die Länge, die schon der Prophet Mohammed getragen haben soll. Auf den Straßen Mönchengladbachs erregt dein orientalischer Aufzug großes Aufsehen – oft auch Kopfschütteln. Die Reaktionen machen dich stolz und wütend zugleich. Du fühlst dich wohl in der Rolle des Außenseiters. Ein Rebell.
Du schottest dich völlig ab. Was zählt, sind nur noch deine täglichen Gebete, die Moschee, deine Brüder, die Mission für die salafistische Bewegung um Sven Lau und Pierre Vogel.
Anfangs hast du noch das Gefühl, selbst entscheiden zu können. Du glaubst, auf dem Weg Gottes zu sein. Du denkst, du tust das einzig Richtige. Allahs Wohlgefallen zu erlangen. Dabei folgst du in Wahrheit nur islamistischen Gelehrten und ihrer radikalen Interpretation des Koran. In der Szene kursieren diese Werke als Leitfaden für das gesamte Leben. Tatsächlich propagieren solche Bücher einzig den Hass auf alles Westliche.
Für mich aber war es die unumstößliche Wahrheit, der wahre Islam. Widerspruch dagegen wäre einem Sakrileg gleichgekommen. Salafismus und Islam waren in meinen Augen eins. In unseren Kreisen gab es nur diese eine Sicht der Dinge, alles andere wäre Verrat gewesen. Nur zu gut ist mir folgender Satz in Erinnerung geblieben: »Du darfst doch selber denken, solange du nicht dem Islam widersprichst.«
Ich habe lange gebraucht, um aus dem Alptraum aufzuwachen. Aber ich habe es geschafft – trotz aller Anfeindungen. Wie ich das erreicht habe und warum, das will ich hier erzählen.
Heute schimpfen mich meine ehemaligen Brüder einen »Wischi-waschi-Muslim«. Sie werfen mir vor, ich würde den Islam verbiegen und wenden, um den Ungläubigen zu gefallen.
Ein friedliches Miteinander kommt für diese Typen nicht in Frage. Einmal sagte mir einer: »Musa, du weißt ja, wir nutzen die Meinungsfreiheit hier, aber in unseren Ländern gibt es die natürlich nicht für Christen.« Es waren Momente, die mich aufhorchen ließen, die mich nachdenklich machten. Heute ist mir klar, dass genau dieser Fakt das Fundament dafür bildet, dass unterschiedliche Religionen friedlich zusammenleben könnten. Ohne die Freiheit im Denken und im Glauben ernte ich nur Hass und Zerstörung. Ich habe lange gebraucht, um mir das bewusst zu machen.
Dennoch bin ich Muslim geblieben. Ich habe meinen Glauben an Allah nicht aufgegeben. Der Islam leitet mich. Die Nähe zu Gott, dem Allmächtigen, ist nach meiner Auffassung nirgends so perfekt, so direkt, so allumfassend wie gerade in dieser Religion. Es gibt keine Engel, keine Heiligen, keine Kirchenväter, die zwischen mir und dem Herrn stehen.
Lässt man die falschen salafistischen Lehren hinter sich, so eröffnet sich ein offener Glauben an den einzigen Gott, der da wohnt im Himmel. Das mag für Atheisten banal klingen, aber mir ist es ein wichtiger Baustein meines täglichen Lebens.
Das heißt nicht, dass ich andere Religionen verabscheue. Ganz im Gegenteil. Ich bin einen langen Weg zurück aus der »Hölle« gegangen, um zu begreifen, dass jeder religiöse Mensch seinen Glauben leben soll, ja leben muss! Nur so, kann Frieden herrschen – in Deutschland, im Nahen Osten, auf allen Kontinenten. Und nur, wenn wir für diese Idee aufstehen und kämpfen, werden wir die Hetzer des IS und deren salafistische Wegbereiter hierzulande stoppen können.
Leider gibt es in Deutschland noch viel zu wenige Prediger oder Moscheevereine, die offensiv gegen die intoleranten Protagonisten der Salafisten-Szene vorgehen. Internet, Facebook, Twitter oder YouTube sind für viele Imame, die solche Umtriebe ablehnen, immer noch Fremdworte.
Bislang beherrschen einzig die radikalen Brandstifter die sozialen Medien. Diese Leute haben im Netz mit ihren Lügen über den Koran die Meinungshoheit erobert. Genau dort aber fangen sie ebenjene jungen Leute ein, die wie ich auf der Suche waren. Auf der Suche nach einem Halt, nach einem Sinn, nach einem Anker in einer säkularen Welt, mit all ihren Verlockungen, wo gutes Aussehen und Kohle eine viel wichtigere Rolle spielen als Empathie für den Nächsten.
Jeder versucht sein eigenes Ding zu machen. In einer freien Gesellschaft zählt das Individuum, der Leistungsstarke. Dann bist du angesagt, dann bist du man of the match. Mir fehlten Gemeinschaft, Wertschätzung, Liebe und Zuneigung. Das sind genau die Schwachpunkte, die den salafistischen Bauernfängern nach wie vor Tausende junger Menschen in die Arme treiben.
Auf meinem YouTube-Kanal »MusaAlmani«, findet sich die Rubrik »Frag den Musa«, in der ich auf die Fragen meiner Zuschauer eingehe. Inzwischen klicken 4000 Zuschauer meine Seite an – täglich werden es mehr. Wir disputieren, ich kommentiere und hake nach. Es gibt natürlich auch üble Einträge, Beschimpfungen und Drohungen. Das ist mein neues Leben.
Und deshalb schreibe ich dieses Buch. Es soll aufrütteln. Ich will vor jenen falschen Predigern warnen, die das Denken junger, sinnsuchender Menschen mit ihren Hasstiraden vergiften. Ich möchte über Salafistenführer berichten, die ihre eigenen Werte verraten, über üble Streitereien wegen Spendengeldern, Ehebruch, über interne Machtkämpfe, die so gar nichts mit dem Image eines gütigen Predigers gemein haben. Dies ist der Report eines Insiders: einmal Salafismus hin und zurück.
Mensch, Bruder. Das war hart, mehr als hart. Eigentlich unbegreiflich.
Mona stand vor mir und erklärte, dass sie nun weg sei. Einfach weg. Ihr Lächeln wirkte verkrampft, ihr Blick war nervös. Einzig ihre Worte kamen klar herüber: »Ich will kein Kopftuch mehr tragen«, bekannte meine Freundin, die von einem Moment zum anderen meine Ex wurde.
Sie war meine erste große Liebe gewesen, das erste Mädchen, für das ich wirklich etwas empfunden habe. Wir waren bereits einige Monate zusammen gewesen, als ich mit 17 Jahren zum Islam konvertierte. Zu den Hardcore-Muslimen. Zu den Brüdern, die heute noch so leben wollen wie seinerzeit der Prophet Mohammed vor 1400 Jahren. Männer mit langen Bärten und Hosen, die über dem Knöchel enden. Salafisten, die einem archaischen Frauenbild aus dem Frühmittelalter nachhängen, das modernen Frauen die Haare zu Berge stehen lässt.
Außer Haus ist das Kopftuch Pflicht, der weibliche Körper muss so verhüllt sein, dass sich unter dem Kleid keine Konturen abzeichnen. Ein Mann gibt Frauen nie die Hand zur Begrüßung. Das Weib hat sittsam zu sein, hat die Hausarbeit zu verrichten, die Kinder aufzuziehen und keusch ihrem Gebieter zu folgen. Kontakte oder gar Gespräche mit fremden Männern kommen einem Sakrileg gleich. Derlei ist haram (verboten).
Das war die Welt, die ich für mich als Teenager entdeckt hatte. Ein engstirniger Kosmos, der sich einzig daran orientierte, ein gottgefälliges Leben zu führen und Allah mit jeder Faser seines Lebens zu dienen, so wie es salafistische Gelehrte vorschreiben.
Binnen Monaten mutierte mein ganzes Ich von Dominic zu Musa Schmitz, einem blonden, jungen Mann, gewandet in einen langen Kaftan, der sein Dasein nur noch auf eine erzreaktionäre Form des Islam ausgerichtet hatte.
Ein Konvertit, der nun selbst versuchte, die Ungläubigen (Kuffar) zu missionieren, und beim ersten Versuch gleich scheiterte – bei Mona.
Sie stammte noch aus meiner wilden Zeit, dem Leben vor meinem Wechsel zum Islam. Aus einer Phase mit Drogen, Chillen, Rap-Musik und dem Slogan »Schule – nein, danke«.
Nach der mittleren Reife auf der Gesamtschule wollte ich nicht mehr weitermachen. Klar hätte ich das Abitur schaffen können, aber dazu hatte ich keinen Bock. Mir war damals alles scheißegal, was kümmerte mich meine Zukunft. Das Hier und Jetzt schien entscheidend.
Mich beschäftigten nur noch Markenklamotten, Joints, mit der Clique in den Tag hineinleben, die angesagten Hip-Hop-Buddys und sogenannte Chattertreffs, bei denen sich beispielsweise 50 Jugendliche via Internet zum Saufen verabredeten.
Eine Lebensperspektive interessierte mich nicht. Ich hatte keine und wollte auch keine. Mein damaliges Leben erinnert mich aus heutiger Sicht stark an einen typischen Versager: faul, egoistisch und labil.
Meine Vita passte eins zu eins in das Profil, das hessische Verfassungsschützer 2013 in einer Analyse der Lebensläufe von 23 ausgereisten islamistischen Syrienkämpfern geschrieben hatten. Etliche dieser Dschihadisten wiesen ebenfalls schlechte Schulleistungen und »lange Fehlzeiten« auf. So war es auch bei mir: Spätestens seit der achten Klasse stand ich erst um zehn Uhr auf. Ich machte mich fertig, schmierte mir Gel ins Haar und riss zwei Stunden Unterricht ab, um dann mit den Kumpels in irgendeinen Park kiffen zu gehen.
Zwar habe ich den Pfad in den Heiligen Krieg nie beschritten, so wie einige meiner Brüder. Dennoch befand ich mich lange Zeit auf demselben Weg wie diese Jungs. Zum Glück habe ich ihn rechtzeitig verlassen.
Eines ist mir heute klar: Die salafistischen Bauernfänger begeistern vor allem junge Menschen in Deutschland, die einen Anker suchen, die perspektivlos sind und auf Identitätssuche. Oft kommen die Teenies aus einem kaputten Elternhaus, scheitern in der Schule, stehen sich selbst im Weg, sind unreif, finden nur schwer aus ihrem pubertären Gehabe heraus. Und dann kommt einer zu ihnen und sagt: »Bruder (Achi), hör auf, dir Sorgen zu machen! Ab sofort nimmt Gott deine Geschicke in die Hand. Er denkt für dich, du musst nichts anderes mehr tun, als seine Gebote zu befolgen und fünf Mal am Tage die Gebete zu sprechen.« Solche Sätze wirken recht trivial, beinahe einfältig. Und doch bin ich wie Tausende anderer junger Menschen darauf hereingefallen.
Vermutlich hängt vieles mit meiner Kindheit zusammen. Anfangs wuchs ich wohlbehütet in einer schönen großen Wohnung in Mönchengladbach-Rheydt auf. Mein Vater war damals noch Streifenpolizist, später wechselte er zur Kripo, meine Mutter arbeitete Ende der 80er Jahre als Apothekenhelferin.
Mit fünf Jahren endete für mich die heile Welt, meine Eltern trennten sich. Der Schlussakt vollzog sich quasi von heute auf morgen. Meine Mutter stand eines Tages vor mir und sagte: »Heute ziehen wir aus.« Kein Wieso, kein Warum? Es war einfach so.
Es ging in ein Dorf mitten auf dem platten Land, in dem zahlreiche Verwandte meiner Mutter lebten. Dort wimmelte es nur so von Tanten, Großonkeln etc. Für mich war es die Hölle. Aus der Stadt zogen wir in ein Kaff, in dem der Hund begraben lag. Ein Platz, an dem der Niederrhein noch echt der Niederrhein ist. Flach, öde und langweilig.
Ich reagierte verstört, zog mich zurück. Dieser plötzliche Wechsel löste einen Knacks in mir aus. Das weiß ich aber erst heute. Damals fraß ich buchstäblich vieles in mich rein: Die Fotoaufnahmen aus jener Zeit zeigen einen Jungen, der ein richtiger Pummel wurde. In der neuen Schule war ich ein Außenseiter, sehr schüchtern, zurückhaltend – ganz das Gegenteil zu meiner Kindergartenzeit.
Ich war zwar nicht das typische Mobbingopfer, aber auch nicht sonderlich beliebt. Kein Held in der Klasse, sondern ein geduldeter Mitläufer, ein Niemand halt.
Dabei wünschte ich mir allzu gerne, jemand zu sein, geachtet von den anderen: »Everybody’s darling«. Vielleicht auch aus dem Grund, dass doch jeder anerkannt sein will, geliebt, bewundert. Seinerzeit habe ich davon geträumt, stark zu sein, aber das schaffte ich nicht.
Das lag wohl auch daran, dass ich nach der Scheidung bei meiner Mutter, deren Freundinnen, meinen Großtanten und meiner Oma groß geworden bin. Es gab keine Männer in meiner Welt. Das klingt zwar etwas komisch: Aber mir hat seinerzeit die Stärke gefehlt, der maskuline Einschlag.
Der Kontakt zu meinem Vater verlief nur sehr oberflächlich. Für uns beide war es sehr schwer, miteinander umzugehen. Wahrscheinlich lag es eher an mir, weil ich immer das Gefühl hatte, dass er die Familie kaputtgemacht hatte. Was mir auch immer von meiner Mutter so eingetrichtert worden war. Heute überwiegen bei mir die Zweifel. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich stimmt.
In der Grundschule versuchte ich meine Schwächen durch aggressives Verhalten auszugleichen. Es gab häufig Streit und Kloppereien mit anderen Jungs. Der Schulleiter zitierte meine Mutter ins Büro. Besorgt empfahl er ihr, mich in einem Karatekurs anzumelden. Damit ich dort Dampf ablassen könne.
Gleichwohl änderte sich nichts an meinem Verhalten: Schnell war ich auf 180. Ich wurde schon wütend, wenn mich einer schief anguckte. Da habe ich rot gesehen, stets begleitet von dem Gedanken, »der hat was gegen mich«. Ich war sehr sensibel, geradezu empfindlich ob jedweder Verletzung – sei es ein blöder Spruch oder ein Witz auf meine Kosten. Dann flogen die Fäuste. Es war meine Art, nach außen hin Stärke zu zeigen.
Wenn ich allein war, war ich oft traurig und fühlte mich ohnmächtig. Ich wusste nicht wohin mit mir, mit dem Moppel-Ich, mit all jenen seelischen Schwankungen. Es waren sicher Anzeichen einer Depression: Plötzlich bist du von 0 auf 100, wirst schnell aggressiv und empfindlich zugleich. Dann bist du wieder down, begibst dich in eine selbstgewählte Opferrolle hinein, versinkst in Selbstmitleid. Tenor: Allen anderen geht’s besser als dir selbst.
Mit zwölf Jahren riss der Kontakt zu meinem Vater weitgehend ab. Auf der Gesamtschule lebte ich regelrecht auf. Plötzlich stand Sport im Mittelpunkt. Ich spielte Basketball, ging in die Mucki-Bude.
Je mehr meine Kilos purzelten, desto höher stieg mein Status in der Klasse. Ich fing an, mir Markenklamotten zuzulegen, mit 13 rauchte ich meinen ersten Joint. Geld war kein Problem. Mein Großonkel oder meine Tanten steckten mir immer was zu. Es war wie in einem dieser zweitklassigen Hollywood-Highschool-Streifen: vom Loser zum Winner. Mein Freundeskreis wuchs, wir hörten die angesagten Hip-Hop-Performer wie Samy Deluxe oder Wu Tang Clan. Ich gehörte nun zu den coolen Jungs. Mein Selbstbewusstsein nahm genauso Form an wie mein Äußeres.
Klar gab es in jener Zeit Stress mit meinen Eltern. Die Fehlzeiten in der Schule häuften sich, die Noten waren nicht gerade der Hit, die Sache mit dem Haschisch – alles keine Dinge, worüber meine Erzeuger wirklich erfreut sein konnten. Im Unterricht fiel ich mehr durch dumme Sprüche und Stören auf als durch gute Leistungen.
Immer wenn es in der Schule kritisch wurde, musste mein Vater zu den Elternsprechtagen. Das war das übliche Rollenspiel: Danach sollte er dann auf den Tisch hauen, um mich zur Raison zu bringen. Ich hab nur gedacht: »Okay, lass den mal labern, in einer Stunde ist der wieder weg. Dann bin ich wieder bei meiner Mutter und dann mach ich wieder, was ich will.« Nicht dass Mutter nicht auch versucht hätte, auf mich Einfluss zu nehmen: »Hör auf mit der Scheiße«, hat sie immer wieder gesagt. Aber das ging in das eine Ohr hinein und beim anderen wieder hinaus.
Das Bemerkenswerte daran ist, dass ich meine mittlere Reife trotzdem recht leicht geschafft habe. Allerdings hatten mich die Lehrer längst auf dem Kieker. Sie machten meiner Mutter klar: »Der Dominic macht hier kein Abitur« und gaben mir in dem entscheidenden Fach dann die Note Vier, so dass ich die Qualifikation für die Oberstufe gar nicht erst schaffte.
Danach war Feierabend. Zwar habe ich auf einer Berufsschule noch mal die kaufmännische Fachhochschulreife in Angriff genommen, bin aber bald ausgestiegen. Nach ein paar Monaten wurde mir klar, dass Rechnungswesen und Bankwirtschaftslehre nichts für mich waren.
Danach folgte dann das Übliche: chillen, kiffen, Musik hören, zuweilen mit Mädels rummachen.
Und dann klopfte eines Tages Rachid an mein Fenster. Er war Marokkaner, etwa vier Jahre älter als ich. Früher hatten wir häufiger zusammen einen durchgezogen und Hip-Hop gehört. Ab und zu kreierte er auch eigene Rap-Songs, so wie ich auch. Das war ganz nach meinem Geschmack, wir haben uns gut verstanden.
Rachid galt im Dorf als eine Art Schlawiner. Mit seinen warmen, braunen Augen konnte ihm kaum jemand etwas abschlagen. Mit seiner besonderen Überredungsgabe schwätzte er vielen Leute alle möglichen Dinge ab – auf diese Weise verschwand schon mal eine Jacke auf Nimmerwiedersehen oder ein Handy. Doch niemand konnte ihm wirklich böse sein.
Im Jahr 2004 verabschiedete Rachid sich in seine Heimat. Dort entdeckte er seine Religion wieder: den Islam.
Ein Jahr später stand mein verschollener Freund plötzlich an meinem Fenster im Erdgeschoss. Mit einladender Geste bat ich ihn hereinzukommen. Kaum hatte er sich auf die Couch gesetzt, machte ich die Musik an.
»Dieser Song ist der Wahnsinn, oder?«
Rashid reagierte ganz trocken: »Ich kenne den Track ehrlich gesagt nicht, aber er klingt nicht schlecht.«
Ganz irritiert entgegnete ich: »Wie, den kennst du nicht? Was geht denn bei dir ab?«
Auch die ganzen darauffolgenden Lieder kannte Rachid nicht, und den angebotenen Joint lehnte er ebenfalls ab.
»Jetzt musst du mir aber erklären, was mit dir los ist«, forderte ich ihn auf.
»Ich habe in dem letzten Jahr nicht viel mitbekommen, da ich mich sehr mit meiner Religion, dem Islam, beschäftigt habe und versuche, mit ihrer Hilfe ein gottgefälliges Leben zu führen«, erklärte er mir.
In meinen Augen wirkte er ein wenig wie Robinson Crusoe, an dem die Ereignisse der vergangenen zwölf Monate spurlos vorbeigegangen waren, weil er auf einer einsamen Insel gelebt hatte. Seine Religion war ihm zum Lebensinhalt geworden.
Zunächst dachte ich mir nichts dabei: Klar beschlich mich die Neugier. Warum? Wieso? Weshalb? Aha, cool. Respekt. Für mich aber erschien so eine persönliche Kehrtwende um 180 Grad undenkbar. Während wir sprachen, rauchte ich denn auch demonstrativ einen Joint.
Und dennoch hatte Rachid etwas an sich, das mich nicht mehr losließ. In unserem Gespräch kam er immer wieder auf Gott und solche Sachen zurück. Und dass er sich unendlich glücklich fühle, den einzig wahren Herrn gefunden zu haben.
»Respekt«, habe ich ihm beim Abschied mit auf den Weg gegeben. »Respekt, dass du weg bist von den Drogen, vom Alkohol, vom Partyleben, von der Abzieherei hin zum gottgefälligen Leben.«
Was sollte ich auch anderes sagen? Das war fremdes Terrain für mich. Vom Islam hatte ich keine Ahnung. Mir war einzig bekannt, dass Muslime kein Schweinefleisch essen dürfen.
Mit Religion hatte ich ohnehin nicht viel am Hut. Von daher habe ich mir auch keine großen Gedanken gemacht.
Rachid aber ließ nicht locker. Er klopfte immer öfter an mein Fenster, immer regelmäßiger. Unsere Gespräche verliefen intensiver und tiefgründiger. Wir debattierten, dozierten, verglichen später dann den Islam mit dem Christentum. Obschon ich als Katholik seit der Erstkommunion keine Kirche mehr besucht hatte, wägten wir Für und Wider ab, erörterten teils sehr kontrovers Vor- und Nachteile beider Glaubensrichtungen.
Geschickt setzte Rachid sein Redetalent ein. Meist ging es los mit Smalltalk. Was macht der Kumpel? Wie geht’s dem?
Bald aber kam er auf Allah zu sprechen. Allzu gern bediente er sich einfacher Vergleiche: »Guck mal die Bäume, soll das durch Zufall erschaffen worden sein?«, fragte Rachid. »Da steckt ein Plan hinter. Die Bäume nehmen unseren dreckigen Sauerstoff in Form von Kohlendioxid auf und filtern wieder sauberen Sauerstoff heraus, so dass die Menschen wieder atmen können.«
Beredt referierte er über das System im Universum, in der Welt, das einzig und allein auf Gottes Wille basiere.
Häufig sprach er auch über das Schicksal. Solche Themen sind unter Salafisten gängiger Gesprächsstoff.
»Es ist Schicksal, dass wir uns hier getroffen haben. Allah wollte das so. Er wollte, dass du so eine Botschaft bekommst.«
Diese Worte hinterließen bei mir Wirkung. Sie rüttelten an mir, zerrten an meinem labilen Seelen-Gerüst.
Anfangs ging es nur um Gott, die Natur, das Leben. Später begann Rachid um mich zu werben: »Wenn du konvertierst, dann werden dir alle Sünden vergeben«, gab er zu bedenken. »Dann hat Allah dich von allen Menschen hier in Mönchengladbach auserwählt, die wahre Religion anzunehmen. Das heißt, Gott liebt dich, Gott hat dein Herz geöffnet.«
Beim ersten Mal habe ich innerlich gelacht: »Wie, konvertieren? Was laberst du denn?«
Ich fand das Thema interessant, aber konvertieren? Gewiss nicht.
Trotz aller Zweifel verfing der gelegte Virus schnell: Ich begann mich in die islamische Literatur auf deutscher Sprache einzulesen. Zum Beispiel: »Allahs letzte Botschaft«, das sich vielen Streitfragen zwischen dem Islam und dem Christentum widmet und die Thesen des Christentums aus islamischer Sicht beleuchtet. Oder: »Das Leben des Propheten Mohammed«.
Jede Seite mehr weckte mein Interesse, stachelte mich an, weiter zu forschen, mich hineinzuvertiefen in eine mir völlig fremd anmutende Welt des Glaubens.
Wahrscheinlich habe ich damals zum ersten Mal einen Ausweg gesehen, einen Lichtblick am Ende des Tunnels. Der da hieß: raus aus dem Lotterleben.
Es war ja nicht so, dass ich stets glücklich über mein Dasein war. Oft genug übertünchte der nächste Marihuana-Rausch mein schlechtes Gewissen. Ich dröhnte mich einfach zu. Tags darauf kehrten die Zweifel allerdings wieder zurück. Unterschwellig nagten die Ängste vor der ungewissen Zukunft weiter an meinem Nervenkostüm.
Mir war schon klar, dass ich irgendwann auf die Schnauze fallen würde. Ich bin ja kein Trottel. »Mit einem Realschulabschluss kommst du nicht weit«, hatte mir meine Mutter immer wieder eingebläut. Sie hatte recht, da machte ich mir nichts vor.
Und dann diese Begegnung mit Rachid, dieses selige Lächeln. Er hatte anscheinend gefunden, wonach ich immer noch suchte.
Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass es auch anders gehen könnte. Wie ein Ertrinkender verschlang ich die Gelehrtenbücher über den Islam, begann den Koran zu studieren, befasste mich mit Hadithen, den Überlieferungen über das Leben des Propheten Mohammed.
Und dann klopfte es wieder. Rachid erschien am Fenster und lud mich glücksstrahlend im Sommer 2005 ein, ihn in die Moschee in Rheydt zu begleiten. Einerseits war ich froh, andererseits sträubte sich alles in mir gegen diesen Schritt.
Tagelang dachte ich darüber nach. Das Thema beschäftigte mich beinahe pausenlos. Meine Kiffer-Freunde verstanden die Welt nicht mehr. Ich redete in einem fort über Allah, über den Besuch in der Moschee, über den Übertritt zum Islam. Manche diskutierten anfangs noch mit, die meisten aber meinten nur: »Du nervst.«
Du nervst. Ja, sicher, klar. Ich schwankte hin und her wie ein brüchiger Baum im Sturm. Unablässig wälzte ich islamische Bücher, zugleich aber bestürmten mich die Zweifel an meinem Tun. Hilferingend suchte ich Rat bei meinen Kumpels: Sollte ich, sollte ich nicht? Aber da kam nichts. Die Clique wusste keine Antwort.
An einem Sommertag folgte ich Rachid schließlich in die Moschee. Der Marokkaner stellte mir vor allem Konvertiten vor. So als wolle er sagen: »Hey, das sind auch Deutsche, das sind auch Leute, die früher im Fitness-Studio waren, die auch gekifft oder Freundinnen vor der Ehe gehabt haben, und nun haben sie ihr sündiges Leben eingetauscht gegen den wahren Glauben.«
Verschüchtert drückte ich mich in eine Ecke, als das Freitagsgebet begann. Ich wusste nicht, was die anderen beteten oder was als Nächstes passieren würde. Dennoch faszinierte mich die gesamte Zeremonie – das Drumherum mit den Waschungen, wildfremde Menschen, die mich freundlich begrüßten.
Gleich beim ersten Besuch lernte ich Sven Lau kennen. Damals war der spätere salafistische Prediger und Aktivist noch völlig unbekannt. Ein ehemaliger Feuerwehrmann, der zum Islam übergetreten war. Einer der wenigen Konvertiten der Moscheegemeinde. Sein Aufstieg zum radikalen Salafistenführer in Deutschland sollte erst drei Jahre später beginnen. Zum Zeitpunkt unserer ersten Begegnung ragte er nur durch seine Erscheinung und sein Auftreten aus der Schar heraus.
Mich hat damals seine Art angezogen. Er strahlte eine beeindruckende Ruhe aus. Als ich zum ersten Mal den Gebetsraum betrat, fiel mir Lau sofort auf. Inmitten vieler schwarzhaariger, meist arabischstämmiger Gläubigen stach der blonde Mann mit seinem weißen Gewand und dem langen blonden Bart sofort heraus. Diese Erscheinung hat mich irgendwie angesprochen.
Lau gehörte auch zu jenen, die mich fortan drängten, endlich den Schritt zu wagen – den Wechsel zum Islam.
»Worauf wartest du noch, Achi?«, fragte er mich. »Du weißt doch, dass das die Wahrheit ist. Wenn du stirbst, dann kommst du in die Hölle. Warum nimmst du den Islam nicht an? Was hindert dich daran? Das Einzige, was dich hindert, ist der Teufel. Und selbst wenn du wieder kiffst, aber Allah um Verzeihung bittest, dann vergibt er dir«, referierte Lau. Des Weiteren brachte er mir gleich zu Anfang bei: »Der schlechteste Muslim ist immer noch besser als der beste Kafir (Ungläubige), also trau dich!«
Allein, mir war noch nicht danach. Irgendetwas hinderte mich, ein Zweifel, der Mut, was weiß ich. Andererseits begann ich, Feuer zu fangen: Fast jeden Tag ging ich nun in die Moschee.
Manchmal saß ich stundenlang im Gebetshaus, saß nur da und nahm alles in mich auf, die Worte der Gläubigen, die Predigten, muslimische Schriften, die Gespräche in den langen Sommer-Pausen zwischen den Gebeten.
Es war schön, mit den Leuten Zeit zu verbringen. Diese Menschen erschienen mir so ganz anders als meine alte Clique mit ihrem sinnentleerten Getue. Dagegen kamen mir die Muslime so sauber vor. Das hört sich doof an, aber allein schon das Äußerliche hat mir gefallen: die weißen Gewänder, all die Düfte. Dazu muss man wissen, dass auch sehr gläubige Brüder großen Wert darauf legen, gut zu riechen. Manche von ihnen bevorzugen ganz exquisite Parfüms.
Ein Punkt beeindruckte mich ganz besonders: Diese Männer nahmen mich ernst, hörten mir zu, luden mich zu sich nach Hause ein. Dort zündete der Gastgeber direkt Räucherstäbchen an, reichte Tee und wir diskutierten über alle möglichen Glaubensfragen. Kein böses Wort, nur ein leichtes, aber beharrliches Drängen in eine Richtung: endlich zu konvertieren. All das imponierte mir, es war klasse. In diesen Momenten habe ich mich sauber gefühlt – als würde all der Dreck meines früheren Lebens von mir abfallen.
Manche Moscheebesucher steckten mir vor dem Gebet etwas zu: »Hier Bruder, für dich.« Auf meine Frage nach dem Grund für dieses Geschenk erhielt ich zur Antwort: »Für Allah mache ich das.« Solche Sätze haben eine ganz neue Saite in mir zum Klingen gebracht, diese Art des brüderlichen Teilens faszinierte mich. Von Gebet zu Gebet lebten die Menschen nur für Gott. Ein wohlriechendes Heim, in dem es keine Drogen mehr gibt – das hat mich sehr angesprochen. So wollte ich auch leben, so wollte ich sein.
Unwillkürlich kam ich mir in jener »Erweckungsphase« schmutzig vor, wenn ich nach Hause ging und kiffte. Obwohl mich früher dabei nie ein schlechtes Gewissen geplagt hatte.
In jenen Sommertagen begann sich auch mein Wertesystem zu verändern. Alles, was vorher Gültigkeit besaß, schien mir nun nichtig zu sein. Schon bald avancierten Koran und Sunna (Handlungsanleitungen des Propheten) zum Maß aller Dinge. Und zwar so, wie die salafistischen Brüder ihn interpretierten.
Ohne es wirklich zu realisieren, begann ich viele Dinge in ein einfaches Gut-und-böse-Raster einzuordnen: Frauen, die sich nicht bedecken, sind ehrlos. Menschen, die nicht beten, sind schmutzig. Rauchen, Musik, Party – all dies ist haram.
Mein Fernseher wanderte in den Keller, weil das TV-Programm auch Musik und Frauen zeigte. Meine ganze Hip-Hop-CD-Sammlung landete im Müll. Schweinefleisch ließ ich links liegen, rasierte mich nicht mehr. Bilder von nackten Frauen verschwanden aus meinem Zimmer.
Als wäre es heute, kann ich mich noch gut an mein erstes Gebet erinnern: Zwar stand mein offizieller Religionswechsel noch aus. Einer plötzlichen Eingebung folgend habe ich mich zu Hause gewaschen und ganz aufgeregt meine Zimmertür verschlossen. Dann warf ich mich betend nieder: »Oh Gott, gib mir all das Gute und bring mich von all dem Schlechten weg.« In diesem Moment umfing ein unglaubliches Gefühl mein Herz. Eine nie zuvor empfundene Mischung aus Wärme, Glück und Ruhe. Ab dem folgenden Tag schaffte ich sogar den Absprung von meinem Kiffer-Leben, zumindest fürs Erste.
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