Ich will dich, aber ... - Christina Stöger - E-Book

Ich will dich, aber ... E-Book

Christina Stöger

4,8

Beschreibung

Nach der Trennung von ihrem Ex-Freund Florian glaubt Anja, ihr Leben im Griff zu haben - neuer Job, neue Wohnung und der Umzug aufs Land. Für Männer scheint es keinen Platz zu geben, bis … Emma und ihr Verlobter Alex auftauchen. Und plötzlich ist alles anders. Anja lässt sich auf das Liebesspiel mit Alex ein und eine heiße Affäre beginnt. Doch kann das gut gehen? Eine heitere, jedoch auch nachdenkliche und emotionale Liebeskurzgeschichte mit einem Schuss Erotik aus der Sicht der Protagonistin, gewährt dem Leser Einblicke in das Liebesleben einer jungen Frau, die zwischen Verlangen und Schuldgefühlen hin und her gerissen ist.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Eineinhalb Jahre später

Gedankenkarussell

Besinnliche Weihnachten

Silvester

Der Traum

Das Fitnessstudio

Alex und die Ledercouch

Wellnesshotel

Ich will dich, aber …

Das Ende

Maskenball

Entzaubert

Freiheit

Epilog

Danke

Weiter Bücher

Prolog

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?« Vollkommen fassungslos stand ich in unserem Wohnzimmer und starrte Flo an, der seine Koffer packte. Ich war gerade zurück aus der Schule und fand ihn nun so vor. »Was machst du da?«, fragte ich mit zittriger Stimme, denn ich konnte mir denken, was das zu bedeuten hatte.

»Anja, Liebling! Du bist schon zurück?« Flo ließ die Hose, die er eben aus dem Schrank genommen hatte, um sie in seinem schwarzen Reisekoffer zu verstauen, sinken. Der Koffer war bereits bis zum Bersten gefüllt, doch noch immer wanderten Kleidungsstücke aus unserem Schrank, aus seiner Seite des Schrankes, um präzise zu sein, hinein. Nein, er packte nicht für einen gemeinsamen Urlaub - das war sicher. Ich merkte in diesem Augenblick, in dem ich im Türrahmen stand, wie mir schwindelig wurde und ich mich setzen musste. Kein Wunder, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Natürlich wusste ich ganz genau, was diese Aktion bedeutete: Florian wollte ausziehen!

Ich hatte mich vor diesem Moment immer gefürchtet und nun war er da. Dabei hatte der Tag doch so wunderbar angefangen. Heute Morgen war ich aufgestanden, hatte meine Tasche gepackt und war zu meiner allerletzten Abiturprüfung aufgebrochen. Mit Abgabe der Prüfungsunterlagen endeten die vergangenen eineinhalb Jahre intensiven Lernens und gipfelten in dem Erlangen der Fachhochschulreife. Seit heute Morgen um kurz nach halb elf hatte ich es also geschafft. Ich hatte mich so sehr gefreut, als ich die Blätter meines geistigen Ergusses beim aufsichtshabenden Lehrer abgab und hoch erhobenen Hauptes die Turnhalle, in der die Prüfung stattfand, verließ. Ich war beschwingt und voller Freude über den Schulplatz gesprungen, hatte meinen Mitschülern noch kurz etwas zugerufen und war zu meinem Auto gerannt. Das Gute daran, dass ich meine Fachhochschulreife nachgeholt hatte, war, dass ich, im Gegensatz zu meinen Mitschülern, bereits ein Auto fahren durfte. Kunststück, ich war auch schon sechsundzwanzig Jahre alt. Mit neunzehn Jahren, während meiner Ausbildung zur Bürokauffrau, lernte ich Florian kennen und wir hatten uns auf Anhieb verliebt. Es hatte nicht lange gedauert, bis ich bei ihm einzog. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch bei meinen Eltern gelebt und der Sprung vom behüteten Elternhaus in eine gemeinsame Wohnung mit meinem ersten, richtigen Freund war groß gewesen. Ich hatte lernen müssen zu kochen, zu putzen und die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung sauber zu halten. Wir hatten uns geliebt, gestritten und wieder versöhnt. Wir hatten zwei wundervolle Urlaube an der holländischen Küste verbracht und er hatte mir ans Herz gelegt, mich weiterzubilden und den Abschluss zur Fachhochschulreife nachzuholen. Natürlich waren meine Klassenkameraden alle einige Jahre jünger, doch das störte mich nie. Ich fühlte mich nicht wie eine Sechsundzwanzigjährige. Wobei sich die Frage stellt, wie man sich in dem Alter zu fühlen hat. Jedenfalls war ich immer ICH geblieben. Ich hatte Spaß am Leben, ging zusammen mit Florian auf Partys und büffelte wie eine Verrückte für meinen Abschluss – den ich nun in der Tasche hatte. Tasche – ja … da stand auch noch eine gepackte Tasche vor unserem gemeinsamen Bett.

»Anja, Herzchen«, begann Florian wieder, schlich mit gesenktem Kopf auf mich zu und setzte sich neben mich auf den Boden. »Wie war deine Prüfung? Du bist schon so früh … also ich meine, ich hatte erst viel später mit dir gerechnet. Ich wollte ...«, stotterte er, hob meinen Kopf mit seiner rechten Hand und blickte mir in die Augen. Diese brannten bereits und ich hielt mit Mühe die Tränen zurück.

»Was? Was wolltest du? Einfach verschwinden? Mir einen Zettel auf den Küchentisch legen und …? Aber ... Warum?« Das letzte Wort schleuderte ich ihm entgegen und die bis eben nur schimmernden Tränen ergossen sich in einem wahren Sturzbach über meine Wangen. Er wollte mich einfach so verlassen?!? Statt einer Antwort nahm er mich in die Arme und drückte mich fest an sich. Meine Schultern bebten und ich schluchzte an seiner Brust. Langsam und zärtlich fuhr seine Hand über meinen Rücken und streichelte meine langen, blonden Haare. Normalerweise sah ich aus wie ein Engel. Lange, blonde Locken, ein süßes Puppengesicht und große, blaue Augen mit langen Wimpern, die ich nie zu schminken brauchte.

»Anja, mein Engel«, flüsterte Flo in diesem Moment dicht an meinem Ohr, doch ich konnte die Nähe nicht mehr ertragen. Wütend befreite ich mich aus seiner Umarmung, stemmte meinen Körper an der Innenseite des Türrahmens nach oben und brüllte ihn wieder an: »Warum?«

»Weil ich meinen Lebenstraum verwirklichen kann! Weil ich endlich nach Boston fliegen und dort in der Bank eines Freundes arbeiten kann! Weil ich dort mehr Geld verdiene als hier, und weil ich dort mal was anderes sehe, und weil … weil … weil … wir uns ohnehin nicht mehr lieben!«, schleuderte er mir entgegen und hatte sich auch vom Boden erhoben.

Wütend blickte er mir ins Gesicht. Oder war es eher Trotz? Ich konnte und wollte das in diesem Moment aber alles nicht so einfach hinnehmen.

»Wir lieben uns nicht mehr? Wer sagt das? Ich liebe dich, du Arsch! Und das weißt du auch ganz genau! Doch du lässt mich hier alleine! Was soll ich denn in diesem Kaff ohne dich? Warum kann ich nicht einfach mitkommen und ...«

»Weil ich deine Klammerei einfach nicht mehr ertrage!«, unterbrach er mich zornig und mir blieben die Worte im Halse stecken. Bitte was? Er ertrug meine Klammerei nicht? Wer von uns war denn hochgradig eifersüchtig? Wer wollte denn immer wissen, wo ich mich gerade aufhielt, mit wem ich meine Zeit verbrachte und was ich den ganzen Tag so trieb, wenn er in der Bank war. ICH war das bestimmt nicht! MIR war es vollkommen egal, was er tat – solange er es mit mir tat. Doch all das behielt ich für mich. Er wusste es ohnehin.

»Soll das bedeuten, du liebst mich nicht mehr?«, fragte ich mit zittriger Stimme und wischte mir wütend die Tränen aus dem Gesicht. Wenn er jetzt »ja« sagte, dann war alles klar. Ich würde keine Szene machen. Ich nicht! Das hatte ich mir vor langer Zeit einmal geschworen. Irgendwie hatte ich insgeheim mit diesem Moment gerechnet – dem absoluten Alptraum. Doch nun, wo er wirklich da war, war er gar nicht so dramatisch. Wahrscheinlich war die ganze Situation wie ein Hurrikan – wenn man sich im Zentrum befand, war auch alles nicht so schlimm. Doch um einen herum ging die Welt unter. Vermutlich würde erst die Zeit danach der Horror werden.

»Ja … also nein«, sagte Flo in diesem Augenblick und ich merkte, wie meine Gedanken sich verselbstständigt hatten.

Ich wusste die Frage, die ich ihm gestellt hatte nicht mehr. Sehr komisch.

»Nein, ich liebe dich nicht mehr«, sagte er noch einmal, da er meinen ausdruckslosen Blick nicht deuten konnte. Er hatte bestimmt erwartet, dass ich ihn erneut anbrüllen, vielleicht sogar Geschirr durch den Raum werfen oder sonst wie hysterisch werden würde. Doch genau diesen Gefallen würde ich ihm nicht tun.

»Alles klar, weiß ich bescheid. Dann fahre ich nun zu meinen Eltern und bleibe da, bis du verschwunden bist. Wir holen später meine Sachen und ich lege dir den Schlüssel auf den Küchentisch. Den Rest kann deine Mutter ja erledigen. Sie macht ohnehin alles für dich, Herzchen«.

Die letzte Spitze konnte ich mir nicht verkneifen. Ich drehte mich auf dem Absatz herum, warf meine lange Mähne in den Nacken, griff nach meiner Tasche, stieg in meine Schuhe und verließ erhobenen Hauptes unsere gemeinsame Wohnung. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und ich bereute in diesem Augenblick, dass ich ihm nicht doch einen Teller an den Kopf geworfen hatte. Den schweren, bunten beispielsweise, den er neulich von seiner Mutter bekommen hatte. Noch im Treppenhaus zog ich mein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer meiner Eltern.

»Mama? Ich komm wieder nach Hause«, sagte ich, als meine Mutter sich meldete.

»Alles klar, ich richte dann schon mal dein Kinderzimmer. Was willst du zum Abendessen?«, war ihr einziger Kommentar und ich war ihr dankbar dafür.

Eineinhalb Jahre später

Ich sitze in meinem Apartment, starre aus dem Fenster und sehe den weichen, weißen Flocken zu, die langsam zur Erde tanzen, und denke über die letzten eineinhalb Jahre nach. So kurz vor Weihnachten bekomme ich immer meinen Moralischen, auch, wenn ich nicht mehr das kleine Püppchen bin, das ich vor so langer Zeit noch war. Ich habe mein Leben selbst in die Hand genommen und, wie ich finde, viel erreicht. Nachdem ich wieder mein kleines Kinderzimmer in der Wohnung meiner Eltern bezogen hatte, ging die Welt erst einmal unter. Ich weigerte mich zu essen, lag nur noch apathisch auf meinem Bett und starrte Löcher in die Luft. Nichts und niemand konnte mir in dieser Zeit helfen. Das einzige Mal, dass ich mein Zimmer verließ, war, als ich mein Abschlusszeugnis entgegen nahm. Ich war die Drittbeste meines Jahrgangs – doch auch das konnte meine Laune nicht heben. Ich stellte mir bei allem, was ich tat vor, wie es wäre, wenn Flo noch an meiner Seite gewesen wäre. Doch das war er nicht und würde es auch nie wieder sein - davon war ich überzeugt. Wie ich meine persönlichen Sachen aus seiner Wohnung geholt hatte, wusste ich nicht mehr. Ich hatte auf Autopilot geschaltet, viel geweint und zwischen Wut auf Florian und Selbstvorwürfen geschwankt. Irgendwann hatte der Zorn gewonnen und war später in Gleichgültigkeit übergegangen. Ab diesem Moment begann ich wieder zu leben. Den ersten Schritt, den ich unternommen hatte, war zum Frisör zu gehen. Der kleine Laden in der Innenstadt war der beste der Kleinstadt, in der ich lebte, und mein Vater finanzierte mir mein neues Ich.

»Hauptsache, meiner Kleinen geht es wieder gut«, meinte er, als er mir zweihundert Euro in die Hand drückte. Viel Geld für meine Eltern, aber ich war ihnen wirklich dankbar in diesem Moment. Die Frisur, die der Meister des Ladens zauberte, veränderte mein ganzes Wesen. Die langen Locken fielen und ich bekam eine flotte Kurzhaarfrisur. Damit war der erste Schritt in ein neues Leben vollzogen. Mit dem restlichen Geld kaufte ich mir ein Paar schicke Stiefel, ein kurzes, schwarzes Kleidchen und einen langen, warmen Wintermantel. Mit meiner Körpergröße von knapp 175 Zentimetern und einem Gewicht von etwas unter sechzig Kilo hatte ich eine passende Figur, um ihn zu tragen. Da ich in meiner Trauerzeit nicht viel gegessen hatte, holte ich das in der Weihnachtszeit nach und wenig später meldete ich mich im Fitnessstudio an, um meinen Körper fit und gesund zu erhalten. Die Männer, die mir dort begegneten, sahen zwar alle nicht schlecht aus, doch keiner von ihnen erregte auch nur im Geringsten mein Interesse. Ich hatte die Schnauze so voll von Kerlen. Jeden, den ich sah, verglich ich mit Flo – und keiner überlebte den Vergleich. Florian war und blieb der Mann meiner durchweinten Nächte – und meiner verzweifelten Fantasien. Wie oft ich von ihm träumte, weiß ich heute nicht mehr – aber es war fast jede Nacht gewesen. Dabei hatte ich nach meinem Abgang nie wieder etwas von ihm persönlich gehört. Unsere gemeinsamen Freunde, die früher alle seine gewesen waren, entfernten sich von mir und bald stand ich ohne jeglichen Kontakt da. Doch ich brauchte sie auch nicht! Ich wollte sie gar nicht. Es waren seine Freunde, nicht meine. Was sollte ich noch mit ihnen anfangen? Es interessierte mich nicht, wie es Flo in Amerika ging. Oder doch? Eines Nachts, als ich wieder einmal von ihm geträumt hatte, setzte ich mich in meiner neuen Wohnung an meinen neuen Küchentisch und suchte in meinem neuen Laptop nach meinem alten Freund. Und ich fand ihn. Tatsächlich war er zwischenzeitlich an der Spitze eines Geldinstituts angekommen und verdiente seine Brötchen an der Börse, wenn ich das richtig verstanden hatte. Viel wollte ich nicht lesen, denn allein schon sein Bild hatte mir die Tränen in die Augen getrieben. Das war jetzt knapp ein Jahr her.

Das Smartphone auf meinem Tisch klingelt und ich kehre in die Realität zurück. Erst jetzt bemerke ich die feuchten Spuren auf meinen Wangen und versuche, sie zu ignorieren. Immer diese Gefühlsduselei zu Weihnachten! Ich weiß schon, warum ich das Fest der Liebe und Harmonie – PAH! - nicht ausstehen kann. Alles nur Heuchelei. Wahre Liebe!?! So einen Quatsch gibt es auch nur im Fernsehen, in irgendwelchen dussligen Telenovelas. Oder in Liebesromanen, die ich früher so gerne las. Mittlerweile verabscheue ich dieses Genre – obwohl ich immer noch gern schmökere. Allerdings eher Thriller oder Krimis. Da werden die Liebhaber meist um die Ecke gebracht. Ein Grinsen stiehlt sich in mein Gesicht und ich greife zum Handy. Emma! Ihr fröhliches Bild grinst mir entgegen und ich beschließe, sie gleich zurückzurufen. Vorher brauche ich noch einen heißen Kaffee mit einer Prise Zimt darin - ein bisschen Weihnachten darf schon sein – und ein paar selbstgebackene Kekse dazu. Butterplätzchen und Vanillehörnchen. Auch wenn ich dafür ein paar extra Trainingseinheiten einlegen muss. Doch heute, an diesem Samstag vor Weihnachten, gönne ich mir sie einfach. Wer sollte es mir auch verbieten? Genau! Niemand!

»Anja, Herzchen. Schön, dass du dich meldest«, klingt Emmas Stimme an mein Ohr und ich lasse mich in meinen weichen, schwarzen Ledersessel fallen. Es ist kurz nach 19 Uhr, wie die Ziffern auf meinem DVD-Recorder beweisen und ich freue mich auf ein nettes, kurzweiliges Gespräch mit meiner neuen Freundin. Ich kenne Emma noch nicht sehr lange. Sie ist das komplette Gegenteil von mir. Wie genau sie den Weg in mein Leben fand, weiß ich gar nicht mehr, doch plötzlich war sie da. Wahrscheinlich hat Nadja sie eines Tages angeschleppt und bei mir abgeladen – wäre nicht das erste Mal. Nadja ist die Einzige, die es schon seit Kindertagen mit mir aushält. Sie war mir immer treu und auch in meiner Trauerphase wäre sie für mich da gewesen, wenn ich sie gelassen hätte. Jedoch erst nachdem ich wie der sprichwörtliche Phönix aus der Asche gestiegen war, hatte ich mich wieder bei ihr gemeldet – und es schien, als wäre keine Zeit vergangen. Unsere Freundschaft kann man mit den Wellen des Meeres vergleichen. Sie kommt und sie geht, verschwindet aber nie komplett. Meine Freundin hat ihr eigenes Leben, ihre eigene, kleine Welt und doch kreuzen sich unsere Wege immer wieder. Außerdem sammelt sie gerne neue Menschen, beschäftigt sich eine Weile mit ihnen, lernt aus ihren Verhaltensweisen und gibt diese Freunde dann meist an mich weiter. Oftmals entsprechen sie allerdings nicht meinem Freundesschema und ich kümmere mich nicht weiter um sie, doch Emma war hartnäckig. Immer wieder lud sie mich in den vergangenen Wochen ein, mit ihr und ihren Freundinnen etwas zu unternehmen, allerdings sagte ich selten zu. Obwohl sie eine willkommene Ablenkung von meinen Sorgen gewesen wäre, weil Emma einfach anders ist. Bisher war ich freilich noch nicht so weit. Doch heute, an diesem ohnehin sehr sentimentalen Tag, habe ich mich entschlossen, ihr eine Chance zu geben, um eine gute Freundin zu werden und nicht nur eine flüchtige Bekannte. Sie hat in fast jeder Situation eine entgegengesetzte Meinung zur meinigen. Und trotzdem – oder gerade deswegen – verstehen wir uns gut. Sie passt schlicht in mein neues Leben. Ich mag ihre lockere, unbekümmerte Art. Sie hat lange, braune Haare, die sie gerne zu einem kecken Pferdeschwanz bindet, trägt mit Vorliebe Jeans und Turnschuhe und meistens eine Kapuzenjacke. Ich dagegen habe eine schlichte, blonde Kurzhaarfrisur, hasse nichts mehr als Jeans und liebe Kleider. Selbst jetzt im Winter. Make-up ist ihr vollkommen fremd, während ich ohne geschminkte Lippen niemals die Wohnung verlasse. Diese Aufzählung ließe sich unendlich fortsetzen.

»Na, was machst du heute noch?«, fragt Emma fröhlich und ich schiebe mir einen Keks zwischen die Lippen.

»Fernsehschauen«, nuschle ich und Emma lacht.

»Und Kekse essen, was? Na, das kannst du auch bei mir. Komm vorbei, Anja. Die anderen Mädels haben auch zugesagt. Sogar ihre Männer. Und selbst Alex hat sich den Abend frei genommen. Du kennst ihn noch nicht und ich würde … also kommst du? Wir grillen im Garten, trinken Glühwein und ...«

»Grillen? Bei dem Wetter?«, unterbreche ich sie und muss lachen. »So etwas kann auch nur dir einfallen, oder? Ja klar. Ich komme. Soll ich noch was mitbringen?«

»Gute Laune wäre klasse. Und vielleicht ein paar deiner wundervollen Kekse. Falls du noch welche übrig hast«, schmeichelt sie mir, was mir ein Grinsen entlockt.

»Klar, für dich doch immer. Also dann bis gleich«, verabschiede ich mich und schiebe mir noch einen krümeligen Leckerbissen in den Mund.

****

Wenig später stehe ich mit einer Dose Kekse unter dem Arm bei Emma vor der Haustür. Im Inneren brennt Licht und ich höre das Gelächter der Anwesenden. Wird bestimmt lustig. Scheinbar haben sie alle schon mächtig gebechert, so wie sie lachen und herumalbern.

»Anja! Wie schön, dass du da bist!«, kichert Emma, als sie mir die Tür öffnet und mich ins Warme zieht.

Sie nimmt mir meinen langen, weichen Mantel ab und ich stehe im bordeauxfarbenen Kleid vor ihr. Ich habe genau dieses gewählt, da es lange Ärmel hat, jedoch durch seinen Schnitt meinen schlanken Hals betont. Eine einfache, silberne Kette mit einem kleinen, roten Herz als Anhänger unterstützt die Wirkung. Der Saum des enganliegenden Kleidungsstücks endet über den Knien und meine schwarze Seidenstrumpfhose lässt den Blick auf meine wohlgeformten Beine zu. Schließlich muss sich ja das ganze Training auch irgendwann auszahlen, oder? Ich fühle mich richtig wohl und sehe, dass auch die anderen Ladys im Raum nicht gerade in Putzlumpen herumrennen. Na, bis auf die Gastgeberin selbst. Emma trägt wie immer Jeans und hat auch dieses Mal einen dicken, bunten Pulli übergezogen. Ihre langen Haare hat sie zum Pferdeschwanz gebunden und kein bisschen freie Haut ist zu sehen. Was ihr Freund nur an ihr findet? Ich verstehe es ja nicht wirklich.

»Trete ein, bring Glück herein«. Ein Mann, ungefähr in meinem Alter, öffnet uns die Tür zum Wohnbereich und dirigiert mich zu einem freien Stuhl. »Was möchtest du trinken?«, fragt er mich und schenkt mir ein einladendes Lächeln. »Wir haben auch Feuerzangenbowle gemacht. Wie du vielleicht riechst«, kichert er und ich nicke.

»Na, dann bitte davon. Und nicht zu wenig. Ich glaube, ihr seid schon länger am Feiern, oder?« Er nickt. Ich merke schon, ich habe eine Menge nachzuholen. Fällt mir aber normalerweise nicht schwer.

»Einmal Feuerzangenbowle für die hübsche Dame. Grillfleisch ist leider nichts mehr da. Die haben uns leergefressen wie die Heuschrecken. Aber ich sehe, du hast deine eigene Verpflegung mitgebracht, gell? Kekse. Wie wunderbar«, lacht er und ich grinse zurück.

Der Typ ist so locker, dass es mir leichtfällt, meine Hemmungen ein wenig abzulegen. Immerhin kenne ich, bis auf Emma, keinen hier und die ist irgendwo anders untergetaucht. Auch die restlichen Gäste stehen in Grüppchen zusammen und ich komme mir ein wenig verloren vor.

»Nein danke. Ich will ohnehin nichts essen«, entgegne ich ihm.

Er nickt, dreht sich herum und verschwindet in Richtung Terrasse, wo offenbar die Gerätschaft für die Feuerzangenbowle aufgebaut ist. Jetzt habe ich einen Moment Zeit, mich umzuschauen. Ich war noch nie bei Emma. Hatte sich bisher einfach nicht ergeben, doch nun bin ich von ihrem Zuhause beeindruckt. Der Bungalow, in dem Emma mit ihrem Verlobten wohnt, ist sehr modern und schick eingerichtet. Das Wohnzimmer ist vom Esszimmer nur durch einen Glaskachelofen getrennt. Ansonsten gibt es keinerlei Sichtbarriere. Der hölzerne Esstisch mit den dazu passenden Stühlen ist im Moment mit allerlei Platten zugestellt, von denen die meisten jedoch fast leer sind. Hinter dem Esszimmer befindet sich die wundervolle, moderne Küche, der eine winzige Abstellkammer angegliedert ist, die mit einer Schiebetür geschlossen werden kann.

»Bitte sehr die Dame«, sagt der Typ, der mittlerweile wieder neben mir steht und mich frech angrinst. Wer ist er? An meiner körperlichen Reaktion erkenne ich, dass dieser Typ meinen üblichen Flo-Check bestanden hat. Sehr ungewöhnlich. Aber vielleicht komme ich endlich über meinen Ex hinweg, der noch immer, auch wenn ich es nie offziell zugeben würde, durch meine Gehirnwindungen geistert. Ob er Single ist? Ein Kribbeln macht sich in meiner Magengegend breit und ich richte mich ein wenig auf. Gerader Rücken, Brust raus – schließlich will ich mich in meiner ganzen Schönheit präsentieren. Als hätte er meine stumme Frage gehört, stellt er sich prompt vor.

»Ach übrigens, ich bin Alex, der Verlobte von Emma und dies ist meine bescheidene Hütte. Hoffe, sie gefällt dir.«

Verdammt! Vergeben. Na, wäre ja auch zu schön gewesen. Ich schicke die Schmetterlinge, die sich bereits zum Tanz formiert haben, zurück auf ihre Plätze und nehme ihm die Tasse mit der Bowle ab.

»Ja, wirklich sehr schön hier. Die Küche gefällt mir gut und auch der Esstisch ist schön groß.«

Was rede ich da eigentlich für einen Quatsch? Er muss mich für ziemlich dämlich halten. Dabei fällt es mir normalerweise nicht schwer, Smalltalk zu betreiben. Doch falls er mich tatsächlich für das typische Blondchen hält, lässt er es sich nicht anmerken.

»Ja, alles neu, seitdem Emma hier wohnt. Bis auf die Ledercouch dort. Die ist übrigens besonders weich. Magst du Leder? Also ich stehe ja total drauf. Der Sex ist da noch viel besser als im Schlafzimmer«, beginnt er zu flirten und ich werde rot.

Männer! Die haben doch immer nur das Eine im Kopf – na ja, oder eben einige Etagen weiter unten. Dass er beim ersten Gespräch so freizügig redet, verdankt er wahrscheinlich dem Alkohol. Ich lächle ihm zu, streiche mir verlegen durch die Haare und nicke.

»Ja, ich mag Leder auch sehr gerne. Habe selber einen Ledersessel bei mir zuhause stehen«, greife ich sein Thema auf. Schließlich will ich nicht auch noch als prüde gelten. »Aber da habe ich es noch nie getan. Der Sessel ist neu und ich bin seit über einem Jahr Single.« So, damit wäre das auch geklärt. Meine Tasse ist bereits leer und meine Zunge daher lockerer. Also gehe ich auf seinen Flirtversuch ein. »Aha, also der Verlobte von Emma. Na, einen guten Geschmack hat sie ja, das muss ich ihr lassen. Hat denn der gut aussehende Mann noch etwas zu trinken für die schüchterne Blondine?«, sage ich und reiche ihm meine Tasse.

Flink verschwindet er erneut im Wintergarten und ist wenige Augenblicke später zurück. Jetzt kann ich ihn genauer betrachten. Seine Bewegungen sind sehr geschmeidig und sein Gang stark und fest. Ja, er scheint mit beiden Beinen im Leben zu stehen und zu wissen, wer er ist und wie er wirkt. Als er mir die volle Tasse reicht, fallen mir seine großen, weichen Hände auf. Bestimmt arbeitet er den ganzen Tag nur am PC und kennt einen Spülschwamm nur aus Erzählungen. Mein Blick wandert weiter über die durchtrainierten Arme, zur breiten Brust, die nur mit einem weißen Hemd bedeckt ist. Jepp, ganz mein Geschmack. Seine wohlgeformten Beine stecken in einer Designer-Jeans und seine italienischen Schuhe sind bestimmt auch nicht vom Discounter.

»Na, dir gefällt wohl, was du siehst?«, fragt er spöttisch und setzt sich neben mich auf einen Stuhl.

»Jo, ganz nett«, grinse ich ihm zu und wir lachen gemeinsam. Dabei sehe ich das Leuchten in seinen eisblauen Augen, und die vollen Lippen, die sich leicht geöffnet haben, um eine Reihe weißer, gerader Zähne zu entblößen.

»Na, dann sind wir uns ja einig. Du siehst auch bezaubernd aus. Anja, richtig?« Ich nicke. »Du bist doch die, die bei der Immobilienagentur arbeitet, oder?«

Wieder nicke ich. Mittlerweile ist auch der Inhalt der zweiten Tasse abgekühlt und ich nehme einen weiteren Schluck. Brennend läuft es mir die Kehle hinunter und ich genieße es. Die innere Hitze vertreibt meine Anspannung allmählich und ich lasse mich nur zu gerne auf Alex ein. Er ist ja bereits vergeben, kann mir also nicht gefährlich werden.

»Ich kenne auch eine Immobilienfirma in Düsseldorf. Dort stand lange Zeit ein Penthouse frei, das mittlerweile aber einen neuen Besitzer gefunden hat. Irgendein Typ aus Boston. Für sieben Million Euro ist die Bude verkauft worden. Wahnsinn! Aber der Bunker ist auch fantastisch. Eine Freundin von `ner Freundin von mir hat sie vermittelt. Dabei ist Shylene echt ein unscheinbares Mäuschen. Wenn du sie sehen könntest, in ihren hochgeschlossenen Kostümchen. Wie sie es geschafft hat … keine Ahnung. Wäre doch auch was für dich, oder? Du würdest bestimmt jede Immobilie an den Mann bringen.«

Wieder zwinkert er mir zu und ich lächle bereitwillig. Na, wenn er meint. Dieser Mann-von-Welt muss es ja wissen.

»Da ich noch nie eine verkauft habe, kann ich dir das nicht sagen. Ich bin eher für die Terminvereinbarungen zuständig«, entgegne ich ihm und er zwinkert mir erneut zu. Ob er wohl was im Auge hat? Dieses ständige Zwinkern macht mich noch ganz nervös.

»Noch was zu trinken?«, fragt er anstelle einer Antwort und ich bejahe.

»Wo sind eigentlich die anderen? Draußen?« Irgendwie fühle ich mich noch nicht wirklich angekommen auf dieser Party, selbst wenn ich bisher nette Gesellschaft habe.

»Jepp. Sind halt viele Raucher dabei. Und hier in der Bude wird nicht gequalmt. Ich glaube aber, dass sie langsam da im Freien festfrieren und bestimmt bald das Warme suchen. Kann ja mal nachschauen«, antwortet Alex, steht auf und begibt sich schwankend nach draußen. O.k., auch er hatte schon ein paar Gläschen zu viel. Doch seinen knackigen Hintern, der mir in diesem Moment ins Auge fällt, betrachte ich so lange, bis er durch den Wintergarten in Richtung Terrasse verschwindet.

»Anja!« Emma ist neben mir aufgetaucht und lässt sich schwerfällig auf den Stuhl zu meiner Rechten fallen. »Da bist du ja. Entschuldige, dass ich dich so lange alleine gelassen habe. Ich hoffe, Alex hat dir was zu trinken gebracht.«

Als ich nicke, fährt sie fort: »Ist er nicht total süß? Ich glaube, wir haben uns gesucht und gefunden. Irgendwann erzähl ich dir mal die ganze Geschichte. Wir wollen nächstes Jahr heiraten. Ist das nicht wunderbar?«

Sie strahlt mich an und ich nicke wieder. Meine Gedanken fliegen in diesem Moment zu Florian und Tränen schießen mir in die Augen. Der Arsch wollte mich auch heiraten, bevor er den Job in Boston angeboten bekam. Wir waren mindestens genauso verliebt wie Emma und Alex. Und nun? Nun sitze ich alleine hier und … NEIN!, ermahne ich mich selbst und schüttle den Kopf. Ich habe mir fest vorgenommen, nie wieder an diesen Typen zu denken.

»Ich freue mich für euch«, sage ich zu Emma und meine es wirklich ernst. Dann ergreife ich ihre Hand und drücke sie. »Wird schon alles ganz wunderbar werden«, stimme ich ihr zu und weiß selber nicht, ob ich das glauben soll. So wie er vorhin mit mir geflirtet hat?

In diesem Moment kehrt Alex gemeinsam mit drei weiteren Freunden zu uns zurück und alle setzten sich auf die umstehenden Stühle.

»Ist ja fast wie bei mir im Kindergarten«, lacht Emma und die anderen fallen mit ein.

Jeder hat eine dampfende Tasse Feuerzangenbowle in der Hand und Alex reicht mir ebenfalls ein Glas. Sehr aufmerksam der Bursche. Oder will er mich nur betrunken erleben?

»Ja, ein Stuhlkreis. Lasst es uns ausdiskutieren«, kichert Chrissy, eine kleine Blonde, und lehnt sich erwartungsvoll zurück.

»Ja Mädels, über was wollen wir denn konferieren?«, schließt sich Charly, die neben Chrissy sitzt, an und wirft ihr einen verschwörerischen Blick zu.

Ihre langen, schwarzen Haare fallen dabei über ihre Augen und sie streicht sie lasziv nach hinten. Mike, scheinbar ihr Partner, legt einen Arm um ihre Schulter und gibt ihr einen Kuss auf den Hals.

»Über was immer du willst, Darling«, flüstert er ihr zu und alle lachen.

Die Stimmung wird immer ausgelassener und ich fühle mich plötzlich nicht mehr allein. Trotz der Tatsache, dass sich in unserem Kreis zwei Pärchen befinden, vermisse ich Florian – wer ist Florian? - kein bisschen. Ich kann auch alleine Spaß haben! Jawohl!

»Sag mal, Anja«, beginnt Chrissy und kichert. »Du hast doch auch keinen Freund, oder? Wie heißt denn dein mechanischer Gefährte? Ich habe eine Rosi.«

Entgeistert starre ich sie an. Hä? Eine … was?

Emma, die mir jetzt gegenübersitzt, prustet lauthals los.

»Dein Vibrator heißt Rosi? Du kommst auf Ideen!«