Ich will dich, aber ... Anja und die Liebe - Christina Stöger - E-Book

Ich will dich, aber ... Anja und die Liebe E-Book

Christina Stöger

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Beschreibung

Nach der Trennung von ihrem Exfreund glaubt Anja, ihr Leben im Griff zu haben. Für Männer scheint es keinen Platz zu geben, bis ... dieser heiße Typ auftaucht. Alex. Doch er ist der Verlobte ihrer neuen Freundin Emma. Und plötzlich ist alles anders. Anja lässt sich wider besseren Wissens auf das Liebesspiel ein und eine heiße Affäre beginnt. Als alles nahezu perfekt erscheint, flattert ein Brief ins Haus und eine turbulente Achterbahn der Gefühle beginnt. Alte Wunden reißen auf, lassen Anja zwischen Vergangenheit und Zukunft schwanken. Alles könnte so schön sein! Könnte, gäbe es dieses »Aber« nicht. Die heitere erotische Liebesgeschichte gewährt dem Leser Einblicke in das emotionale Leben einer jungen Frau, die oftmals hin und her gerissen scheint und ihr wahres Glück erst noch finden muss.

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Inhaltsverzeichnis

Teil 1 »Ich will dich, aber ...«

Prolog -

Eineinhalb Jahre später

Gedankenkarussell

Besinnliche Weihnachten

Silvester

Der Traum

Das Fitnessstudio

Alex und die Ledercouch

Wellnesshotel

Ich will dich, aber …

Das Ende

Maskenball

Entzaubert

Freiheit

Epilog

Teil 2 »Du willst mich, aber ...«

Zurück in die Vergangenheit -

Der Brief

Das Hochzeitsgedicht

Hochprozentige Wahrheiten

Das erste Mal

Zufall oder Schicksal

(M)ein letztes Mal

Der Abend vor der Hochzeit

Ein Gefallen für die Braut

Dr. Helfsberg – Nomen est Omen

Rosa, Frösche und Doktoren

Schwungvolle Begegnungen

Das Spiel geht weiter

Geburtstagsüberraschung

Alles kommt, wie es kommen muss

Zweieinhalb Monate später

Teil 3 »Wir wollen uns, aber ...«

Traumreise?

Bayerische Gemütlichkeit

Schwiegermutter oder -monster

Reise in die Vergangenheit

Am See

Sorry, Baby

Ein Schlag kommt selten allein

Umzug zu Rosa

Und das Schicksal lacht

Die Vergangenheit kehrt zurück

Ein Traum zerplatzt

Bei Oma Hanni

Wünsche, Träume, Sehnsüchte

Halloween

Gruselige Überraschung

Abschied

Ode an die Freude

Auf dem Weihnachtsmarkt

… und manchmal ist es anders, als es scheint

Ende gut, alles gut

Du bist mein Leuchtturm

Danksagung

Teil 1 Ich will dich, aber ...

Prolog

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?« Vollkommen fassungslos stand ich in unserem Wohnzimmer und starrte Flo an, der seine Koffer packte. Ich war gerade zurück aus der Schule und fand ihn nun so vor. »Was machst du da?«, fragte ich mit zittriger Stimme, denn ich konnte mir denken, was das zu bedeuten hatte.

»Anja, Liebling! Du bist schon zurück?« Flo ließ die Hose, die er eben aus dem Schrank genommen hatte, um sie in seinem schwarzen Reisekoffer zu verstauen, sinken. Der Koffer war bereits bis zum Bersten gefüllt, doch noch immer wanderten Kleidungsstücke aus unserem Schrank, aus seiner Seite des Schrankes, um präzise zu sein, hinein. Nein, er packte nicht für einen gemeinsamen Urlaub - das war sicher. Ich merkte in diesem Augenblick, in dem ich im Türrahmen stand, wie mir schwindelig wurde und ich mich setzen musste. Kein Wunder, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Natürlich wusste ich ganz genau, was diese Aktion bedeutete: Florian wollte ausziehen!

Ich hatte mich vor diesem Moment immer gefürchtet und nun war er da. Dabei hatte der Tag doch so wunderbar angefangen. Heute Morgen war ich aufgestanden, hatte meine Tasche gepackt und war zu meiner allerletzten Abiturprüfung aufgebrochen. Mit Abgabe der Prüfungsunterlagen endeten die vergangenen eineinhalb Jahre intensiven Lernens und gipfelten in dem Erlangen der Fachhochschulreife. Seit heute Morgen um kurz nach halb elf hatte ich es also geschafft. Ich hatte mich so sehr gefreut, als ich die Blätter meines geistigen Ergusses beim aufsichtshabenden Lehrer abgab und hoch erhobenen Hauptes die Turnhalle, in der die Prüfung stattfand, verließ. Ich war beschwingt und voller Freude über den Schulplatz gesprungen, hatte meinen Mitschülern noch kurz etwas zugerufen und war zu meinem Auto gerannt. Das Gute daran, dass ich meine Fachhochschulreife nachgeholt hatte, war, dass ich, im Gegensatz zu meinen Mitschülern, bereits ein Auto fahren durfte. Kunststück, ich war auch schon sechsundzwanzig Jahre alt. Mit neunzehn Jahren, während meiner Ausbildung zur Bürokauffrau, lernte ich Florian kennen und wir hatten uns auf Anhieb verliebt. Es hatte nicht lange gedauert, bis ich bei ihm einzog. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch bei meinen Eltern gelebt und der Sprung vom behüteten Elternhaus in eine gemeinsame Wohnung mit meinem ersten, richtigen Freund war groß gewesen. Ich hatte lernen müssen zu kochen, zu putzen und die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung sauber zu halten. Wir hatten uns geliebt, gestritten und wieder versöhnt. Wir hatten zwei wundervolle Urlaube an der holländischen Küste verbracht und er hatte mir ans Herz gelegt, mich weiterzubilden und den Abschluss zur Fachhochschulreife nachzuholen. Natürlich waren meine Klassenkameraden alle einige Jahre jünger, doch das störte mich nie. Ich fühlte mich nicht wie eine Sechsundzwanzigjährige. Wobei sich die Frage stellt, wie man sich in dem Alter zu fühlen hat. Jedenfalls war ich immer ICH geblieben. Ich hatte Spaß am Leben, ging zusammen mit Florian auf Partys und büffelte wie eine Verrückte für meinen Abschluss – den ich nun in der Tasche hatte. Tasche – ja … da stand auch noch eine gepackte Tasche vor unserem gemeinsamen Bett.

»Anja, Herzchen«, begann Florian wieder, schlich mit gesenktem Kopf auf mich zu und setzte sich neben mich auf den Boden. »Wie war deine Prüfung? Du bist schon so früh … also ich meine, ich hatte erst viel später mit dir gerechnet. Ich wollte ...«, stotterte er, hob meinen Kopf mit seiner rechten Hand und blickte mir in die Augen. Diese brannten bereits und ich hielt mit Mühe die Tränen zurück.

»Was? Was wolltest du? Einfach verschwinden? Mir einen Zettel auf den Küchentisch legen und …? Aber ... Warum?« Das letzte Wort schleuderte ich ihm entgegen und die bis eben nur schimmernden Tränen ergossen sich in einem wahren Sturzbach über meine Wangen. Er wollte mich einfach so verlassen?!? Statt einer Antwort nahm er mich in die Arme und drückte mich fest an sich. Meine Schultern bebten und ich schluchzte an seiner Brust. Langsam und zärtlich fuhr seine Hand über meinen Rücken und streichelte meine langen, blonden Haare. Normalerweise sah ich aus wie ein Engel. Lange, blonde Locken, ein süßes Puppengesicht und große, blaue Augen mit langen Wimpern, die ich nie zu schminken brauchte.

»Anja, mein Engel«, flüsterte Flo in diesem Moment dicht an meinem Ohr, doch ich konnte die Nähe nicht mehr ertragen. Wütend befreite ich mich aus seiner Umarmung, stemmte meinen Körper an der Innenseite des Türrahmens nach oben und brüllte ihn wieder an: »Warum?«

»Weil ich meinen Lebenstraum verwirklichen kann! Weil ich endlich nach Boston fliegen und dort in der Bank eines Freundes arbeiten kann! Weil ich dort mehr Geld verdiene als hier, und weil ich dort mal was anderes sehe, und weil … weil … weil … wir uns ohnehin nicht mehr lieben!«, schleuderte er mir entgegen und hatte sich auch vom Boden erhoben.

Wütend blickte er mir ins Gesicht. Oder war es eher Trotz? Ich konnte und wollte das in diesem Moment aber alles nicht so einfach hinnehmen.

»Wir lieben uns nicht mehr? Wer sagt das? Ich liebe dich, du Arsch! Und das weißt du auch ganz genau! Doch du lässt mich hier alleine! Was soll ich denn in diesem Kaff ohne dich? Warum kann ich nicht einfach mitkommen und ...«

»Weil ich deine Klammerei einfach nicht mehr ertrage!«, unterbrach er mich zornig und mir blieben die Worte im Halse stecken. Bitte was? Er ertrug meine Klammerei nicht? Wer von uns war denn hochgradig eifersüchtig? Wer wollte denn immer wissen, wo ich mich gerade aufhielt, mit wem ich meine Zeit verbrachte und was ich den ganzen Tag so trieb, wenn er in der Bank war. ICH war das bestimmt nicht! MIR war es vollkommen egal, was er tat – solange er es mit mir tat. Doch all das behielt ich für mich. Er wusste es ohnehin.

»Soll das bedeuten, du liebst mich nicht mehr?«, fragte ich mit zittriger Stimme und wischte mir wütend die Tränen aus dem Gesicht. Wenn er jetzt »ja« sagte, dann war alles klar. Ich würde keine Szene machen. Ich nicht! Das hatte ich mir vor langer Zeit einmal geschworen. Irgendwie hatte ich insgeheim mit diesem Moment gerechnet – dem absoluten Alptraum. Doch nun, wo er wirklich da war, war er gar nicht so dramatisch. Wahrscheinlich war die ganze Situation wie ein Hurrikan – wenn man sich im Zentrum befand, war auch alles nicht so schlimm. Doch um einen herum ging die Welt unter. Vermutlich würde erst die Zeit danach der Horror werden.

»Ja … also nein«, sagte Flo in diesem Augenblick und ich merkte, wie meine Gedanken sich verselbstständigt hatten.

Ich wusste die Frage, die ich ihm gestellt hatte nicht mehr. Sehr komisch.

»Nein, ich liebe dich nicht mehr«, sagte er noch einmal, da er meinen ausdruckslosen Blick nicht deuten konnte. Er hatte bestimmt erwartet, dass ich ihn erneut anbrüllen, vielleicht sogar Geschirr durch den Raum werfen oder sonst wie hysterisch werden würde. Doch genau diesen Gefallen würde ich ihm nicht tun.

»Alles klar, weiß ich bescheid. Dann fahre ich nun zu meinen Eltern und bleibe da, bis du verschwunden bist. Wir holen später meine Sachen und ich lege dir den Schlüssel auf den Küchentisch. Den Rest kann deine Mutter ja erledigen. Sie macht ohnehin alles für dich, Herzchen«.

Die letzte Spitze konnte ich mir nicht verkneifen. Ich drehte mich auf dem Absatz herum, warf meine lange Mähne in den Nacken, griff nach meiner Tasche, stieg in meine Schuhe und verließ erhobenen Hauptes unsere gemeinsame Wohnung. Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und ich bereute in diesem Augenblick, dass ich ihm nicht doch einen Teller an den Kopf geworfen hatte. Den schweren, bunten beispielsweise, den er neulich von seiner Mutter bekommen hatte. Noch im Treppenhaus zog ich mein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer meiner Eltern.

»Mama? Ich komm wieder nach Hause«, sagte ich, als meine Mutter sich meldete.

»Alles klar, ich richte dann schon mal dein Kinderzimmer. Was willst du zum Abendessen?«, war ihr einziger Kommentar und ich war ihr dankbar dafür.

1 - Eineinhalb Jahre später

Ich sitze in meinem Apartment, starre aus dem Fenster und sehe den weichen, weißen Flocken zu, die langsam zur Erde tanzen, und denke über die letzten eineinhalb Jahre nach. So kurz vor Weihnachten bekomme ich immer meinen Moralischen, auch, wenn ich nicht mehr das kleine Püppchen bin, das ich vor so langer Zeit noch war. Ich habe mein Leben selbst in die Hand genommen und, wie ich finde, viel erreicht. Nachdem ich wieder mein kleines Kinderzimmer in der Wohnung meiner Eltern bezogen hatte, ging die Welt erst einmal unter. Ich weigerte mich zu essen, lag nur noch apathisch auf meinem Bett und starrte Löcher in die Luft. Nichts und niemand konnte mir in dieser Zeit helfen. Das einzige Mal, dass ich mein Zimmer verließ, war, als ich mein Abschlusszeugnis entgegen nahm. Ich war die Drittbeste meines Jahrgangs – doch auch das konnte meine Laune nicht heben. Ich stellte mir bei allem, was ich tat vor, wie es wäre, wenn Flo noch an meiner Seite gewesen wäre. Doch das war er nicht und würde es auch nie wieder sein - davon war ich überzeugt. Wie ich meine persönlichen Sachen aus seiner Wohnung geholt hatte, wusste ich nicht mehr. Ich hatte auf Autopilot geschaltet, viel geweint und zwischen Wut auf Florian und Selbstvorwürfen geschwankt. Irgendwann hatte der Zorn gewonnen und war später in Gleichgültigkeit übergegangen. Ab diesem Moment begann ich wieder zu leben. Den ersten Schritt, den ich unternommen hatte, war zum Frisör zu gehen. Der kleine Laden in der Innenstadt war der beste der Kleinstadt, in der ich lebte, und mein Vater finanzierte mir mein neues Ich.

»Hauptsache, meiner Kleinen geht es wieder gut«, meinte er, als er mir zweihundert Euro in die Hand drückte. Viel Geld für meine Eltern, aber ich war ihnen wirklich dankbar in diesem Moment. Die Frisur, die der Meister des Ladens zauberte, veränderte mein ganzes Wesen. Die langen Locken fielen und ich bekam eine flotte Kurzhaarfrisur. Damit war der erste Schritt in ein neues Leben vollzogen. Mit dem restlichen Geld kaufte ich mir ein Paar schicke Stiefel, ein kurzes, schwarzes Kleidchen und einen langen, warmen Wintermantel. Mit meiner Körpergröße von knapp 175 Zentimetern und einem Gewicht von etwas unter sechzig Kilo hatte ich eine passende Figur, um ihn zu tragen. Da ich in meiner Trauerzeit nicht viel gegessen hatte, holte ich das in der Weihnachtszeit nach und wenig später meldete ich mich im Fitnessstudio an, um meinen Körper fit und gesund zu erhalten. Die Männer, die mir dort begegneten, sahen zwar alle nicht schlecht aus, doch keiner von ihnen erregte auch nur im Geringsten mein Interesse. Ich hatte die Schnauze so voll von Kerlen. Jeden, den ich sah, verglich ich mit Flo – und keiner überlebte den Vergleich. Florian war und blieb der Mann meiner durchweinten Nächte – und meiner verzweifelten Fantasien. Wie oft ich von ihm träumte, weiß ich heute nicht mehr – aber es war fast jede Nacht gewesen. Dabei hatte ich nach meinem Abgang nie wieder etwas von ihm persönlich gehört. Unsere gemeinsamen Freunde, die früher alle seine gewesen waren, entfernten sich von mir und bald stand ich ohne jeglichen Kontakt da. Doch ich brauchte sie auch nicht! Ich wollte sie gar nicht. Es waren seine Freunde, nicht meine. Was sollte ich noch mit ihnen anfangen? Es interessierte mich nicht, wie es Flo in Amerika ging. Oder doch? Eines Nachts, als ich wieder einmal von ihm geträumt hatte, setzte ich mich in meiner neuen Wohnung an meinen neuen Küchentisch und suchte in meinem neuen Laptop nach meinem alten Freund. Und ich fand ihn. Tatsächlich war er zwischenzeitlich an der Spitze eines Geldinstituts angekommen und verdiente seine Brötchen an der Börse, wenn ich das richtig verstanden hatte. Viel wollte ich nicht lesen, denn allein schon sein Bild hatte mir die Tränen in die Augen getrieben. Das war jetzt knapp ein Jahr her.

Das Smartphone auf meinem Tisch klingelt und ich kehre in die Realität zurück. Erst jetzt bemerke ich die feuchten Spuren auf meinen Wangen und versuche, sie zu ignorieren. Immer diese Gefühlsduselei zu Weihnachten! Ich weiß schon, warum ich das Fest der Liebe und Harmonie – PAH! - nicht ausstehen kann. Alles nur Heuchelei. Wahre Liebe!?! So einen Quatsch gibt es auch nur im Fernsehen, in irgendwelchen dussligen Telenovelas. Oder in Liebesromanen, die ich früher so gerne las. Mittlerweile verabscheue ich dieses Genre – obwohl ich immer noch gern schmökere. Allerdings eher Thriller oder Krimis. Da werden die Liebhaber meist um die Ecke gebracht. Ein Grinsen stiehlt sich in mein Gesicht und ich greife zum Handy. Emma! Ihr fröhliches Bild grinst mir entgegen und ich beschließe, sie gleich zurückzurufen. Vorher brauche ich noch einen heißen Kaffee mit einer Prise Zimt darin - ein bisschen Weihnachten darf schon sein – und ein paar selbstgebackene Kekse dazu. Butterplätzchen und Vanillehörnchen. Auch wenn ich dafür ein paar extra Trainingseinheiten einlegen muss. Doch heute, an diesem Samstag vor Weihnachten, gönne ich mir sie einfach. Wer sollte es mir auch verbieten? Genau! Niemand!

»Anja, Herzchen. Schön, dass du dich meldest«, klingt Emmas Stimme an mein Ohr und ich lasse mich in meinen weichen, schwarzen Ledersessel fallen. Es ist kurz nach 19 Uhr, wie die Ziffern auf meinem DVD-Recorder beweisen und ich freue mich auf ein nettes, kurzweiliges Gespräch mit meiner neuen Freundin. Ich kenne Emma noch nicht sehr lange. Sie ist das komplette Gegenteil von mir. Wie genau sie den Weg in mein Leben fand, weiß ich gar nicht mehr, doch plötzlich war sie da. Wahrscheinlich hat Nadja sie eines Tages angeschleppt und bei mir abgeladen – wäre nicht das erste Mal. Nadja ist die Einzige, die es schon seit Kindertagen mit mir aushält. Sie war mir immer treu und auch in meiner Trauerphase wäre sie für mich da gewesen, wenn ich sie gelassen hätte. Jedoch erst nachdem ich wie der sprichwörtliche Phönix aus der Asche gestiegen war, hatte ich mich wieder bei ihr gemeldet – und es schien, als wäre keine Zeit vergangen. Unsere Freundschaft kann man mit den Wellen des Meeres vergleichen. Sie kommt und sie geht, verschwindet aber nie komplett. Meine Freundin hat ihr eigenes Leben, ihre eigene, kleine Welt und doch kreuzen sich unsere Wege immer wieder. Außerdem sammelt sie gerne neue Menschen, beschäftigt sich eine Weile mit ihnen, lernt aus ihren Verhaltensweisen und gibt diese Freunde dann meist an mich weiter. Oftmals entsprechen sie allerdings nicht meinem Freundesschema und ich kümmere mich nicht weiter um sie, doch Emma war hartnäckig. Immer wieder lud sie mich in den vergangenen Wochen ein, mit ihr und ihren Freundinnen etwas zu unternehmen, allerdings sagte ich selten zu. Obwohl sie eine willkommene Ablenkung von meinen Sorgen gewesen wäre, weil Emma einfach anders ist. Bisher war ich freilich noch nicht so weit. Doch heute, an diesem ohnehin sehr sentimentalen Tag, habe ich mich entschlossen, ihr eine Chance zu geben, um eine gute Freundin zu werden und nicht nur eine flüchtige Bekannte. Sie hat in fast jeder Situation eine entgegengesetzte Meinung zur meinigen. Und trotzdem – oder gerade deswegen – verstehen wir uns gut. Sie passt schlicht in mein neues Leben. Ich mag ihre lockere, unbekümmerte Art. Sie hat lange, braune Haare, die sie gerne zu einem kecken Pferdeschwanz bindet, trägt mit Vorliebe Jeans und Turnschuhe und meistens eine Kapuzenjacke. Ich dagegen habe eine schlichte, blonde Kurzhaarfrisur, hasse nichts mehr als Jeans und liebe Kleider. Selbst jetzt im Winter. Make-up ist ihr vollkommen fremd, während ich ohne geschminkte Lippen niemals die Wohnung verlasse. Diese Aufzählung ließe sich unendlich fortsetzen.

»Na, was machst du heute noch?«, fragt Emma fröhlich und ich schiebe mir einen Keks zwischen die Lippen.

»Fernsehschauen«, nuschle ich und Emma lacht.

»Und Kekse essen, was? Na, das kannst du auch bei mir. Komm vorbei, Anja. Die anderen Mädels haben auch zugesagt. Sogar ihre Männer. Und selbst Alex hat sich den Abend frei genommen. Du kennst ihn noch nicht und ich würde … also kommst du? Wir grillen im Garten, trinken Glühwein und ...«

»Grillen? Bei dem Wetter?«, unterbreche ich sie und muss lachen. »So etwas kann auch nur dir einfallen, oder? Ja klar. Ich komme. Soll ich noch was mitbringen?«

»Gute Laune wäre klasse. Und vielleicht ein paar deiner wundervollen Kekse. Falls du noch welche übrig hast«, schmeichelt sie mir, was mir ein Grinsen entlockt.

»Klar, für dich doch immer. Also dann bis gleich«, verabschiede ich mich und schiebe mir noch einen krümeligen Leckerbissen in den Mund.

Wenig später stehe ich mit einer Dose Kekse unter dem Arm bei Emma vor der Haustür. Im Inneren brennt Licht und ich höre das Gelächter der Anwesenden. Wird bestimmt lustig. Scheinbar haben sie alle schon mächtig gebechert, so wie sie lachen und herumalbern.

»Anja! Wie schön, dass du da bist!«, kichert Emma, als sie mir die Tür öffnet und mich ins Warme zieht. Sie nimmt mir meinen langen, weichen Mantel ab und ich stehe im bordeauxfarbenen Kleid vor ihr. Ich habe genau dieses gewählt, da es lange Ärmel hat, jedoch durch seinen Schnitt meinen schlanken Hals betont. Eine einfache, silberne Kette mit einem kleinen, roten Herz als Anhänger unterstützt die Wirkung. Der Saum des enganliegenden Kleidungsstücks endet über den Knien und meine schwarze Seidenstrumpfhose lässt den Blick auf meine wohlgeformten Beine zu. Schließlich muss sich ja das ganze Training auch irgendwann auszahlen, oder? Ich fühle mich richtig wohl und sehe, dass auch die anderen Ladys im Raum nicht gerade in Putzlumpen herumrennen. Na, bis auf die Gastgeberin selbst. Emma trägt wie immer Jeans und hat auch dieses Mal einen dicken, bunten Pulli übergezogen. Ihre langen Haare hat sie zum Pferdeschwanz gebunden und kein bisschen freie Haut ist zu sehen. Was ihr Freund nur an ihr findet? Ich verstehe es ja nicht wirklich.

»Trete ein, bring Glück herein«. Ein Mann, ungefähr in meinem Alter, öffnet uns die Tür zum Wohnbereich und dirigiert mich zu einem freien Stuhl. »Was möchtest du trinken?«, fragt er mich und schenkt mir ein einladendes Lächeln. »Wir haben auch Feuerzangenbowle gemacht. Wie du vielleicht riechst«, kichert er und ich nicke.

»Na, dann bitte davon. Und nicht zu wenig. Ich glaube, ihr seid schon länger am Feiern, oder?« Er nickt. Ich merke schon, ich habe eine Menge nachzuholen. Fällt mir aber normalerweise nicht schwer.

»Einmal Feuerzangenbowle für die hübsche Dame. Grillfleisch ist leider nichts mehr da. Die haben uns leergefressen wie die Heuschrecken. Aber ich sehe, du hast deine eigene Verpflegung mitgebracht, gell? Kekse. Wie wunderbar«, lacht er und ich grinse zurück. Der Typ ist so locker, dass es mir leichtfällt, meine Hemmungen ein wenig abzulegen. Immerhin kenne ich, bis auf Emma, keinen hier und die ist irgendwo anders untergetaucht. Auch die restlichen Gäste stehen in Grüppchen zusammen und ich komme mir ein wenig verloren vor.

»Nein danke. Ich will ohnehin nichts essen«, entgegne ich ihm. Er nickt, dreht sich herum und verschwindet in Richtung Terrasse, wo offenbar die Gerätschaft für die Feuerzangenbowle aufgebaut ist. Jetzt habe ich einen Moment Zeit, mich umzuschauen. Ich war noch nie bei Emma. Hatte sich bisher einfach nicht ergeben, doch nun bin ich von ihrem Zuhause beeindruckt. Der Bungalow, in dem Emma mit ihrem Verlobten wohnt, ist sehr modern und schick eingerichtet. Das Wohnzimmer ist vom Esszimmer nur durch einen Glaskachelofen getrennt. Ansonsten gibt es keinerlei Sichtbarriere. Der hölzerne Esstisch mit den dazu passenden Stühlen ist im Moment mit allerlei Platten zugestellt, von denen die meisten jedoch fast leer sind. Hinter dem Esszimmer befindet sich die wundervolle, moderne Küche, der eine winzige Abstellkammer angegliedert ist, die mit einer Schiebetür geschlossen werden kann.

»Bitte sehr die Dame«, sagt der Typ, der mittlerweile wieder neben mir steht und mich frech angrinst. Wer ist er? An meiner körperlichen Reaktion erkenne ich, dass dieser Typ meinen üblichen Flo-Check bestanden hat. Sehr ungewöhnlich. Aber vielleicht komme ich endlich über meinen Ex hinweg, der noch immer, auch wenn ich es nie offiziell zugeben würde, durch meine Gehirnwindungen geistert. Ob er Single ist? Ein Kribbeln macht sich in meiner Magengegend breit und ich richte mich ein wenig auf. Gerader Rücken, Brust raus – schließlich will ich mich in meiner ganzen Schönheit präsentieren. Als hätte er meine stumme Frage gehört, stellt er sich prompt vor.

»Ach übrigens, ich bin Alex, der Verlobte von Emma und dies ist meine bescheidene Hütte. Hoffe, sie gefällt dir.«

Verdammt! Vergeben. Na, wäre ja auch zu schön gewesen. Ich schicke die Schmetterlinge, die sich bereits zum Tanz formiert haben, zurück auf ihre Plätze und nehme ihm die Tasse mit der Bowle ab.

»Ja, wirklich sehr schön hier. Die Küche gefällt mir gut und auch der Esstisch ist schön groß.« Was rede ich da eigentlich für einen Quatsch? Er muss mich für ziemlich dämlich halten. Dabei fällt es mir normalerweise nicht schwer, Smalltalk zu betreiben. Doch falls er mich tatsächlich für das typische Blondchen hält, lässt er es sich nicht anmerken.

»Ja, alles neu, seitdem Emma hier wohnt. Bis auf die Ledercouch dort. Die ist übrigens besonders weich. Magst du Leder? Also ich stehe ja total drauf. Der Sex ist da noch viel besser als im Schlafzimmer«, beginnt er zu flirten und ich werde rot. Männer! Die haben doch immer nur das Eine im Kopf – na ja, oder eben einige Etagen weiter unten. Dass er beim ersten Gespräch so freizügig redet, verdankt er wahrscheinlich dem Alkohol. Ich lächle ihm zu, streiche mir verlegen durch die Haare und nicke.

»Ja, ich mag Leder auch sehr gerne. Habe selber einen Ledersessel bei mir zuhause stehen«, greife ich sein Thema auf. Schließlich will ich nicht auch noch als prüde gelten. »Aber da habe ich es noch nie getan. Der Sessel ist neu und ich bin seit über einem Jahr Single.« So, damit wäre das auch geklärt. Meine Tasse ist bereits leer und meine Zunge daher lockerer. Also gehe ich auf seinen Flirtversuch ein. »Aha, also der Verlobte von Emma. Na, einen guten Geschmack hat sie ja, das muss ich ihr lassen. Hat denn der gut aussehende Mann noch etwas zu trinken für die schüchterne Blondine?«, sage ich und reiche ihm meine Tasse.

Flink verschwindet er erneut im Wintergarten und ist wenige Augenblicke später zurück. Jetzt kann ich ihn genauer betrachten. Seine Bewegungen sind sehr geschmeidig und sein Gang stark und fest. Ja, er scheint mit beiden Beinen im Leben zu stehen und zu wissen, wer er ist und wie er wirkt. Als er mir die volle Tasse reicht, fallen mir seine großen, weichen Hände auf. Bestimmt arbeitet er den ganzen Tag nur am PC und kennt einen Spülschwamm nur aus Erzählungen. Mein Blick wandert weiter über die durchtrainierten Arme, zur breiten Brust, die nur mit einem weißen Hemd bedeckt ist. Jepp, ganz mein Geschmack. Seine wohlgeformten Beine stecken in einer Designer-Jeans und seine italienischen Schuhe sind bestimmt auch nicht vom Discounter.

»Na, dir gefällt wohl, was du siehst?«, fragt er spöttisch und setzt sich neben mich auf einen Stuhl.

»Jo, ganz nett«, grinse ich ihm zu und wir lachen gemeinsam. Dabei sehe ich das Leuchten in seinen eisblauen Augen, und die vollen Lippen, die sich leicht geöffnet haben, um eine Reihe weißer, gerader Zähne zu entblößen.

»Na, dann sind wir uns ja einig. Du siehst auch bezaubernd aus. Anja, richtig?« Ich nicke. »Du bist doch die, die bei der Immobilienagentur arbeitet, oder?« Wieder nicke ich. Mittlerweile ist auch der Inhalt der zweiten Tasse abgekühlt und ich nehme einen weiteren Schluck. Brennend läuft es mir die Kehle hinunter und ich genieße es. Die innere Hitze vertreibt meine Anspannung allmählich und ich lasse mich nur zu gerne auf Alex ein. Er ist ja bereits vergeben, kann mir also nicht gefährlich werden.

»Ich kenne auch eine Immobilienfirma in Düsseldorf. Dort stand lange Zeit ein Penthouse frei, das mittlerweile aber einen neuen Besitzer gefunden hat. Irgendein Typ aus Boston. Für sieben Million Euro ist die Bude verkauft worden. Wahnsinn! Aber der Bunker ist auch fantastisch. Eine Freundin von `ner Freundin von mir hat sie vermittelt. Dabei ist Shylene echt ein unscheinbares Mäuschen. Wenn du sie sehen könntest, in ihren hochgeschlossenen Kostümchen. Wie sie es geschafft hat … keine Ahnung. Wäre doch auch was für dich, oder? Du würdest bestimmt jede Immobilie an den Mann bringen.« Wieder zwinkert er mir zu und ich lächle bereitwillig. Na, wenn er meint. Dieser ›Mann-von-Welt‹ muss es ja wissen.

»Da ich noch nie eine verkauft habe, kann ich dir das nicht sagen. Ich bin eher für die Terminvereinbarungen zuständig«, entgegne ich ihm und er zwinkert mir erneut zu. Ob er wohl was im Auge hat? Dieses ständige Zwinkern macht mich noch ganz nervös.

»Noch was zu trinken?«, fragt er anstelle einer Antwort und ich bejahe.

»Wo sind eigentlich die anderen? Draußen?« Irgendwie fühle ich mich noch nicht wirklich angekommen auf dieser Party, selbst wenn ich bisher nette Gesellschaft habe.

»Jepp. Sind halt viele Raucher dabei. Und hier in der Bude wird nicht gequalmt. Ich glaube aber, dass sie langsam da im Freien festfrieren und bestimmt bald das Warme suchen. Kann ja mal nachschauen«, antwortet Alex, steht auf und begibt sich schwankend nach draußen.Okay, auch er hatte schon ein paar Gläschen zu viel. Doch seinen knackigen Hintern, der mir in diesem Moment ins Auge fällt, betrachte ich so lange, bis er durch den Wintergarten in Richtung Terrasse verschwindet.

»Anja!« Emma ist neben mir aufgetaucht und lässt sich schwerfällig auf den Stuhl zu meiner Rechten fallen. »Da bist du ja. Entschuldige, dass ich dich so lange alleine gelassen habe. Ich hoffe, Alex hat dir was zu trinken gebracht.«

Als ich nicke, fährt sie fort: »Ist er nicht total süß? Ich glaube, wir haben uns gesucht und gefunden. Irgendwann erzähl ich dir mal die ganze Geschichte. Wir wollen nächstes Jahr heiraten. Ist das nicht wunderbar?«

Sie strahlt mich an und ich nicke wieder. Meine Gedanken fliegen in diesem Moment zu Florian und Tränen schießen mir in die Augen. Der Arsch wollte mich auch heiraten, bevor er den Job in Boston angeboten bekam. Wir waren mindestens genauso verliebt wie Emma und Alex. Und nun? Nun sitze ich alleine hier und … NEIN!, ermahne ich mich selbst und schüttle den Kopf. Ich habe mir fest vorgenommen, nie wieder an diesen Typen zu denken.

»Ich freue mich für euch«, sage ich zu Emma und meine es wirklich ernst. Dann ergreife ich ihre Hand und drücke sie. »Wird schon alles ganz wunderbar werden«, stimme ich ihr zu und weiß selber nicht, ob ich das glauben soll. So wie er vorhin mit mir geflirtet hat?

In diesem Moment kehrt Alex gemeinsam mit drei weiteren Freunden zu uns zurück und alle setzten sich auf die umstehenden Stühle.

»Ist ja fast wie bei mir im Kindergarten«, lacht Emma und die anderen fallen mit ein.

Jeder hat eine dampfende Tasse Feuerzangenbowle in der Hand und Alex reicht mir ebenfalls ein Glas. Sehr aufmerksam der Bursche. Oder will er mich nur betrunken erleben?

»Ja, ein Stuhlkreis. Lasst es uns ausdiskutieren«, kichert Chrissy, eine kleine Blonde, und lehnt sich erwartungsvoll zurück.

»Ja Mädels, über was wollen wir denn konferieren?«, schließt sich Charly, die neben Chrissy sitzt, an und wirft ihr einen verschwörerischen Blick zu.

Ihre langen, schwarzen Haare fallen dabei über ihre Augen und sie streicht sie lasziv nach hinten. Mike, scheinbar ihr Partner, legt einen Arm um ihre Schulter und gibt ihr einen Kuss auf den Hals.

»Über was immer du willst, Darling«, flüstert er ihr zu und alle lachen.

Die Stimmung wird immer ausgelassener und ich fühle mich plötzlich nicht mehr allein. Trotz der Tatsache, dass sich in unserem Kreis zwei Pärchen befinden, vermisse ich Florian – wer ist Florian? - kein bisschen. Ich kann auch alleine Spaß haben! Jawohl!

»Sag mal, Anja«, beginnt Chrissy und kichert. »Du hast doch auch keinen Freund, oder? Wie heißt denn dein mechanischer Gefährte? Ich habe eine Rosi.«

Entgeistert starre ich sie an. Hä? Eine … was?

Emma, die mir jetzt gegenübersitzt, prustet lauthals los. »Dein Vibrator heißt Rosi? Du kommst auf Ideen!«

Oha! Also darum geht es hier. Dass ich gar keinen besitze, kann und will ich die Runde aber nicht wissen lassen – ich bin natürlich eine Frau von Welt. Da hat man einfach so ein Spielzeug zu haben. Oder nicht?

»Ja, logisch, oder? Wenn er rosa ist? Und ganz groß. Aber ich habe auch einen kleinen für die Handtasche. Schließlich muss Frau immer gerüstet sein.«

Allgemeines Gelächter. Das Ganze ähnelt einer Sitcom, bei der nach jedem Satz das Lachen des Publikums eingespielt wird. Meine Wangen fühlen sich heiß an und sind sicher glühend rot. Ob das an der Feuerzangenbowle oder am Gesprächsthema liegt, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Wahrscheinlich an beidem.

»Ich habe mal einen in Delfinform gesehen. Der ist blau und schnattert, wenn man ihn anschaltet. Irgendwie witzig. Kann aber auch nervig sein. Gut, dass man den Ton ausschalten kann«, grinst Charly und ihr Typ nickt.

»Ja, ich hab so einen auch schon gesehen. In deinem Nachtschränkchen.« Den darauf folgenden Rippenstoß seiner Freundin steckt er grinsend weg.

»Richtig, mein Lieber. Schließlich muss ja irgendwer deinen Job übernehmen, wenn du mal wieder nicht zur Hand bist.«

Die ganze Runde kichert über den Wortwitz.

»Was denn, Herzchen? Ich kann die Damenwelt schon verstehen. Wäre ich eine Frau, ich hätte auch mehrere zur Auswahl. Je nach Stimmung.«

Oh ja, solche Männer braucht das Land. Genervt verdrehe ich die Augen.

»Ich glaube, wir brauchen noch `ne Runde zu trinken. Was haltet ihr denn von Jelly Shots?«, mischt sich Alex ein.

Jetzt erst fällt mir auf, dass er bisher nichts zur Diskussion beigetragen hat. Ist wohl nicht ganz sein Thema.

»Au ja«, nicke ich. »Die habe ich ja schon ewig nicht mehr gehabt. Soll ich dir eben tragen helfen?« Ja, ich gestehe, dass ich auch etwas peinlich berührt bin und nur zu gerne meine Chance ergreife, mich kurz auszuklinken – klaren Kopf bekommen und so.

»Klar, komm mit«, nickt Alex mir zu und reicht mir seine Hand. Als sich unsere Hände finden, spüre ich, was ich bereits vermutet habe. Seine ist weich und doch voller Kraft. Wie es wohl wäre, wenn er mich mit diesen Händen noch an anderen Stellen berühren würde? Würde er meine Haut zum Kribbeln bringen? Würde er mir nach so langer Zeit mal wieder das Gefühl schenken, eine Frau zu sein? Würde er ... Erschrocken über meine eigenen Gedanken, lasse ich seine Hand los und fahre mir nervös durch meine Kurzhaarfrisur. Das ist bestimmt nur der Alkohol. Bisher hat es noch kein männliches Wesen geschafft, mich dermaßen aus der Bahn zu werfen. Kopfschüttelnd folge ihm in die Küche.

»Ist nicht so ganz dein Thema, was?«, beginne ich das Gespräch nun doch.

Worüber sollte ich sonst mit ihm sprechen? Und irgendwie reizt es mich, ihn aus der Fassung zu bringen. In seiner heilen Businesswelt redet man über so etwas scheinbar nicht.

»Och, würde ich so nicht sagen«, antwortet er achselzuckend, während er die Gläschen mit dem grünen Wackelpudding, der mit Wodka anstatt mit Wasser zubereitet wurde, auf ein Tablett stellt. »Ich denke aber, dass eine Frau das bei mir nicht braucht. Ich bin viel besser als so ein elektronisches Teil.«

Erneut schießt das Blut in meine Wangen, die sich gerade wieder etwas abgekühlt hatten und ich starre ihn an.

»Na, Emma braucht so‘n Ding jedenfalls nicht. Auch wenn sie das in dieser Runde nie zugeben würde. Sie steht nicht auf ausgefallenen Kram. Ihr reicht meine Männlichkeit vollkommen. Und dir …«, er tritt ganz nah an mich heran, »dir würde ich auch gerne beweisen, wie gut ich mich in dir anfühle«, raunt er nahe an meinem Ohr und die Hitze in meinem Gesicht dehnt sich über meinen Rücken, bis zu der Stelle zwischen meinen Oberschenkeln aus. Oha. Ein leichtes Pulsieren zeigt mir, wie sehr mein Körper auf diesen Vorschlag reagiert.

»So eine Ledercouch wäre doch ein perfekter Ort, um dir zu zeigen, was ich meine, oder?«

Kann er Gedanken lesen? Weiß er, wie sehr ich mir Sex auf so einer Designercouch wünsche? Steht das irgendwo auf meiner Stirn? Ich liebe Leder. Das kühle, glatte Material, das sich unter mir erwärmt, war schon immer erotisierend für mich. Ich schlucke.

»Aber ...«, stottere ich und er zwinkert mir zu.

Was soll ich davon halten? Mein Kopf schreit laut und vernehmlich »Nein« - doch mein Körper, der nach fast eineinhalb Jahren Abstinenz nach Befriedigung lechzt, sieht das anders.

»Wo bleibt ihr denn?«, höre ich Emma in diesem Moment rufen. Alex schnappt sich das Tablett und ist verschwunden.

»Anja kommt gleich. Sie muss noch mal für kleine Mädchen, hat sie gesagt«, gibt Alex lautstark zum Besten und wieder kichern alle.

Na, wenn er es sagt! Er hat ja recht. Ich glaube, ich muss mich wirklich etwas frisch machen.

»Zweite Tür links! Aber lass mein Spielzeug liegen, okay?«, ruft Emma, begleitet von Gelächter, und ich mache mich auf den Weg.

Die sind alle nicht mehr ganz nüchtern da drüben. Als ob ich … Seufzend schließe ich die Badezimmertür hinter mir und bemerke den feuchten Fleck in meinem Slip. Na super. Alex hat wirklich eine große Wirkung auf mich.

Der Abend zieht sich noch eine Weile hin und die Gruppe wird immer ausgelassener. Die Jelly Shots sind in Windeseile verspeist und auch die Flasche Wein, die danach geöffnet wird, ist bald geleert. Ich füge mich, so gut es geht, in die Gruppe ein und halte mich an die oberflächlichen Gespräche. Mit der Menge an Alkohol, der durch meine Adern fließt, bekomme ich ohnehin nichts mehr mit. Kurz nach Mitternacht beginnt mein Magen zu rebellieren und ich schwanke auf die Toilette. In den letzten Monaten habe ich so gut wie keinen Schluck getrunken und nun das. Ist es der Gruppenzwang oder die Gegenwart von Alex, die mich so nachlässig werden lässt?

Nachdem ich mich frisch gemacht habe, und zurück ins Wohnzimmer gekehrt bin, merke ich, dass sich die Gruppe langsam auflöst. Die Taxis sind inzwischen bestellt und ich bin froh darüber. Ich will in meiner eigenen Bude, in meinem eigenen, warmen, weichen Bett schlafen und nicht auf der Couch in der Nähe von Alex – schon gar nicht mit diesem Alkoholpegel!

Also verabschiede ich mich, als letzte der Gruppe – die anderen sind bereits abgeholt worden, da sie weiter entfernt wohnen – mit einer herzlichen Umarmung bei Emma und sie verspricht mir, sich bald bei mir zu melden.

»Schön, dass du da warst, Anja. Das müssen wir unbedingt wiederholen, okay?«

Ich nicke und drücke ihr ein Küsschen auf die Wange. »Ja, sehr gerne. Deine Freundinnen sind wirklich nett – wenn sie nicht gerade über Dildos sprechen«, grinse ich sie an und sie grinst mit.

»Ich bin jetzt einfach nur froh, wenn ich im Bett liege und schlafen kann«, murmelt Emma und dreht sich bereits herum in Richtung Schlafzimmer.

»Ich begleite dich noch nach draußen, Anja. Komm gleich wieder, Herzchen. Wärm schon mal das Bett vor«, sagt Alex und Emma winkt nur ab.

»Mach du mal, bis gleich«.

»Na, das macht man bekanntlich so, als guter Gastgeber«, säuselt Alex dicht an meinem Ohr und reicht mir meinen Mantel, in den ich sofort schlüpfe.

Aha, wie galant. So viel Aufmerksamkeit von einem Mann bin ich einfach nicht gewohnt. Und schon gar nicht von einem, der mit meiner Freundin verlobt ist. Doch Alex scheint das anders zu sehen, denn er legt mir seine Hand auf meine Hüfte und schiebt mich zur Tür hinaus. »Damit du nicht über die Stufen fällst«, ist seine fadenscheinige Erklärung, die ich kichernd hinnehme. Ich habe nichts dagegen.

»Hoffe, dir hat es bei uns gefallen und du kannst heute Nacht gut schlafen«, raunt er mir zu.

Er steht dicht neben mir – etwas zu dicht – und hat seine Hand von meiner Hüfte auf meinen Hintern wandern lassen. Gut, dass ich einen Mantel anhabe, oder?

»Ja, danke. Hat mir gut gefallen, ja. Schade, dass es schon vorbei ist. Aber wahrscheinlich besser so. Ich habe ganz schön einen sitzen«, kichere ich und lehne mich wie zufällig an seinen Oberarm.

»Kann man ja wiederholen«, sagt er direkt in mein Ohr und der Duft seines Aftershaves weht mir um die Nase.

Sehr männlich! Meine Nackenhaare stellen sich auf und nun schwankt mein Körper zwischen aufsteigender Hitze und eiskalten Schauern. Der Mann macht mich wahnsinnig.

»Wir sind Silvester auch zusammen. Die ganze Gruppe. Wenn du noch nichts vorhast … ich würde mich jedenfalls sehr freuen, wenn du mit uns feierst und auch wir beide in engem Kontakt bleiben.«

Oh ja. Ich würde so gerne mit ihm in noch viel engerem Kontakt stehen, aber das schlechte Gewissen, das sich in diesem Moment mit Pauken und Trompeten meldet, funkt mir dazwischen. Anstatt einen pfiffigen Kommentar von mir zu geben, kann ich nur nicken. Ein dicker Kloß hängt plötzlich in meinem Hals und macht das Sprechen unmöglich.

»Dein Taxi ist da«, holt er mich in die Realität zurück und greift nach meiner Hand. »Darf ich dich geleiten, damit du nicht hinfällst?«, grinst er und drückt mich dicht an sich, während wir gemeinsam zum Auto schwanken. Ich hoffe nur, dass Emma nicht in diesem Moment aus dem Fenster schaut und uns sieht – oder sonst jemand. Der Typ hat echt Nerven.

»Danke für deine Hilfe, aber ich schaffe das schon«, sage ich, in dem leisen Versuch mich zu wehren und den Anstand zu wahren. Vergeblich.

»Schlaf schön, kleine Anja«, sagt er und küsst mich sanft auf meinen Nacken. Blitze durchzucken meinen Körper und alles beginnt, wie elektrisiert zu kribbeln. Meine Atmung setzt für einen Moment aus. Er hat unbewusst die Stelle meines Körpers geküsst, die man bei mir getrost als Anschaltknopf bezeichnen könnte. Als ob er genau wüsste, was er getan hat, zieht er sich schelmisch grinsend von mir zurück, öffnet die Tür des Taxis und wünscht mir noch eine gute Nacht. Na, danke aber auch. Der flüchtige Kuss in meinen Nacken hat meine Fantasie so stark angekurbelt, dass ich keinen Zweifel habe, von was beziehungsweise von wem, ich heute Nacht träumen werde. Verdammt!

»Wo geht`s hin?«, fragt der Taxifahrer in diesem Moment und startet den Motor. Ich nenne ihm meine Adresse, lehne mich im weichen Sitz zurück und schließe die Augen. Na, das kann ja heiter werden.

3 – Gedankenkarussell

Nachdem ich in meinem Appartement angekommen bin und mich meiner Kleidung entledigt habe, steige ich unter die Dusche. Ich muss dringend einen klaren Kopf bekommen. Was zum Teufel war das denn? Was will der Typ von mir? Der ist doch mit Emma zusammen. Will sie sogar nächstes Jahr heiraten. Zumindest sieht das Emma so. Er vielleicht nicht? Ich bin doch keine Ehebrecherin! Na gut, sie haben das Bündnis noch nicht geschlossen, aber … tausend Gedanken drehen sich in meinem Kopf und ich kann nicht sagen, was ich wirklich will. Kurz gestatte ich mir auszumalen, wie es wäre, stünde er nun neben mir unter der Dusche. Ich schließe die Augen und fühle seinen warmen, festen Körper an meinem. Eine gute Vorstellungskraft hatte ich schon immer. Langsam tasten sich seine Hände über meinen Rücken zu den Hüften und wandern synchron auf meinen Bauch. Dann zieht er mich dicht an sich und ich kann seine steife Männlichkeit an meinen Pobacken fühlen. Ein tiefer Seufzer entkommt mir und ich lehne mich an die kühlen Fliesen meiner Dusche. Noch immer rinnt das Wasser über meinen Körper und ich versuche mich zu entspannen, mich meiner Fantasie ganz hinzugeben - und es klappt. Plötzlich steht er vor mir. Meine Gedanken sind frei und in diesen kann ich mir zusammenspinnen, was ich will, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Gut, dass man noch nicht entschlüsselt hat, wie man Gedanken sichtbar machen kann. Meine Vorstellung von diesem Traummann – was er ja auch ist, der Mann meiner Träume – ist so real, dass ich vor meinem inneren Auge das Lächeln auf seinen Lippen erkennen kann. Ganz langsam beugt er sich vor, küsst mich auf den Nacken und ich drehe meinen Kopf ein Stück zur Seite. Kalte und warme Schauder rinnen, zusammen mit dem Wasser, über meine Brust und meinen Bauch. Ich folge ihnen mit meinen eigenen Händen und befinde mich wenig später zwischen meinen Oberschenkeln. Ach herrje. Da ist auch mal wieder eine Rasur fällig. Was würde Alex nur denken, wenn er den Busch sieht? Nein! Er wird ihn nie sehen! Er darf ihn nie sehen! Alex ist der Mann von Emma. Schluss. Aus. Ende!

Na ja, enthaaren kann ich mich ja trotzdem. Welche Frau will schon aussehen wie ein räudiger Straßenköter? Ich schiebe den Duschvorhang etwas zur Seite, angle mir meinen Rasierer aus der Schublade des Kästchens neben der Badewanne und sämtliche Haare meines Körpers fallen ihm zum Opfer. Bis auf ein nettes, kleines, blondes Dreieck, das ich auf meinem Venushügel stehen lasse. Die Spitze endet direkt am Eingang meiner Lust und führt potenzielle Eindringlinge auf den richtigen Weg. Wie wohl Alex gebaut ist? Ob er mit mir harmoniert? Oder vielleicht sogar zu groß ist? Was ist, wenn er … Verdammt! Ich drehe das Wasser kühler, greife nach der Shampooflasche und beginne meine Haare einzuschäumen. Ich muss die Gedanken aus meinem Kopf kriegen! Ich muss … ja, ich muss mir selbst Befriedigung verschaffen. Das ist die einzige Lösung. Sonst werde ich die ganze Nacht nicht schlafen können. Ich kenn das schon. Die weiche Stelle zwischen meinen Beinen freut sich allerdings sehr über den erneuten Besuch meiner Hände und würde mir die Zunge herausstrecken, wenn sie könnte.

»Ich habs dir doch gesagt, das Nonnenleben ist nichts für dich«, hallt eine imaginäre Stimme in meinem Ohr und ich verscheuche sie genervt. Ist ja gut, ich mach ja schon. Da ich meinen Körper genau kenne und weiß, was ich machen muss, zuckt dieser bereits nach wenigen Minuten vor Verlangen. Ich brauche keinen Vibrator dazu! Zugegeben, es war kein bisschen romantisch oder erotisch oder so. Es war die reine, mechanische Befriedigung, die ich mir in diesem Moment verschafft habe – kein Vergleich mit einem echten, lebenden Stück Mann. Ich muss gestehen, ich sehne mich danach, wieder einmal richtigen Sex zu haben. Mein Körper ist regelrecht ausgehungert. Wäre es möglich, würde ich sagen, dass dort unten mittlerweile Spinnen ihre Netze gewebt haben. Es wird wirklich Zeit, dass ein neuer Mann in mein Leben tritt. Doch wo soll ich den herzaubern? Vielleicht passiert ja im neuen Jahr ein Wunder und Mister Right klingelt an meiner Tür. Als ich mir im Zuge dessen meinen Postboten vorstelle, muss ich grinsen und meine erotischen Gedanken laufen gemeinsam mit den Seifenresten, den Abfluss hinunter.

Ich trockne mich ab und steige aus der Duschwanne. Ein kurzer Blick auf die Uhr verrät mir, dass es bereits weit nach drei Uhr ist. Trotzdem fühle ich mich so fit, dass ich bestimmt nicht schlafen kann. Fernsehen? Ein Buch? Nein, darauf habe ich jetzt keine Lust. Ich könnte mich ohnehin konzentrieren. Also setzte ich mich, in meinen weichen, warmen Bademantel gehüllt, an meinen PC, zünde eine Kerze an und starre auf die leere Seite eines Dokuments. Ein Glas Wein, das ich mir vorhin bereitgestellt habe, steht zu meiner Linken und ich beginne, langsam mit den Fingern über die Tastatur zu gleiten. Ein Gedicht nimmt Gestalt an und ich lasse meine Gedanken fließen.

Sind Menschen, die sich lieben

nur reine Illusion?

Hormone, die leicht fliegen -

tja, wer weiß das schon.

Sie singen von Romantik pur -

in schöne Töne eingehüllt.

Sind das leere Worte nur?

Hat sich die Liebe je erfüllt?

Wer will und kann es mir nur sagen?

Meine stummen Tränen sehen?

In mir brennen tausend Fragen -

wer wird mich denn nur verstehen?

Wirst du mich bald erlösen?

Und in den Himmel mit mir fliehen?

Oder bist du von den Bösen

willst in deinen Bann mich ziehen?

Die Illusion, so schillernd bunt,

die sich mir nun zeigt.

Deine Worte sind der Grund,

dass alles in mir fragend schreit.

Natürlich träume ich in dieser Nacht von Alex. Wie hätte es auch anders sein können. Dieser Mann hat mir echt den Kopf verdreht. Der erste Kerl nach Florian, den ich nicht von der Bettkante stoßen würde. Sicher, ich hatte einige eindeutige Angebote. Aber ich habe mich nie darauf eingelassen. Ich wollte es ganz einfach nicht. Nach meinem Besuch bei dem Frisör, der meinen neuen Lebensabschnitt eingeleitet hatte, habe ich mich in die Suche nach einer Arbeit gestürzt – und diese auch schnell gefunden. Ich fühle mich wohl in dem kleinen, aber sehr netten Immobilienbüro, in dem ich zurzeit für die Terminierung verantwortlich bin. Doch ich habe vor, mich irgendwann selbstständig zu machen. Dafür sauge ich alles auf, was mir zwischen die Finger kommt. Mittlerweile darf ich sogar eigene Exposés erstellen und es ist angedacht, dass ich bald eigenverantwortlich Beratungen durchführen werde. Ich freue mich schon sehr darauf. Schließlich will ich irgendwann aus dieser Wohnung raus und mir ein eigenes, schnuckeliges Häuschen auf dem Land suchen. Mein Traum! Vielleicht sollte ich Alex doch mal fragen, wer bei ihm die Inneneinrichtung durchgeführt und was er dafür bezahlt hat. Das hätte ich nämlich auch hinbekommen. Meine Gedanken kreisen erneut um den Verlobten meiner Freundin. Aber wer ist dieser Alex eigentlich? Er hat mir erzählt, dass er als Geschäftsführer in der hiesigen Bank einen guten Job hat und sehr bekannt ist. Die Kreisstadt, in der wir wohnen, ist allerdings auch nicht so groß – da kennt man sich halt. Man … schon. Ich allerdings nicht. Das kommt erst noch. Laut Internet entspricht seine Aussage der Wahrheit. Natürlich habe ich nach ihm gesucht und das Bild, was ich von ihm fand, war atemberaubend. Kein Vergleich mit Florians Verbrecherfoto. Was habe ich eigentlich an diesem Typen jemals gefunden? Ich verstehe es nicht mehr. Wirklich nicht! Also … doch schon, aber das würde ich nie zugeben. Denn es gibt so viele andere, bezaubernde Männer ... bisher muss ich sie jedoch alle übersehen haben, wie mir scheint. Zu meiner Verteidigung muss ich gestehen, dass ich noch nicht allzu lange hier wohne, genauer gesagt, erst seit drei Monaten. Das kleine Immobilienbüro, für das ich nun arbeite, hat mir dieses schöne, bezahlbare Appartement in dem Mehrfamilienhaus verschafft. So kann man auch zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Meine Eltern leben ungefähr hundert Kilometer entfernt in einer Großstadt, in der ich aufgewachsen bin - und genau dorthin fahre ich heute.

Ich quäle mich aus dem Bett. War gestern ja doch später geworden, als ich mir vorgenommen hatte. Für eine Woche brauche ich nicht viel und beginne, meine zwei Taschen zu packen. Ein paar Kleider – Frau will sich ja schick machen - zwei Paar aus meiner großen Schuhsammlung und diverse Unterwäsche. Da ich nicht vorhabe, viel in der freien Natur unterwegs zu sein, ist es ausreichend, wenn ich meinen langen, warmen Lieblingsmantel überziehe. Nach dem Packen setze ich mich noch einmal an meinen Schreibtisch und will gerade meine E-Mails abrufen, als mein Smartphone klingelt. Emma! Was will sie denn? Ich überlege kurz, ob ich jetzt mit ihr sprechen möchte, entscheide mich dann aber dafür.

»Anja, Herzchen! Schön, dass ich dich erreiche. Na, wie hat dir die kleine Party gestern gefallen? Waren sie nicht alle super drauf? Ach, ich bin so glücklich! Was machst du gerade? Willst du nicht auf einen Kaffee vorbeikommen? Wir haben auch noch ein wenig Alkohol im Haus«, kichert sie und mir wird schlecht.

Nein! Bloß nicht! Ich habe weder Lust Emma zu sehen, noch ihren Verlobten. Die ganze Sache ist mir eindeutig zu heiß. Wie kann dieser Typ sich nur so an mich ranmachen? Geht gar nicht. Schließlich will er in ein paar Monaten den Bund der Ehe eingehen! Und ich? Was soll ich dabei? Seine Mätresse spielen? Bestimmt nicht.

»Ja, war wunderbar, die Party. Und deine Freunde sind auch alle ganz zauberhaft«, bestätige ich Emmas Glück. »Doch leider kann ich heute nicht kommen, da ich über Weihnachten zu meinen Eltern fahre. Sorry, Herzchen.«

Ich kann genau sehen, wie Emmas Kinnlade zu Boden sinkt, weil sie enttäuscht ist. Warum sie so großes Interesse an mir zeigt, kann ich nicht nachvollziehen. Sie hat doch genug andere Freundinnen, die sie mit ihrem Glück überhäufen kann.

»Oh, wie schade. Aber zu unserer Silvesterfeier bist du wieder da, oder?«

Ich stöhne auf. Also war das gestern gar kein Schnellschuss von Alex? Sie will mich ebenfalls dabei haben? Bisher habe ich zwar nichts geplant, aber ich weiß nicht, ob ich mir das ›Liebesgeturtel‹ der Pärchen wirklich antun will.

»Chrissy und Charly kommen auch. Und Mike natürlich. Und Alex und ich. Und vielleicht Mia mit ihrem Tom. Weißt du, die beiden wollen nächstes Jahr auch heiraten und … ach, das ist alles so spannend.«

Oha, noch ein Verlobter? Wenn der auch so ist wie Alex ...? Ja, superspannend. Ich seufze innerlich auf.

»Ganz kleine Runde jedenfalls«, fährt Emma fort. »Wir essen ein bisschen was, trinken was, und wenn du magst, kannst du dann auch bei uns übernachten. Bitte sag ja!« Ihre Stimme klingt so flehentlich, dass ich aus einem spontanen Impuls heraus zusage. Ich habe schließlich keine plausible Ausrede parat und anlügen will ich sie nicht. Vielleicht … also irgendwie würde ich ja schon gern … mit Alex …? Verdammt!

»Ja, ich komme gerne. Wir hören uns, wenn ich wieder da bin, okay? Ich muss nämlich jetzt wirklich los. Mein Zug fährt bald. Schöne Weihnachtstage euch, bis bald«, verabschiede ich mich von hektisch von Emma und lasse mein Smartphone sinken. Na, das kann ja wirklich spannend werden. Doch bevor es so weit ist, kann ich mich auf meinen Urlaub bei meinen Eltern freuen. Bis nach Silvester ist auch das Büro geschlossen, sodass ich nicht zur Arbeit muss. Ich werde versuchen, mir die Tage so gemütlich wie möglich zu gestalten.

»Anja! Schön, dass du da bist«, empfängt mich meine Mutter an der Tür und zieht mich in eine herzliche Umarmung. Wie sehr ich das vermisst habe! Es ist immer wieder schön, bei meinen Eltern zu Besuch zu sein. Hier bin ich noch einmal das Kind, was ich in meinem neuen, männerlosen Leben nicht sein kann. Hier kann ich mich fallen lassen, werde verwöhnt und bekocht und kann lange Gespräche mit meiner Schwester führen. Rosa!

»Hi, Mum. Ist Rosa auch schon da?«

Langsam entwinde ich mich dem Griff meiner Mutter und schaue mich um. Ein Kinderbuggy steht im Flur und aus dem Wohnzimmer dringen weihnachtliche Klänge zu mir herüber. Gemischt mit einem Kinder- und einem Männerlachen. Robin, Rosas Mann, ist also auch da. Und natürlich der kleine Noah. Oh, wie sehr ich mich auf die Drei freue! Ich selber bin zwar kein Kindernarr, aber ich liebe den Rotzlöffel meiner Schwester sehr. Ihn kann ich ja auch wieder abgeben, wenn er mir zu viel wird.

»Ja, sie sind alle im Wohnzimmer. Dein Vater stellt gerade den Baum auf. Den müssen wir morgen nur noch schmücken und … ach, ich freu mich so, dass du da bist, Kind. Gut siehst du aus. Nicht mehr so dürr und krank, wie bei deinem Auszug. Das Leben auf dem Land scheint dir gut zu bekommen«.

Noch bevor ich etwas antworten kann, springt ein kleiner, weißer Hund auf mich zu und bellt wie verrückt.

»Seit wann habt ihr denn einen Hund?« Erstaunt drehe ich mich zu meiner Mutter um und diese lacht.

»Das wollte ich dir schon die ganze Zeit sagen, aber irgendwie … Also dein Vater hat gemeint, dass wir einen bei uns aufnehmen sollten. Er ist von einem ehemaligen Arbeitskollegen von ihm, der ihn nicht mehr ordentlich betreuen kann. Der Kleine hat aber auch Pfeffer im Hintern! Na, jedenfalls ist er nun bei uns. Wie lange er bleibt, oder ob wir ihn wieder abgeben, das weiß ich nicht.«

Ich schaue sie verwundert an. »Seid ihr nur eine Pflegestelle?«

»Ja«, nickt meine Mutter und zwinkert mir dann zu. »Ich glaube aber nicht, dass dein Vater Keks noch einmal hergibt. Der ist richtig vernarrt in den Kleinen. Und außerdem tut uns dieser Wirbelwind gut. Er bringt wieder Schwung in die Hütte, jetzt, wo ihr beide nicht mehr hier wohnt.« Eine leichte Traurigkeit schwingt in ihren Worten mit. »Doch nun komm. Die anderen warten schon auf uns. Keks? Hier«, ruft sie den Malteserrüden und ich folge dem ungleichen Paar. Herrliche, unbeschwerte, fröhliche Weihnachtszeit!

»Paps, gib mir mal die Kerze«, rufe ich meinem Vater zu und er reicht sie mir an.

Ich stehe auf einer kleinen Leiter und befestige die elektrischen Lichter an einer wundervollen, großen Nordmanntanne. Schon seitdem ich denken kann, haben wir an Weihnachten eine solche Tanne geschmückt. Und jedes Mal waren es Paps und ich gewesen. Meine Mutter befindet sich in der Küche und richtet das Essen für den Abend. Rosa, Robin und Noah sind spazieren. Der Kleine soll den Baum schließlich nicht sehen. Für ihn schmückt das Christkind den Baum und bringt die Geschenke.

»Braucht ihr noch Kugeln?«, ruft meine Mutter und ich bejahe.

Es sind immer dieselben. Lila- und goldfarbene Kugeln, verziert mit aufwändigen, weißen Schnörkeln, bilden zusammen mit den Kerzen und ein paar hölzernen Baumhängern, das Bild. Und ich bin jedes Jahr ergriffen, wenn das Christkind die Glocke läutet und zum Eintritt ins Wohnzimmer auffordert. Dieses Ritual aus meiner Kindheit ist mir sehr wichtig und ich freue mich immer drauf. Immer! Auch, wenn ich letztes Jahr mit Tränen in den Augen hier saß. Meine Gedanken schweifen zurück, während ich den Baum verschönere. Letztes Jahr war das erste Weihnachten ohne Florian. Wie schmerzvoll ich diesen Mann, der mich einfach im Stich gelassen hatte, vermisste, war mir erst unter dem Baum klar geworden. Sämtliche Emotionen waren über mir zusammengebrochen und ich weinte hemmungslos. Das war das letzte Mal, dass ich so sehr um ihn getrauert hatte. Kurz danach war ich beim Frisör gewesen. So viele Veränderungen waren im vergangenen Jahr geschehen. Ich hatte einen neuen Job, eine neue Wohnung, neue Freunde und … auf einmal taucht Alex vor meinem inneren Auge auf. Ich sehe eine männliche, starke, weiche Hand, die mir eine goldene Kugel überreicht. Dann zieht er mich an sich, hebt mich von der kleinen Leiter und wir küssen uns innig. Ein wohliges Ziehen fährt durch meinen Körper und ich presse mich an ihn. Sein Duft dringt in meine Nase, lässt mein Herz beben und meine Knie erzittern. »Oh Alex«, hauche ich wie in Trance.

»Wer ist Alex?«, holt mich die Stimme meiner Schwester radikal in die Wirklichkeit zurück und ich starre sie aus großen Augen an.

»Ich … ähm …«, stottere ich und das Grinsen in ihrem Gesicht lässt mich aufstöhnen.

»Komm runter von der Leiter, Schwesterchen, und erzähl mir von Alex. Der Typ scheint dir ja wirklich den Kopf verdreht zu haben. Eine neue Liebe? Warum weiß ich davon nichts?«

»Nein. Keine neue Liebe. Es ist anders als ...«

»Lass uns eine Tasse Kaffee trinken und dann erzählst du mir alles, einverstanden? Der Baum ist fertig, Paps hat sich ein wenig hingelegt. Ebenso wie Robin und Noah und wir zwei haben den Wintergarten für uns. Bis zum Kirchgang ist noch genug Zeit.«

Ich nicke ergeben. Wenn sich Rosa, meine ältere, weise Schwester, was in den Kopf gesetzt hat, dann ist es sehr schwer, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Darin gleicht sie mir.

Schneeflocken tanzen ihren Reigen,

durch die Luft sehe ich sie fliegen -

und nach ein`ger Zeit

bleiben sie auf der Erde liegen.

Durch die Straßen und die Gassen

zieht ein ganz besonderer Duft -

warmer Holzgeruch aus dem Kamin

liegt in der kalten Winterluft.

Auch auf meiner kalten Haut

kann ich nun den Schnee erspüren -

tausend Spuren kann ich sehen,

die durch diese Landschaft führen.

So friedlich scheint mir nun die Welt,

in eine weiße Decke eingehüllt -

in dieser einen Heiligen Nacht,

wenn sich so mancher Wunsch erfüllt.

»Du schreibst wieder?« Rosa klingt erstaunt.

Nachdem wir uns einen Kaffee geholt haben – natürlich mit einer Prise Zimt darin – sitzen Rosa und ich im warmen Wintergarten und schauen den Schneeflocken bei ihrem Tanz zu.

»Na ja. Manchmal«, gebe ich zu und werde rot.

Eigentlich hatte ich mir die Schreiberei abgewöhnt. Zu viel Gefühlsduselei. Doch ab und zu schießen mir eben die Worte in den Kopf, ins Herz und in die Finger und ich kann nichts dagegen machen. Dabei will ich nicht mehr sentimental sein. Oder doch? Kann man eine Seite seines Wesens einfach so ablegen? Ich seufze auf und Rosa lacht.

»Ich finde es schön, dass du schreibst. Und außerdem, meine Kleine, hat das nichts mit Schwäche zu tun. Es ist eine Seite an dir, die nun mal da ist. Sei stolz darauf. Du musst es ja keinem sagen – außer mir natürlich«, fügt sie hinzu und strahlt mich an.

Ein dankbares Lächeln huscht über meine Lippen und ich nippe an meinem heißen Kaffee. Warm und angenehm läuft er meine Kehle hinunter und ich lasse mich in dem Korbsessel zurücksinken. Es ist schön, zuhause zu sein. An einem Ort, an dem man sich nicht verstellen muss und sein kann, wie man ist. Mit allen Fehlern, Marotten und mit einem Lachen im Gesicht.

»So, dann erzähl mir mal von Alex«, fängt Rosa an und ich merke, wie mir erneut die Röte ins Gesicht schießt.

»Was soll ich sagen? Da ist nichts. Alex ist der Verlobte meiner Freundin Emma und Schluss.«

»Aha«.

»Was heißt hier ‚Aha‘?«, frage ich Rosa mit einem sarkastischen Unterton.

»Och … nichts …«, grinst sie und fährt fort, »ich meine ja nur, dass du dich in den Typen verknallt hast.«

»Nein«. Ich fahre hoch und etwas Kaffee schwappt aus meiner Tasse. »Ganz bestimmt nicht. Ich habe dir schon vor einem Jahr gesagt, dass ich mich nie wieder verlieben werde. Hast du das vergessen?«

»Nö, habe ich nicht. Aber ich glaube dir nicht. Das kannst du gar nicht. DU hast so ein weiches Herz ...«, beginnt sie, doch ich unterbreche sie energisch.

»Eben! Und genau das soll nicht mehr gebrochen werden. Meinst du, ich mach das ganze Theater noch mal mit? Niemals! Ein Flo reicht mir. Vielleicht hole ich mir einfach Sex und lass die Liebe aus dem Spiel. Die ist ohnehin nur verletzend. Die braucht keiner!« Ich rede mich in Rage. Mein Herz hämmert und Schweiß bildet sich auf meiner Stirn.

»Also gut. Wenn du im Moment keine Liebe brauchst … dann ist das eben so«, gibt Rosa zögernd nach.

Sie weiß ganz genau, dass sie mich nicht mit klugen Ratschlägen oder weisen Worten erreicht. Das hat sie früher öfter versucht und ich habe immer das Gegenteil getan.

»Wann hattest du das letzte Mal Sex?«

Ich erröte – schon wieder. Das Thema ist mir unangenehm. Sex hat man, aber darüber redet man nicht. Und ich für meinen Teil habe noch nicht welchen.

»Verstehe. Also war Flo der Letzte?« Ich nicke. »Dann wird es Zeit, dass du mal wieder so richtig … also, ich meine, dass du dich mal wieder so richtig fallen lassen kannst und deinen Körper bewusst wahrnimmst. Such dir doch einen heißen Typen und ...«

»Ich will aber nicht!«, gifte ich sie an und sitze bereits auf der Kante des Sessels. »Ich habe keine Lust einen Typen mit nach Hause zu nehmen und dann … Das ist meine Wohnung. Da kommt kein Typ mehr rein. Damit das klar ist! Und nun hör auf mit den Quatsch. Ich will nicht mehr darüber reden, sonst ist der ganze Tag im Eimer.«