Mia und der blaue Schal - Christina Stöger - E-Book

Mia und der blaue Schal E-Book

Christina Stöger

0,0

Beschreibung

Nach einem misslungenen Selbstmordversuch wird Mia Falter in die psychosomatische Klinik am Meer eingewiesen und lernt dort die Psychologin Katharina Pescado kennen. Die Sitzungen sind erfolgreich und nach einiger Zeit beginnt Mia ihr neues Leben. Doch es ist nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hat. In ihrer Umgebung passieren einige Morde, in die sie verwickelt zu sein scheint – allerdings kann sie sich nicht erinnern, diese gesehen zu haben, geschweige denn, dass sie als Zeugin eine Aussage dazu machen könnte ... Dabei wollte Mia jede Verbindung zu ihrem alten Leben hinter sich lassen. Und nun das! Wieder ein Mord in ihrer Umgebung. Zieht sie den Tod magisch an, weil sie ihm vor Monaten entkommen ist? Fragen über Fragen, die dieser Roman seinem Leser stellt, der mit in die Abgründe der menschlichen Seele gerissen wird ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 340

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wenn ich ein Buch schreibe …

… dann liegt ein weißes Blatt Papier vor mir und ich male mir meine eigene, bunte Welt. Jedes Wort hat eine bestimmte Bedeutung für mich. Jeder Satz ist wohl durchdacht und ausformuliert. Manchmal dauert es Tage, bis ein Kapitel beendet ist, manchmal aber auch viel länger. Ich lebe, lache und weine mit meinen Protagonisten, die in dieser Zeit zu einem Teil meines Lebens werden. Nachts träume ich von ihnen und ihrem Schicksal und am Tag rede ich über sie. Nur meine Seele weiß, wie sie ihr Glück finden, in welcher Stadt sie leben und wie sie ihre Umgebung wahrnehmen. Ich bin Architekt, Maler und Landschaftsgärtner zugleich. Ich gestalte ihren Lebensraum, bestimme ihr Handeln und ihre Gedanken. Durch mich erwachen sie zum Leben. Doch manches Mal übernehmen auch sie die Handlung und ich lasse mich führen. Sie werden zu einem Teil von mir und ich werde ein Teil meiner eigenen Geschichte.

Sobald ich das Fenster an meinem PC schließe, das Buch beende und die Tasten ruhen lasse, hat sich ein Teil meines Ichs in meinem Roman, meinen Geschichten oder Gedichten verewigt - und wenn ich eines Tages nicht mehr bin, dann bleibt dieser Teil von mir unvergessen. Auch, wenn er nur im Keller schlummert oder auf einem Dachboden liegt … Ein Stückchen meiner Seele, meines Wesens bleibt.

Schnitte im Arm, tiefe Wunden geschlagen,

das Leid der Seele, ist kaum zu ertragen.

Der Körper missbraucht, die Seele verletzt,

ein dunkler Schatten durch Träume hetzt.

Seele und Körper voneinander getrennt,

ein tiefer Schmerz, der in mir brennt.

Die Kraft verloren für dieses Leben,

das Verlangen ist groß mich aufzugeben.

Das Blut tropft zäh ins Tränenmeer,

mich zu verstehen fällt oft so schwer.

Der Wunsch ist groß mich zu verlassen,

der Wille stark mich selbst zu hassen.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Prolog

»Du verdammtes Miststück! Du bist so dumm, faul und hässlich! Wie konnte ich dich nur heiraten? Wie blöd muss ich gewesen sein?« Die Worte, die mir mein Mann vor ein paar Stunden an den Kopf geknallt hat, hallen noch immer in meinen Ohren wider. Ich kann nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr - und ich will auch nicht mehr! Wozu soll ich noch weiter leben? Wozu das alles über mich ergehen lassen? Diese ständigen Beschimpfungen, die täglichen Vorwürfe … Ich schaffe das einfach nicht mehr. Klar, ich könnte meine Koffer packen und gehen. Aber wohin? Ich hab doch nichts. Keine Arbeit, kein eigenes Geld … kein eigenes Leben. Das bringt doch alles nichts mehr. Ich sehe keinen Ausweg. Nur den Tod. Der Tod scheint mir die einzige Lösung zu sein. Dann falle ich niemandem mehr zur Last. Dann bin ich endlich unsichtbar. Raus aus dieser Welt, die mich nicht haben will.

Ich liege in der Badewanne und heißes Wasser läuft über meinen Körper. Ich brenne. Meine Haut ist ganz rot und die Schmerzen machen mich fast wahnsinnig. Aber sie zeigen mir, dass ich lebe ... noch. Ich habe mir meine Sünden vom Körper geschrubbt. Die Sünden, die ER mir immer und immer wieder vorwirft. Am Anfang habe ich seine Worte immer mit einer einzigen Handbewegung fortgewischt. Na, er wird halt einen schlechten Tag haben, er liebt mich doch, habe ich gedacht. Aber mit der Zeit ist es immer schlimmer geworden. Die Vorwürfe wurden von Tag zu Tag fieser. Ich versuchte mein Bestes zu geben, doch egal, was ich tat, es schien ihm nicht zu genügen.

Im Gegenteil ... jedes Mal, wenn es zu schlimm wurde, habe ich mich im Bad eingesperrt und mich stundenlang mit heißem Wasser gewaschen. In dieser Zeit hatte ich meistens meine Ruhe. Diese Zeit gehörte nur mir allein. »Buße« nannte er das und ließ mich oft gewähren.

»Vielleicht wäscht du dir deine Dummheit aus dem Kopf und wirst wieder klar«, hat er eines Tages gesagt, als ich, rot wie ein gekochter Hummer mit nur einem Badetuch bekleidet, aus der Wanne gestiegen war.

Er hat mich oft körperlich gedemütigt – aber das war nie das Schlimmste. Die seelischen Schmerzen, die jeden Tag grausamer werden, treiben mich zu meinem Entschluss. Ich kann nicht mehr – und ich will auch nicht mehr ... Wunden auf der Haut, Wunden auf der Seele …

Vor einer gefühlten Ewigkeit hat er die Wohnung verlassen und ich liege nun weinend in diesem Wasser, das mich von allen Seiten umschließt. Aus der Küche habe ich mir ein Messer mitgenommen. Ich muss den Druck loswerden. Die Schmerzen in meiner Seele zeigen sich bereits auf meiner Haut. Ich schneide mich. Tief und fest.

Als ich damals das erste Mal mit meinen Fingernägeln meine Beine aufgekratzt habe, war es wie eine Erlösung für mich. Es war nicht viel Blut geflossen, doch das bisschen hatte gereicht, um wieder Herr meiner Sinne zu werden. Ich lebte, ich atmete und ich fühlte. Fühlte den Schmerz, sah das Blut und wusste, dass ich weiter machen musste. Wofür wusste ich nicht, aber der Lebenswille war stark und floss durch meine Adern. So wurde es bei mir zur Regel, jedes Mal einen spitzen Gegenstand mit unter die Dusche oder in die Badewanne zu nehmen. Mal war es ein Messer, mal Rasierklingen oder auch eine Nadel.

Die Seife, die meine Haut an vielen Stellen meines Körpers wund gescheuert hat, ist ganz klein geworden und löst sich im Badewasser auf. Ich starre auf die Seife und sehe, wie sie langsam untergeht. Es ist so heiß - so schrecklich heiß. Immer wieder lasse ich neues Wasser über meine Beine fließen. Die Wanne ist bis zum Rand gefüllt und droht überzulaufen. Doch das stört mich nicht. Ich werde das Wasser nicht aufwischen müssen - dieses eine Mal nicht. Denn ich werde nicht mehr da sein, um seinen Befehlen zu gehorchen. Bis zum Hals liege ich in der seifigen Brühe und tauche immer wieder unter. Das Messer, mit dem ich mir in meine Handgelenke geschnitten habe, ist auf den Boden gefallen und ich sehe, wie sich der rote Lebenssaft mit meinen Tränen und dem Badewasser vermischt. Alles ist rot - wie Feuer - blutrot - glutrot. Brennend heiß … eiskalt … das Ende naht. Endlich. Das Leben rinnt aus meinem Körper … Alles wird schwarz um mich herum. Ich werde erfrieren, im heißen Wasser, im Feuer. Werde verbluten … endlich Schluss ... Ende ... aus ...

»Du blöde Ziege, siehst du denn nicht, dass das Wasser … Mia? Oh Gott Mia! Was machst du nur? Dich kann man wirklich keine Sekunde … du dämliches Schaf!«

Tom rennt fluchend aus dem kleinen Badezimmer, in dem er seine Frau mit aufgeschnittenen Pulsadern entdeckt hat und wählt mit zitternden Fingern den Notruf.

»Schnell ... meine Frau … sie hat sich die Adern aufgeschnitten. Sie stirbt. Kommen Sie schnell«, brüllt er ins Telefon.

»Nennen Sie mir bitte Ihren Namen und die Anschrift. Dann wird sich sofort ein Not … », fordert ihn eine männliche Stimme auf, doch Tom brüllt weiter ins Telefon.

»Meine Frau, … das wollte ich doch nicht … Wie …? Warum hat sie nur …? Das hat sie doch noch nie gemacht …«

»Nennen Sie mir bitte Ihren Namen! Sonst können wir keinen Notarzt zu Ihnen schicken.« Der Mann versucht es erneut mit mehr Nachdruck, doch Tom hört nicht auf, wie von Sinnen in den Hörer zu brabbeln.

»Verdammt! Hören Sie mir zu! Ich werde jetzt Ihren Anruf zurückverfolgen lassen. Bleiben Sie, wo Sie sind und öffnen Sie die Tür, wenn es klingelt. Haben Sie mich verstanden, Herr …?«

»Falter, mein Name ist Falter«, sagt Tom automatisch, lässt den Hörer fallen und eilt zurück ins Badezimmer. Wie ferngesteuert schließt er den Wasserhahn und bindet Mia einige Handtücher, sowie einen blauen Schal – ihr Lieblingsaccessoire - der direkt neben der Badewanne auf dem Boden liegt, um die Handgelenke.

»Wenn du mir hier stirbst, dann ...«, jammert Tom und bemitleidet sich in diesem Moment selber. Warum ist er nur früher als sonst nach Hause gekommen? Dabei wollte er sich doch nur duschen, umziehen und dann zu einem Treffen mit seiner Sekretärin aufbrechen. So schön hat er sich diese Nacht ausgemalt - zuerst hätte er die junge, extrovertierte Frau in ein romantisches Restaurant ausgeführt und dann hätten sie in einem kleinen, aber feinen Hotel ein paar heiße Stunden miteinander verbracht ...

Plötzlich spürt Tom etwas Nasses an seinen Beinen und kehrt in die Gegenwart zurück. Nun sitzt er hier, statt in diesem schönen Restaurant und muss auf den Notarzt warten. Warum muss sie ihm das nur antun? Warum macht sie so einen Scheiß? Wenn sie das überlebt, dann wird er sich von dieser psychisch kranken Frau trennen, das weiß er. Mit so etwas will er nichts zu tun haben - Selbstmord. Die gehört in die geschlossene Anstalt. Genau das wird er den Ärzten auch sagen. Dann ist sie weggesperrt - für immer und er hat seine Ruhe. Dann kann er endlich die Scheidung einreichen und der Richter wird ihn verstehen. Mit so einer Psychotussi will keiner was zu schaffen haben, er am allerwenigsten. Dabei hat er ihr alles geboten, was sich eine Frau nur wünschen kann. Sie musste nicht arbeiten gehen und durfte den ganzen Tag zu Hause vor dem Fernseher sitzen. Ein wahres Paradies auf Erden hat er ihr geboten. Das bisschen Haushalt hätte sie doch nebenbei erledigen können, dann hätte er auch nicht jeden Tag schimpfen müssen. Warum war sie nur so geworden? Er versteht sie einfach nicht - dieses undankbare Miststück. Warum muss sie ihm auch jetzt wieder so eine Arbeit machen? Reicht es nicht, dass er Tag für Tag in die Firma geht, um ihren Lebensunterhalt zu sichern? Er schuftet stundenlang, nur, damit sie mit ihrem faulen Arsch die Wohnzimmercouch durchliegen kann. Wut steigt in ihm auf und er starrt Mia hasserfüllt in die leeren Augen. Jedes Gefühl von Mitleid ist aus seinem Gesicht gewichen und er lockert den Druck um ihre Handgelenke. Soll sie doch verbluten, wenn sie es will. Wenn sie es so unbedingt will! Warum soll er sie aufhalten? Witwer … klingt auch nicht schlecht. Da hätte er noch einen Bonus bei den Frauen. Sie würden ihn bemitleiden und er hätte noch leichteres Spiel. Nicht, dass er das nötig gehabt hätte. Die Damen, die er bevorzugte, lasen ihm ohnehin jeden Wunsch von den Augen ab. Seine hübsche Sekretärin zum Beispiel riss sich beinahe ein Bein aus, um ihm zu gefallen - und die Kleine aus der Buchhandlung ebenso … Er hatte die freie Auswahl.

Seine schmutzigen Gedanken werden jäh durch einen leisen Seufzer unterbrochen. Tom zuckt zusammen. Noch ist es nicht so weit, noch ist sie nicht tot … noch nicht. Wann kommt endlich dieser verdammte Arzt? Wenn es nicht bald klingelt, ist es ohnehin zu spät. Er hat keine Lust, die Beerdigung zu bezahlen. Verbrennen, genau. Er lässt sie verbrennen und vergraben. Ganz billig. Er will ihr nicht auch noch im Tod das Geld, das er so mühsam verdient, hinterher werfen. Eine Scheidung ist zwar auch nicht billiger, aber vielleicht - er kennt einen guten Anwalt - wird es nicht so teuer werden. Der Richter wird ihn schon verstehen …

Tom hat keine Lust mehr, auf die geschlossenen Augen und das fahle Gesicht seiner Frau zu starren und die Handtücher mehr schlecht als recht auf die Wunde zu pressen. Überall verteilt sich das Blut. Auf seinen Händen, seiner Hose und auch auf seinem Hemd. Es macht ihn wütend und ekelt ihn an. Nie wieder wird er die Flecken aus seiner Kleidung entfernen können. Den teuren Anzug kann er in den Müll werfen. Der Geruch nach Kupfer steigt ihm in die Nase. Alles riecht nach dieser Frau und ihrem Blut. Widerlich, wie sich der rote Saft einen Weg sucht und an seinen Handgelenken entlang auf den Boden tropft. Wie viel Lebenssaft hat ein Mensch? Wie lange wird das Ganze wohl noch dauern? Gänsehaut läuft seinen Rücken hinunter und er schüttelt sich angewidert. Dann muss er sich übergeben. Sein bitterer Mageninhalt vermischt sich mit dem Blut und dem Badewasser auf dem Teppichboden und der Geruch nach halb verdauten Spaghetti steigt ihm in die Nase.

In diesem Moment klingelt es stürmisch an der Haustür. Na endlich! Mühsam stemmt Tom sich hoch, schlurft zur Haustür und betätigt den Summer. Dann wischt er sich mit dem Handrücken den Speichel aus den Mundwinkeln und zeigt dem heraneilenden Notarzt den Weg ins Bad. Diese Schmach - er hasst Mia.

»Ist bei Ihnen alles in Ordnung?« Der Arzt schaut Tom besorgt an.

»Ja, ja. Sie liegt im Bad. Bei mir ist alles o.k.«, nuschelt er und dreht sich schnell weg. Es ist ihm so unsagbar peinlich!

»Gerade noch rechtzeitig«, sagt der Arzt zu Tom, als die Sanitäter Mia auf einer Liege aus dem Badezimmer in den Flur tragen. Ihre Hände sind mit weißen Mullbinden umwickelt und liegen zusammengefaltet auf ihrem Bauch. Ihr Körper ist festgeschnallt, so dass sie nicht von der Trage rutschen kann und ein Schlauch führt aus ihrem Handrücken zu einer Flasche mit durchsichtiger Flüssigkeit. Tom starrt auf die Tropfen, die sich in stetem Rhythmus aus dem Flaschenhals lösen und in die Öffnung des Schlauches fallen. Mit jedem Tropfen Flüssigkeit kehrt das Leben in seine sterbende Frau zurück. Tom ist wütend. Hätte er doch bloß länger gewartet. Dann ...

»Wenige Minuten später und wir hätten Ihre Frau nicht mehr retten können. Da haben Sie noch mal Glück gehabt.«

»Glück? Na, wenn Sie meinen ...«, sagt Tom mit sarkastischem Unterton, den der Arzt nicht zu deuten weiß.

»Packen Sie bitte ein paar Kleidungsstücke und Waschsachen für ihre Frau zusammen und bringen Sie diese ins Krankenhaus. Sie wird wahrscheinlich einige Zeit dort bleiben müssen.«

»Die können Sie behalten«, murmelt Tom, dreht sich auf dem Absatz herum und lässt den verdutzen Arzt im Flur zurück.

Als er sich auf dem Weg ins Schlafzimmer befindet, um den Koffer für Mia zu packen, bemerkt er, dass das Radio in der Küche noch immer dudelt ... Den ganzen Tag läuft die verdammte Kiste - eine Tatsache, die Tom noch nie leiden konnte. Ruhe. Er braucht Ruhe, verdammt. Als Erstes wird er das Radio in den Müll werfen. Er braucht das nicht, er braucht Stille - keine nörgelnde Alte, kein Heulen, kein Jammern. Nur beruhigendes, entspannendes Nichts - endlich!

- 1 -

Einige Monate später

»Guten Morgen Frau Falter, Mia. Wie geht es Ihnen heute?« Mia nickt ihrer Psychologin lächelnd zu und reicht ihr die Hand.

Bereits vor einigen Wochen hat Mia Frau Pescado gebeten, sie überwiegend mit ihrem Vornamen anzusprechen.

»Bitte, nennen Sie mich Mia, sonst komme ich mir so alt vor. Dabei bin ich doch gerade erst dreißig geworden«, hat sie gesagt und dabei schüchtern gekichert, bevor sie leise hinzugefügt hat »außerdem bin ich froh, wenn ich den Familiennamen meines Noch-Ehemanns nicht ständig hören muss.« Das Lächeln, das ihr bei dieser Erklärung auf den Lippen gelegen hat, hat es damals noch nicht bis in ihre Augen geschafft - zu tief waren die Wunden ihrer Seele.

Doch heute, einige Monate später, zeigen die Therapiesitzungen bereits Wirkung. Denn in dem Moment, als Mia die Hand ihrer Psychologin ergreift, rutscht der Ärmel ihres Pullis ein Stück nach oben und ein Teil ihrer Wunden, die mittlerweile dicke, rote Striche geworden sind, werden sichtbar. Früher hätte sie den Stoff verschämt zurecht gerückt – doch heute sind die Narben für Mia fast selbstverständlich geworden. Sie gehören einfach zu ihr - als Zeugen ihrer Vergangenheit. Das Lächeln, das Mia ihrer Psychologin heute schenkt, ist ehrlich, denn es spiegelt sich endlich in ihren Augen wieder.

»Danke. Es geht mir gut. Wirklich gut. Ich glaube, ich bin bereit. Ich will mein Leben endlich wieder selber in die Hand nehmen und den Neustart wagen.« Frau Pescado lächelt Mia zufrieden an und öffnet mit den Worten »Darüber werden wir uns gleich näher unterhalten« die schwere, weiße Tür zu ihrem Behandlungszimmer, das hell und freundlich eingerichtet ist. Bis auf zwei braune, wuchtige Ledersessel in einer Ecke erstrahlt der Raum in reinem, unschuldigem Weiß. Der große, scheinbar immer aufgeräumte Schreibtisch, dominiert die sparsame Einrichtung und die indirekte Beleuchtung zaubert ein warmes, gemütliches Flair.

Stundenlang hat sie in den vergangenen Wochen Zeit gehabt, jedes Detail genau zu betrachten. Nur hier und da liegt eine große, wunderschöne Muschel zwischen den dicken Fachbüchern im Regal und eine filigrane Möwe aus Bernstein steht auf dem Glastisch zwischen den beiden Sesseln. So oft hat Mia die Skulptur bisher in die Hand genommen, wenn sie aus ihrem Leben berichtet hat. Das leichte, fast warme Material gab ihr immer wieder Halt und schenkte ihr unbewusst lichtvolle Energie – so wie auch in diesem Moment.

»Das uralte Baumharz, das aus den Tiefen der Ostsee gewonnen wird, wird auch Lichtstein oder Stein des Lichtes genannt, obwohl es eigentlich gar kein Stein im herkömmlichen Sinne ist. Es soll unter anderem bei depressiven Stimmungen helfen und dem Träger die Energie des Lichtes näher bringen - also wie geschaffen für eine Psychologin wie mich«, erklärte Frau Pescado Mia eines Tages geheimnisvoll. »Daher liebe ich Bernstein auch so sehr und trage ihn selbst als Kette um den Hals. Vor vielen Jahren habe ich dieses Fossil am Strand gefunden, es polieren und in Silber fassen lassen. Schau nur, wie wundervoll es leuchtet, wenn man es in die Sonne hält«, hat Frau Pescado weiter erzählt und Mia den Anhänger ihrer Kette gezeigt. »Er ist einfach etwas Besonderes und sein Gelb wirkt magisch auf mich. Er begleitet mich schon so viele Jahre, und immer noch bin ich ganz verliebt in ihn.« Zärtlich streicht die Frau über den Stein und hält einen Moment inne, bevor sie fortfährt. »Ich liebe das Licht in jeglicher Form – ganz egal, ob es die Sonne an einem wundervollen Sommertag, der Mond in einer sternenklaren Nacht oder nur ein kleines Teelicht ist. Ich hoffe, auch du wirst eines Tages das Licht für dich entdecken«, hat sie Mia mit sanfter Stimme vorgeschwärmt, doch diese hat nur stumm genickt und kein Wort verstanden. Nur die vertraute Anrede hat sie einen Moment stutzig werden lassen. Der professionelle Abstand zwischen ihnen war in diesem Augenblick auf ein Minimum reduziert gewesen. Mit einem leichten Schulterzucken hat sie es übergangen und als ein Versehen abgetan.

Natürlich findet auch Mia Sonnenuntergänge faszinierend und hätte ewig auf das Farbenspiel des Himmels blicken können, doch die Begeisterung der Psychologin konnte sie nicht verstehen. Mia hat eher die Form der Bernsteinskulptur fasziniert, denn vor ihrem Aufenthalt in der Klinik hat sie mit den Raubvögeln der Meere, die ihre Freiheit lebten, nichts anzufangen gewusst. Doch auch das hat sich in den letzten Wochen geändert und ihre Seele hat sich der Weite und der Unendlichkeit des Ozeans geöffnet. In jenen Stunden, in denen Mia alleine am Strand spazieren ging, hat sie sich frei gefühlt - und frei wollte sie auch endlich sein, sich wie die Möwen in die Lüfte schwingen, vom Wind tragen lassen und Angreifer mit ihren Krallen fernhalten. Sie wollte sich nie wieder etwas sagen lassen müssen oder in Unterdrückung leben. Sie wollte frei und unabhängig ihr Leben genießen – ebenso wie diese bewundernswerten Vögel.

An der gegenüberliegenden Wand, von den Sesseln gut zu sehen, hängen zwei wunderschöne, ausdrucksstarke Bilder von Claude Monet, einem impressionistischem Maler aus dem 19. Jahrhundert, den Mia noch aus ihrer Schulzeit kennt. Eines dieser stimmungsvollen Bilder zeigt die Felspyramide von Port-Coton bei rauer See. Mia hat das Bild sofort erkannt und weiß noch aus ihrer Zeit im Gymnasium, dass dieses Ölgemälde 1886 entstanden ist und als Original in einem Museum in Moskau hängt. Damals war die Welt für sie noch in Ordnung gewesen. Sie hat viel gelernt und war immer eine fleißige Schülerin gewesen. Sie hat sich schon immer sehr für die Kunst interessiert und fühlte sich, beim Betrachten der Bilder, in ihre Jugend zurückversetzt. Damals hat sie ganze Abhandlungen zu den unterschiedlichsten Kunstwerken verfasst, doch heute sieht Mia die Felsformation aus einem vollkommen anderen Blickwinkel. Die Zeit ihrer Jugend und der Unbeschwertheit ist vorbei. Heute erinnert sie das Gemälde irgendwie an Frau Pescado, die für sie genau diesen mächtigen Felsen in der wilden Brandung ihrer Gefühle symbolisiert.

Als Mia das erste Mal das Behandlungszimmer betreten hat, hat sie sich vom ersten Moment an wohl gefühlt - fast ein bisschen wie zu Hause. Bestimmt war das auch einer der Gründe, warum sie ihre Psychologin so sehr mochte und es nicht lange gedauert hat, bis sie sich ihr geöffnet hat. Sie haben in den zahlreichen Sitzungen viel über ihre Kindheit, ihre Ehe und auch über ihre Wünsche und Träume gesprochen. Frau Pescado war in jeder Situation eine gute Zuhörerin und Ratgeberin gewesen, ohne jedoch Forderungen zu stellen oder gar Unmögliches zu verlangen. Es war für Mia sehr schwer gewesen, das Wissen und ihre eignen Stärken wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins zu befördern, doch auch die regelmäßigen Hypnosesitzungen haben dabei geholfen.

»Erzählen Sie mir erst einmal, was Sie in den Tagen seit unserem letzten Treffen so gemacht haben, bevor wir auf Ihre Entlassung zu sprechen kommen. Ihre Gruppentherapeutin hat mir bereits berichtet, dass Sie wieder herzhaft lachen können und auch bei den Mitpatienten beliebt sind. Mir scheint, als machen Sie große Fortschritte«, beginnt Frau Pescado das Gespräch, nachdem Mia die Möwe wieder auf der Glasplatte abgesetzt hat.

»Oh ja«, nickt diese, schlägt selbstbewusst ihre Beine übereinander und lehnt sich in dem weichen, braunen Sessel, den sie in den letzten Monaten so gut kennengelernt hat, zurück. Sie liebt das kühle Leder und die ausladenden Armlehnen. Immer, wenn sie in diesem Sessel sitzt, fühlt sie sich sicher und geborgen.

Wenn sie an die Anfangszeit in der Klinik denkt und wie sich alles mit der Zeit entwickelt hat, ist sie sehr froh, dass sie noch lebt. Das Leben ist viel zu schön, um es einfach wegzuwerfen - auch das hat sie gelernt.

»Es ist schön, wenn Sie lächeln - dann sind Sie besonders hübsch«, sagt Frau Pescado und holt Mia mit ihren schmeichelnden Worten in die Gegenwart zurück. Diese wird rot und lächelt noch ein wenig mehr.

»Dankeschön«, sagt sie und meint es wirklich ernst. Noch vor einigen Monaten hätte sie das Kompliment nicht so leicht entgegennehmen können. Sie hätte es abgestritten oder sich geschämt. Ja, es war gut, dass sie hier - genau hier - in dieser Klinik aufgenommen worden ist.

»Sagen Sie, Mia, wie sieht es mit Ihrer neuen Wohnung aus? Hat das geklappt?« Die Ärztin hat aufgehört auf ihrem Zettel zu schreiben, ist aufgestanden und hat sich in den zweiten Sessel gesetzt. Gespannt schaut sie ihre Patientin an. So lange hat Mia nach einer neuen Wohnung gesucht, die für sie bezahlbar ist. Mit Hilfe ihrer Freundinnen, die sie in der Klinik kennen gelernt hat, hat sie wochenlang die Zeitung studiert, mit Maklern diskutiert und Wohnungen besichtigt. Sie liebt diese Stadt am Meer, in der sie geboren wurde und will auch von hier nicht wegziehen - trotz ihrer Vergangenheit und der Möglichkeit, Tom über den Weg zu laufen.

»Ich lasse mich nicht von hier vertreiben!«, hat Mia selbstsicher gesagt, als sie die Zeitung das erste Mal durchsucht hat. Doch mit der Zeit wurden die akzeptablen Angebote immer weniger und die Chance auf eine neue, bezahlbare Wohnung stetig geringer. Doch Mia gab nicht auf. Sie glaubte an ihren Traum vom neuen Leben und wurde schlussendlich auch dafür belohnt. Zwar hat sie nicht viel Geld, aber das Amt hat zugesagt, die Miete nach der Entlassung so lange zu übernehmen, bis sie wieder berufstätig ist. Ein bisschen Geld hat Mia in der Ehe sparen können, hat sich immer wieder ein paar Euro zur Seite gelegt, ohne dass es Tom gemerkt hat. Jetzt ist sie auch darüber dankbar.

»Oh ja! Stellen Sie sich vor! Der Vermieter ist ein ganz netter, älterer Herr und er findet mich scheinbar so sympathisch, dass ihn meine Vergangenheit nicht interessiert. Die Wohnung ist zwar klein, ich glaube nur 28 Quadratmeter, aber sie hat eine Badewanne und eine abgetrennte Küche. Sie ist neu renoviert und sogar möbliert, so dass ich gleich einziehen kann, wenn ich hier entlassen werde - und die Miete kann ich später auch bezahlen«. Sie strahlt so voller Energie, dass Katharina Pescado das Leuchten in ihren Augen wie das Sonnenlicht an einem Tag am Meer erscheint. Gerne lauscht sie den Ausführungen ihrer Patienten, die auch sogleich fortfährt. »Auch, dass die schöne Wohnung so günstig ist, hätte ich nie gedacht. Sogar einen kleinen Balkon habe ich dann, auf dem ich mir im Sommer zwei Klappstühle und einen Tisch aufstellen und die Sonne genießen kann - und vielleicht kann ich dann tatsächlich wieder anfangen zu schreiben. Sie wissen ja, dass mir das Schreiben immer gut getan hat und ich es früher so gerne tat. Doch in der Ehe … egal.« Mia stockt kurz, räuspert sich und redet dann weiter, als wäre nichts gewesen.

»Ach ja, und das Meer ist zwar weiter weg, aber ich glaube, es fährt ein Bus dorthin. Einkaufsmöglichkeiten und Ärzte habe ich in der Nähe auch schon gesehen und …« Mia erzählt so begeistert von ihrer neuen Wohnung, dass sie das glückliche Lächeln ihres Gegenübers nicht bemerkt. Auch weiß sie nicht, dass der Vermieter ein alter Freund der Psychologin ist, der ihr noch einen Gefallen schuldig war - daher hat Mia die Wohnung zu so einem guten Preis bekommen.

»Ja, es scheint doch tatsächlich noch nette Männer zu geben, was?«, scherzt die Psychologin mit einem Augen-zwinkern. »Auch mit dem Schreiben müssen Sie unbedingt wieder anfangen. Ich werde dann auch ihr erstes Buch kaufen, wenn es auf dem Markt ist«. Mia muss kichern und wird rot. Mit ihren beiden Grübchen, die beim Lächeln auf ihren Wangen erscheinen, ihren langen, braunen, zum Pferdeschwanz hochgebundenen Haaren und dem braunen Jogginganzug sieht sie wie ein zerbrechliches, junges Mädchen aus. Nie hätte sie gedacht, dass die Psychologin ihr so viel zutraut.

»Na dann, herzlichen Glückwunsch, Mia! Bald beginnt Ihr neues Leben. Ich denke, in ein bis zwei Wochen können Sie ihre Entlassungsunterlagen holen. Aber bitte denken Sie daran, dass Sie sich regelmäßig in meiner Praxis sehen lassen, verstanden?« Die Stimme der Psychologin klingt bestimmt und Mia nickt automatisch. Sie freut sich so sehr auf ihre neue Freiheit, dass sie in diesem Moment alles zusagen würde. Natürlich weiß sie, dass sie auch weiterhin psychologische Betreuung braucht und ist sehr dankbar für die angebotene Hilfe - sich wieder an eine neue Bezugsperson zu gewöhnen wäre schrecklich für sie. Auch das ist mit ein Grund, warum sie die Stadt am Meer nicht verlassen will. In Frau Pescado hat sie eine Frau, ja fast eine Freundin gefunden, die sie versteht, ihr zuhört und sie fördert und fordert - und der sie bedingungslos vertraut. Diese Frau hat sie durch ihre schwerste Zeit begleitet und ihr neue Hoffnung geschenkt. Etwas Besseres kann sie sich nicht wünschen.

»Auch können Sie mich jederzeit auf dem Handy anrufen, wenn Sie in Schwierigkeiten sind, oder nicht wissen, was zu tun ist. Das biete ich normalerweise nicht an, aber bei Ihnen will ich eine Ausnahme machen,« sagt die Psychologin leise und zwinkert Mia verschwörerisch zu. In diesem Moment fühlt sich Mia glücklich und stark … und als etwas ganz Besonders.

»Oh, vielen Dank. Das weiß ich wirklich sehr zu schätzen - und ja, natürlich werde ich jede Woche zu Ihnen kommen. So ganz allein in der freien Wildbahn - davor habe ich schon noch Angst. Aber, ich habe auch hier in der Klinik gute Freunde gefunden, mit denen ich mich weiterhin treffen will. Solange sie noch hier sind, kann ich das gleich verbinden. Wir sind hier fast zu einer kleinen Familie zusammengewachsen - Sandrine, Hilde und ich.« Mia schluckt. Eine eigene Familie hat sie schon seit langer Zeit nicht mehr. Ihr Vater ist früh verstorben und der Kontakt zu ihrer Mutter ist mit den Jahren ihrer Ehe eingeschlafen. Tom hat ihr immer wieder verboten, mit ihrer Mutter Kontakt aufzunehmen - und sie hat sich daran gehalten. Sie war so dumm gewesen - naiv und leichtgläubig. Erneut kehren ihre Gedanken zu ihrem

Noch-Ehemann zurück und sie fühlt einen immer stärker werdenden Druck auf ihrer Brust. Ihr Blick wird glasig und Angst spiegelt sich in ihren Augen - und plötzlich schweift ihre Seele in die Vergangenheit zurück.

Mia steht am Herd und brät Kartoffeln, als die Tür aufgeht und Tom im Rahmen erscheint. Kalte Schauer laufen ihr über den Rücken, als sie seine Anwesenheit bemerkt. Eben noch war sie beschwingt zu den munteren Klängen eines Liedes aus den achtziger Jahren, durch die große Küche getänzelt und hat sich vorgestellt, wieder einmal frei und glücklich zu sein. Das Lied hat sie schon immer gerne gehört und auch der Songtext, den sie sich aus dem Internet herausgesucht hat, sprach ihr aus der Seele. Laut und voller Emotion hat sie mitgesungen und die Kartoffeln im Takt gewendet. Wie gerne hätte sie einen Mann an ihrer Seite gehabt, den ihr Lächeln verzaubert und der sie zu eben jenem verleitet. Einen Mann, der sie von Herzen liebt und sie nicht wie seine Sklavin behandelt ... Doch durch das Erscheinen von Tom wird dieses Glück jäh unterbrochen.

»Was stinkt denn hier so? Ist das Essen angebrannt? Schon wieder? Den Scheiß kannst du selber fressen! Dass du aber auch gar nichts richtig machen kannst! Du dreckiges Miststück. Den ganzen Tag faul rumhängen und am Abend noch nicht einmal ein ordentliches Essen zubereiten können. Ach, wie ich dich hasse! Ich gehe auswärts essen!« Mit diesen Worten tritt er hinter sie, schubst sie unsanft vom Herd und betrachtet die goldbraunen Kartoffelscheiben in der Pfanne - keine einzige ist verbrannt. Auch die Zwiebeln sind glasig und der Duft lässt ihm das Wasser im Munde zusammen laufen. Doch das hätte er nie zugegeben. Er will sie verletzten, will sie demütigen, will ihr jegliche Freude nehmen … und daher nimmt er die Pfanne vom Herd, schüttet alles in den Ausguss und lässt Wasser darüber laufen.

»Los! Mach das sauber. Sonst geht die teure Pfanne auch noch kaputt - und schalte den Herd aus. Was glaubst du eigentlich, wer den Strom bezahlt? Du ja sicher nicht. Du hast ja kein Geld. Liegst mir nur auf der Tasche. Jetzt kannst du sehen, was du frisst. Am besten gar nichts - bist eh zu fett!« Die letzten Worte hat er noch gebrüllt, nachdem er die Küche bereits verlassen hat. Wenige Sekunden später fällt die Tür mit einem Knall ins Schloss und Tom dreht den Schlüssel von außen herum, so dass sie die Wohnung nicht mehr verlassen kann. Ihren eigenen Schlüssel hat er auch dieses Mal wieder mitgenommen. Mia kennt das bereits und trotzdem trifft es sie wie ein Faustschlag in die Magengrube. Entkräftet sinkt sie an der Küchenwand entlang zu Boden und stumme Tränen rollen ihr über die Wangen. Wie zum Hohn spielt der Moderator im Radio ein Lied von einer sehr bekannten, blonden Sängerin in dem es von Schönheit und Selbstbewusstsein handelt. Sie fühlt sich nicht schön, verdammt. Sie fühlt sich wie ein Häufchen Elend, wie ein Nichts – weniger als das. Die Tränen sammeln sich auf dem Küchenfußboden zu einem kleinen, salzigen See und eine wohl bekannte Stimme in Mias Gedanken flüstert ihr zu. Automatisch greift sie in die Besteckschublade, die sie von ihrem Platz aus erreichen kann, tastet darin herum und zieht ein scharfes Küchenmesser heraus. Dann kriecht sie über den frisch geputzten Linoleumfußboden ins Bad. Die Tränen zeichnen ihren Weg und bald ergießt sich ein roter Blutstrom über ihre Arme …

»Mia …? Frau Falter …? Hallo? Wo sind Sie denn wieder mit Ihren Gedanken? Noch sind Sie nicht in ihrem neuen zu Hause - und auch nicht in Ihrer Vergangenheit! Noch sitzen Sie hier auf meinem Sessel, in meinem Büro. Kommen Sie zurück! Mensch Mia! Hier ... hier bin ich! Schau mich an, Mädchen ...« Die Psychologin ist aufgesprungen und schüttelt Mia an den Schultern. Diese schaut sie mit großen, leeren Augen an und Tränen laufen über ihre Wangen.

»Ich glaube, wir sollten noch einmal eine Hypnose Sitzung machen. Jetzt!« Frau Pescado lässt Mia los, tritt an den Schreibtisch und holt eine kleine, blaue Flasche daraus hervor.

»Mach den Mund auf Mia, und lass die Tropfen langsam auf der Zunge zergehen - und dann schau mir tief in die Augen. Du kennst das doch! Ich werde bis zehn zählen und dann wirst du tief und fest schlafen und nur noch meiner Stimme lauschen.« Mia starrt in Katharina Pescados blaue Augen und lauscht ihrer Stimme. Sie will die Vergangenheit endlich vergessen. Sie will sich wehren ... sie will … sich fallen lassen - will nicht mehr denken, nicht mehr fühlen … nur noch schlafen und der Stimme ihrer Vertrauten lauschen. Sie lässt sich in die warme Umarmung der Hypnose fallen. Alles wird gut … alles … wird … gut ...

- 2 -

Zwei Wochen später ist es endlich soweit. Der Tag der Abreise ist gekommen und Mia steht mit gepackten Koffern vor dem Eingang der Klinik. Es ist früh am Morgen und alle Mitpatientinnen sitzen noch beim Frühstück. Sie kennt die Abläufe der Klinik genau und hat sich bereits zu so früher Stunde auf den Weg gemacht, damit sie noch ein letztes Mal das Flair und die Ruhe genießen kann. Wie oft hat sie hier, in der kleinen Sitzgruppe mit ihren Freundinnen gesessen und geredet, gelacht und auch manchmal geweint. Unzählige Tassen Kaffee haben sie hier zusammen getrunken und ab und zu auch mal ein Glas Wein. Letzteres wurde zwar von der Nachtwache nicht gerne gesehen, doch es geschah nicht allzu oft.

Sie erinnert sich mit Wehmut an die Abende, die sie mit Sandrine, Hilde und weiteren Mitpatientinnen im nahegelegenen »Cafe Reuter« verbracht hat. Mindestens zwei Mal die Woche waren die Freundinnen dort gewesen, um sich vom Klinikalltag zu erholen und zu feiern. Dort wurden sie nicht als »psychisch Kranke« behandelt, sondern wie ganz normale Gäste. Mia lässt ihre Gedanken schweifen und die Melodie eines ihrer Lieblingslieder kommt ihr in den Sinn. Ein Lächeln schleicht sich auf ihre Lippen, als sie daran denkt, wie sie vor wenigen Wochen mit der kleinen Band des Tanzcafés auf der Bühne gestanden und dort dieses Lied zum Besten gegeben hat. Nicht immer hat sie die Töne getroffen, doch Mia hat all ihre Leidenschaft und Emotion vor den Zuhörern ausgebreitet. Schon immer war dieses Lied etwas ganz Besonderes für sie gewesen, da es sie tief in ihrem Inneren berührte und sie an die schöne Zeit vor ihrer Ehe erinnerte. Der sympathische Sänger der kleinen Band, ein junger Mann mit strahlend blauen Augen, hat sie an jenem Abend einfach so auf die Bühne geholt und mit ihr zusammen gesungen. Seine Stimme hat sie durch das Lied begleitet und über die hohen Stellen getragen. Nachdem die letzten Töne verklungen waren, hat sie tosenden Applaus geerntet und war mit zittrigen Knien von der Bühne gestolpert. Ihr Herz hat gerast, doch sie war glücklich gewesen. So glücklich, dass sie diesen Augenblick nie wieder vergessen wird - da ist sich Mia sicher. Denn dieser Mann hat, ohne dass er es auch nur im Geringsten ahnte, Mia einen ihrer größten Wünsche erfüllt.

Noch weitere Situationen, die sie in den letzten fünf Monaten ihres Aufenthaltes erlebt hat, schießen ihr in den Sinn und Mia schließt die Augen. Sie hat so viele Höhen und Tiefen erlebt, dass sie nun diese letzten Minuten in ihrem »Zuhause« genießen will. Ja, diese Klinik war in den letzten Wochen und Monaten zu ihrem Zuhause geworden - mehr, als sie es jemals vermutet hätte. Sie hört die vertrauten Vogelstimmen, riecht den Duft der nahen Blumenwiese und spürt die wärmenden Sonnenstrahlen, die ihre Haut wie zu einem aufmunternden Gruß streicheln.

»Ich werde dir immer dankbar sein und die Zeit hier nie vergessen«, murmelt sie leise vor sich hin und bemerkt eine dicke Träne, die ihr die Wange hinunterrollt und sie kitzelt. Plötzlich mischt sich Angst zwischen die Freude des Neubeginns. Wie eine dunkle Wolke schiebt sich diese Furcht vor ihr inneres Auge und Mia hätte am liebsten all ihre Sachen genommen und wäre wieder zurück in ihr altes Zimmer gelaufen. Was sollte sie nur ganz alleine in dieser feindlichen Welt außerhalb der Klinik? Es wird keinen mehr geben, der ihr fröhlich einen guten Morgen wünscht, keinen, der sie liebevoll in den Arm nimmt und keinen, mit dem sie sich unterhalten kann. Natürlich hat sich Mia einen Plan für »die Zeit danach« zurechtgelegt, doch dieser scheint ihr in diesem Augenblick unerreichbar.

Genau in dem Moment, als die Angst sie zu übermannen droht, hört sie die vertraute Stimme von Sandrine, die schreiend auf sie zugelaufen kommt.

»Mia! Geh noch nicht! Warte!«, hört sie die Freundin rufen und muss nun doch lächeln. Die dunklen Schleier der Angst ziehen sich zurück und das lichtvolle Strahlen kehrt in ihre Augen zurück. Ach, wie sehr sie das gleichaltrige Mädchen doch liebt und vermissen wird.

»Schrei doch nicht so, Sandy. Ich bin doch hier. Du glaubst doch nicht, dass ich einfach so die Fliege mache, ohne mich von meiner Rasselbande zu verabschieden«, grinst Mia und wischt sich flink die Tränen von den Wangen, bevor Sandrine ihr in die Arme fällt. Sie halten einander, als gäbe es kein Morgen mehr und die Welt würde sie auf der Stelle verschlingen.

»Ich vermisse dich jetzt schon«, flüstert Sandy ihr ins Ohr, drückt sie noch ein weniger fester an sich und Mia kann nur nicken. Dann zieht Sandy einen Zettel aus ihrer Tasche und presst ihn Mia in die Hand.

»Damit du mich nicht vergisst und die schöne Zeit immer in deinem Herzen tragen kannst.« Mia faltet das Papier auseinander und liest die handgeschriebenen Zeilen, die ihr in wunderschöner Schrift auf einem bunten Papier entgegen springen - natürlich erkennt sie das Gedicht sofort. Sie selbst hat es eines Abends, als beide Frauen gemeinsam auf dem Balkon saßen und die Sterne betrachteten, für Sandy geschrieben. Mit Tränen in den Augen und belegter Stimme liest sie es leise vor. Dieser Moment erscheint den beiden Freundinnen magisch.

Ich lieg aufm Balkon

und schaue nach oben.

Dort seh' ich den Mond,

wie er friedlich von droben

auf uns beide

hernieder blickt -

und seine Strahlen

auf die Erde schickt.

Auch tausend Sterne

kann ich erkennen -

doch zwei davon

will ich benennen,

denn sie sind

besonders schön -

kannst auch du

sie leuchten sehen?

Es sind unsere Sterne!

Wenige Minuten später brummt es auf dem kleinen Platz vor der Klinik wie in einem Bienenstock. Das Frühstück ist beendet und Mias Freundinnen haben sich um sie versammelt, um sich von ihr zu verabschieden. Mia ist gerührt, schüttelt zahlreiche Hände und umarmt ihre »Leidensgenossinnen« noch ein letztes Mal, bevor sich die Versammlung auflöst und alle zu ihren Terminen aufbrechen. Alle, bis auf die gleichaltrige Sandrine und ihre mütterliche Freundin Hilde – die beiden, die ihr am Meisten ans Herz gewachsen sind.

»Oh, meine Kleine! Wir werden dich so sehr vermissen! Pass gut auf dich auf und lass dich nicht ärgern, verstanden?« Hilde steht vor ihr und dicke Tränen rollen an ihren, vom Alkohol zerfurchten Wangen, hinunter. Mia kann nur nicken, denn ein dicker Klos schnürt ihr in die Kehle zu.

«Mensch Mia. Hör auf zu heulen. Wir sind ja nicht aus der Welt. Du kommst uns einfach besuchen - und wir dich. So schnell wirst du uns nicht los. Ich hab deine Nummer und werde dich bestimmt auch mal nachts um drei anrufen, wenn ich nicht schlafen kann.« Sandrine hat sich zwischen Hilde und Mia gedrückt und schüttelt ihre lieb gewonnene Freundin sanft an den Schultern. Nun muss Mia lachen und weinen zugleich.

»Untersteh dich, du Nuss. Lass mir bloß meinen Schlaf. Du weißt, wie ich sein kann, wenn ich nicht genug davon bekomme ...« Die drei unterschiedlichen Frauen liegen sich in den Armen und ihre Tränen vermischen sich zu einem salzigen Tropfen. Mia hofft so sehr, dass sich die Worte von Sandrine bewahrheiten und sich die drei nicht so schnell aus den Augen verlieren ...

»Wenn ich die Damen mal eben unterbrechen dürfte? Kann ich Sie kurz sprechen, Frau Falter?« Die dominante Stimme von Frau Dr. Pescado unterbricht die rührende Szene.

»Na, dann geh mal mit Frau Doktor«, kichert Sandy und Mia löst sich schweren Herzens von ihren Freundinnen.