Ich will Dich tragen - Jehuda Berkovits - E-Book

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Jehuda Berkovits

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Beschreibung

Als 13jähriger Teenager entgeht Jehuda Berkovits der Selektion Mengeles an der Rampe von Auschwitz. An der Seite seines Vaters überlebt er das Vernichtungslager Birkenau und den Todesmarsch nach Buchenwald. Im ständigen Angesicht des Todes entgeht er immer wieder seiner Ermordung und kann sogar auf wundersame Weise seinem Vater das Leben retten. Mit Jehudas Geschichte erscheint eine der letzten Autobiographien eines Zeitzeugen, der die Gewaltherrschaft und den antisemitischen Rassenwahn des Nationalsozialismus überlebte. Sein Bericht zeugt von den Schmerzen, Tränen und qualvollen Erinnerungen vergangener Zeit. Gleichzeitig ist er eine Aufforderung für nachfolgende Generationen, zu modernem Antisemitismus nicht wieder zu schweigen.

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ICH WILLDICH TRAGEN

Auf dem Todesmarschvon Birkenau nach Buchenwald

JEHUDA BERKOVITS

ICH WILLDICH TRAGEN

Auf dem Todesmarschvon Birkenau nach Buchenwald

© 2016 TOS Verlag, Marsch des Lebens Edition, Tübingen

Erste Auflage

ISBN 978-3-9818040-0-3eISBN 978-3-981804-0-1-0

Übersetzt aus dem Ungarischen: Dora Herbert

Umschlaggestaltung: Hannah Disselhorst

Lektorat: Carmen Matussek

Satz: Stefan Gärtner

Dieser Bericht beschreibt nur einen kleinen Bruchteil meiner Lagerleiden. Er soll zum ewigen Andenken an meine im Holocaust vernichtete Familie dienen und alle Lebenden daran erinnern, dass von Generation zu Generation der Schrecken des Holocaust niemals vergessen werden darf.

Jehuda Berkovits

INHALT

Vorworte

I. TEIL

In den Todeslagern

Birkenau – Frühjahr 1944

Die erste Suppe in Birkenau

Auschwitz

Budy

Gibt es einen Gott?

Pfeffer

Brot des Elends

Muselmann-Ratten

Fünfundzwanzig Peitschenhiebe

Frauenlager Birkenau

Der Zehnte

Jom Kippur

Tannenzapfen

Waldkommando

Weihnachten in Auschwitz

Todesmarsch

Buchenwald

Leichenhaufen

Panzer

Besuch

Croutons und Gebetbuch

Goldkoffer

Pilsen, Prag, Preßburg

Budapest, Újhely, Kaschau (Košice, Kassa)

Von Buchenwald nach Kaschau

Wie kann man das überleben?

Die vier Mädchen vereint

Meine Mutter und mein kleiner Bruder vereint

Die Familie Berkovits

II. TEIL

Nach der Schoah

Smiedl, der Satan?

1996 - 51 Jahre nach der Schoah

Symbol der Erinnerung

Anhang

Weihnachten 1944 und 1997

Der Panzer

Die Goldkoffer

Über die Todeslager Auschwitz, Birkenau, Monowitz

„Empfang“ der Transporte in Birkenau

Auschwitz – Zentrale des Völkermordes

Der Widerstand

Dr. Hans Münch

Eine Zusammenfassung über Buchenwald

Hitlers Plan

Epilog

Glossar

VORWORT JOBST BITTNER

Ein Historiker sagte einmal zu mir: „Der Bericht eines Holocaustüberlebenden ist wertvoller als jede historische Studie oder Fernsehdokumentation über die Shoah.“ Ich bin überzeugt, dass er Recht hat. Holocaustüberlebende sind die letzten lebenden Zeitzeugen, die uns jetzt noch unmittelbar von dem berichten können, was in naher Zukunft nur noch aus zweiter oder dritter Hand in Büchern zu lesen sein wird. Jede Geschichte von ihnen ist einzigartig und erschütternd.

Es ist unbegreiflich, wie Menschen aus der Hölle der Shoah entrinnen konnten. Einer von ihnen ist Jehuda Berkovits. Ich war von seiner Geschichte so tief bewegt, dass ich ihn unbedingt kennenlernen wollte. Schließlich traf ich ihn in Budapest, wo er die ungarische Ausgabe dieses Buches vorstellte. Jehuda Berkovits stammt aus einer angesehenen rabbinischen Familie. Er gehörte mit seinen Eltern und seinen Schwestern zu den 438.000 ungarischen Juden, die von Budapest in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurden. Seine Geschichte ist in besonderer Weise einzigartig.

Sie ist einzigartig, weil sie einen persönlichen und detaillierten Einblick in das Todeslager Ausschwitz-Birkenau, den Todesmarsch von Ausschwitz nach Gleiwitz und in das Konzentrationslager Buchenwald geben kann. Seine Geschichte ist aber auch einzigartig, weil sie in dem Schrecken der Todeslager wie eine Parabel über die Liebesbeziehung zwischen Vater und Sohn ist. Jehudas Vater rettete seinem Sohn auf der Rampe von Ausschwitz bei der Selektierung Mengeles auf ungewöhnliche Weise das Leben. Der 14-jährige Jehuda schleppte den sterbenden Vater während des Todesmarsches auf seiner Schulter und wurde ihm zu einer lebensrettenden Stütze. Die Geschichte von Jehuda Berkovits ist ebenso einzigartig, weil sie inmitten aller Finsternis eine Geschichte der Hoffnung ist. Sein Vater überlebte wie durch ein Wunder, sodass sie nach ihrer Befreiung noch 20 Jahre in Israel verbringen konnten. Jehuda Berkovits wollte Deutschland niemals wieder betreten. Es gelang mir dennoch, ihn zu unser ersten Marsch des Lebens Konferenz nach Tübingen einzuladen. Nach bewegenden Tagen sagte er: „Diese Zeit war für mich wie ein Traum. Ich werde Deutschland in Zukunft durch die Augen der guten Erfahrungen sehen, die ich bei euch in Tübingen gemacht habe.“

Ich möchte Sie einladen, die Geschichte von Jehuda Berkovits nicht nur mit historischem Interesse zu lesen. Das wäre möglich, ist aber zu wenig. Versuchen Sie stattdessen, ihm in diesem Buch so zu begegnen, wie er es bei seinem ersten Besuch in Deutschland erlebt hat. Wir haben immer wieder erlebt, dass persönliche Zerbrochenheit über die Wahrheit unserer deutschen Geschichte verbunden mit liebevoller Wertschätzung traumatisierte Herzen neu öffnen und Heilung hervorbringen kann. Das kann nur geschehen, wenn wir die Berichte über die Wahrheit des Holocaust an unsere Herzen wirklich heranlassen. Die Geschichten von Holocaustüberlebenden gehören für mich zu den kostbarsten Schätzen dieser Welt. Sie zeugen von den Schmerzen, Tränen und qualvollen Erinnerungen vergangener Zeit. Ihr wichtigstes Vermächtnis ist es, den nachfolgenden Generationen ihre Erinnerungen weiterzugeben, damit sich das Leiden des Holocaust niemals wiederholen kann. Ich möchte Sie ermutigen, sich jedem inneren Verdrängungsreflex zu wiedersetzen und ihm mit offenen Herzen zuzuhören.

Jobst Bittner, Herausgeber der deutschen Ausgabe

UNGARN IN ISRAEL

Gilboa Str. 4. Eine kleine Nebenstraße von Netanya, der Großstadt an der Küste. Ein feuchter, heißer israelischer Abend. In dem großen Saal im Souterrain sitzen etwa 70-80 ältere Menschen an den gedeckten Tischen. Eger, Pécs, Mád, Pest, … die Musik ungarischer Worte von Oberungarn, Transkarpatien, Südbanat: Ungarn außerhalb der Staatsgrenzen. In ihre würzigen, selbst für unsere ungarischen Ohren schon fast unbekannten ungarischen Mundarten mischt sich die Melodie des Hebräischen. Wir sind daheim, in der Heimat und im Heiligen Land zugleich. Diese Ungarn, die vom damaligen Großungarn verfolgt, gedemütigt und vertrieben wurden, liebten ihre Heimat. Aber hier sind sie aus ihrer Heimat nach Hause gekommen – in das uralte gelobte Land der Verheißung. Sie nehmen uns auf wie Familienmitglieder. Von einem Tisch in der Ecke tritt ein stiller, bescheidener Mann zu mir. Sein Alter kann ich nicht einschätzen, er ist alt und jung zugleich. Seine Stimme und seine Geschichte fesseln mich, lange höre ich ihm zu.

Später treffe ich ihn in einem Hotel in Budapest wieder und gehe mit einem maschinengeschriebenen Manuskript unter dem Arm nach Hause. Aus den Blättern des Manuskripts spricht zu mir Jehuda Berkovits – der heute 84jährige Mann und der damals 14-jährige Junge. Er wird für immer Teil meines Lebens bleiben.

Andrea Simonyi, Herausgeberin der ungarischen Ausgabe

HERR, erhöre die Stimme Judas und bringe ihn zu seinem Volk; lass seine Macht groß werden und sei ihm Hilfe wider seine Feinde!5.Mo 33,7 LU

VORWORT VERA EGERVÁRI

Obwohl dieser biographische Bericht von Jehuda Berkovits bereits 1958 fertiggestellt war, kam es jetzt erst zur Veröffentlichung. Mein Dank gilt allen, die es ermöglicht haben, dass diese wahre Geschichte erscheint.

Dieses Buch stellt die Wahrheit ohne jegliche Verschönerungen dar und füllt damit eine Lücke in unserem Bewusstsein. Denn in Ungarn kommt in unserer heutigen Zeit wieder Antisemitismus zum Vorschein und weht wie ein Wind durch ganz Europa. Dieses mit Dokumenten belegte Buch stellt Holocaust-Leugner vor die Wahl, ob sie auf einem menschlichem Niveau bleiben wollen oder ob sie selbst auf das tierische Niveau herabsinken möchten, auf das ihre Vorgänger die Juden hinabstoßen wollten. Die Geschichte schildert historische Schauplätze dieser Schreckenszeit und erschütternde Ereignisse. Im Zwielicht der Flammen und Schatten und des Rauchs der Krematorien erlebt Jehuda noch als Kind mit 13 Jahren die tagtägliche Nähe des Todes, die unerträglichen Folterungen, die schwere, oft zum Tod führende Zwangsarbeit, die Auspeitschung seines Vaters, die Hungersnot, den Todesmarsch und tausende und abertausende Formen menschlichen Leidens.

Seine Worte sind zurückhaltend, aber sie schlagen wie ein Hammer in die Tiefen der Seele. Ich empfehle dieses Buch allen, die die damaligen Geschehnisse klar sehen wollen – anhand des Schicksals eines Kindes, das seiner Kindheit beraubt wurde und doch in unmittelbarer Nähe des Todes am Leben blieb.

Vera Egervári, Vertraute von Jehuda Berkovits

I. TEIL

IN DEN TODESLAGERN

Birkenau – Frühjahr 1944

Es dämmert schon, als unsere Gruppe von etwa 300 bis 350 Männern – darunter einige Jungen unter zwanzig – von der Laderampe geführt werden. Wohin der Marsch geht, weiß ich nicht. Eigentlich weiß ich nichts. Ich weiß nicht, wo die Viehwaggons – 20 bis 25 Waggons mit je 80 bis 100 Personen – ankamen. Ich weiß nur, dass ich gestern gegen Abend, als unser Zug langsam durch eine Bahnstation fuhr, durch einen kleinen Spalt die Aufschrift KRAKOW sah – obwohl die Fenster mit Brettern und Stacheldraht verschlossen waren.

Jetzt marschiere ich den Bahnsteig entlang und weiß nicht, wo wir sind. Wohin meine Mutter Serena Berkovits (1907) geführt wurde sowie meine Schwester Judit Berkovits (1928), mein Bruder Miklos Berkovits (1933), mein Großvater mütterlicherseits Vilmos Berkovits (1862), meine Tante Amalie Rosenblüth (1900), ihre drei Töchter Irene Berkovits (1922), Jolan Berkovits (1925), Rachel Berkovits (1927) und ihr Sohn Juda Berkovits (1931) und all meine vielen Verwandten und Bekannten – keine Ahnung, wohin sie gehen mussten. Ich weiß nicht, wer diese Gestalten in gestreifter Kleidung sind, die uns mit den SS-Soldaten und mit Stöcken in Fünferreihen ordnen wollen. Ich weiß nicht, wer der Offizier in SS-Uniform ist und welche Bedeutung es hat, dass er die aus den Viehwaggons geworfenen Menschen mit einem Wink mal nach rechts, mal nach links schickt. Die Menschen werden wie Tiere aus den Wagen geworfen, aber all ihr Gepäck mit den Wertsachen – Schmuck, Goldmünzen, Papiere und anderes – muss im Waggon bleiben. Ich weiß auch nicht, was dieser ungewöhnlich niedrige und breite Schornstein ist, aus dem hohe Flammen in den dunklen Himmel herausschlagen, aber wir marschieren jetzt in diese Richtung. Ich weiß auch nicht, wo dieser fürchterliche Gestank um uns herkommt. Es riecht wie eine Mischung aus Abwasser und verbranntem Fleisch, aber noch viel übler und ekeliger.

Wortlos und stolpernd gehen wir beim Zwielicht der Flammen. Ich, Jehuda Berkovits (geboren 1930), gehe etwa in der Mitte der Gruppe, am linken Rand, hinter meinem Vater Benedikt Berkovits (1899). An seiner Rechten schlendert sein Bruder, mein Onkel Jenõ Berkovits (1895), mit seinem Sohn, also meinem Cousin Jakob Berkovits (1929). Wir gehen durch ein weit geöffnetes Tor mit Stacheldraht und kommen zu einem Gebäude. Wir müssen rein. Drinnen wird befohlen, dass wir uns nackt ausziehen. Die SS- und Wehrmachtssoldaten und jene mit den gestreiften Kleidern begleiten die Befehle mit Prügel. Die Schuhe muss man mit den Schnürsenkeln brav aneinander binden, die Kleidungsstücke ordentlich zusammengefaltet auf die Schuhe legen, alle Wertsachen wie Schmuck, Uhren, Geld und Papiere geordnet vor die Schuhe legen. Nun wird uns mitgeteilt, dass wir in die Dusche gehen und danach zurückkommen würden. Man mahnt uns sogar, uns unsere Nachbarn beim Auskleiden gut zu merken, damit wir unsere Sachen leicht wiederfinden können. Die Tür wird geöffnet und wir müssen in einen weiteren Raum gehen. Das geht natürlich mit Prügel. Anscheinend gehört hier Prügel immer dazu. Prügel bekommen wir alle, wer aber die deutsche Sprache nicht versteht, bekommt eine doppelte Portion, um zu lernen, sich schneller zu bewegen und die in der verfluchten Sprache erteilten Befehle auszuführen. Hier sind Bänke vorbereitet. Wir setzen uns und werden von Barbieren in Behandlung genommen. In Minutenschnelle scheren sie uns kahl, befreien uns von Bart und sämtlichen Haaren am Körper. Von hier treiben sie uns in die Dusche. Jedem wird ein Stück Seife in die Hand gedrückt mit dem Aufdruck RIF, etwa so groß wie eine Zündholzschachtel. Nach der Dusche wird im nächsten Raum jedem eine gestreifte Hose, ein gestreiftes Hemd, eine gestreifte Mütze und ein Paar Schuhe mit Holzsohlen zugeschmissen und man treibt uns sofort aus dem Raum ins Freie. Draußen graut schon der Morgen. Nackt, von der Dusche noch nass – ein Handtuch bekommen wir nicht – zitternd vor Kälte und von den bisherigen Schlägen ziehen wir uns langsam an. In der Regel bekommen die Großgewachsenen kleine Hosen, die Kleineren weite Hosen. Niemand hat einen Gürtel oder irgendetwas in der Art. So muss man die Hose mit der Hand halten, damit sie nicht runterrutscht. Ähnlich ist es mit den Schuhen mit Holzsohlen. Entweder sind sie zu groß oder zu klein, und alle ohne Schnürsenkel.

Aunkunft und Selektion auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau, 27.05.1944 Diese Bilder wurden von SS-Fotografen für Propaganda-Zwecke aufgenommen.

Quelle: Yad Vashem, Archivnummer 14DO9

Ungarische Juden auf Ihrem Weg vom Zug ins Lager, 27.05.1944

Quelle: „Auschwitz-Album“, Public Domain. Yad Vashem Archiv-Nr. FA268/4

Inzwischen ist es hell geworden – und wir erkennen einander nicht wieder. Die in Eile in Streifen kahlgeschorenen Köpfe, die Gesichter ohne Bart, die zu engen oder zu weiten gestreiften Kleider haben jeden von uns in entstellte Gestalten verwandelt. Wir schaffen es nicht, den Zustand unserer Kleidung zu ändern – es gibt einfach nichts, womit wir uns helfen könnten. Unsere eigenen Kleider, die wir vor dem Haareschneiden so ordentlich zusammengelegt zurückgelassen haben, sowie unsere Sachen, die im Waggon geblieben sind, werden wir unser Leben lang nie wieder sehen – wenn wir überhaupt am Leben bleiben. Lange können wir einander nicht bestaunen. Wieder gehen wir in Reihen, diesmal zu einem Tisch, wo unsere Personalangaben eingetragen werden und uns eine Nummer in den linken Arm tätowiert wird. Ab jetzt – so die Anweisung – haben wir keinen Namen mehr. Den sollen wir vergessen. Ab jetzt sind wir nur noch eine Nummer.

Mein Vater A-9775.

Ich A-9776.

Der Bruder meines Vaters, Onkel Jenõ (Josef), A-9777.

Sein Sohn, Jakob A-9778.

Die Meisten aus dem Waggon, Mütter mit ihren Babys, Kleinkinder, einige Jugendliche, Großmütter, Großväter und die Kranken, die am Wagenboden gelegen haben – sie alle fehlen. Die Männer zwischen 25 und 40 Jahren, die im ungarischen Arbeitsdienst an der Ostfront Zwangsarbeit leisten mussten, sind – infolge der Grausamkeiten der sie bewachenden ungarischen Soldaten – auch nicht unter uns.

All das geschieht, nachdem ich zwei Nächte und bereits drei Tage lang in einem ratternden, geschlossenen Viehwaggon zusammengepfercht und ohne Schlaf gestanden bin. Die Trennung der Familie, über siebzig Stunden ohne Essen und Trinken, eine fremde, unbekannte, feindliche Umgebung und noch andere Ereignisse – all das brachte mich in einen gewissen Taumel. Jetzt werde ich langsam wieder wach. Ich nehme die Geschehnisse um uns wahr, erfahre einiges von den Juden aus Polen und der Slowakei – sie sind schon länger da und sprechen Jiddisch. Nun weiß ich, dass dieser Ort, wo wir gestern mit den Viehwaggons angekommen sind, das Vernichtungslager Birkenau ist. Ich erfahre auch, dass der Offizier in SS-Uniform, der an der Rampe die aus den Waggons geworfenen, halb ohnmächtigen Menschen nach rechts oder links leitet, jener Mengele ist, der die Menschen selektiert – er schickt sie rechts (vorerst) ins Leben, links in den Tod. Auch die nach links Geleiteten müssen sich nackt ausziehen, auch ihre Haare werden geschoren, auch sie werden in die Dusche geschickt, wie wir. Bei uns kommt Wasser aus der Dusche, bei ihnen strömt das Gas Zyklon B aus den Duschköpfen. So sterben sie alle. Ihre Leichen werden dann im Krematorium zu Asche verbrannt. (Max Faust, Oberingenieur der I.G. Farben AN, des Herstellers von Zyklon B, untersuchte mit Himmler in Auschwitz die Wirksamkeit von diesem Gas. Es bewirkt einen dreiminütigen Todeskampf.) Gestern, in der Nacht, als wir von der Rampe zur Dusche marschierten, sahen wir die Flammen dieses Feuers in den dunklen Himmel schlagen, aus jenem niedrigen und breiten, viereckigen Schlot. Zum „Trost“ sagten sie auch, wir sollten nicht traurig sein, früher oder später kämen wir alle ins Krematorium. Wenn es nach mir geht, lieber später als früher…

Sie erklären auch, was die drei Buchstaben auf den Seifen bedeuten sollen, die wir für die nächtliche Dusche bekamen: RIF heiße „rein jüdisches Fett“.

Jetzt, bei Tageslicht, sieht man die endlosen Reihen der dunklen Lagerbaracken. Man sieht die Zäune. An den Betonsäulen sind beidseitig Porzellanisolierungen, daran elektrischer Stacheldraht. Überall die Warnung: „Vorsicht – Hochspannung – Lebensgefahr!“. Dem Zaun entlang stehen Wachtürme mit Scheinwerfern, darin deutsche Soldaten mit Maschinengewehren. Die Älteren raten uns, uns von den Kapos fernzuhalten. Diese haben Stöcke und eine Armbinde mit der Aufschrift KAPO. Sie kommen aus ganz verschiedenen Nationen, die meisten sind Figuren aus der Unterwelt, darunter auch manche Mörder. Nach Birkenau wurden sie direkt aus dem Gefängnis gebracht und hier bekamen sie verschiedene Positionen und Posten. Wie richtige Sadisten arbeiten sie zur Zufriedenheit der deutschen SS-Lagerleitung.

Die erste Suppe in Birkenau

Wir haben keine Uhr, wissen nicht, wie spät es ist. Es mag aber gegen Mittag sein, da wir zur Essensverteilung wieder in Reihen stehen müssen. Das Menü: Schlange stehen mit Prügel, Suppenausteilung mit Prügel. Die „Suppe“ genannte Brühe wird in eine runde Schüssel gefüllt, das Blechgefäß mag früher mal rot emailliert gewesen sein. Jetzt hat es nur noch rostige Beulen. Einen Löffel gibt es nicht. Das Gesöff im Topf riecht schrecklich und hat eine üble Farbe. Sogar nach den drei Tagen Zwangsfasten bringe ich es nicht fertig, das Ding zum Mund zu heben. Ich bin gerade dabei, das Ganze wegzuschütten, weil jemand schon auf den Topf wartet, als mich ein Mann anspricht, der meinen Ekel gesehen hat: „Willst du leben, dann solltest du das Ganze austrinken! Tu es, wie ich! Mit dem linkem Zeigefinger und Daumen die Nase zuhalten, mit der rechten Hand die ganze Brühe runterkippen, bis zum letzten Tropfen schlucken!“

Als er redet, erkenne ich in ihm unseren Nachbarn aus Kaschau, Jona Blum. Ohne seinen gewohnten schwarzen Bart, der ebenfalls abrasiert wurde, ist er ganz verändert. Ich habe ihn nicht erkannt. Er hatte es leichter mich zu erkennen, da mir ja kein Bart abgeschnitten worden war, mit dreizehn hatte ich ja noch keinen. Diesem Rat von Jona Blum bin ich noch lange, bittere Monate hindurch gefolgt. Hätte es bloß immer etwas zum Schlucken gegeben…

Auschwitz