Ich will sterben, aber Tteokbokki essen will ich auch - Baek Sehee - E-Book
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Ich will sterben, aber Tteokbokki essen will ich auch E-Book

Baek Sehee

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Beschreibung

Ein Buch, das man in Zeiten der Dunkelheit zur Hand nehmen sollte Baek Sehee ist eine erfolgreiche junge Angestellte in der Social-Media-Abteilung eines großen Verlagshauses. Doch trotz ihrer Erfolge fühlt sie sich ständig niedergedrückt, ängstlich, zweifelt an sich selbst und urteilt über andere. Bei der Arbeit und im Freundeskreis kann sie ihre Gefühle gut verbergen; sie ist geübt darin, die Gelassenheit und Leichtigkeit auszustrahlen, die das Leben ihr abverlangt. Aber diese Fassade aufrechtzuerhalten ist unfassbar anstrengend und hindert sie daran, tiefe Beziehungen einzugehen. Zugleich: Wenn doch alles so hoffnungslos erscheint, warum hat Baek dann dennoch immer wieder Lust auf ihr Lieblingsstraßenessen, den scharfen, würzigen Reiskuchen Tteokbokki? Baek fragt sich, ob mehr dahintersteckt, und sie entschließt sich, einen Psychologen aufzusuchen. Kann sie aus dem Kreislauf ihres selbstzerstörerischen Verhaltens ausbrechen?  Indem sie ihre Gespräche mit ihrem Psychologen über einen Zeitraum von 12 Wochen aufzeichnet, beginnt Baek, die Rückkopplungsschleifen, Kurzschlussreaktionen und selbstschädigenden Verhaltensweisen zu entwirren, die sie gefangen halten. «Ich will sterben, aber Tteokbokki essen will ich auch» ist ein Buch, das man in Zeiten der Dunkelheit zur Hand nehmen sollte.

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Seitenzahl: 179

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Baek Sehee

Ich will sterben, aber Tteokbokki essen will ich auch

 

 

Aus dem Koreanischen von Lara Emily Lekutat

 

Über dieses Buch

Ein Buch, das man (nicht nur) in Zeiten der Dunkelheit zur Hand nehmen sollte

Baek Sehee ist eine erfolgreiche junge Angestellte in der Social-Media-Abteilung eines großen Verlagshauses. Doch trotz ihrer Erfolge fühlt sie sich ständig niedergedrückt, ängstlich, zweifelt an sich selbst und urteilt über andere. Bei der Arbeit und im Freundeskreis kann sie ihre Gefühle gut verbergen; sie ist geübt darin, die Gelassenheit und Leichtigkeit auszustrahlen, die das Leben ihr abverlangt. Aber diese Fassade aufrechtzuerhalten ist unfassbar anstrengend und hindert sie daran, tiefe Beziehungen einzugehen. Zugleich: Wenn doch alles so hoffnungslos erscheint, warum hat Baek dann dennoch immer wieder Lust auf ihr Lieblingsstraßenessen, den scharfen, würzigen Reiskuchen Tteokbokki? Baek fragt sich, ob mehr dahintersteckt, und sie entschließt sich, einen Psychologen aufzusuchen. Kann sie aus dem Kreislauf ihres selbstzerstörerischen Verhaltens ausbrechen? 

Indem sie ihre Gespräche mit ihrem Psychologen über einen Zeitraum von 12 Wochen aufzeichnet, beginnt Baek, die Rückkopplungsschleifen, Kurzschlussreaktionen und selbstschädigenden Verhaltensweisen zu entwirren, die sie gefangen halten. «Ich will sterben, aber Tteokbokki essen will ich auch» ist ein Buch, das man (nicht nur) in Zeiten der Dunkelheit zur Hand nehmen sollte.

Impressum

Die koreanische Originalausgabe erschien bei HEUN Publishing.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«죽고 싶지만 떡볶이는 먹고 싶어

«I Want to Die But I Want to Eat Tteokbokki» Copyright © 2018 by Baek Sehee. 

Die deutsche Ausgabe erscheint in Zusammenarbeit mit HEUN Publishing, Seoul, durch BC Agency, Seoul.

All rights reserved.

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung zero-media.net, München,

nach der englischen Ausgabe von Bloomsbury Publishing Plc

Coverabbildung Manshen Lo

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01758-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Inhaltsübersicht

An die Leser:innen der deutschen Ausgabe

Prolog

1 Ein bisschen niedergeschlagen

2 Bin ich eine krankhafte Lügnerin?

3 Unter ständiger Beobachtung

4 Der Wunsch, etwas Besonderes zu sein, ist nichts Besonderes

5 Dieses verdammte Selbstwertgefühl

6 Wie lerne ich mich selbst besser kennen?

7 Sich anpassen, verurteilen, enttäuscht sein, gehen

8 Nebenwirkungen

9 Obsessive Fixierung auf Äußerlichkeiten und histrionische Persönlichkeitsstörung

Widersprüchliches Ich

10 Warum magst du mich? Magst du mich noch, wenn ich das tue? Oder das?

11 Ich bin nicht hübsch

12 Am Tiefpunkt

13 Epilog: Es ist schon okay. Wer sich der Dunkelheit nicht stellt, wird das Licht niemals zu schätzen wissen

14 Anmerkung des Therapeuten: Von einem unvollkommenen Menschen zum anderen

15 Postskriptum: Nachdenken über ein Leben nach der Therapie

Vergiftete Freude

Aus einem anderen Blickwinkel

Ein Lebenswerk

Eine Frage der Liebe

Einsamkeit ist ein besonderer Ort

Leid und Trost

Ein Leben ohne Label

Traum

Großmutter

Klischeehafte, dumme Unwahrheiten

Meine Tante

Meine Hunde, mein Ein und Alles

Miteinander

Eine sehr dunkle Zeit

Fiktion

Tot und begraben

Romantik und Zynismus

An die Leser:innen der deutschen Ausgabe

Seit der Erstveröffentlichung von «Ich will sterben, aber Tteokbokki essen will ich auch» sind fünf Jahre vergangen. Diese sehr persönliche Geschichte – ich war nicht sicher, ob sie überhaupt irgendjemand lesen würde – wurde bereits in sieben asiatischen Sprachen, auf Englisch und jetzt auch als deutsche Ausgabe veröffentlicht. Das ist aufregend, aber zugleich auch ein wenig einschüchternd. Denn bei allen positiven Rückmeldungen, die mich erreichten, war immer auch Kritik darunter. Und obwohl ich mich danach sehne, offen über psychische Gesundheit zu sprechen, schrecke ich oft genug davor zurück. Ich bezweifle, dass ich jemals wieder den Mut fassen werde, in einem Buch so offen zu sein wie in diesem. Ich hoffe, du findest dich auf diesen Seiten und in mir wieder. Mein Wunsch, Hilfe und Trost zu spenden, ist stark wie nie.

Ich möchte dir ein paar Worte mit auf den Weg geben, auf die ich selbst immer wieder zurückgreife, wenn mich ein Gefühl der Hilflosigkeit überkommt. Sie stammen von einer Person, die mein Buch gelesen hat und deren Geschlecht, Nationalität und Äußeres ich nicht kenne (ich habe diese Person nie getroffen). Worte, die ich an dich weitergeben möchte, an dich, die:der du dieses Buch liest:

Ich liebe und schätze deine Geschichte. Du hast eine Freundin in mir.

 

Baek Sehee

Prolog

«Wenn du glücklich sein willst, darfst du vor den folgenden Wahrheiten nicht die Augen verschließen, sondern musst dich ihnen stellen. Erstens: Wir werden immer wieder unglücklich sein, und unsere Traurigkeit, unser Leid und unsere Ängste existieren aus gutem Grund. Zweitens: Es gibt kaum eine Möglichkeit, diese Gefühle auf Dauer fernzuhalten.»

Une parfaite journée parfaite von Martin Page

Das ist eins meiner Lieblingszitate. Selbst wenn meine Depression unerträglich war, konnte ich noch über die Witze einer Freundin lachen und spürte zugleich eine Leere im Herzen und dann diese Leere im Magen, die mich dazu brachte, rauszugehen und Tteokbokki zu essen. Was stimmte nicht mit mir? Ich war nicht todtraurig, aber glücklich war ich auch nicht, stattdessen bewegte ich mich irgendwo dazwischen. Ich litt sehr darunter, weil ich noch nicht wusste, dass diese widersprüchlichen Gefühle bei vielen Menschen nebeneinander bestehen können und es häufig auch tun.

Warum fällt es uns so schwer, unsere wahren Gefühle zu offenbaren? Ist dieses Leben so erschöpfend, dass wir nicht mehr die Zeit finden, unsere Gefühle mit anderen zu teilen?

Ich hatte das dringende Bedürfnis nach Menschen, die sich so fühlen wie ich. Anstatt auf der Suche nach ihnen ziellos umherzuirren, entschied ich, diejenige zu sein, nach der sie Ausschau halten konnten. Ich wollte meine Hand hoch in die Luft recken und rufen: «Hier bin ich!», in der Hoffnung, dass mich jemand winken sehen, sich in mir wiedererkennen und auf mich zukommen würde, damit wir einander trösten könnten.

Dieses Buch ist eine Mitschrift der Therapie, die mir wegen Dysthymie, auch persistierende depressive Störung (eine anhaltende leichte Depression), verschrieben wurde. Es steckt voller persönlicher und manchmal pathetischer Details, aber ich wollte, dass es mehr ist als ein schlichtes Ventil für meine düsteren Gefühle. Ich erforsche bestimmte Situationen in meinem Leben, gehe den Ursachen für meine Gefühle auf den Grund, um einen neuen, gesünderen Weg einzuschlagen.

Ich frage mich, wie andere das machen, die wie ich nach außen hin ganz normal wirken, innerlich aber verfaulen, wobei ich mit Fäulnis diesen vagen Zustand meine, in dem es einem nicht gut geht, aber auch nicht richtig schlecht. Die Welt neigt dazu, sich zu sehr auf Schwarz oder Weiß einzuschießen; viele meiner Freund:innen verstehen meine Form der Depression deshalb nicht recht. Aber was ist eine «akzeptable» Depression? Werden wir Depressionen jemals vollständig ergründen? Ich hoffe, dass Menschen dieses Buch lesen und für sich daraus ziehen können: Ich bin nicht der einzige Mensch mit diesen Gefühlen, oder auch: Ich verstehe, dass es Menschen gibt, die damit leben.

Ich war immer der Ansicht, dass es in der Kunst darum geht, Herz und Geist zu bewegen. Kunst gab mir Vertrauen: das Vertrauen, dass heute vielleicht kein perfekter Tag war, aber immerhin ein guter, und sie schenkte mir Hoffnung, dass auch nach einem Tag, an dem ich sehr niedergeschlagen war, ich noch über eine Kleinigkeit lachen konnte. Ich habe gelernt, dass es in Ordnung ist, mich mit der Dunkelheit in mir ebenso zu zeigen wie mit dem Licht.

Ich hoffe, durch meine sehr persönliche Praxis dieser Kunst einen Weg in die Herzen anderer Menschen zu finden, so wie dieses Buch seinen Weg in deine Hände gefunden hat.

1Ein bisschen niedergeschlagen

Symptome wie quälende Gedanken oder selbstverletzendes Verhalten sind nicht die einzigen Anzeichen für eine Depression. Wie unser ganzer Körper bei einer leichten Grippe schmerzen kann, ist es ebenso möglich, dass eine leichte Depression unser ganzes Bewusstsein mit Schmerz erfüllt.

Schon als Kind war ich introvertiert und sensibel. Meine Erinnerungen sind zwar vage, aber nach meinen Tagebucheinträgen zu urteilen, bin ich eindeutig keine geborene Optimistin, sondern fühle mich von Zeit zu Zeit niedergeschlagen. In der weiterführenden Schule überkamen mich die Depressionen dann mit aller Macht, meine Noten verschlechterten sich, was dazu führte, dass ich nicht zur Uni ging und meine Zukunft alles andere als rosig aussah. Vielleicht war es absehbar, dass ich als Erwachsene depressiv sein würde. Aber selbst nachdem ich an allen Schrauben in meinem Leben gedreht hatte – meinem Gewicht, meiner Ausbildung, meinem Freund, meinen Freund:innen –, war ich noch immer depressiv. Es war kein Dauerzustand, aber ich erlebte schlimme Phasen, die so unausweichlich waren wie schlechtes Wetter. Ich schlief abends glücklich ein und wachte morgens traurig oder mürrisch wieder auf. Unter Stress war mir ständig übel, und wann immer ich krank war, konnte ich nicht aufhören zu weinen. Irgendwann nahm ich es einfach hin – offenbar war ich von Geburt an ein depressiver Typ – und ließ es zu, dass meine Welt immer dunkler und dunkler wurde.

Meine Paranoia gegenüber anderen Menschen verschlimmerte sich, noch ängstlicher war ich im Kontakt mit Fremden, aber ich wurde eine Expertin darin, vorzuspielen, alles sei gut. Ich trieb mich unnachgiebig an, besser zu werden, und glaubte, meine Depression allein überwinden zu können. Schließlich wurde mir alles zu viel, ich kam nicht mehr zurecht und entschied endlich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich war unsicher und hatte Angst, aber als ich das Behandlungszimmer betrat, versuchte ich, mich von allen Vorbehalten frei zu machen.

Therapeut: Wie kann ich Ihnen helfen?

Ich: Also, na ja, ich glaube, ich bin ein bisschen niedergeschlagen. Soll ich mehr darüber erzählen?

Therapeut: Gerne.

Ich: (Ich hole mein Handy raus und lese aus meiner Notizen-App vor) Ich vergleiche mich zu sehr mit anderen und mache mich dann dafür fertig, und ich habe ein geringes Selbstwertgefühl.

Therapeut: Haben Sie sich schon mal gefragt, was die Ursachen für Ihr Verhalten und Ihr geringes Selbstwertgefühl sein könnten?

Ich: Ich glaube, das geringe Selbstwertgefühl ist eine Folge meiner Erziehung. Meine Mutter hat sich oft darüber beklagt, wie arm wir waren. Wir haben in einer Wohnung mit nur einem Schlafzimmer gewohnt – viel zu klein für fünf Personen. Es gab da diesen Wohnkomplex in unserer Nachbarschaft, er hieß genau wie unserer, aber die Wohnungen waren viel größer. Eines Tages fragte mich die Mutter eines Freundes, in welchem Komplex wir lebten, in dem mit den kleinen oder größeren Wohnungen. Ich war verunsichert und schämte mich für unser Zuhause, und ab da erwähnte ich es anderen gegenüber nur noch ungern.

Therapeut: An was erinnern Sie sich noch?

Ich: Oh, an eine ganze Menge. Es ist so klischeehaft, dass ich es kaum auszusprechen wage, aber mein Vater hat meine Mutter geschlagen. Meine Eltern bezeichnen das euphemistisch als «eheliche Streitigkeiten», aber eigentlich ist es schlicht und einfach Gewalt, oder nicht? Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, sehe ich meinen Vater vor mir, der meine Mutter, meine Schwestern und mich schlägt, der die Wohnung verwüstet und mitten in der Nacht davonstürmt. Wir haben uns in den Schlaf geweint, und morgens, wenn wir zur Schule gegangen sind, haben wir das Chaos hinter uns gelassen.

Therapeut: Wie haben Sie sich dabei gefühlt?

Ich: Verzweifelt? Traurig? Es fühlte sich an, als hätte meine Familie Geheimnisse, die ich niemandem erzählen durfte, Geheimnisse, die immer größer wurden. Ich dachte, ich müsste das alles für mich behalten. Besonders meine ältere Schwester hat darauf geachtet, dass ich ja niemandem erzählte, was zu Hause vor sich ging, und ich wiederum habe dafür gesorgt, dass meine jüngere Schwester schwieg. Eigentlich war alles, was bei uns zu Hause passierte, Gift für mein Selbstwertgefühl, aber inzwischen frage ich mich, ob meine ältere Schwester nicht auch etwas damit zu tun hatte.

Therapeut: Sie meinen die Beziehung zu Ihrer älteren Schwester?

Ich: Ich glaube schon. Die Zuneigung meiner Schwester war an Bedingungen geknüpft. Wenn ich in der Schule hinterherhinkte, wenn ich zunahm oder mich nicht konzentrierte, lachte sie über mich und machte mich runter. Sie ist ein bisschen älter als ich, das hieß auch: Ihr Wort war Gesetz. Und dann war da noch das Geld. Sie kaufte uns Kleidung, Schuhe und Rucksäcke. Sie erpresste uns damit und sagte, wenn wir nicht auf sie hörten, würde sie alles, was sie für uns gekauft hatte, zurückfordern.

Therapeut: Wollten Sie sich dem entziehen?

Ich: Natürlich. Die Beziehung zu ihr war furchtbar. Sie verhielt sich so widersprüchlich. Sie zum Beispiel durfte bei anderen übernachten, ich aber nicht. Bestimmte Kleider durften wir nicht tragen. Eine ganze Menge solcher Dinge. Es war wie eine Hassliebe. Ich habe sie gehasst, aber ich hatte auch Angst davor, sie zu verärgern und dass sie mich dann verlassen würde.

Therapeut: Haben Sie schon einmal versucht, sich aus dieser Beziehung zu lösen?

Ich: Na ja, als ich erwachsen wurde und anfing zu arbeiten, entschied ich, dass ich wenigstens finanziell nicht mehr von ihr abhängig sein wollte. Und ich schaffte es, Schritt für Schritt.

Therapeut: Und emotionale Unabhängigkeit?

Ich: Das war schwierig. Meine Schwester hatte eigentlich nur ihren Freund und mich. Wir waren die Einzigen, die jeder ihrer Launen gerecht wurden. Einmal erzählte sie mir, dass sie es hasste, Zeit mit anderen zu verbringen, und sie sich mit mir am wohlsten fühle. Das hat mich so sehr geärgert, dass ich zum ersten Mal laut geworden bin. Ich habe gesagt: «Ich fühle mich bei dir überhaupt nicht wohl. Ganz im Gegenteil.»

Therapeut: Wie hat sie darauf reagiert?

Ich: Sie war geschockt und nächtelang in Tränen aufgelöst. Bis heute bricht sie in Tränen aus, wenn ich darauf zurückkomme.

Therapeut: Wie haben Sie sich mit ihrer Reaktion gefühlt?

Ich: Ich war betroffen, glaube ich, aber auch erleichtert. Es war befreiend, jedenfalls ein wenig.

Therapeut: Also hat sich Ihr Selbstwertgefühl nicht verbessert, nachdem Sie sich von Ihrer älteren Schwester distanziert hatten?

Ich: Manchmal habe ich mich selbstsicherer gefühlt, ja, aber ich glaube, meine Stimmung oder auch meine Niedergeschlagenheit änderten sich nicht. Als ob, wovon ich abhängig war, sich von meiner Schwester auf meine Beziehungen übertragen hätte.

Therapeut: Wie ist es mit Beziehungen? Werden Sie angesprochen, oder sind Sie der aktivere Part?

Ich: Ich bin kein bisschen aktiv. Wenn ich mich zu einer Person hingezogen fühle, bin ich davon überzeugt, sie denkt, ich sei leicht zu haben, und wird mich schlecht behandeln. Deshalb bin ich sehr zurückhaltend, wenn ich jemanden mag. Ich habe noch nie einer Person gesagt, dass ich Gefühle für sie hege, ich habe auch noch nie von mir aus mit jemandem geflirtet. Meine Beziehungen sind immer passiv. Wenn mir jemand gefällt, schwimme ich mit dem Strom, und wenn es funktioniert, machen wir es nach einer Weile offiziell. Das ist mein Muster.

Therapeut: Wird es jemals nicht «offiziell»?

Ich: Nein, eigentlich wird es fast immer etwas Festes. Wenn ich mit jemandem zusammenkomme, dann auf lange Sicht, und zuletzt bin ich immer sehr abhängig von dieser Person. Meine jeweiligen Freunde haben sich immer um mich bemüht. Aber selbst wenn sie verständnisvoll sind und mir Raum geben, bin ich doch oft enttäuscht von ihnen. Ich möchte nicht so abhängig sein. Ich möchte selbstständig sein und mich auch allein wohlfühlen können. Aber ich denke immer wieder, dass das unmöglich ist.

Therapeut: Wie steht es um Ihre Freundschaften?

Ich: Als ich klein war, waren mir Freundschaften sehr wichtig, wie den meisten Kindern. Aber weil ich in der Grundschule gemobbt wurde, hatte ich in der weiterführenden Schule Angst davor, mich so zu zeigen, wie ich bin. Freundschaften haben mich eher verunsichert. Diese Angst zog sich auch durch meine Beziehungen, und daraufhin habe ich entschieden, nicht mehr allzu viel von meinem Freund oder Freundschaften zu erwarten.

Therapeut: Ich verstehe. Sind Sie mit Ihrer Arbeit zufrieden?

Ich: Ja. Ich arbeite im Marketing für einen Verlag und betreue die Social-Media-Kanäle. Ich erstelle die Inhalte und überwache die Reichweite. Die Arbeit macht Spaß, und sie passt zu mir.

Therapeut: Sie machen Ihre Sache also gut?

Ich: Das tue ich. Weshalb ich es oft noch besser machen möchte, und das setzt mich unter Druck.

Therapeut: Ich verstehe. Vielen Dank, dass Sie so offen waren und hier und da ins Detail gegangen sind. Wir werden noch einige Tests durchführen müssen, aber Sie scheinen eine Tendenz zur Co-Abhängigkeit zu haben. Damit einher gehen oft sehr gegensätzliche Empfindungen. In Ihrem Fall bedeutet das, je abhängiger Sie sind, desto weniger wollen Sie es sein. Wenn Sie zum Beispiel von Ihrem Partner abhängig sind, lehnen Sie diesen ab. Doch wenn Sie sich von Ihrem Partner trennen, sind Sie verängstigt und fühlen sich verlassen. Es ist möglich, dass Sie auch von Ihrer Arbeit abhängig sind. Wenn Sie Leistung erbringen, zeigt sich Ihr Wert, und Sie sind entspannt, aber diese Zufriedenheit hält nicht an, das ist das Problem. Es ist wie in einem Hamsterrad. Sie versuchen, krampfhaft aus der Depression herauszukommen, scheitern aber immer wieder, und dieser permanente Kreislauf aus Trial-and-Error führt auf direktem Weg in die Depression zurück.

Ich: Ich verstehe. (Tatsächlich beruhigen mich diese Worte, und zum ersten Mal habe ich das Gefühl, etwas klarer zu sehen.)

Therapeut: Sie müssen aus diesem Kreislauf ausbrechen. Fordern Sie sich heraus und tun Sie etwas, das Sie nie für möglich gehalten hätten.

Ich: Ich wüsste gar nicht, wo ich da anfangen sollte.

Therapeut: Sie könnten mit einer Kleinigkeit beginnen.

Ich: Ich poste auf Social Media Sachen über mein Leben, die nicht stimmen. Ich meine, ich tue nicht so, als wäre ich glücklich, aber ich poste Sachen aus Büchern oder Landschaftsaufnahmen und Texte, um mit meinem guten Geschmack anzugeben. Ich will zeigen, wie schlau und cool ich bin. Und ich verurteile andere Menschen. Aber wer bin ich schon, dass ich sie verurteile? Selbst ich denke, dass ich seltsam bin.

Therapeut: Es klingt fast so, als ob Sie ein Roboter werden wollten. Jemand mit absoluten Ansprüchen.

Ich: Genau. Auch wenn ich weiß, dass das nicht möglich ist.

Therapeut: Ich gebe Ihnen für diese Woche einen Fragebogen mit – 500 Fragen zu Ihrer Persönlichkeit, Ihren Symptomen und Verhaltensweisen. Wir benutzen ihn, um herauszufinden, was Sie brauchen, um den Kreislauf zu durchbrechen.

Ich: In Ordnung.

 

(Eine Woche später)

 

Therapeut: Wie ist es Ihnen ergangen?

Ich: Bis zum Gefallenengedenktag war ich ziemlich deprimiert, aber seitdem geht es. Es gibt da etwas, das ich Ihnen beim letzten Mal nicht gesagt habe; als Sie meinten, es würde klingen, als versuchte ich, ein Roboter zu sein. Ich habe ständig Angst, ich könnte andere belästigen, vor allem seit ich diese hohen Ansprüche an mich selbst habe. Wenn ich zum Beispiel jemanden im Bus sehe, der laut telefoniert, bin ich davon so genervt, dass ich die Person erwürgen könnte. Das würde ich natürlich niemals tun.

Therapeut: Sie fühlen sich vermutlich schuldig deswegen.

Ich: Ja. Ich fühle mich schuldig, dass ich so etwas überhaupt denke und auch dass ich es in mich hineinfresse. Manchmal macht mich bei der Arbeit allein schon das Geräusch wahnsinnig, wenn jemand auf dem Handy herumtippt. Einmal bin ich regelrecht ausgeflippt und habe einer etwas lauteren Kollegin gesagt, sie solle leise sein. Danach habe ich mich besser gefühlt.

Therapeut: Wer würde sich wohl schlecht fühlen, weil er eine laute Person nicht darum gebeten hat, leiser zu sein? Möglicherweise jemand, der dringend nach Wegen sucht, sich selbst zu quälen. Die meisten Menschen sind eher zurückhaltend, aber der Druck, den Sie sich auferlegen, sich nicht zurückzuhalten, bringt Sie dazu, sich selbst zu quälen, obwohl Sie doch in diesem Fall etwas gesagt haben.

Ich: Ich möchte aber immer etwas sagen.

Therapeut: Wären Sie dann wirklich zufrieden? Selbst wenn es Ihnen gelingen würde, immer etwas zu sagen, glaube ich nicht, dass Sie plötzlich denken würden: «Sieh mal einer an, ich bin geheilt!» Zum einen fallen die Reaktionen der Menschen nicht immer gleich aus. Zum anderen: Selbst wenn Sie akzeptieren können, dass eine Person sich falsch verhält, und Sie es dabei belassen sollten, glauben Sie dennoch, Sie seien dafür verantwortlich, diese Person zurechtzuweisen. Manchmal ist es das Beste, Menschen, die so und so nicht auf Sie hören würden, zu meiden. Jedes Fehlverhalten in der Welt korrigieren zu wollen, ist vergebene Liebesmüh. Sie sind nur ein Mensch, und Sie lasten sich zu viel auf.

Ich: Warum bin ich so?

Therapeut: Weil Sie ein guter Mensch sind?

Ich: (Ich kann diese Einschätzung nicht nachvollziehen.) Ich habe mich einmal dazu gezwungen, auf der Straße laut zu telefonieren. Zwar habe ich mich dabei nicht unbedingt gut gefühlt, aber immerhin ein bisschen befreit.

Therapeut: Wenn Sie sich dabei nicht gut fühlen, dann lassen Sie es.

Ich: Ich weiß, dass Menschen komplizierte Gründe für ihr Tun haben und dafür, wie sie sind, aber ich finde es unfassbar schwer, das auszuhalten.

Therapeut: Wenn wir die Angewohnheit haben, Menschen aus einer vereinfachten Perspektive zu beurteilen, wird sich das irgendwann gegen uns wenden. Es ist dennoch in Ordnung, ab und zu wütend zu sein. Denken Sie zum Beispiel an jemanden, den Sie bewundern, und stellen Sie sich vor, was diese Person in einer solchen Situation tun würde. Wäre sie nicht auch sauer? Würde sie diese Situation nicht auch unerträglich finden? Wenn die Antwort darauf «ja» lautet, dann erlauben Sie sich, wütend zu sein. Ich glaube, Sie neigen dazu, sich verbissen an Ihre Ideale zu klammern. Sie setzen sich selbst unter Druck, etwa indem Sie denken: «Ich muss so und so sein!» Selbst wenn diese Ideale nicht mal Ihren eigenen Gedanken und Erfahrungen entspringen, sondern Sie diese von anderen übernommen haben.