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Genialer, rasanter Sci-Fi-Zweiteiler von Bestsellerautorin Margaret Stohl! Alles änderte sich an jenem Tag. Am Tag, als das ICON über Los Angeles erschien. Am Tag, als der Strom ausfiel. Am Tag, als Dols Familie starb. Am Tag, an dem die Welt einen Kampf verlor, von dem sie zuvor nichts geahnt hatte. Seitdem hat Dol ein einfaches Leben auf dem Land geführt, zusammen mit Ro, der auch überlebte – geschützt vor dem Schatten des ICONS und seiner furchterregenden Macht. Versteckt vor der Wahrheit, der sie nicht ausweichen kann. Sie sind anders. Sie haben überlebt. Warum? Als die Regierung ihr Geheimnis entdeckt, werden sie gefangen genommen und mit der ängstlichen Tima und dem charismatischen Lucas zusammen eingesperrt. Man nennt sie ICON-Kinder.Die vier sind die einzigen Menschen auf der Welt, die gegen die Macht der ICONS immun sind. Hin und her gerissen zwischen dem grüblerischen Ro und ihren Gefühlen für Lucas, zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, hat Dol sich nie unsicherer gefühlt. Und während die Spannungen zunehmen, entdecken die ICON-Kinder, dass ihre explosiven Emotionen, die sie immer für ihre größte Schwäche gehalten hatten – in Wahrheit ihre größte Stärke sein könnten.
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Seitenzahl: 435
Margaret Stohl
Icons
Dein Herz schlägt nur mit ihrer Erlaubnis
Aus dem Amerikanischen von Mo Zuber
FISCHER E-Books
Für Lewis,
meinen Autorenkollegen,
der nicht nur beim Schreiben mein Partner ist.
GIVE SORROW WORDS
»Gib Worte deinem Schmerz.«
William Shakespeare, Macbeth
HINWEIS:
DIESES BUCH IST, WIE DIE MEISTEN ANDEREN BÜCHER, NICHT ZUR VERBREITUNG BESTIMMT.
Wenn ein Sympa dich mit diesem Buch erwischt, wird er es vernichten – und dich ebenfalls.
Du bist gewarnt worden.
ICONS/1. BUCH
PROJEKT MENSCHHEIT
Von Hand gesetzt
Frühjahr 2080NJT
EIGENTUM DER FREIEN GRAS-PRESSE
Auf dem knubbeligen Handgelenk des Säuglings ist ein winziger grauer Punkt, kaum größer als eine Sommersposse, zu erkennen. Mal sieht man ihn, mal wieder nicht, während das Baby laut schreiend mit der gelben Gummiente wedelt. Als die Mutter die Kleine über die Keramikwanne hält, wird das Strampeln noch heftiger. Die Füßchen krümmen sich über der Wasseroberfläche.
»Ganz egal, wie sehr du dich dagegen sträubst, Doloria, du wirst jetzt gebadet. Danach geht’s dir bestimmt besser.«
Sie taucht ihre Tochter behutsam ins warme Wasser. Die Kleine strampelt noch einmal und spritzt bis zu der blaugemusterten Tapete über den Kacheln. Doch das warme Wasser überrascht sie so sehr, dass sie augenblicklich stillhält.
»So ist’s richtig. Im Wasser kann man gar nicht traurig sein. Dafür gibt es gar keinen Grund.« Sie küsst ihre Tochter auf die Wange. »Ich hab dich lieb, mi corazón. Dich und deine Brüder, was auch kommen mag.«
Das Baby hat aufgehört zu schreien. Es setzt auch nicht wieder an, während seine Mutter ihm etwas vorsingt und es wäscht, bis es rosig und sauber ist. Auch als sie es in ein Handtuch wickelt und küsst, weint es nicht wieder. Selbst als sie es kitzelt und in sein Bettchen legt, fängt es nicht wieder an.
Lächelnd streicht die Mutter ihrem Kind eine feuchte Haarlocke aus der warmen Stirn. »Träum was Schönes, Doloria. Que sueñes con los angelitos.«
Sie streckt die Hand nach dem Lichtschalter aus, doch noch ehe sie ihn erreicht, wird es abrupt dunkel im Zimmer, und das Radioprogramm, das von draußen aus dem Flur hereingedrungen ist, verstummt wie auf Geheiß mitten im Satz. Drüben in der Küche erlischt der Bildschirm am Fernseher, schrumpft zu einem weißen Stecknadelkopf, bis er völlig schwarz ist.
»Schon wieder Stromausfall, querido. Kannst du mal nach der Sicherung sehen?«, ruft sie
Dann wendet sie sich wieder Doloria zu und steckt liebevoll den Deckenzipfel unter ihr fest. »Keine Sorge, es gibt nichts, was dein papi nicht wieder hinkriegt.«
Während die Wände anfangen zu wackeln und der Putz abbröckelt, nuckelt Doloria an ihrer Faust, den fünf kleinen Fingern, die wie dicke Regenwürmchen aussehen.
Als der Deckenventilator zu Boden kracht, die Fensterscheiben bersten, das Schreien einsetzt, blinzelt sie kurz.
Als ihr Vater wie eine lustige Stoffpuppe die Treppe herunterpurzelt und unten zusammensackt, gähnt sie.
Während die vom Himmel fallenden Vögel wie Sturzregen auf das Dach prasseln, schließt sie die Augen.
Als das Herz ihrer Mutter zu schlagen aufhört, träumt sie bereits.
ICH TRÄUME,
als das Herz meiner Mutter
ZU SCHLAGEN AUFHÖRT.
»Dol? Alles in Ordnung?«
Die Erinnerung verblasst, sobald seine Worte zu mir durchdringen.
Ro.
Er taucht an dieser namenlosen Stelle in meinem Bewusstsein auf, dort, wo ich alles wahrnehme, jeden erspüren kann. Wie jetzt den Funken, der Ro bestimmt, warm und nah. Ich halte mich daran fest, wie an einer Tasse heißer Milch oder dem Schein einer brennenden Kerze.
Dann öffne ich die Augen und wende mich ihm vollends zu.
Es geschieht immer wieder auf dieselbe Art und Weise.
Ro ist bei mir. Es geht ihm gut, und auch mir geht es gut.
Es geht mir gut.
Das trichtere ich mir so lange ein, bis ich es glaube. Bis ganz eindeutig ist, was real ist und was nicht.
Ganz allmählich rückt die wirkliche Welt wieder in den Vordergrund. Ich stehe auf einem Trampelpfad auf halber Höhe eines Berghangs und blicke beeindruckt hinunter auf die Mission. Von hier oben erscheinen die Ziegen und Schweine im Feld da unten klein wie Ameisen.
»Alles in Ordnung?« Ro berührt mich am Arm.
Ich nicke, aber es entspricht nicht der Wahrheit.
Einmal mehr habe ich mich von Emotionen und Erinnerungen hinreißen lassen. Ich muss besser aufpassen. Jeder in der Mission weiß, dass ich ein besonderes Talent dafür habe, Dinge zu erspüren – bei Freunden, aber auch bei Fremden, sogar wenn Ramona Jamona, das Schwein, Hunger hat –, doch das heißt nicht, dass diese Empfindungen Macht über mich gewinnen dürfen.
Jedenfalls sagt das der Padre immer.
Dann versuche ich mich wieder in den Griff zu bekommen, und meistens gelingt es mir auch. Aber nicht immer. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte nichts erspüren. Vor allem deshalb nicht, weil alles so überwältigend, so maßlos traurig ist.
»Lass mich hier nicht allein, Dol, nicht jetzt.« Ro gestikuliert mit seinen großen braungebrannten Händen und schaut mir dabei direkt in die Augen. Unter den wirren dunklen Locken sprühen die goldbraun gefleckten Augen vor Feuer und Licht. Seine Gesichtszüge sind hart und streng, nur wenn er mich ansieht, werden sie sanfter. Er wirkt so unerschütterlich wie eine alte Eiche. Ro ist ebenso wenig zu bremsen, wie man einem Erdbeben oder einer Lawine Einhalt gebieten oder auch einen fahrenden Zug anhalten könnte. In der Zwischenzeit hätte er ebenso gut längst den halben Berg hochgeklettert oder hinuntergesaust sein können.
Doch nicht in diesem Augenblick. Da verharrt er abwartend. Weil er mich kennt und genau weiß, wo ich gerade war.
Wo es mich immer wieder hinzieht.
Ich starre in den von grauen Regenschleiern verhangenen orangeleuchtenden Himmel hinauf. Über die breite Krempe des Hutes hinweg, den ich von der Bürotür des Padre geklaut habe, gestaltet sich das gar nicht so einfach.
Dennoch blendet mich die untergehende Sonne, die immer wieder gleißend hell durch die Wolkenlücken bricht.
Dann dämmert mir wieder, was wir hier suchen und warum wir eigentlich hier sind.
Mein Geburtstag. Morgen ist mein siebzehnter Geburtstag.
Ro hat ein Geschenk für mich, aber dazu müssen wir erst einmal den Berg hinauf. Es soll eine Überraschung sein.
»Gib mir einen Tipp, Ro.« Ich ziehe eine gewundene Schleppe aus vertrocknetem Gestrüpp und Erde hinter mir her, während ich ihm den Hang hochfolge.
»Nichts da.«
Ich drehe mich noch einmal um und schaue nach unten. Ich kann nicht anders. Es gefällt mir, wie alles von hier oben aussieht.
Friedvoll, kleiner – wie ein Gemälde oder eines dieser unmöglich zusammenzusetzenden Puzzles des Padre, nur dass hier nichts fehlt. Weiter entfernt liegt das gelblich vertrocknete Feld der Mission, von Bäumen grün eingesäumt, dahinter der blaue Wellenschlag des Ozeans.
Hier bin ich zu Hause.
Dieser Ausblick ist so herrlich, dass man fast meinen könnte, es hätte jenen Tag nie gegeben. Deshalb bin ich so gern hier. Wenn man das Gelände der Mission nicht verlässt, muss man nicht darüber nachdenken. Über jenen Tag, die Herrscher und ihre ICONS. Daran, wie sie uns kontrollieren.
Wie machtlos wir ihnen gegenüber sind.
Im Prinzip war das Land hier schon immer Wildnis gewesen. So weit weg von den Gleisen, jenseits der Städte, tut sich nichts.
Hier kann man sich sicher fühlen.
Sicherer.
Etwas lauter gebe ich Ro zu verstehen: »Es wird bald dunkel.«
Der ist schon wieder vorausgelaufen. Ein Rascheln geht durchs Gebüsch, Steine lösen sich, dann steht er plötzlich hinter mir, flink wie eine Bergziege.
Ro grinst. »Ich weiß, Dol.«
Ich fasse nach seiner Hand mit den vielen Schwielen und drücke sie, entspanne meine Finger darin. Unverzüglich bin ich von Ro durchdrungen – der Körperkontakt verstärkt unsere Bindung jedes Mal.
Er ist so warm wie die Sonne hinter mir. So heiß, wie ich kalt bin. So rau, wie ich glatt bin. Das ist das ausgleichende Prinzip zwischen uns, nur einer von vielen unsichtbaren Fäden, die uns zusammenhalten.
Das sind wir.
Mein bester und einziger Freund und ich.
Er kramt in seiner Hosentasche. »Also gut, ich kürze es ein wenig ab. Hier ist dein erstes Geschenk.« Verschämt drückt er mir etwas in die Hand.
Ich betrachte es. Eine längliche blaue Glasperle, an einem dünnen Lederriemen befestigt, rollt über meine Finger.
Eine Kette.
Sie ist von demselben Blau wie der Himmel, das Meer, meine Augen.
»Ro«, hauche ich, »die ist perfekt.«
»Ich musste gleich an dich denken, als ich sie entdeckt habe. Und sie erinnert mich an das Meer, findest du nicht auch? So kannst du es immer bei dir tragen.« Während er versucht, die richtigen Worte zu finden, wird er rot und gerät ins Stammeln. »Ich weiß ja … welche Wirkung es auf dich hat.«
Es gibt mir das Gefühl von Frieden, Beständigkeit und Unversehrtheit.
»Bigger hat mir mit der Kordel geholfen. Sie stammt von einem Sattel.« Ro hat ein gutes Auge für derlei Dinge – Dinge, die andere übersehen. Bigger, der Koch der Mission, ist genauso. Die beiden sind unzertrennlich und lassen sich von niemandem etwas sagen. Biggest, die Frau von Bigger, hat stets ein Auge darauf, dass sie sich keinen Ärger einhandeln.
»Ich finde sie wunderschön.« Etwas ruppig lege ich ihm den Arm um die Schulter, weniger ein Umschlingen als ein Packen, eine Umarmung, wie sie zwischen Freunden und Familienangehörigen üblich ist.
Und dennoch schaut Ro verlegen drein. »Das war noch nicht alles. Wenn du mehr Geschenke willst, musst du noch ein Stück höhersteigen.«
»Ich hab doch noch gar nicht Geburtstag.«
»Es ist aber der Abend davor, und ich hab mir gedacht, es wär einfach nett, heute schon anzufangen. Außerdem kommt diese Art von Geschenken am besten nach Sonnenuntergang.« Mit einem schelmischen Funkeln in den Augen streckt mir Ro seine Hand hin.
»Ach komm schon. Gib mir wenigstens einen klitzekleinen Hinweis.« Er grinst, als ich ihn herausfordernd ansehe.
»Aber es soll doch eine Überraschung sein.«
»Dafür muss ich mich den ganzen Weg durch die Pampa hier hochkämpfen?«
»Also gut«, lacht er. »Es ist das Letzte, womit du rechnen würdest. Das Allerletzte.« Er hüpft rastlos auf und ab, und ich kann daran ablesen, dass er jeden Moment den Berg hinaufspurten wird.
»Wovon redest du denn?«
Er schüttelt nur den Kopf und streckt mir wieder seine Hand hin. »Das wirst du schon noch sehen.«
Ich ergreife sie. Wenn Ro nicht will, ist es unmöglich, ihn zum Sprechen zu bewegen. Außerdem fühlt es sich gut an, seine Hand zu halten.
Ich spüre sein Herz schlagen, das Adrenalin durch seine Adern pulsieren.
Selbst jetzt, wo wir unter uns sind und entspannt den Berg hochklettern, gibt er alles. Keine Sekunde findet er Ruhe. Niemals.
Ro nicht.
Ein Schatten huscht über den Hügel. Instinktiv flüchten wir uns ins nächste Gebüsch. Ein langgestrecktes silbernes Raumschiff gleitet über den Himmel, ein bedrohliches Glitzern in der untergehenden Sonne. Obwohl mir kein bisschen kalt ist und ich mein Gesicht an Ros warme Schulter drücke, schaudere ich dennoch.
Ich kann nicht anders.
Ro spricht leise und beschwichtigend auf mich ein, ganz so, als redete er mit einem der Welpen des Padre. Damit meine ich mehr seinen Tonfall als das, was er sagt – so spricht man mit verängstigten Tieren. »Hab keine Angst, Dol. Es fliegt die Küste hoch, wahrscheinlich nach San Francisco. Sie dringen nie so weit ins Landesinnere vor, wenigstens nicht hier. Auf uns haben sie’s nicht abgesehen.«
»Das weißt du doch gar nicht.« Es klingt schroff, aber es ist wahr.
»Doch.«
Er legt den Arm um mich, und wir warten, bis die Gefahr an uns vorüberzieht.
Er kann es gar nicht wissen, woher denn auch.
Bereits seit Jahrhunderten, lange bevor wir kamen, lange bevor es überhaupt Raumschiffe gab, haben sich die Menschen in diesen Büschen versteckt.
Zuerst lebten hier die Chumash, dann die Rancheros, dann die spanischen Missionare, dann die Kalifornier, die Amerikaner und bis heute das Gras-Volk, dem ich angehöre, zumindest seit mich der Padre noch als Säugling nach La Purísima, die alte Gras-Mission in den Hügeln jenseits des Ozeans, gebracht hat.
Diese Hügel hier.
Wenn der Padre es erzählt, wird daraus immer dieselbe Geschichte: Er gehörte einem Trupp an, der nach jenem Tag in der Stillen Stadt nach Überlebenden suchte. Aber es gab keine mehr. Ganze Straßenzüge lagen da wie lautloser Regen. Doch auf einmal vernahm er ein Wimmern, so leise, dass er glaubte, es sich eingebildet zu haben, und da entdeckte er mich, vor Kälte blau angelaufen in einem Bettchen. Er hüllte mich in seinen Mantel und nahm mich mit nach Hause, ganz so, wie er uns jetzt immer streunende Hunde mitbringt.
Nachts am Feuer lehrte mich der Padre die Geschichte dieser Hügel, ebenso wie das Wissen um die Sternbilder und Mondphasen. Lehrte mich die Namen der Völker, die vor uns dieses Land besiedelten.
Vielleicht hatte alles seine Richtigkeit, so wie es war. Vielleicht ist das Ganze – die Besatzung durch die Gesandtschaften – nur ein Teil des natürlichen Laufs der Dinge. Wie der Wechsel der Jahreszeiten oder die Raupe, die zum Schmetterling wird. Wie der Wasserkreislauf. Die Gezeiten.
Chumash Rancheros Spanier Kalifornier Amerikaner Gras.
Manchmal wiederhole ich den Namen meines Volkes, aller Völker, die jemals in der Mission gelebt haben. Ich sage die Namen auf und denke: Ich bin sie, und sie sind ich.
Ich bin die Mission La Purísima, die an Mariä Empfängnis am achten Tag des zwölften Monats im Jahr unseres Herrn 1787 in Las Californias gegründet worden war.
Chumash Rancheros Spanier Kalifornier Amerikaner Gras.
Wenn ich die Namen so aufsage, sind sie für mich alle noch da. Niemand ist gestorben, nichts hat ein Ende genommen. Wir sind alle immer noch hier.
Ich bin immer noch hier.
Mehr will ich nicht, nur hierbleiben. Und dass Ro bleibt und der Padre. Dass wir in Sicherheit sind, ein jeder in der Mission.
Aber während ich so den Hügel hinabschaue, weiß ich, dass nichts so bleiben wird, und das allmählich verblassende goldrote Leuchten kündet an, dass die Sonne bald untergehen wird.
Niemand kann sie dabei aufhalten, auch ich nicht.
Streng Geheim/Ausschliesslich für die Gesandte bestimmt
Von: Dr. Huxley-Clarke
An: Ambassador Amare
Betreff: ICON-Forschung
Wir wissen noch immer nicht genau, wie ICONS funktionieren. Bekannt ist nur, dass, als die Herrscher kamen, dreizehn ICONS vom Himmel fielen – eine in jede Mega-City der Erde. Bis zum heutigen Tag ist es uns nicht gelungen, nahe genug an sie heranzukommen, um sie zu erforschen. Wir halten es für am wahrscheinlichsten, dass ein enorm starkes elektromagnetisches Feld um die ICONS herum existiert, das alle elektrische Aktivität innerhalb eines bestimmten Radius zum Erliegen bringt. Wir gehen davon aus, dass dieses Feld den ICONS erlaubt, alle modernen Technologien außer Kraft zu setzen und zu unterbinden. Vermutlich ist es den ICONS auch möglich, alle chemischen Prozesse und Reaktionen innerhalb des Feldes zum Stillstand zu bringen.
Anm.: Wir bezeichnen es als »Stilllegungseffekt«.
Jener Tag selbst erwies sich als die ultimative Demonstration dieses Potentials, an dem, wie allseits bekannt, die Herrscher ihre ICONS aktivierten und damit alle Hoffnung auf Widerstand zerstörten, indem sie mit den sogenannten »Stillen Städten« Exempel statuierten: San Francisco, São Paulo, Berlin, Kairo, Mumbai und Peking.
Am Ende jenes Tages gewannen die neueingetroffenen Herrscher die vollständige Kontrolle über alle größeren Bevölkerungszentren der Sieben Kontinente. Etwa eine Milliarde Menschenleben wurden auf der Stelle eliminiert. Das war die bisher größte Tragödie in der Menschheitsgeschichte.
Möge die Stille ihnen Frieden bringen.
Bis wir oben ankommen, hat sich der Himmel schwarz gefärbt, so dunkel wie die Auberginen im Missionsgarten.
Ro zieht mich den letzten Geröllhang hinter sich hinauf. »Jetzt mach die Augen zu.«
»Ro, was hast du da wieder verbrochen?«
»Nichts Schlimmes. Wenigstens nichts allzu Schlimmes.« Er sieht mich seufzend an. »Diesmal jedenfalls nicht. Komm schon, vertrau mir.«
Ich mache die Augen nicht zu. Stattdessen sehe ich zwischen den borkigen Baumstämmen hindurch in die Schatten darunter, wo jemand aus den Resten alter Plakatwände und rostendem Wellblech eine Hütte errichtet hat. Die Motorhaube eines Traktors geht über in Beine auf einem ausgeblichenen Plakat, mit einer Werbung für etwas, was wie Laufschuhe aussieht.
TU ES.
Das steht da bei den körperlosen Beinen in strahlend weißen, über die Abbildung verteilten Buchstaben.
»Vertraust du mir nicht?«, fragt Ro noch einmal und richtet den Blick auf die Hütte, als wolle er mir seinen kostbarsten Besitz zeigen.
Es gibt keinen, dem ich mehr vertraue. Das weiß Ro. Er weiß auch, dass ich Überraschungen hasse.
Ich schließe die Augen.
»Vorsicht. Jetzt duck dich.«
Selbst mit geschlossenen Augen weiß ich genau, dass ich die Hütte betreten habe. Ich spüre das Palmdach über meinem Kopf und wäre fast über die Wurzeln der ringsum stehenden Bäume gestolpert.
»Warte mal.« Er lässt meine Hand los. »Eins, zwei, drei. Happy birthday, Dol!«
Ich schlage die Augen auf. In den Händen halte ich das Ende einer Kette mit bunten Lichtern, die erstrahlen wie unmittelbar vom Himmel gefallene Sterne. Das Lichterband bildet so etwas wie einen funkelnden Kreis durch den gesamten Raum von mir bis zu Ro.
Ich klatsche in die Hände, in denen ich noch die Kette halte. »Ro! Wie –? Ist das Strom?«
Er nickt. »Gefällt es dir?« Seine Augen strahlen mit den Lichtern um die Wette. »Ist mir die Überraschung gelungen?«
»Da wär ich in tausend Jahren nicht drauf gekommen.«
»Es kommt noch mehr.«
Er geht zu einer merkwürdigen Vorrichtung an der Seite, zwei rostige Metallkreise, die über eine Stange mit einem porösen Ledersitz verbunden sind.
»Ein Fahrrad?«
»So was in der Art. Es ist ein Generator mit Pedalen. Das habe ich in einem der Bücher vom Padre entdeckt, zumindest den Plan dafür. Ich hab drei Monate gebraucht, bis ich alle Teile beisammenhatte. Allein das alte Fahrrad hat mich 20 Digs gekostet. Und sieh dir erst mal das an –«
Er zeigt auf zwei Gegenstände auf einem Brett und nimmt mir die Lichterkette ab, damit ich nach dem glatten metallenen Etwas greifen kann.
»Pan-a-sonic?« Mühsam entziffere ich den verblassten Schriftzug auf dem ersten Objekt, etwas Kastenförmiges, das ich von allen Seiten betrachte.
Ro entgegnet stolz: »Das ist ein Radiogerät.«
Kaum hat er es gesagt, dämmert mir, was das ist, und ich habe Mühe, es nicht fallen zu lassen. Ro bemerkt es nicht. »Damit hat man Musik gehört. Ich weiß allerdings nicht, ob es geht. Ich hab’s noch nicht ausprobiert.«
Ich stell es wieder ab. Ich weiß, was ein Radio ist. Meine Mutter hatte eines. In meinem Traum verstummt es jedes Mal, wenn jener Tag anbricht. Verunsichert fasse ich mir in die zerzausten braunen Locken.
Er hat keine Schuld daran. Er weiß nichts davon. Ich habe noch nie jemandem von dem Traum erzählt, noch nicht mal dem Padre. Das zeugt davon, wie ungern ich daran denke.
Schnell wechsle ich das Thema. »Und das hier?« Ich greife nach einem kleinen silbernen Rechteck, kaum größer als meine Handfläche. Auf der einen Seite ist eine Frucht abgebildet.
Ro grinst. »Es ist eine Art Speicherzelle. Damit kannst du alte Lieder hören.« Er nimmt mir das rechteckige Ding ab. »Es ist unglaublich, als ob du die Vergangenheit hören würdest. Aber es läuft nur mit Strom.«
Ich schüttle den Kopf: »Das versteh ich nicht.«
»Das ist dein Geschenk: Strom. Siehst du? Ich trete in die Pedale, und durch die Reibung entsteht Energie.«
Er setzt sich auf den Sattel und tritt mit aller Kraft in die Pedale. Die Lichterkette um mich herum glüht auf. Es ist so zauberhaft, dass ich einfach lachen muss. Ro sieht urkomisch aus, so völlig verschwitzt.
Er steigt vom Fahrrad und kniet sich neben eine kleine schwarze Kiste. Ich kann sehen, dass die Lichterkette damit verbunden ist. »Das ist die Batterie, hier wird der Strom gesammelt.«
»Genau hier?« Schlagartig wird mir das ungeheure Ausmaß dessen, was Ro da gerade macht, bewusst. »Ro, wir sollten die Finger davon lassen. Du weißt doch, dass wir außerhalb der Städte keinen Strom benutzen dürfen. Was, wenn das einer rauskriegt?«
»Wer soll das schon rauskriegen? Mitten in einer Gras-Mission? Auf dem Ziegenhügel mit Ausblick auf den Schweinestall. Du willst doch immer wissen, wie das vor jenem Tag war. Jetzt hast du Gelegenheit.«
Ro sieht sehr ernst aus, wie er da so inmitten des Gerümpels, umgeben von Drähten, steht.
»Ro«, setze ich an und suche nach den richtigen Worten, »ich –«
»Was?« Er klingt schroff.
»Das ist das allerbeste Geschenk.« Es ist alles, was ich herausbringe, aber es erscheint mir nicht genug. Er hat es für mich getan. Er würde jedes Radiogerät, jedes Fahrrad und jede Speicherzelle der Welt für mich neu erschaffen, wenn er könnte. Und wenn nicht, würde er es trotzdem versuchen, wenn er dächte, ich wünschte es mir von ihm.
Das ist Ro.
»Wirklich? Gefällt es dir?« Er ist beruhigt, erleichtert.
Ich liebe es, ebenso wie dich.
Das würde ich ihm gern sagen. Aber er ist Ro, mein bester Freund. Und er ließe sich lieber den Dreck aus den Ohren schrubben, als sich schmeichelnde Worte hineinflüstern zu lassen. Also sage ich gar nichts. Stattdessen lasse ich mich auf der Erde nieder und sehe mir meine anderen Geschenke genauer an. Für mein Lieblingsfoto von meiner Mutter, das mit ihren dunklen Augen und dem winzigen goldenen Kreuzanhänger um ihren Hals, hat Ro einen Rahmen aus Draht geformt.
»Ro, der ist wunderschön.« Ich fahre über jede einzelne kupferne Ranke.
»Sie ist wunderschön.« Er zuckt verschämt mit den Schultern. Deshalb nicke ich nur kurz und mache mich an das nächste Geschenk: ein altes Buch mit Geschichten, das er aus dem Regal des Padre geklaut hat. Es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass wir so etwas gemacht haben, und ich grinse ihm verschwörerisch zu. Zuletzt hebe ich das Radiogerät auf und untersuche die weißen Kabel. An ihren Enden sind zwei weichere Teile, und ich stecke eines davon ins Ohr. Lachend sehe ich Ro an und stecke ihm das andere in sein Ohr.
Ro dreht an einem Knopf an der Seite des Geräts. Laute Musik zerreißt die Stille. Ich springe erschrocken zurück, so dass der Ohrstöpsel durch die Luft wirbelt. Als ich ihn wieder einstöpsle, kann ich die Musik fast spüren. Das Nest aus Pappkartons, Sperrholz und Blech um uns herum vibriert geradezu.
Die Musik macht uns sorgenfrei, und wir singen und schreien, bis die Tür auffliegt und die Nacht hereindringt. Und mit ihr der Padre.
»DOLORIA MARIA DE LA CRUZ!«
So heiße ich richtig, obwohl das niemand wissen oder sagen sollte. Er benutzt es wie eine Waffe, schwingt es wie ein Schwert. Offenbar ist er ziemlich erbost. Der Padre, dessen Gesicht so rot und so klein ist wie Ros braungebrannt und groß, sieht so böse aus, als könnte uns ein einziges weiteres Wort von ihm niederstrecken.
»FURO COSTAS!«
Aber ich habe Ro gerade meinen Ohrstöpsel überlassen, und die Musik ist so laut, dass er den Padre gar nicht wahrnimmt. Ro singt völlig falsch dazu und tanzt noch schräger. Ich stehe wie erstarrt da, während der Padre Ro das weiße Kabel aus den Ohren reißt. Der Padre streckt die andere Hand aus, und Ro legt den silbernen Apparat hinein.
»Wie ich sehe, hast du mal wieder den Lagerraum geplündert, Furo.«
Ro schaut auf seine Füße herab.
Der Padre reißt die Lichterkette aus dem schwarzen Kasten; Funken fliegen durch den Raum. Der Padre zieht die Brauen hoch.
»Du hast Glück gehabt, dass du mit deiner Schmuggelware nicht den halben Berg abgefackelt hast«, sagt er mit gewichtiger Miene zu Ro. »Schon wieder.«
»Ja, ja, und was für ein Glück«, schnaubt Ro verächtlich. »Jeden Morgen, wenn ich noch vor Sonnenaufgang aufstehe und die Schweine füttern darf, denke ich daran, was ich doch für ein Glück habe.«
Der Padre lässt die Lichterkette wie eine Schlange fallen. »Es ist dir schon klar, dass eine Sympa-Patrouille die Lichter vom Hügel bis hinunter zu den Gleisen hätte sehen können?«
»Haben Sie nicht auch manchmal genug davon, sich immer zu verstecken?«, fragt Ro düster.
»Das kommt drauf an. Hast du manchmal auch genug davon, immer noch am Leben zu sein?«, entgegnet der Padre mit bohrendem Blick. Ro erwidert nichts.
Der Padre hat denselben Gesichtsausdruck, den er annimmt, wenn er über den Wirtschaftsbüchern sitzt, sie mit winzigen Zahlenreihen füllt, die Buchhaltung der Mission erledigt. Diesmal berechnet er die Strafmaßnahmen und multipliziert sie mit zwei. Ich zupfe ihn mit reumütigem Blick am Ärmel, eine Fertigkeit, die ich von klein auf gemeistert habe. »Ro hat es nicht böse gemeint, Padre. Seien Sie nicht wütend auf ihn. Er hat es für mich getan.«
Er fasst mich am Kinn, und sobald ich seine Berührung spüre, scanne ich ihn ab. Was ich zuerst wahrnehme, sind Angst und Sorge – nicht um sich, sondern um uns. Er würde am liebsten einen Schutzwall um uns herum errichten, aber das kann er nicht, und es macht ihn verrückt. Meistens ist er geduldig und nachsichtig. Sein Herz ist weicher als das der meisten. Er erinnert sich an alles – er war bereits erwachsen, als die ersten Raumfrachter eintrafen –, doch woran er sich in erster Linie erinnert, sind die Kinder, denen er geholfen hat. Ro, mir und all den anderen, die in der Mission gelebt haben, bis eine Familie für sie gefunden war.
Dann taucht etwas Neues vor meinem geistigen Auge auf.
Das Bild eines Buches nimmt Form an.
Der Padre packt es sorgfältig ein. Mein Geschenk.
Er lächelt mich an, und ich tue so, als wüsste ich von nichts.
»Morgen werden wir über etwas Größeres sprechen. Für heute ist es genug. Du kannst ja nichts dafür, Dolly. Es ist der Abend vor deinem Geburtstag.«
Und damit zwinkert er Ro zu und legt in der Kutte den Arm um mich, und wir wissen beide, dass er uns alles verziehen hat.
»Kommt zum Essen. Bigger und Biggest warten schon, und wenn wir noch länger brauchen, wird Ramona Jamona nicht mehr Gast an unserem Tisch, sondern das Hauptgericht darauf sein.«
Während wir den Hügel hinunterrutschen, flucht der Padre auf das Gestrüpp, das sich in seiner Kutte verfängt, und Ro und ich lachen wie die Kinder, die wir einst waren, als er uns gefunden hat. Eilig stolpern wir durch die Dunkelheit auf das warme gelbe Licht der Missionsküche zu. Selbstgezogene Kerzen aus Bienenwachs flackern im Fenster, und von den Deckenbalken hängen ausgeschnittene Krepppapiergirlanden.
Mein Geburtstagsvorabendessen ist ein voller Erfolg. Alle von der Mission sind da, fast ein Dutzend Leute mit den Feldarbeitern und Kirchenhelfern drängen sich um den langen Holztisch. Bigger und Biggest haben sämtliche noch so angeschlagenen Teller der Hütte aufgefahren. Ich darf auf dem Platz des Padre sitzen, eine Geburtstagstradition, und es gibt Käse-Kartoffel-Auflauf – mein Leibgericht – und Biggers berühmten Zuckerkuchen. Danach singen wir am Feuer die alten Lieder, bis der Mond hoch am Himmel steht, unsere Augenlider schwer sind und ich an meiner gewohnten Stelle vor dem warmen Ofen einschlafe.
Als der altbekannte Albtraum einsetzt – von meiner Mutter, mir und dem Radio, das verstummt – ist Ro bei mir auf dem Boden, mit Krümeln in den Mundwinkeln und Reisig in den Haaren.
Mein Schrottdieb. Bergbesteiger. Weltenerbauer.
Ich lege meinen Kopf an seinen Rücken und höre ihm beim Atmen zu. Ich frage mich, was morgen kommen wird, was mir der Padre wohl zu sagen hat.
Von etwas Größerem hat er geredet.
Ich denke darüber nach, was er damit wohl meinen könnte, bis ich mir ganz klein vorkomme, und müde einschlafe.
Streng Geheim
Ausgeführt von Dr. O. Brad Huxley-Clarke, VPh.D.
Anm.: auf persönliches Geheiß von Ambassador Amare hin
Santa Catalina Untersuchungsstation #9B
(s.a. PPBV im Anhang)
Die Verstorbene ist vermutlich den Gras-Rebellen zum Opfer gefallen. Als Person von Bedeutung für Ambassador Amare eingestuft.
Geschlecht: weiblich
Herkunft: unbestimmt
Alter: schätzungsweise zwischen fünfzehn und zwanzig
äußere Erscheinung:
Haarfarbe: braun. Augenfarbe: blau. Hautfarbe: leichte Tönung, die auf die Aussetzung der Elemente hinweist. Zeigt menschliche Proteinkennzeichnung und geringes Körpergewicht, das von einer überwiegend ländlichen Ernährungsweise zeugt. Die Fleckenmusterung auf den Zähnen stimmt mit den Essgewohnheiten der ortsansässigen Gras-Kultur überein.
charakteristische Körpermerkmale:
Auf der Innenseite des rechten Handgelenks ist eine deutlich erkennbare Markierung █████████ zu sehen. Auf Anordnung der Gesandten ist eine ████████ Probe des ██████████ entnommen worden unter Einhaltung des ██████ Sicherheitsprotokolls.
Todesursache:█████████████████████████
überlebende Angehörige: Nicht bekannt.
Vermerk: Nach der Laboruntersuchung wird die Leiche eingeäschert.
zuständige Entsorgungseinrichtung, Embassy City: Mülldeponie ███████████████
Gefühle sind Erinnerungen.
Das geht mir am Morgen meines Geburtstags in der Missionskapelle durch den Kopf. Es stammt vom Padre. Er sagt auch, dass in dieser Kapelle ganz gewöhnliche Menschen zu Philosophen werden.
Ich entspreche zwar nicht ganz dem Durchschnitt, aber ich bin auch keine Philosophin. Und so oder so, woran ich mich erinnere und was ich empfinde, sind die einzigen Dinge, vor denen ich nicht davonlaufen kann, ganz gleich, wie sehr ich es auch möchte.
Ganz gleich, wie sehr ich mich bemühe.
Im Augenblick ermahne ich mich, nicht nachzudenken. Ich konzentriere mich auf das, was ich sehe. Die Kapelle um mich herum ist dunkel, die Türöffnung dagegen blendend hell. Es ist jeden Morgen dasselbe Schauspiel in der Kapelle. Das bisschen Licht von der anderen Seite brennt und schmerzt mir in den Augen. Wie in der gesamten Mission kann man auch hier in der Kapelle so tun, als wäre seit Hunderten von Jahren nichts geschehen. Nicht so wie im Hole, dem Loch, von dem berichtet wird, dass die Gebäude zu Ruinen zerfallen und Sympa-Soldaten in den Straßen patrouillieren und sie mit Furcht erfüllen, und wo kein Tag vergeht, an dem man nicht an jenen Tag erinnert wird.
Das Loch hieß früher einmal Los Angeles. Zuerst Los Angeles, dann wurde daraus City of Angels, dann Holy City und nun wird es nur noch »das Hole« genannt. Als ich klein war, hab ich es mir immer als das »Haus der Herrscher« vorgestellt, mit lauter Engeln. Niemand würde sie jetzt noch als Außerirdische bezeichnen, denn sie sind längst keine mehr. Sie sind uns bekannt. Wir bekommen sie zwar nie zu Gesicht, aber wir kennen kein Leben mehr ohne sie, Ro und ich jedenfalls nicht. Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass sie Engel wären, weil sie an jenem Tag meine Eltern in den Himmel gesandt haben. Das haben mir zumindest die Missionare des Gras-Lands erzählt, als ich anfing, Fragen zu stellen.
In den Himmel, nicht unter die Erde.
Engel, nicht Außerirdische.
Aber nur weil etwas vom Himmel kommt, wird es dadurch noch lang nicht zum Engel. An jenem Tag sind die Herrscher nicht vom Himmel herabgestiegen, um uns zu erretten. Sie kamen von einem entlegenen Sonnensystem und kolonialisierten unseren Planeten. Wir haben keine klare Vorstellung von ihnen in ihren Raumfrachtern, aber Engel sind es bestimmt nicht. Im selben Jahr, in dem ich zur Welt kam, haben sie meine Familie ausgelöscht. Welcher Engel würde so etwas tun?
Inzwischen sprechen wir von ihnen als den Herrschern, und auch wenn Ambassador Amare uns immer wieder beteuert, wir brauchten uns nicht vor ihnen zu fürchten, tun wir es dennoch.
Genauso wie wir die Gesandte selbst fürchten.
Ohne zu wissen, wie ihnen geschah, starben an jenem Tag viele still und leise in ihren Häusern. Von den neuen Herrschern haben sie niemals erfahren, nicht, wie sie ihre ICONSdazu benutzten, um die Energien, die durch unsere Körper, unsere Maschinen, unsere Städte flossen, zu kontrollieren.
Auch nicht, wie es ihnen gelang, sie zum Stillstand zu bringen.
Wie auch immer, meine Familie lebt nicht mehr. Es gibt keinen Grund, weshalb ich überlebt habe. Keiner versteht, wie es dazu kommen konnte.
Der Padre hatte natürlich einen Verdacht. Deshalb hat er mich aufgelesen, erst mich, dann Ro.
Von der anderen Seite der Kapelle dringt ein Rascheln zu mir herüber.
Ich kneife die Augen zusammen, aber ich kann nichts sehen und kehre der Tür hinten den Rücken zu.
Wahrscheinlich hat der Padre nach mir geschickt, er ist allerdings ganz schön spät dran. Mein Blick streift die Heilige Jungfrau auf dem Bildnis an der Wand. Sie sieht so traurig aus. Ich glaube, sie weiß, was geschehen ist. Sie weiß bestimmt alles. Sie ist Teil dessen, was das Oberhaupt der Vereinigten Gesandtschaften, Hiro Miyazawa, der Generalgesandte des Planeten, die alte Weise der Menschheit nennt – als wir noch an uns glaubten, uns selbst überdauerten. Wie wir unser Haupt erhoben, damals, als wir noch dachten, dass da oben jemand wäre.
Nicht etwas.
Ich schaue noch etwas länger zu der Heiligen Jungfrau hinauf, bis sich ihre Traurigkeit auf mich überträgt und ihr Schmerz mich durchdringt. Er zuckt durch meine Schläfen, und ich merke, wie er mich an den Rand der Bewusstlosigkeit treibt, wie mein Verstand aussetzt. Etwas stimmt nicht. Das ist eindeutig, wenn dieser vertraute Schmerz mich so plötzlich überfällt. Ich drücke gegen meine Schläfe und bemühe mich, ihm Einhalt zu gebieten. Ich atme tief durch, bis ich wieder klar sehen kann.
»Padre?«
Meine Stimme hallt von Holz und Stein wider. Es klingt so kleinlaut, wie ich mich fühle. Irgendein Tier strauchelt gegen mein Bein, eins von den vielen, die jetzt zur Kapelle hereindrängen. Meine Nasenflügel füllen sich mit Gerüchen – Felle, Tierhaut und Hufe, Farbe, Schimmel und Dung. Mein Geburtstag fällt auf den Tag der Tierweihe, die in ein paar Stunden losgeht. Gras-Farmer und Viehhalter aus der gesamten Umgebung strömen mit ihren Tieren herbei, um sie, wie seit dreihundert Jahren, vom Padre segnen zu lassen. Es ist eine Gras-Tradition, und wir sind eine Gras-Mission.
Während er eintritt und beginnt, die Festtagskerzen anzuzünden, lächelt mir der Padre zu. Dann verschwindet sein Lächeln. »Wo ist denn Furo? Bigger und Biggest suchen schon den ganzen Morgen nach ihm.«
Ich zucke mit den Schultern. Ich kann mich nicht den ganzen Tag um Ro kümmern. Möglicherweise klaut er gerade Biggers gesamte Notration getrockneter Getreidekuchen. Oder jagt Biggests Esel. Schleicht die Gleise entlang in Richtung Hole, um weitere Teile für die kaputte alte Pistole des Padre zu ergattern, die nur zu Silvester abgefeuert wird. Trifft Leute, von denen er nicht will, dass ich sie kennenlerne, erfährt Dinge, von denen er nicht will, dass ich sie erfahre. Bereitet sich auf einen Krieg vor, den er niemals kämpfen wird, gegen einen Feind, der unbesiegbar ist.
Er muss selbst wissen, was er da macht.
Der Padre, geistesabwesend wie immer, ist mit den Gedanken schon wieder woanders. »Vorsicht!« Ich bekomme ihn gerade noch rechtzeitig am Ellbogen zu fassen und führe ihn um einen Schweinehaufen herum. Das war knapp.
Er schnalzt mit der Zunge und beugt sich hinunter, um Ramona Jamona das Kinn zu tätscheln. »Ramona Jamona, doch nicht in der Kapelle.« Es ist nur Show, im Ernst. Wenn es kalt ist, lässt er die dicke rosa Sau bei sich im Schlafzimmer nächtigen. Das weiß jeder. Ro und mich liebt er genauso wie Ramona Jamona, trotz allem, was wir anstellen und unabhängig von dem, was er sagen mag. Er ist der einzige Vater, den wir je kannten, und auch wenn ich ihn mit Padre anrede, betrachte ich ihn als meinen Padre.
»Sie ist eine Sau, Padre. Sie macht, was sie will. Sie versteht nicht, was Sie ihr sagen.«
»Nun ja, die Tierweihe ist ja nur einmal im Jahr. Wir können den Boden morgen wieder saubermachen. Die Kreaturen der Erde brauchen unsere Gebete.«
»Ich weiß. Es stört mich nicht.« Nachdenklich betrachte ich die Tiere. Der Padre lässt sich auf einer der langen Holzbänke nieder und klopft auf den Platz neben sich. »Wir können uns einen Augenblick nur für uns gönnen. Setz dich zu mir.«
Ich komme seinem Wunsch nach.
Er lächelt und fasst mich unterm Kinn. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Dolly.« Er hält mir ein Päckchen hin, das in braunes Papier eingeschlagen und mit Schnur zusammengebunden ist. Irgendwie hat er es mit priesterlicher Fingerfertigkeit aus seiner Kutte hervorgezaubert.
Geburtstagsheimlichkeiten. Endlich! Mein Buch.
Anhand der gestern erhaschten Gedanken erkenne ich es sofort wieder. Er streckt es mir freudlos entgegen.
Ich sehe nur seine Traurigkeit.
»Sei sehr vorsichtig damit. Gib es niemals aus der Hand. Es ist etwas ganz Besonderes. Es geht darin um dich.«
Ich lasse die Hand sinken.
»Doloria.« Ich erstarre, als er mich bei meinem vollen Namen nennt, und wappne mich für das, was ich befürchte, das nun kommen wird. »Ich weiß, dass du nicht darüber reden willst, aber es ist an der Zeit. Es gibt Leute, die dir Schaden zufügen könnten, Doloria. Ich war nicht ehrlich, als ich dir erzählt habe, wie ich dich gefunden habe. Ich habe dir nicht alles gesagt. Warum du den Angriff überlebt hast, aber deine Familie nicht. Ich glaube, du bist jetzt so weit, es zu erfahren.« Er beugt sich näher zu mir. »Wieso ich dich versteckt gehalten habe. Wieso du etwas Besonderes bist. Wer du bist.«
Seit meinem zehnten Geburtstag graut mir vor diesem Gespräch. Das war der Tag, an dem er mir zum ersten Mal davon erzählt hat, wer ich bin und dass ich anders bin. An diesem Tag, bei dick mit selbstgeschlagener Butter bestrichenem Zuckerkuchen und Sonnentee, erzählte er mir zaudernd von der schleichenden Traurigkeit, die mich immer wieder überfällt und die so schwer ist, dass das Herz in meiner Brust flattert, wie das eines aufgeschreckten Tieres, und es mir den Atem verschlägt. Von dem Schmerz, der durch meinen Kopf zuckt oder mich zwischen die Schulterblätter trifft. Von den Albträumen, die so real sind, dass ich Angst habe, Ro könne eines Morgens hereinkommen und mich kalt und reglos in meinem Bett vorfinden.
Als ob man tatsächlich an einem gebrochenen Herz sterben könnte.
Aber der Padre hat mir nie erzählt, woher diese Gefühle rührten. Das war etwas, was selbst er nicht wusste.
Ich wünschte, es gäbe jemanden, der es weiß.
»Doloria.«
Er wiederholt meinen Namen, um mich daran zu erinnern, dass er mein Geheimnis kennt. Er ist der Einzige, außer Ro. Wenn wir unter uns sind, gestatte ich es Ro manchmal, mich Doloria zu nennen, aber auch er nennt mich meist Dol oder gar Dodo. Für alle anderen bin ich einfach Dolly.
Nicht Doloria Maria de la Cruz, nicht die Leidende, kein WEEPER, als den mich der graue Punkt am Handgelenk kennzeichnet.
Ein einziger kleiner Kreis, gefüllt mit der Farbe des Meeres bei Regen.
Das Einzige, was mich wirklich bestimmt.
Meine Bestimmung.
Dolor steht für Kummer und Schmerz, in Altgriechisch oder Lateinisch oder irgendeiner anderen Sprache, lang, lang vor jenem Tag. VJT. Bevor sich alles änderte.
»Mach es auf.«
Ich sehe ihn unsicher an. Ein Luftzug weht unstet durch den Raum, die Kerzen fangen an zu flackern. Ramona Jamona schnüffelt nahe beim Altar. Dann sucht sie mit ihrer Schnauze an meinen Fingern nach Honig.
Ich streife das Papier ab, löse die Schnur. Was darunter zum Vorschein kommt, ist weniger ein Buch als ein Notizheft. Der Einband ist selbstgemacht aus dicker, grober Jute. Es ist ein Gras-Buch, unzulässig, illegal. Sehr wahrscheinlich allen Gesandtschaftsbestimmungen zum Trotz und gerade deshalb von den Rebellen gehütet. Diese Art von Büchern handelt meist von Themen, die von den Gesandten der Welt nicht gebilligt werden. Es ist schwer, an sie heranzukommen, und sie sind äußerst kostbar.
Tränen treten mir in die Augen, als ich den Titel auf dem Einband lese. Projekt Menschheit: Die ICON-Kinder. Es scheint mit der Hand geschrieben zu sein.
»Nein«, hauche ich.
»Doch. Lies es.« Er nickt mir zu. »Ich sollte es für dich aufbewahren und dafür sorgen, dass du es liest, wenn du alt genug dafür bist.«
»Wer hat das gesagt? Wieso?«
»Ich weiß es selbst nicht. Ich habe das Buch zusammen mit einer Nachricht auf dem Altar gefunden, kurz nachdem ich dich hierhergebracht hatte. Lies es einfach. Es ist an der Zeit. Kein anderer weiß über dieses Thema so genau Bescheid wie der Verfasser. Allem Anschein nach ist es von jemandem mit Doktortitel handschriftlich aufgezeichnet worden.«
»Ich weiß genug darüber, dass ich nicht noch mehr lesen will.« Ich sehe mich nach Ro um. Ich wünsche mir verzweifelt, dass er in diesem Augenblick in die Kapelle träte. Aber der Padre ist der Padre, deshalb öffne ich das Buch an einer Stelle, die er markiert hat, und beginne über mich selbst zu lesen:
ICON doloris.
Dolorus. Doloria. Ich.
Meine Bestimmung ist Schmerz, und mein Name bedeutet »Kummer und Sorgen«.
Das besagt der einzelne graue Punkt.
Nein.
»Ich bin noch nicht so weit.« Ich sehe zu dem Padre auf und schüttele den Kopf und schiebe das Buch unter meinen Gürtel. Hiermit ist das Gespräch beendet.
Die Geschichte über mich kann warten, bis ich dazu bereit bin. Mein Herz schmerzt wieder, diesmal noch stärker.
Ich vernehme ungewohnte Geräusche, spüre, wie sich die Atmosphäre verändert. Ich sehe mich nach Ramona Jamona um, in der Hoffnung, sie möge mir beistehen, aber sie liegt mir fest schlafend zu Füßen.
Nein, sie schläft gar nicht.
Um sie herum hat sich eine dunkle Lache gebildet.
Aufgeschreckt flattert das kalte Tier in meiner Brust wieder auf.
Ein altbekanntes Gefühl überfällt mich. Etwas stimmt ganz und gar nicht. Gedämpfte Schüsse hallen durch den Raum.
»Padre?«, sage ich.
Dann sehe ich ihn an und erkenne, dass es nicht mein Padre ist. Nicht mehr.
»Padre!«, schreie ich. Er rührt sich nicht. Er ist nicht mehr. Er sitzt immer noch lächelnd neben mir, doch er hat aufgehört zu atmen.
Er lebt nicht mehr.
Mein Verstand arbeitet langsam. Ich kann mir keinen Reim darauf machen. Seine Augen sind leer, und sein Mund steht offen. Er ist tot.
Alles ist dahin. Seine Witze. Seine geheimen Rezepte, die Sahne, die er mit flachen, runden Steinen zu Butter geschlagen hat, Reihen von Gläsern mit Sonnentee, die er aufstellte, alles dahin. Und mit ihm alle anderen Geheimnisse, meine Geheimnisse.
Doch ich hab keine Zeit, darüber nachzudenken, denn hinter dem, was einmal der Padre war, haben sich mehrere maskierte Soldaten formiert. Sympas. Sympathisanten der Besatzung, Verräter an der Menschheit. Soldaten der Gesandtschaft, die ihre Befehle von den Herrschern erhalten, die sich hinter Plexiglas-Masken und schwarzer Rüstung verstecken und im Schweinekot stehend ihre langen Schatten über den todbringenden Frieden in der Kapelle werfen. Einer trägt Messingflügel an der Jacke. Das ist das Einzige, was ich bemerke, außer den Waffen. Ihre Gewehre sind lautlos, und trotzdem brechen die Tiere in Panik aus. Sie schreien – etwas, was mir neu ist –, schreiende Tiere.
Ich öffne den Mund, aber es kommt kein Schrei heraus. Stattdessen übergebe ich mich.
Ich erbreche grünen Magensaft und grauen Staub, Erinnerungen an Ramona Jamona und den Padre.
Alles, was ich wahrnehme, sind die Gewehre. Alles, was ich spüre, ist Hass und Angst. Schwarze Handschuhe packen mich an den Handgelenken, überwältigen mich, und ich denke nur, dass ich mir um meine Albträume bald keine Gedanken mehr zu machen brauche.
Dann werde ich nämlich tot sein.
Während meine Beine nachgeben, schießt mir durch den Kopf, wie wütend Ro darüber sein wird, dass ich ihn allein lasse.
Streng Geheim
Ausgeführt von Dr. O. Brad Huxley-Clarke, VPh.D.
Anm.: auf persönliches Geheiß von Ambassador Amare hin
Santa Catalina Untersuchungsstation #9B
(s.a. behördlich angeordnete Autopsie im Anhang)
Inhalt des zerrissenen Armee-Brustbeutels, der bei der Verstorbenen gefunden wurde (vgl. beiliegende Fotografien):
1. ein elektronisches Gerät, silberfarben und rechteckig; dabei scheint es sich um ein Radio, Schmuggelware aus der Vor-Besatzungszeit, zu handeln
2. das Foto einer Frau; ähnelt der Verstorbenen in Gestalt und Aussehen, möglicherweise eine verstorbene Familienangehörige
3. ███████████████████
4. ████████████████████████████████████████████████████
5. getrocknete Pflanzenfasern; unterstützt die vorausgegangene Annahme einer vegetarischen Ernährung der Verstorbenen
6. eine blaue Glasperle; Bedeutung unbekannt
7. ein Baumwollstreifen mit Spuren von biologisch-natürlichen Materialien wie bei einem Verband, wahrscheinlich für das Handgelenk, wie es für █████████ üblich ist
… Doch ich lebe.
Als ich die Augen aufmache, finde ich mich in einem Zug wieder, allein in einem stahlgrauen Waggon für Gefangenentransporte, der von einer mit Kohle geheizten Dampflok gezogen wird. Nichts außer vier Wänden mit Metallbänken, die mit Schrauben im Boden befestigt sind. Links eine Tür, rechts ein Fenster. Ein Bündel mit alten Lumpen in der Ecke. Sonst nichts. Höchstwahrscheinlich befinde ich mich auf den Gleisen und rattere auf das Hole zu. Die trüben blauen Gewässer der Porthole Bay rücken immer wieder ins Blickfeld, rhythmisch getaktet von alten vorbeihuschenden Comlink-Telefonmasten, die sich wie unzählige nutzlose Fingergerippe von der Landschaft abheben.
Ich spiegle mich im Fenster. Mein offenes braunes Haar wirkt dunkler; Schmutz und Erbrochenes kleben daran. Meine Haut ist blass und umhüllt mit Ach und Krach die Handvoll kleiner Knochen, aus denen ich bestehe. Dann verwackelt mein Spiegelbild, und in dem Plexiglasfenster erscheine ich so traurig wie die Madonna auf dem Gemälde in der Kapelle. Weil der Padre tot ist.
Ich versuche mich an sein Gesicht zu erinnern, mich daran festzuhalten, an den Lachfalten um seine Augen, dem Leberfleck auf seiner Wange. Die widerspenstige Tolle in seinem ansonsten schütteren Haar. Ich habe Angst, dass mir die Details entfallen, er mir ganz abhandenkommen könnte – selbst in der Erinnerung. Wenn nicht heute, dann morgen.
Den Padre kann ich ebenso wenig festhalten wie alles andere.
Nicht mehr.
Ich sehe auf die Bucht und spüre mit derselben geballten Gewalt der Fluten da draußen die Galle in mir hochsteigen. Normalerweise hat Wasser eine beruhigende Wirkung auf mich. Aber nicht heute. Heute erkenne ich den Ozean kaum wieder, und ich umklammere die blaue Glasperle um meinen Hals. Ich frage mich, wo mich die Gleise hinführen werden. In den Tod? Zu Schlimmerem?
Mein Blick streift über zurückgelassene rostige Autos auf dem Highway neben den Gleisen, zu Schrott verfallen, als wäre der Planet schlagartig eingefroren und alles Leben abrupt beendet worden, was ziemlich genau dem entspricht, was an jenem Tag geschehen ist, nachdem das Herrscherhaus in seinen Raumfrachtern herniederkam und mit ihm dreizehn ICONS vom Himmel fielen, eins in jede der Mega-Citys.
Der Padre erzählt – erzählte –, dass Menschen über die gesamte Erde verteilt gelebt haben. In Dörfern, Klein- und Großstädten. Nicht mehr. Inzwischen lebt der Großteil der Restweltbevölkerung im Umkreis von hundert Meilen der Mega-Citys. Der Padre hat mir auch erklärt, dass es dazu erst gekommen sei, weil weite Teile der Erde von den Menschen zerstört worden waren: durch Hochwasser, ansteigende Temperaturen, Dürren, Überschwemmungen. Einige Teile des Planeten sind bei verheerenden Kriegsereignissen lebensbedrohlich verstrahlt worden. Die Leute drängen sich in den Städten, weil es kaum noch andere Lebensräume gibt.
Alles, was die Menschen zum Leben brauchen, wird direkt in den Mega-Citys oder in deren Umkreis produziert. Energie, Nahrung, Technik – alles konzentriert sich auf diese Städte. Was den Herrschern ihr Werk enorm erleichtert.
Die ICONS regulieren das Ganze durch elektronische Impulse. Laut dem Padre können die ICONS die Energiequellen kontrollieren, den Strom, der zwischen Generatoren und Maschinen fließt, und sogar die elektronischen Impulse, die das Hirn mit dem restlichen Körper verbinden. Sie können jederzeit sämtliche elektrischen und chemischen Aktivitäten zum Stillstand bringen. Und genau das ist in San Francisco an jenem Tag passiert. Ebenso wie in São Paulo, Berlin, Kairo, Mumbai und Peking. Den Stillen Städten. Deshalb haben wir auch vor den Herrschern kapituliert und ihnen unseren Planeten überlassen.
Aber da draußen im Gras-Land, wie etwa in der Mission, sind wir freier. Je weiter man sich von den ICONS entfernt, desto geringer ist ihr Einfluss. Und dennoch verfügen die Herrscher und ihre Gesandten über die Macht, weil sie die Ressourcen in der Hand halten. Sie besitzen wirkungsvolle Waffen. Zudem gibt es im Gras-Land keinen Strom, keine Energiequellen. Und trotz alledem habe ich Hoffnung. Der Padre wollte mich immer beruhigen, indem er sagte: Alles hat seine Grenzen. Alles hat einmal ein Ende. Über die Stadtgrenzen hinaus und außerhalb der Reichweite der ICONS geht das Leben weiter. Sie können nicht alles abschalten. Sie haben noch nicht den gesamten Planeten in ihrer Hand. Noch nicht.
Ohne von einem Pferd gezogen oder einem Menschen angetrieben zu werden, funktioniert im Gras-Land gar nichts. Aber wenigstens haben wir die Gewissheit, dass unser Herz am nächsten Morgen noch schlagen, Luft durch unsere Lungen strömen wird und wir vor Kälte zittern werden. Was mehr ist, als ich über meine eigene Zukunft vorauszusagen vermag.
Ich habe mich getäuscht. Ich bin nicht allein. Ein Stöhnen geht von dem Lumpenbündel in der Ecke aus. Mir gegenüber liegt ein Mann mit dem Gesicht nach unten. Er riecht nach Remnant, einem Übriggebliebenen aus dem Hole, den nach wie vor in der Stadt lebenden Menschen, wie die Gesandtschaft uns bezeichnet, für die wir nur ein Stück wertloser Müll sind. Dieser hier riecht dazu noch, als würde er im Schweinestall leben – bei betrunkenen Schweinen.
Mein Herz beginnt zu rasen. Ich spüre das Adrenalin pulsieren. Hitze. Wut. Das sind nicht nur die Soldaten, die ich wahrnehme. Da ist noch etwas.
Ro ist hier.
Ich schließe die Augen und erspüre ihn. Ich sehe ihn nicht, aber ich bin mir sicher, dass er in der Nähe ist. Nein, nicht, denke ich, auch wenn er mich nicht hören kann. Lass mich ziehen, Ro. Bring dich in Sicherheit.
Ro hasst die Sympas. Ich weiß genau, wenn er mir folgt, wird die Wut ihm folgen und er dabei sehr wahrscheinlich umkommen. Genau wie der Padre. Genau wie meine Eltern und die von Ro. Genau wie alle anderen.
Doch er wird mir bestimmt trotzdem folgen.
Der Mann setzt sich stöhnend auf. Es sieht aus, als wäre ihm übel, wie er da an der Wand des schlingernden Zuges lehnt. Ich lauere beim Fenster, rüste mich.
Die Comlink-Masten ziehen klatschend vorüber. Die Schienen machen eine Biege, und die Küstenlinie der Porthole Bay mit dem Hole im Anschluss rücken ins Blickfeld. Ein paar primitive Ruderboote treiben in Ufernähe auf dem Wasser. Dahinter ragt das Hole auf, die größte Stadt an der Westküste. Die einzige noch bewohnte, nachdem San Francisco zum Erliegen gebracht wurde. Ich vermeide es, das ICON anzusehen, obwohl ich weiß, dass es da ist. Es scheint immer da zu sein, erhebt sich oben vom Hügel aus scharfumrissen über die Stadt, markant wie ein Messer in der sonst so gleichförmigen Skyline. Was einstmals als Sternwarte gedient hat, ist von der schwarzen aus dem Gebäude ragenden Monstrosität ausgeschlachtet und umfunktioniert worden. Es ist ein unmenschliches Mahnmal, das von den neuen Herrschern zur Erde geschickt wurde, um sie zu durchbohren und uns zu warnen und daran zu erinnern, dass wir keine Kontrolle darüber haben.
Dass unsere Herzen nur mit ihrer Erlaubnis schlagen.
Wenn ich nicht aufpasse, spüre ich sie alle auf einmal, alle Menschen im Hole. Sie bemächtigen sich meiner ohne Vorankündigung. Ein jeder im Hole, ein jeder in der Gesandtschaft. Sympas wie Remnants und sogar Ambassador Amare. Ich wehre mich dagegen, versuche sie abzuschütteln. Ich tue alles, damit ich nichts empfinde, habe schon viel zu viel gespürt, versuche den Aufwallungen zu trotzen. Wenn ich sie an mich heranlasse, bekomme ich Angst, mich zu verlieren, alles zu verlieren.
Chumash Rancheros Spanier Kalifornier Amerikaner Gras.