5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €
Was ist richtig und was falsch, wenn ein Mörder Verbrecher jagt?
Der packende Ermittler-Thriller über tiefe menschliche Abgründe
Als ein bekannter Vergewaltiger kurz nach seiner Freisprechung brutal ermordet wird, übernehmen die erfahrenen FBI-Agents Carl Maddox und Nici Fulton den Fall. Schnell ergibt sich eine Verbindung zu einem anderen Fall, bei dem ein Mehrfachmörder, der wegen eines Verfahrensfehler davongekommen ist, tot aufgefunden wird. Alles spricht dafür, dass jemand die Justiz auf brutale Weise selbst in die Hand nimmt. Doch der Täter ist vorsichtig und weiß, was er tut, sodass Maddox und Fulton trotz wachsender Opferzahl im Dunkeln tappen. Erst als sie aufs Ganze gehen, kommen sie dem Vigilanten langsam auf die Spur, doch geraten dabei selbst ins Visier des Mörders …
Erste Leser:innenstimmen
„Fesselnder Thriller, der mit jeder Seite mehr an Fahrt aufnimmt!“
„Wer gerne Krimis und Thriller über Serienmörder liest, sollte hier dringend zuschlagen.“
„Spannende Handlung, intelligente Ermittler, raffinierter Mörder – ein echter Pageturner!“
„Wirft Fragen zu Rache und Gerechtigkeit, Selbstjustiz, moralischen Dilemma auf und lässt einen nicht mehr los.“
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 535
Als ein bekannter Vergewaltiger kurz nach seiner Freisprechung brutal ermordet wird, übernehmen die erfahrenen FBI-Agents Carl Maddox und Nici Fulton den Fall. Schnell ergibt sich eine Verbindung zu einem anderen Fall, bei dem ein Mehrfachmörder, der wegen eines Verfahrensfehler davongekommen ist, tot aufgefunden wird. Alles spricht dafür, dass jemand die Justiz auf brutale Weise selbst in die Hand nimmt. Doch der Täter ist vorsichtig und weiß, was er tut, sodass Maddox und Fulton trotz wachsender Opferzahl im Dunkeln tappen. Erst als sie aufs Ganze gehen, kommen sie dem Vigilanten langsam auf die Spur, doch geraten dabei selbst ins Visier des Mörders …
Erstausgabe Dezember 2023
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98637-513-3 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-134-6 Hörbuch-ISBN: 978-3-98778-617-4
Covergestaltung: Nadine Most unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © breakingthewalls, © daboost Lektorat: Astrid Pfister
E-Book-Version 17.09.2024, 10:44:52.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Unser gesamtes Verlagsprogramm findest du hier
Website
Folge uns, um immer als Erste:r informiert zu sein
TikTok
YouTube
Was ist richtig und was falsch, wenn ein Mörder Verbrecher jagt?Der packende Ermittler-Thriller über tiefe menschliche Abgründe
»In der Verhandlung des Falles Der Staat gegen Jacob Mason wird heute das Schlussplädoyer erwartet«, sprach die Reporterin in ihr Mikrofon. »Danach wird sich die Jury zur Beratung zurückziehen. Zum momentanen Stand ist davon auszugehen, dass Mason in allen Punkten schuldig gesprochen und zur Höchststrafe verurteilt werden wird.«
Die Frau, die an diesem sonnigen Tag vor dem New Yorker Gerichtsgebäude stand und in eine tragbare Kamera sprach, hieß Sharon Powers und war seit bald fünf Jahren als Berichterstatterin tätig. Gemeinsam mit ihr hatten sich noch einige weitere Nachrichtenteams eingefunden, um live für ihre jeweiligen Sender zu berichten. Im Hintergrund befanden sich viele Schaulustige, die den Prozess über die vergangenen Wochen mal mehr, mal weniger intensiv verfolgt hatten. Jacob J. Mason, dreiundvierzig Jahre alt, war seit seiner Verhaftung vor einigen Monaten das Hauptthema in allen regionalen und überregionalen Medien gewesen, denn – zumindest laut der New Yorker Staatsanwaltschaft – war er für nachweislich mindestens drei Vergewaltigungen verantwortlich. Während sich zwei seiner Opfer derzeit in psychiatrischer Behandlung befanden, hatte das dritte Opfer einen drastischeren Weg gewählt und sich in aller Öffentlichkeit mit einem Küchenmesser die Pulsadern aufgeschnitten. Ihr Tod hatte eine Welle der Entrüstung in der größten Stadt der Vereinigten Staaten losgetreten, und nicht wenige hatten für Mason die Todesstrafe gefordert. Der amtierende Bürgermeister der Metropole, ein parteiloser Mann namens Steven Whatney, hatte sich ebenfalls öffentlich geäußert und gefordert, dass die Justiz volle Härte zeigen müsse, um etwaige Nachahmer fernzuhalten. Daraufhin hatten sich einige Kritiker zu Wort gemeldet und erklärt, dass Whatney ihrer Meinung nach viel mehr für die Prävention tun müsse, anstatt jetzt einen Sündenbock für seine verfehlte Politik zu suchen. Alles in allem war die Stimmung in New York sehr angespannt.
»Da kommt er«, erklärte die Reporterin, schob sich eine Strähne ihres blondierten Haares aus der Stirn und wies mit der freien Hand auf einen gepanzerten Wagen, der soeben langsam die Straße herunterfuhr und nur wenige Meter vor dem Haupteingang des Gerichtsgebäudes zum Stehen kam.
Der Kameramann schwenkte herum und fokussierte das Fahrzeug, aus dem nun zwei schwer bewaffnete Polizisten stiegen, bevor der Angeklagte folgte, die Hände und Füße gefesselt. Nachdem die beiden Bewaffneten den Mann in Empfang genommen hatten, stiegen noch zwei weitere Beamte aus. Als sie Mason in ihre Mitte genommen hatten, gingen sie die extra abgesperrte und mit weiteren Polizisten gesicherte Gasse entlang und dann die marmorierten Stufen zum Hauptportal der Justizhalle hinauf. Schaulustige aus allen Richtungen drängten sich so weit wie möglich heran, um einen Blick auf Mason erhaschen und Fotos für die sozialen Medien machen zu können. Einige der Versammelten brüllten lautstark Parolen, in denen die sofortige Exekution des Gefesselten gefordert wurde. Mason selbst blickte stoisch vor sich auf den Boden und schien die ihn umgebende Menschenmasse nicht einmal wahrzunehmen. Am oberen Treppenabsatz angekommen, blickte er kurz zur Statue der Justitia hinauf. Schon seit vielen Jahrzehnten stand diese reglos auf ihrem Sockel, die Augen verbunden, in der einen Hand eine Waage und in der anderen ein Schwert haltend. Er betrachtete die Statue für einige Sekunden, als würde er einen stummen Dialog mit ihr führen, bevor er von den Beamten weitergeschoben und in das Innere des Gebäudes gebracht wurde. Dort wandten sie sich einer breiten, gewundenen Treppe zu, die sie in den im Obergeschoss befindlichen Saal Nummer Vier leitete. Dort, wo die Hauptverhandlung stattfand, war es heute in Erwartung der Schlussplädoyers gerammelt voll. Obwohl die Verhandlung öffentlich war, waren so gut wie alle Sitze mit Pressevertretern besetzt, und an den Seiten und im Mittelgang hatte sich eine Riege Polizisten postiert, um für ein Höchstmaß an Sicherheit zu sorgen. Schließlich war es in der Vergangenheit bereits mehrfach vorgekommen, dass jemand geistig Fehlgeleitetes das Gesetz in die eigene Hand genommen und versucht hatte, die Angeklagten zu ermorden. In den beiden vordersten Sitzreihen hatten sich Angehörige der Opfer eingefunden und beobachteten das Geschehen. Sie hofften, heute Gerechtigkeit zu erfahren. Wie Sharon Powers bereits ausgeführt hatte, wurde aufgrund der Beweislast allgemein damit gerechnet, dass der Fall klar war und die Jury noch am selben Tag das Urteil verkünden würde.
Mason wurde von seinen Bewachern nach vorne gebracht und auf seinen Platz geschoben, wo sich bereits sein Anwalt Peter Wright, niedergelassen hatte und konzentriert seine Papiere sortierte. Als er mit seiner Ordnung zufrieden zu sein schien, neigte er sich zu Mason hinüber. Die beiden tuschelten kurz miteinander, bevor sich der Verteidiger erneut seinen Unterlagen widmete. Mason starrte derweil auf einen Punkt etwa zwei Meter vor sich.
»Erheben Sie sich!«, rief der Gerichtsdiener, ein fast sechzigjähriger untersetzter Mann mit lauter Stimme.
Die versammelten Männer und Frauen stellten umgehend ihre gedämpften Unterhaltungen ein und folgten der Aufforderung, als der Richter der Verhandlung, Walter Higgins, den Raum betrat. In seinem Gefolge traten die sieben Hauptgeschworenen ein und begaben sich an ihre Plätze, einem eigens dafür eingerichteten Bereich zur Rechten des Verhandlungsführers. Higgins war ein dreiundfünfzigjähriger Mann und hatte in den über zwanzig Jahren, die er bereits als Richter diente, Straftäter aller Couleur verurteilt. In Fachkreisen galt er als harter, aber fairer Verhandlungsführer, der sich weder von seinen persönlichen Überzeugungen noch von seiner Stimmung, sondern ausschließlich von den geltenden Gesetzen leiten ließ.
»Nehmen Sie Platz«, sagte er mit seiner sanften, durch ein Mikrofon verstärkten Stimme. »In wenigen Minuten werden wir die Schlussplädoyers hören. Zuvor möchte ich aber sowohl der Anklage als auch der Verteidigung eine letzte Möglichkeit geben, Beweise vorzulegen.«
Er fixierte über seine Brille hinweg zuerst die Vertreterin der Staatsanwaltschaft, die ihren Kopf allerdings verneinend schüttelte, und wandte sich dann Mason und dessen Anwalt zu.
»Euer Ehren«, sagte Wright. »Ich denke, dass ich für uns alle spreche, wenn ich darum bitte, dass wir uns auf das Wesentliche konzentrieren.«
»Und das wäre?«
»Wir können es alle kaum erwarten, diese Verhandlung abzuschließen. Wir alle haben viel Zeit investiert und möchten nach Hause.«
»Sie können jederzeit gehen, wenn Sie müde sind«, erwiderte Higgins süffisant, was ihm ein leises Kichern aus dem Zuhörerbereich einbrachte.
»Ich korrigiere meine Wortwahl«, erklärte der Anwalt geduldig. »Ich für meinen Teil könnte noch Monate hier verbringen, aber ich denke insbesondere an die ehrenwerten Mitglieder der Jury, die sicher erschöpft sind und gerne nach Hause zu ihren Familien und ihrem geregelten Leben möchten.«
»Ihre Fürsorge ist wahrlich rührend«, sagte der Richter ironisch.
»Herr Vorsitzender, wir wissen beide, dass die Staatsanwältin – wie drücke ich es am besten aus? –, sehr ausführliche Plädoyers abgibt. Um zu vermeiden, dass wir uns noch einmal vertagen müssen, bitte ich daher darum, keine neuen Beweise mehr zuzulassen. Des Weiteren ersuche ich um die Erlaubnis, als Erster zu den Geschworenen sprechen zu dürfen.«
»Frau Staatsanwältin, haben Sie Einwände?«
»Keine Einwände, Euer Ehren«, erklärte die Frau, deren auf ihrem Pult platziertes Namensschild sie als Alexandra Gunner auswies.
»Dann legen Sie mal los, Mister Wright«, wies Higgins den jungen Anwalt an.
Wright stand auf, strich über seinen ebenso teuren wie perfekt sitzenden Anzug und betrat dann die freie Fläche zwischen seinem und dem Tisch des Richters. »Euer Ehren«, setzte er mit erhabener Stimme an. »Verehrte Geschworene. Ich werde mich kurzfassen, denn während der Verhandlung wurden bereits alle relevanten und einige nicht relevante Dinge gesagt. Ich werde also nicht darauf eingehen, dass die Staatsanwaltschaft des Öfteren Verhältnisse dargelegt hat, die den Begriff Beweis sehr weit dehnen.«
»Genauso oft haben Sie Einspruch eingelegt«, erinnerte der Richter ihn.
»Und das aus gutem Grund. Schließlich steht hier nicht nur die Integrität meines Mandanten, sondern auch seine Freiheit und sogar sein Leben auf dem Spiel. So wurde zum Beispiel erklärt, dass der tragische Tod von Miss Gordon direkt auf die Ereignisse zurückzuführen ist, wegen denen mein Mandant angeklagt ist. Heute Morgen erfuhr ich allerdings, dass Miss Gordon schon vor der vermeintlichen Vergewaltigung suizidale Tendenzen aufwies. Sie war stark Medikamentenabhängig.«
»Ist das so?«, fragte Higgins.
»Ich habe einige Dokumente, die dies belegen und die ich im Laufe der Verhandlung vorgelegt habe«, erwiderte der Anwalt sachlich. »Außerdem möchte ich noch einmal in aller Deutlichkeit betonen, dass es keine eindeutigen Beweise dafür gibt, dass sich mein Mandant zum Zeitpunkt dieser ohne Frage verurteilenswerten Taten auch nur in der Nähe der Tatorte befunden hat. Dass sich die Opfer, als sie hier vor diesem ehrenwerten Gericht ausgesagt haben, nicht mehr an die genauen Begebenheiten erinnern konnten, geschweige denn daran, wie ihr Peiniger überhaupt aussah, und sie sich obendrein nicht sicher waren, ob es sich wirklich um meinen Mandanten gehandelt hat, der ihnen dieses abscheuliche Verbrechen angetan hat, spricht doch wohl für sich.«
»Ich darf Sie daran erinnern, dass bei den medizinischen Untersuchungen Spermaproben entnommen worden sind, die eindeutig auf Ihren Mandanten zurückzuführen sind.«
»Und ich darf Ihnen im Gegenzug ins Gedächtnis rufen, dass Mister Mason eidesstattlich zugegeben hat, dass er mit den Damen Sex hatte, nachdem er von ihnen unter Drogen gesetzt worden war«, erwiderte der Anwalt. »Es gibt keine eindeutigen Beweise dafür, dass Jacob Mason, Vater eines kleinen Jungen und Ehemann einer bezaubernden Frau, für die ihm zur Last gelegten Taten schuldig gesprochen werden kann. Vielmehr ist er das Opfer einer Verschwörung von drei Frauen. Er wurde hereingelegt. Er wurde missbraucht. Diese Frauen haben ihn hinters Licht geführt und ihn schamlos ausgenutzt. Meine Damen und Herren der Jury, ich bitte Sie eindringlich darum, sich genau zu überlegen, ob Sie tatsächlich einen Unschuldigen, der unsittlich verführt wurde, für die Taten eines anderen verantwortlich machen wollen. Wollen Sie wirklich einen ehrenwerten Mitbürger, der bei allen, die ihn kennen, beliebt ist, um seine Freiheit bringen? Wollen Sie, dass er für viele Jahre eingesperrt wird, während der wahre Täter weiter frei herumläuft und weitere Frauen entwürdigt? Ich bitte Sie eindringlich, auf Ihren Verstand zu hören. Lassen Sie sich nicht von hetzerischen Anschuldigungen leiten. Geben Sie den Vorurteilen der Staatsanwaltschaft keinen Raum. Hören Sie auf Ihr Gewissen. Vielen Dank.«
Wright blickte nacheinander jedem der Jury-Mitglieder in die Augen und setzte sich dann wieder auf seinen Platz. Während Miss Gunner ihr Plädoyer vortrug, beobachtete er weiter die Gesichter der Jury. Einige von ihnen trugen unbewegte Mienen zur Schau, aber bei mindestens der Hälfte der Anwesenden meinte er, zu lesen, dass sie sich mehr damit beschäftigten, was er gesagt hatte, anstatt der Staatsanwältin Gehör zu schenken. Als die Staatsangestellte nach über einer Stunde Monolog schließlich geendet hatte, räusperte sich Richter Higgins vernehmlich und wandte sich dann an die Jury-Mitglieder. »Verehrte Geschworene, da wir nun die Ausführungen beider Parteien gehört haben, ist es an der Zeit, dass Sie sich zurückziehen und darüber beraten, welches Urteil über Mister Mason gesprochen werden soll. Ich bitte Sie, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden und mich über den Gerichtsdiener informieren zu lassen, sobald Sie zu einem einstimmigen Entschluss gelangt sind. Die Verhandlung ist vertagt.«
Der Richter saß gerade in seinem Büro und biss herzhaft in sein von zu Hause mitgebrachtes Schinken-Käse-Ei-Sandwich, als es leise an der Tür klopfte.
»Herein«, sagte er vernehmlich.
Die Tür öffnete sich und der Gerichtsdiener trat ein.
»Walt, tut mir leid, dich zu stören, aber die Jury hat mich vor fünf Minuten informiert, dass sie sich geeinigt hat.«
»So früh?«, fragte Higgins kauend.
Der andere Mann zuckte mit den Schultern, um zu zeigen, dass es ihm egal war, wie lang oder kurz die Beratungen waren. Er machte diese Arbeit nun schon seit bald vierzig Jahren, und in dieser Zeit hatte er gelernt, keine Fragen zu stellen, sondern ausschließlich seine Aufgaben durchzuführen.
»Nun gut«, sagte der Richter seufzend. »Sag ihnen, dass wir in einer halben Stunde weitermachen.«
»Ist gut«, antwortete der Diener und zog die Tür von außen zu.
Auf die Sekunde pünktlich hatten sich alle Prozessbeteiligten wieder im Sitzungssaal eingefunden. Higgins ließ sich von dem allgemeinen Gemurmel nicht aus der Fassung bringen und entfaltete den Zettel, der ihm soeben ausgehändigt worden war. In Ruhe las er das Geschriebene durch, faltete das Papier wieder säuberlich und legte es neben sich auf das Pult. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand klopfte er mehrfach vernehmlich gegen das vor ihm angebrachte Mikrofon, bis es im Sitzungssaal still war. Die Luft war zum Zerreißen gespannt.
»Die Geschworenen sind zu einem Urteil gelangt«, verkündete er und blickte in die Runde.
»Die Jury ist darin übereingekommen, dass sie es als nicht zweifelsfrei erwiesen ansieht, dass der Angeklagte für die ihm zur Last gelegten Taten zur Rechenschaft gezogen werden kann. Aus diesem Grunde ist Jacob Joseph Mason freizusprechen und mit sofortiger Wirkung aus der Haft zu entlassen. Die Kosten der Verhandlung sowie sämtliche Auslagen der am Prozess beteiligten Personen sind von der Staatskasse zu tragen.«
Er wandte sich direkt an den Angeklagten und blickte ihm tief in die Augen. »Mister Mason, Sie sind ein freier Mann. Sie dürfen nach Hause zu Ihrer Familie.«
Nur eine halbe Sekunde später entwickelte sich ein Tumult im Saal. Die anwesenden Angehörigen der Opfer schrien durcheinander und zwischen den Worten Skandal! und Was für ein Witz! mischten sich noch andere Begriffe, die Higgins dazu nötigten, mehrfach mit seinem Hammer auf das hölzerne Pult zu schlagen.
»Ruhe!«, rief er donnernd in sein Mikrofon. »Wenn nicht umgehend Ruhe einkehrt, lasse ich den Saal auf der Stelle räumen!«
Die Stimmen wurden zwar gleich darauf leiser, waren aber immer noch vernehmlich zu hören, als Mason die Fesseln abgenommen wurden und er von den ihn begleitenden Beamten nach draußen eskortiert wurde. Auf seinem Gesicht hatte sich ein Lächeln gebildet, welches so breit war, dass es fast wie eine Fratze anmutete. Als er an den Angehörigen der Opfer vorbeikam, warf er ihnen einen triumphierenden Blick zu, bevor er durch eine Nebentür nach draußen geführt wurde, um den wartenden Reportermassen zu entkommen.
Noch am selben Abend saß Mason in seiner Stammkneipe und trank bereits den fünften Whisky, während seine Freunde mit ihm am Tisch saßen und ein ums andere Mal auf den Freispruch anstießen.
»Ihr hättet das Gesicht der Staatsanwältin sehen sollen.« Mason kicherte. »Sie war so felsenfest davon überzeugt, mich dranzukriegen, dass ihr vor lauter Schnappatmung fast die Bluse geplatzt ist, als die Jury mich freigesprochen hat.«
»Sieht sie wenigstens gut aus?«, fragte Tom, der zu seiner Linken saß, einen Bierkrug in der Hand haltend.
»Sie ist nicht der leckerste Bissen auf diesem Planeten, aber ich glaube, sie wäre einem ordentlichen Fick nicht abgeneigt«, erwiderte Mason, hob sein Glas und schüttete sich den Inhalt in einem Zug in den Mund, bevor er lautstark rülpste.
»Steve, Nachschub!«, verlangte er beim Wirt, der auch gleichzeitig der Besitzer des Lokals war.
Während seine Freunde über diese anzügliche Bemerkung bezüglich der Staatsanwältin lachten, bemerkten sie den Fremden nicht, der sie von seinem eigenen Platz am Tresen aus beobachtete. Der Mann trug eine Baseballmütze, die so tief in sein Gesicht gezogen war, dass man seine Augen nicht sehen konnte. Die schummerige Beleuchtung der Kneipe tat ihr Übriges, um seine Gesichtszüge vor den Anwesenden zu verbergen. Vor sich hatte er ein Glas Bier stehen, dessen Inhalt schon seit einigen Minuten unangetastet vor sich hin sprudelte. Seit er die Bar betreten hatte, hatte er noch keinen Schluck getrunken.
»Was sagt eigentlich deine Frau dazu, dass du ein freier Mann bist?«, wollte Jason, ein weiterer Trinkkumpan von Mason, wissen.
»Keine Ahnung«, gab der andere zu. »Ich war nur kurz zu Hause, um mich umzuziehen und bin dann gleich losgezogen. Heute Nacht wird sie sich ganz schön wundern, wenn ich komme … und ich beabsichtige, das gleich mehrfach zu tun«, fügte er anzüglich grinsend hinzu.
Seine Freunde lachten erneut und hoben ihre Gläser. »Auf die Freiheit!«, riefen sie im Chor und schütteten sich den Alkohol in die Kehlen.
Es war schon nach Mitternacht, und die anderen Gäste waren längst aufgebrochen. Nur Mason und seine Freunde saßen weiterhin unbeirrt an ihrem Tisch und tranken, was das Zeug hielt. Der Wirt war bereits dabei, den Tresen abzuwischen und die Stühle auf die Tische zu bugsieren.
»Ich schließe jetzt«, rief er zu den noch immer Trinkenden hinüber.
»Noch eine Runde!«, forderte Mason lallend.
»Freunde, es tut mir wirklich leid, aber auch ich muss mich ans Gesetz halten. Ihr bekommt jeder noch einen Shot, und dann war es das für heute.«
»Spielverderber!«
»Es ist, wie es ist.«
Mason murmelte etwas Unverständliches, ließ es aber dabei bewenden, denn trotz seines alkoholisierten Zustands wusste er, dass er ein Hausverbot riskierte, wenn er es zu weit trieb. Nachdem sie ihre Gläser geleert hatten, legten sie einige Dollarscheine auf den Tisch und standen auf.
»Bis morgen, Steve«, verabschiedete sich Mason.
Die Männer schwankten auf die Straße und stimmten zwar falsch, aber dafür voller Inbrunst, ein schmutziges Lied über Frauen und ihre Vorzüge an. Der Mann, der sie seit Stunden in der Kneipe beobachtet hatte, war schon einige Zeit vor ihnen aufgebrochen und hatte sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite nahe eines bereits geschlossenen Gebrauchtwarenladens postiert. Obwohl es zu dieser Stunde noch immer warm war, trug er zusätzlich zu seiner Baseball-Mütze einen Trenchcoat, in dessen Taschen er seine Hände tief vergraben hatte. Er sah ungerührt dabei zu, wie sich die Betrunkenen fröhlich voneinander verabschiedeten und sich in unterschiedliche Richtungen aufmachten. Die einen, weil sie nach Hause wollten, die anderen, um noch weiter um die Häuser zu ziehen. Als Mason allein in Richtung der nächstgelegenen U-Bahn-Station ging, kam Bewegung in den Fremden. Er folgte dem Betrunkenen in einigen Metern Entfernung. Mason stieg in die eingefahrene U-Bahn ein, und der andere Mann tat es ihm gleich, immer darauf achtend, ausreichend Abstand zu halten und unerkannt zu bleiben. Dies war allerdings nicht weiter schwer, denn mit ihnen fuhren noch einige andere Nachtschwärmer mit. An der Station West Vierte Straße, Ecke Washington Square stieg Mason aus. Sein Schatten folgte ihm und ließ ihn nicht aus den Augen. An der Oberfläche angekommen, wandte sich der Freigesprochene nach Osten und ging die Vierte Straße hinab. Der Weg führte die beiden Männer am Washington Square Park vorbei, einer kleinen Grünzone inmitten der Millionenstadt. An einer ausladenden Eiche blieb Mason kurz stehen und schien zu überlegen, bevor er ein wenig in den Park hineinging, und dabei an seiner Hose nestelte. Schließlich schaffte er es, den Knopf und den Reißverschluss zu öffnen. Geräuschvoll erleichterte er sich an einem der zahlreichen Laubbäume, die zu Dutzenden in dem Park wuchsen.
Mason war zu betrunken, um zu bemerken, dass sich hinter ihm die Gestalt näherte. Er nahm auch nicht die im fahlen Laternenlicht glänzende Klinge wahr, die sie in der Hand hielt. Als er einen stechenden Schmerz am Hals spürte, dachte er für einen Moment, von einer Wespe gestochen worden zu sein. Schließlich war es Sommer, und die lästigen Biester tummelten sich überall, wo es etwas Grün gab, selbst im Zentrum von New York City. Als Mason mit einer Hand über seinen Hals fuhr, um sich an der schmerzenden Stelle zu kratzen, spürte er etwas Feuchtes zwischen seinen Fingern. Er sah nach unten und stellte überrascht fest, dass seine Hand Blut überströmt war. Erst jetzt bemerkte er, dass auch sein Hemd feucht wurde. Er versuchte, zu schlucken, aber es gelang ihm nicht, ebenso wenig, wie er atmen konnte. Mason wollte um Hilfe schreien, aber seiner Kehle entrang sich nur ein leises Röcheln. Schließlich versagten ihm seine Beine den Dienst, und er sackte zusammen wie ein nasser Sack. Er zuckte noch einige Male, bevor er still dalag, die Hose geöffnet und sein Geschlechtsteil nach draußen hängend. Der Mann, der ihm von der Kneipe aus gefolgt war, ging in die Hocke und verharrte für einige Minuten so, bevor er die Klinge von beiden Seiten gründlich an dessen Shirt abwischte, sich umdrehte und in der Nacht verschwand.
»Guten Morgen Carl«, begrüßte ihn seine Partnerin Nicole Fulton, als er mit einem Pappbecher dampfenden Kaffees in der Hand das gemeinsame Büro des FBI im Jacob K. Javits Federal Building am Federal Plaza im südlichen Manhattan betrat.
»Morgen Nici«, antwortete er.
»Du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht durchgesoffen«, merkte sie an, während sie ihn von oben bis unten musterte.
Carl Maddox war ein fünfunddreißigjähriger, hochgewachsener Mann, rund einen Meter fünfundachtzig groß und von sportlicher Figur. Seine dunklen Haare waren halblang und normalerweise sorgfältig nach hinten gekämmt, doch heute standen sie in alle Himmelsrichtungen ab. Sein Gesicht war markant und verlieh ihm das Aussehen eines Models. Nicole Fulton, knapp siebenunddreißig Jahre alt, war hingegen eher von zierlicher Statur und Größe, was sie jedoch durch ihr selbstbewusstes Auftreten mehr als wettmachte. Einmal, als sie und ihr Partner einen ruhigen Moment gehabt hatten, hatte sie ihm erzählt, dass sie in der Grundschule immer zu den Kleinsten gehört hatte und sich entsprechend oft gegen andere Kinder zur Wehr hatte setzen müssen, was sie für ihr weiteres Leben geprägt hatte.
»Hattest du etwa Damenbesuch?«, fügte sie ihrer Anmerkung augenzwinkernd hinzu.
»Wenn du mit Damenbesuch meine alte Nachbarin meinst, die mich auf ein Glas Rotwein eingeladen und dann mit mir zwei komplette Flaschen gekippt hat, bestätige ich das«, erklärte er und ließ sich ächzend auf seinem Bürostuhl ihr gegenüber nieder.
»Die gute alte Wilma«, sagte Fulton seufzend. »Immer für einen Schluck gut.«
Lächelnd erinnerte sie sich daran, wie sie vor einigen Wochen bei Carl zum Abendessen eingeladen gewesen war. Sie waren gerade dabei gewesen, das von ihrem Kollegen zubereitete asiatische Mahl zu verspeisen, als die alte Dame geklingelt und die beiden auf einen, wie sie es nannte, kleinen Umtrunk eingeladen hatte. Wilma hatte bereits die siebenundachtzig Jahre überschritten, war aber noch immer so robust, dass deutlich jüngere Menschen im Vergleich zu ihr wie ein Grashalm gegen eine Eiche wirkten. Nach eigener Aussage war sie noch immer so gut in Schuss, weil sie sich mit Alkohol und Zigaretten konservierte. Nicole bezweifelte zwar, dass es auf Dauer gesund war, jeden Tag zwei Flaschen Wein und eine Stange Zigaretten zu rauchen, hatte es aber vermieden, Widerspruch einzulegen. Schließlich hatte sie die Stimmung nicht trüben wollen.
»Steht heute irgendetwas an?«, fragte Maddox in ihre Gedanken hinein.
»Nein, bisher alles ruhig«, erwiderte sie und lehnte sich zurück. »Hast du eigentlich mitbekommen, dass Jacob Mason gestern freigesprochen wurde?«
»Habe ich«, antwortete ihr Partner und schnaubte verächtlich. »Ziemlich seltsam, dass dieser Typ als unschuldig eingestuft wurde.«
»So ist das eben mit der Justiz. Manchmal werden Entscheidungen getroffen, die für Außenstehende nicht nachvollziehbar sind.«
»Guten Morgen«, grüßte ihr Vorgesetzter, ein gestandener Mittfünfziger namens Frank Lauders, der unbemerkt an den Tisch der beiden Beamten getreten war.
»Guten Morgen, Frank«, antworteten Maddox und Fulton wie aus einem Munde.
»Schon das Neueste gehört?«, wollte Lauders wissen.
»Sie meinen, dass Mason auf freiem Fuß ist?«, fragte Maddox zurück.
»Das ist schon kalter Kaffee«, sagte ihr Vorgesetzter und winkte ab. »Die neueste Meldung ist, dass der Kerl heute früh tot aufgefunden wurde.«
»Wirklich? Was ist passiert?«
»Anscheinend wurde er ermordet. Die Halsschlagader wurde sauber durchtrennt.«
»Autsch.« Maddox fasste sich unwillkürlich an seinen eigenen Hals.
»Das ist aber noch nicht alles«, fuhr Lauders fort. »Derjenige, der ihn auf dem Gewissen hat, hat ihm auch gleich noch das Geschlechtsteil abgeschnitten und es ihm in den Mund gestopft.«
»Dürfte ein interessanter Anblick gewesen sein«, kommentierte Fulton. »Also wurde Mason nicht zufällig ausgewählt.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte ihr Vorgesetzter in unschuldigem Ton.
»Warum sonst sollte er seinen eigenen Pimmel im Mund haben?«, erwiderte sie.
»Genau da kommen wir ins Spiel«, erklärte Lauders. »Oder genauer gesagt, Sie beide. Ich möchte, dass Sie sich der Geschichte annehmen. Sie haben doch gerade nichts Wichtiges am Laufen, oder?«
»Nope«, antwortete Maddox.
»Gut. Dann legen Sie mal los. Ich überlasse es Ihnen, wie Sie vorgehen wollen. Sie beide sind erfahren genug, dass Sie keinen Babysitter brauchen.«
»Haben wir eine Deadline, bis wann wir Ergebnisse vorlegen müssen?«
»Momentan sieht es für die Öffentlichkeit einfach nur nach einem weiteren Toten aus. Wir konnten die Details aus der Presse raushalten. Die wissen bisher nicht einmal, dass es sich um Mason handelt. Sie haben also etwas Zeit.«
»Hoffen wir, dass es so bleibt«, erklärte Fulton.
Sie und ihr Partner hatten in ihrer gemeinsamen Karriere schon des Öfteren mit der Presse zu tun gehabt, und in den allermeisten Fällen war es darauf hinausgelaufen, dass ihre Ermittlungen durch übereifrige Reporter gefährdet worden waren. In einem Fall hatten sie sogar einen Zugriff verschieben müssen, weil ein Journalist den Verdächtigen gezielt gewarnt hatte.
»Viel Spaß«, wünschte Lauders und schickte sich an, zurück in sein Büro zu gehen.
»Wissen wir denn mit Sicherheit, dass es sich um Mason handelt?«, rief ihm die Agentin hinterher.
»Sofern es nicht zwei Menschen in New York gibt, die eine Lilie mit den Buchstaben JM auf der linken Backe tätowiert haben und sich das gleiche Gesicht teilen, sind wir sicher.«
Mit diesen Worten ging Lauders zurück in den hinteren Teil des Raums, wo sich hinter einer Milchglastür sein eigenes Büro versteckte.
»Wo befindet sich der Tatort?«
»Washington Square Park«, rief der Vorgesetzte und ließ die Tür hinter sich zufallen.
Maddox stand auf und richtete seine Kleidung. »Wollen wir?«, fragte er seine Partnerin.
»Auf geht´s«, erwiderte diese.
Zu Fuß war es zu weit, und wer New York kannte, fuhr nicht mit dem Auto über die dicht befahrenen Straßen Manhattans, vor allem nicht am Vormittag. Daher entschieden sie sich, zur wenige Hundert Meter entfernten Church Street zu gehen und von dort aus mit dem Bus auf direktem Wege zu ihrem Zielort zu fahren. Obwohl zur morgendlichen Rushhour viele Menschen unterwegs waren, schafften sie es, noch zwei Sitzplätze im vorderen Bereich zu ergattern, als der Bus auch schon anfuhr und sich auf der eigens für ihn eingerichteten Spur an den sich stauenden Autos einfädelte.
»Wie geht es deinen Eltern?«, fragte Fulton.
»Wie immer«, antwortete Maddox. »Dad bastelt mal wieder an irgendetwas herum, Mom liest Krimis und regt sich darüber auf, wie sehr die Bücher von der Realität abweichen. Sie meckert immer, dass Ermittlungen in Wirklichkeit nur aus wenig Action und dafür mehr aus Papierkram bestehen. Außerdem nervt es sie, dass die Ermittler in den Büchern immer abgehalftert sind, ihre Ehe den Bach runtergeht, sie sich dem Alkohol hingeben und dennoch mit Brillanz jeden Fall lösen.«
»Ist deiner Mutter denn nicht klar, dass kein Mensch von Ermittlern lesen will, die ihr Leben voll im Griff haben?«, gab seine Partnerin zurück. »Das ist doch stinklangweilig.«
»Du weißt doch, wie sie ist. Sie steht mit beiden Beinen in der Realität.«
»Hast du sie schon mal gefragt, ob sie nicht selbst einen Roman schreiben will? Ich meine, als ehemalige Ermittlerin müsste sie die Wirklichkeit doch perfekt beschreiben können.«
»Ja, habe ich. Sie meinte nur, dass sie nicht die Geduld habe, ein Buch zu Ende zu schreiben, nur um dann von sämtlichen Verlagen abgewiesen zu werden.«
»Das sieht ihr doch wieder ähnlich«, kommentierte Fulton schmunzelnd. »Aber anscheinend gefallen ihr diese Krimis trotzdem, sonst würde sie sich etwas anderes zum Lesen besorgen.«
Maddox zuckte mit den Schultern. »Solange sie sich nicht zu sehr aufregt … du weißt ja, dass ihr Herz nicht mehr das Beste ist.«
»Das hat sie mir erzählt. Ich hoffe, dass sie noch lange durchhält.«
»Das hoffe ich auch. Komm, wir müssen aussteigen.«
Der Washington Square Park war zwar um einiges kleiner als der weltbekannte Central Park, aber gehörte dennoch zu den bekanntesten Grünflächen von New York City. Inmitten des Stadtteils Greenwich Village gelegen, trafen sich hier Menschen aller Couleur, um gemeinsam Zeit zu verbringen. Die nahe gelegene Universität sorgte dafür, dass im Park vor allem Studenten anzutreffen waren, aber auch Arbeitnehmer aus dem gesamten Stadtteil zog es oft hierher, um ihre Mittagspause dort zu verbringen. Am nördlichen Eingang des etwas weniger als vier Hektar großen Parks befand sich ein imposanter Triumphbogen, der zur Einhundertjahrfeier des Amtsantritts von George Washington gebaut und im Jahr 1895 endgültig eingeweiht worden war.
Die beiden Beamten näherten sich von der Südseite und sahen schon von Weitem die Absperrbänder sowie die geschäftig herumlaufenden Polizisten und Spurensicherer, während sich eine kleine Gruppe Schaulustiger jenseits der Absperrung befand und das Geschehen mit ihren Handys filmte. Natürlich durfte auch die lokale Presse nicht fehlen, die emsig, aber erfolglos versuchte, ein offizielles Statement zu erhalten.
»Fulton und Maddox«, stellte die Beamtin sich und ihren Partner vor, als sie bei einem der Uniformierten an der Absperrung angekommen waren.
Beide zeigten unauffällig ihre Marken vor, damit keiner der in der Nähe befindlichen Reporter etwas bemerkte. Schließlich wollten sie weder dafür verantwortlich sein, dass etwas durchsickerte, noch wollten sie ihre Zeit mit der Beantwortung sinnloser Fragen verschwenden. Der Beamte ließ sie nach einer kurzen Ausweisprüfung passieren und hob das Absperrband hoch, sodass die beiden darunter hindurchschlüpfen konnten.
»Hallo Sam«, begrüßte Fulton den Detective, der gerade dabei war, mit einem abgenutzten Bleistift etwas auf einem Stück Papier zu notieren.
Selbstverständlich war die Polizei heutzutage mit Tablets und anderen technischen Geräten ausgestattet, aber Sam gehörte zur alten Garde, die am liebsten noch immer mit Stift und Papier hantierten. Auf Fultons Nachfrage hin hatte ihr der Detective einmal gesagt, dass bei einem Stift niemals die Batterie leer werden würde.
»Nici«, gab Sam zurück und hob die Arme, um die Agentin herzlich zu begrüßen.
»Kennst du meinen Partner schon?«, fragte Fulton, als beide wieder voneinander abgelassen hatten. »Carl Maddox. Carl, das ist Sam Hiller, einer der besten Detectives, die das New York Police Department zu bieten hat.«
»Freut mich«, sagte der Beamte und schüttelte dem Agenten kräftig die Hand. »Nennen Sie mich Sam.«
»Gern«, antwortete Maddox lächelnd.
»Wie sieht es aus?«, wollte die Agentin wissen.
»Wie ein Mord halt so aussieht«, erklärte Hiller trocken. »Wir haben den Toten eingehend durchgecheckt und in die Pathologie abtransportieren lassen. Die Spurensicherer sind noch damit beschäftigt, das Gelände abzusuchen, aber eines kann ich euch jetzt schon sagen: Der Typ, der Mason auf dem Gewissen hat, hat genau gewusst, wie man tötet.«
»Woraus schließt du das?«, fragte Fulton neugierig.
»Der Hals war sauber aufgeschnitten, eine schöne Linie von links nach rechts. Auch das Geschlechtsteil wurde fein säuberlich abgetrennt.«
»Weisen die Schnitte irgendwelche Unregelmäßigkeiten auf?«
»Das endgültige Urteil würde ich den Pathologen überlassen, aber für mich sah es aus, als ob der Täter in einem Stück geschnitten hätte.«
»Denken Sie, dass sich der Täter mit Chirurgie auskennen könnte?«, fragte Maddox.
»Das ist nicht auszuschließen«, bestätigte der Detective nickend. »Er könnte allerdings auch Erfahrung als Metzger haben. Die sind oft richtig gut und wissen, wie man schneidet. Was die Geisteshaltung des Täters angeht, gehe ich auf jeden Fall davon aus, dass er so etwas schon einmal gemacht hat.«
»Warum?«
»Normale Menschen ziehen nicht einfach so los und bringen jemanden um.«
»Zumindest äußerst selten«, fügte Maddox hinzu und wandte sich an seine Partnerin. »Nici, wir sollten die Akten durchforsten, ob es einen ähnlichen Fall schon einmal irgendwo gab. Das könnte uns helfen, besser zu verstehen, mit was für einer Art Mensch wir es hier zu tun haben.«
»Vermutlich mit jemandem, der etwas gegen Vergewaltiger hat«, antwortete Fulton. »Sam, zeige uns bitte den Fundort der Leiche.«
»Hier entlang«, antwortete Hiller und winkte die beiden Beamten mit sich.
Hinter einer schmalen Baumreihe befand sich der Ort, wo das Opfer am frühen Morgen von einer jungen Studentin gefunden worden war. Soweit der Detective wusste, war die junge Frau joggen gewesen, als sie die Leiche entdeckt hatte. Auf dem waldigen Boden waren noch immer die Umrisse des Toten im feuchten, plattgedrückten Gras zu sehen. Maddox ging in die Hocke und betrachtete die Stelle nachdenklich. Dann strich er mit der flachen Hand mehrfach darüber.
»Was macht er da?«, flüsterte Sam an Fulton gewandt.
»Ist eine seiner Marotten«, gab sie in ebensolchem Flüsterton zurück.
»Ihr braucht nicht zu flüstern«, erklärte Maddox, ohne den Blick vom Boden abzuwenden. »Ich gebe zu, es sieht so aus, als hätte ich mir das aus irgendeinem schlechten Film abgeschaut, aber auf diese Weise bekomme ich ein besseres Gefühl dafür, wie die Tat abgelaufen sein könnte. Sam, lag das Opfer auf dem Bauch oder auf dem Rücken?«
»Auf dem Rücken.«
»Lag er irgendwie unnatürlich?«
»Wie meinen Sie das?«
»Zur Seite gedreht, den Kopf schräg, die Arme oder Beine von sich gespreizt?«
»Nein«, erklärte Sam. »Als wir ihn fanden, lag er da, als würde er ein Sonnenbad nehmen. Die Arme befanden sich parallel zum Oberkörper, und die Beine waren ebenfalls gerade ausgestreckt.«
»Handflächen nach oben oder unten?«
»Nach unten.«
»Hmm … Okay, das weist darauf hin, dass er nicht einfach so umgefallen ist, sondern hingelegt wurde. Gab es Spuren eines Kampfes? Hatte Mason Kratzer im Gesicht oder auf den Armen?«
»Nein, jedenfalls habe ich nichts entdecken können.«
»Das führt uns zu der Frage, ob er seinen Angreifer überhaupt bemerkt hat.«
»Du meinst, wenn er von vorne angegriffen worden wäre, dann hätte er den Täter gesehen und sich gewehrt?«, fragte Fulton.
»Vielleicht kannte er ihn sogar und hat sich genau deswegen nicht gewehrt«, bestätigte Maddox. »Oder er wurde von einem ihm Unbekannten auf der Straße angesprochen und unter einem Vorwand hierher gelockt.«
»Könnte aber doch genauso gut sein, dass er von hinten attackiert und vom Täter aufgefangen wurde, bevor er hinfiel«, wandte die Agentin ein.
»Ja, das stimmt«, bestätigte ihr Partner. »Sam, gibt es irgendwelche Schleifspuren, die zu diesem Ort führen?«
»Nein«, antwortete der Detective.
»Also wurde er an Ort und Stelle getötet«, stellte Maddox fest.
»Meinst du, er hatte bereits ein neues Opfer im Auge, mit dem er sich hier getroffen hat, und dann wurde der Spieß umgedreht?«
»In New York ist alles möglich. Aber irgendwie glaube ich nicht daran.«
»Also jemand, der ihn gezielt getötet hat.«
Zur Antwort nickte Maddox nur.
»Schöner Mist …«, sagte Fulton. »Okay, ich denke, wir haben hier erst mal alles gesehen. Lass uns ins Büro zurück gehen und die Recherche starten.«
»Einverstanden.«
»Wollt ihr mit der Presse reden?«, fragte der Detective und warf einen Blick auf die Reportergruppe jenseits der Absperrung.
»Eigentlich nicht«, erklärte sie. »Ich bin nicht so die geübte Rednerin, und ich denke, je weniger die wissen, desto besser ist es für den Moment.«
»Okay«, erklärte Sam. »Ich halte mich ebenfalls raus. Das ist jetzt euer Fall.«
Fulton wusste, dass er es nicht böse meinte, sondern der Grund dafür war, dass es für niemanden nützlich war, wenn sich zwei unterschiedliche Behörden in dieselben Ermittlungen einmischten. Sie alle hatten bereits zu spüren bekommen, was passieren konnte, wenn sich zwei unterschiedliche Teams in die Quere kamen.
»Wie geht es eigentlich Corinne?«, fragte sie den Detective.
»Mal so, mal so«, gab er zurück. »Momentan ist sie okay, aber das kann sich jederzeit wieder drehen.«
»Halte durch. Wenn du etwas brauchst …«
»… dann weiß ich, wo ich dich finden kann«, vervollständigte Sam ihren Satz.
Die Agenten verabschiedeten sich von dem Detective und gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren. An der polizeilichen Begrenzung wurden sie von einer Horde Reporter empfangen.
»Haben Sie eine Stellungnahme für uns?«, rief einer.
»Wer ist das Opfer?«, wollte ein anderer wissen.
Fulton und Maddox wechselten einen kurzen Blick, bevor sich der Agent vor der Presse aufbaute und tief Luft holte, während sie sich im Hintergrund hielt.
»Zu diesem Zeitpunkt können wir noch keine Informationen herausgeben«, erklärte er sachlich.
»Warum nicht?«, fragte ein junger Mann, der sein Diktiergerät vor sich herumtrug wie das olympische Feuer.
»Sie sind noch nicht lange im Geschäft, oder?«, gab Maddox zurück und sprach gleich darauf weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. »Denn wenn Sie es wären, wüssten Sie, dass dies die Standardprozedur ist. Die Ermittlungen befinden sich noch ganz am Anfang, und alles, was wir jetzt über den Fall sagen, könnte sich im Nachhinein als falsch erweisen. Wenn Sie davon noch nichts gehört haben, fragen Sie einmal Ihre erfahreneren Kollegen danach. Jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich habe zu arbeiten.«
In solchen Momenten empfand Fulton echte Ehrfurcht vor ihrem Partner, denn er ließ sich niemals in die Enge treiben, blieb aber dennoch stets höflich. Er wandte sich ihr zu, und als sie auf gleicher Höhe waren, marschierten sie Seite an Seite im Gleichschritt weiter. Innerlich amüsierte sie sich über das Bild, das sie beide abgeben mussten, aber nach außen hin verzog sie keine Miene. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Maddox´ Mundwinkel ganz leicht nach oben geneigt waren.
Ja, sie waren ein eingespieltes Team, dachte sie, während sie gemeinsam zur Bus-Station an der Ecke gingen und die Reporter hinter sich zurückließen.
»Okay, wo fangen wir an?«, fragte Maddox, als sie sich wieder in ihrem Büro am Federal Plaza befanden und an ihren einander gegenüberstehenden Schreibtischen saßen.
»Die Pathologie wird sicher einige Zeit brauchen, bis Ergebnisse vorliegen«, vermutete Fulton. »Lass uns damit beginnen, dass wir uns genau ansehen, wer Masons Opfer waren, und wo sie sich zum Tatzeitpunkt befunden haben.«
»Sollte nicht weiter schwierig sein. Eine der Frauen hat sich selbst umgebracht. Die scheidet also offensichtlich aus. Die beiden anderen sind, soweit ich weiß, in der Psychiatrie.«
»Offen oder geschlossen?«
»Keine Ahnung«, gab er zu. »Aber das klären wir.«
»Was ist mit den Angehörigen der Opfer?«
»Die nehmen wir uns gesondert vor«, antwortete Maddox, während er auf dem vor ihm liegenden Schreibblock Notizen vornahm. »Auch Masons Freunde werden wir durchleuchten. Ich wette, dass er seine Freilassung ausgiebig gefeiert hat.«
»Wir sollten auch seine Frau nicht vergessen«, wandte Fulton ein. »Viele Morde geschehen schließlich durch enttäuschte Ehefrauen.«
»Fangen wir doch direkt bei ihr an. Lass uns mal eben schauen, wo sie wohnt.«
Der Agent drückte auf einen Knopf an seinem Computer und weckte diesen aus dem Stand-by. In die FBI-Suchmaschine tippte er den Namen des Toten ein und ließ das System für einige Sekunden suchen.
»Hier«, sagte er und tippte mit seinem Stift gegen den Flachbildschirm. »Elmhurst. Main Street, Ecke Einundsiebzigste Straße.«
»Nicht übel«, erklärte die Agentin. »Nicht die beste Gegend, aber immer noch gut zu wohnen. Wollen wir gleich hin?«
»Lass uns vorher noch schauen, wo sich die beiden Vergewaltigungsopfer befinden. Sollten sie in der Nähe wohnen, können wir vielleicht gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.«
Er tippte erneut einen Befehl ein und betrachtete dann die Suchergebnisse.
»Und?«, fragte Fulton, als ihr Partner schwieg.
»Eine, ihr Name ist Sarah Peterson, ist in der geschlossenen Anstalt. Die andere, Ellen Jannings, befindet sich in der offenen Psychiatrie. Ihr letzter gemeldeter Wohnort ist in Forest Hills, Jewel Avenue, Ecke Yellowstone Boulevard.«
»Weit weg von Masons Wohnung?«
»Nicht so weit«, erklärte Maddox. »Nur ein paar Kilometer. Ich denke, dass wir einen Wagen nehmen sollten. Mit den Öffentlichen ist es zu umständlich.«
»Einverstanden. Im Fuhrpark kriegen wir sicher etwas Brauchbares.«
»Warte, ich starte noch Anfragen zu den Angehörigen der beiden Frauen. Dann können wir los.«
Nach wenigen Minuten war alles erledigt, und Maddox und Fulton gingen zum Aufzug, um in die Tiefgarage des Gebäudes zu gelangen. Dort befand sich der kleine, aber gut ausgestattete Fahrzeugpool des New Yorker FBI.
»Hallo Johnny«, begrüßte Fulton den jungen Mann, der sich in einer kleinen Bude im Zentrum des Tiefgeschosses befand.
Der dreiundzwanzigjährige Junge war gerade damit beschäftigt, irgendwelche Daten von einem Papierbogen in seinen Computer zu übertragen. Als er den Kopf hob und die beiden Agenten vor sich sah, lächelte er breit.
»Hey Nici, hey Carl«, sagte er. »Schöner Tag heute?«
»Ich kann mich nicht beklagen«, gab Fulton zurück. »Wie geht es dem Baby?«
»Alles paletti«, antwortete Johnny. »Er schläft zwar unregelmäßig und wacht normalerweise immer genau dann auf, wenn es am Unpassendsten ist, aber dafür geht mir stets das Herz auf, wenn mich der Kleine erkennt und anlächelt.«
»Schön zu hören. Sag mal, wir brauchen einen Wagen. Nichts Ausgefallenes, muss uns nur von A nach B bringen.«
»Kein Problem. Ich habe erst gestern einen nagelneuen Mustang reinbekommen.«
»Vielleicht etwas weniger Auffälliges«, meinte Carl lächelnd.
»Okay, dann habe ich noch einen BMW hier. Etwas älter, aber ziemlich robust. Du weißt ja, was man über deutsche Autos sagt.«
»Klingt gut.«
Der junge Mann warf einen Blick zur Seite auf ein Brett und suchte mit dem Finger die einzelnen Haken ab. Dann griff er nach einem Schlüsselbund und hielt ihn der Agentin hin. »Funkgesteuert, du musst nur …«
»Johnny, ich weiß, wie man mit Autos umgeht«, erklärte Fulton.
»Sorry, die Macht der Gewohnheit. Du ahnst ja nicht, wie viele unserer hochgeschätzten und altgedienten Kollegen vor der modernen Technik kapitulieren.«
»Ist er vollgetankt?«
»Ja, und frisch gewaschen.«
»Danke dir.«
»Wo geht es denn hin?«
»Das könnte ich dir verraten, aber dann müsste ich dich töten«, erklärte die Agentin augenzwinkernd.
»Schon kapiert. Laufende Ermittlungen und so.«
»Du hattest doch mal überlegt, dich beim FBI zu bewerben«, wandte Maddox ein. »Wie sieht es damit aus?«
»Jetzt, wo das Baby da ist, haben Audrey und ich alle Hände voll zu tun. Da bleibt leider keine Zeit für so etwas.«
»Das tut mir leid«, sagte der Agent. »Aber das wird bestimmt wieder werden.«
»Natürlich«, antwortete Johnny in einem Tonfall, der verriet, dass er nicht wirklich daran glaubte.
»Lass uns später mal auf ein Bier gehen und darüber sprechen, okay?«, bot Fulton an.
»Klar«, bestätigte der junge Mann. »Viel Spaß mit dem Wagen.«
»Danke.«
Der BMW befand sich auf der anderen Seite der Garage, und als die beiden Agenten davorstanden, sahen sie sich kurz fragend an.
»Wer fährt?«, fragte Maddox.
»Stein-Schere-Papier?«, schlug seine Partnerin vor.
Beide hoben die Hände und spielten das altbekannte Spiel. Fulton gewann mit Zwei zu Eins.
»Dann wäre das auch geklärt«, sagte der Agent und stieg auf der Beifahrerseite ein.
An der Bude, wo sich Johnny befand, winkten sie dem Jungen kurz zu und fuhren dann die Auffahrt hoch. Für Laien sah die Tiefgarage so aus wie Millionen andere auf der Welt, aber die beiden FBI-Agenten wussten es besser. Erst kürzlich waren hier umfangreiche Modernisierungen vorgenommen worden. Unter anderem waren in den Seitenwänden und Decken Kameras installiert worden, die sich in einer Entfernung von jeweils zwei Metern zueinander befanden und jede Bewegung registrierten. Vor einiger Zeit hatte die Alarmanlage angeschlagen, als sich eine Maus in die Auffahrt verirrt hatte. Ebenfalls in regelmäßigen Abständen waren massive, zwei Meter hohe und vierzig Zentimeter breite Stahlpoller in den Boden eingelassen worden, die automatisch innerhalb von drei Sekunden ausgefahren werden konnten, um etwaige Angreifer zu stoppen. Die Planungen hierzu hatte es bereits kurz nach dem Attentat auf das Murrah Federal Building in Oklahoma City im Jahr 1995 gegeben, doch wie so oft hatte es viele Jahre gedauert, bis überhaupt auch nur das Budget geklärt worden war. Bis der Umbau tatsächlich durchgeführt worden war, waren noch viele weitere Jahre ins Land gegangen.
Fulton steuerte den Wagen an die Oberfläche und passierte eine sich selbstständig öffnende Schranke und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein, fuhr aber nicht den direkten Weg zum Stadtteil Queens.
»Willst du nicht die Brooklyn nehmen?«, fragte Maddox seine Partnerin.
Damit meinte er die im Südosten gebaute Brücke, die Manhattan mit dem Festland verband.
»Da ist momentan eine Baustelle und auf der Manhattan ebenso. Wir fahren stattdessen durch den Hugh L. Carey Tunnel, der bringt uns nach Brooklyn, und dann rüber nach Elmhurst über die Interstate Zwei-Sieben-Acht.«
»Wie du meinst«, entgegnete er und lehnte sich zurück.
Obwohl er bereits seit einigen Jahren in New York wohnte, kannte er sich mit den diversen Straßenverbindungen immer noch eher schlecht als recht aus. Dies war der Tatsache geschuldet, dass er kein eigenes Auto besaß und für größere Entfernungen normalerweise entweder die öffentlichen Verkehrsmittel oder ein Uber benutzte.
»Was denkst du, was Mrs. Mason uns sagen wird?«, fragte Fulton ihn.
»Zu der Nachricht, dass ihr Mann tot ist, oder zu dem Umstand, dass sich das FBI dafür interessiert?«
»Beides.«
Maddox rieb sich das leicht stoppelige Kinn und strich mehrfach über sein Haupthaar, welches er mithilfe des Innenspiegels bändigte. Schließlich wollte er, wenn er Hausbesuche machte, seriös wirken. »Ich schätze mal, sie wird weder über das eine noch über das andere sonderlich erfreut sein. Obwohl sie natürlich weiß, dass ihr Mann ein Straftäter war …«
»Er wurde freigesprochen«, korrigierte ihn Fulton.
»Obwohl es ziemlich klar ist, dass er für die Vergewaltigungen verantwortlich ist«, fügte Maddox hinzu. »Wie auch immer, sie hat vermutlich mehr in ihm gesehen als der Rest der Welt. Sonst hätte sie ihn ja wohl kaum geheiratet und zu ihm gestanden.«
»Da kennst du die Frauenwelt aber schlecht«, erklärte seine Partnerin. »Es gibt so viele Frauen, die bei ihren Männern bleiben, auch wenn diese noch so gewalttätige Drecksäcke sind. Jetzt weiter im Text.«
»Ich schätze, dass es nicht ganz einfach werden wird, sie zum Reden zu bringen. Vielleicht solltest du besser den Hauptteil des Gesprächs übernehmen.«
»Weil ich einfühlsamer bin als du?«
»Auch«, bestätigte er nickend. »Aber vor allem, weil du ganz einfach eine Frau bist. Es ist immer leichter, mit einem Geschlechtsgenossen zu sprechen.«
»Meinetwegen.«
Die Fahrt dauerte beinahe eine Stunde, obwohl es zu Fultons Erstaunen keinen Stau gab. An der vom Büro-Computer mitgeteilten Adresse angekommen, zeigte Maddox auf die Fassade eines mit roten Backsteinen errichteten Hauses, welches sich in nichts von den Häusern der Nachbarschaft unterschied. »Dort«, sagte er.
Die Agentin fuhr noch zwei Mal um den Block und fand dann einen Parkplatz ganz in der Nähe des Gebäudes.
»Sicher, dass Mason hier wohnt?«, wollte Fulton wissen.
»Sofern man unserer Datenbank glauben kann. Wollen wir?«
»Gentlemen first«, antwortete sie und unterstrich ihre Aussage mit einer Handbewegung.
Maddox ging, gefolgt von seiner Partnerin, über die Straße und betrachtete dabei das Gebäude von oben bis unten. Es war zweistöckig und etwa zwei Meter von der Straße zurückgesetzt. Zwischen dem Haus und dem Gehsteig erstreckte sich ein schmales Stück Rasen, wie es für diese Gegend und allgemein in amerikanischen Städten üblich war, wenn man nicht gerade im Zentrum wohnte.
Fehlt nur noch die US-Flagge, dachte er.
Die Haustür befand sich einen Meter über dem Erdboden und konnte über eine dreistufige, steinerne Treppe erreicht werden. Alles in allem sah das Haus ziemlich gepflegt aus, fand er, als er die oberste Stufe erreicht hatte und die Türklingel tief in die Fassung drückte. Aus dem Inneren des Gebäudes ertönte ein melodisches Läuten. Als die Tür nach innen aufgezogen wurde, sahen sich die beiden Agenten einer Frau im Alter von rund vierzig Jahren gegenüber. Sie trug ein geblümtes Kleid, welches den Hals nur ein wenig frei ließ und bis zu den Knöcheln reichte. Ihre braunen Haare waren zu einem lockeren Zopf geflochten, aus dem sich einzelne Strähnen gelöst hatten und locker auf ihren Schultern lagen. Es sah so aus, als ob sie Mrs. Mason gerade beim Hausputz gestört hatten.
»Ja?«, fragte sie mit heller, angenehm modulierter Stimme.
»Mrs. Mason?«, erhob Fulton das Wort.
»Die bin ich, und wer sind Sie?«
»Mein Name ist Nicole Fulton, das ist mein Partner Carl Maddox. Wir sind vom FBI.«
Masons Gesichtsausdruck veränderte sich abrupt, als sie die drei Buchstaben hörte. »Sie sind wegen Jacob hier, oder?«
»Ja«, bestätigte die Agentin.
Die Frau seufzte vernehmlich. »Was hat er jetzt wieder ausgefressen?«
»Mit Verlaub, das würden wir gerne drinnen besprechen, wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht.«
»Bitte weisen Sie sich erst einmal aus.«
Fulton und Maddox zogen ihre Dienstausweise hervor und zeigten sie der Frau.
»Danke. Man muss heutzutage so vorsichtig sein. Kommen Sie bitte herein. Es ist leider gerade etwas unordentlich.«
»Schon gut, kein Problem.«
Mrs. Mason öffnete die Tür vollends und ließ die beiden Agenten eintreten. »Links ist die Küche, da können wir in Ruhe reden.«
»Ist Ihr Sohn zu Hause?«
»Nein«, entgegnete Masons Ehefrau. »Er ist für einige Tage auf einem Schulausflug. Möchten Sie einen Kaffee?«
»Gern«, antworteten die Agenten nacheinander.
Mrs. Mason ging zur Anrichte, nahm drei saubere Tassen zur Hand und betätigte dann die Kaffeemaschine, die blubbernd zum Leben erwachte.
»Cappuccino? Espresso?«, bot sie an.
»Bitte einfach nur schlichten, schwarzen Kaffee«, erwiderte Fulton.
Nachdem die drei Behälter gefüllt waren, trug Mrs. Mason sie zum Küchentisch hinüber und bedeutete den Beamten, Platz zu nehmen.
»Also, worum geht es?«, fragte sie. »Was hat Jake angestellt, dass das FBI ihn Hause besuchen will?«
»Mrs. Mason, wir kommen am besten direkt zum Punkt. Es tut uns sehr leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Ihr Mann wurde heute Morgen tot aufgefunden.«
Die Frau hielt für einige Sekunden inne, als müsste ihr Gehör die soeben mitgeteilte Nachricht erst verarbeiten, bevor es sie an ihr Gehirn weiterleitete. Als dies geschehen war, zog sie die Lippen leicht nach oben. »Das ist ein Scherz, oder? Sie sind von irgendeiner Comedy-Show und wollen mich auf den Arm nehmen, oder?«
Fulton schüttelte leicht den Kopf. »Ich wünschte, es wäre so, aber wir sind nicht vom Fernsehen, und erst recht wollen wir Sie nicht veralbern. Ihr Ehemann, Jacob Joseph Mason, ist tot.«
»Wie …«, flüsterte Mrs. Mason.
»Er wurde ermordet.«
»Du meine Güte …«
Daraufhin tat die Frau etwas, was die Agenten nicht erwartet hatten. Sie stand auf, ging zu einem Schrank über der Spüle, öffnete die Türen und zog eine Flasche Scotch heraus. Sie schraubte den Deckel ab und setzte sie direkt an ihre Lippen. Danach zu urteilen, wie viele Schlucke sie nahm, war sie offenbar geübt darin, sich zu betrinken, entschied Maddox, während er sie beobachtete.
Als sie die Flasche schließlich absetzte, sog sie die Luft tief ein und warf ihren Kopf in den Nacken, um dann lauthals loszulachen.
»Sie sind wirklich gut!«, sagte sie zwischen zwei Lachern. »Wie oft haben Sie das geübt? Sie sind doch sicher gelernte Schauspieler, oder?«
»Mrs. Mason …«, sagte Fulton ernst. »Ich versichere Ihnen nochmals, dass wir tatsächlich und leibhaftig vom FBI sind, und das, was ich Ihnen gerade über Ihren Mann gesagt habe, die absolute Wahrheit ist.«
Die Frau sah sowohl Fulton als auch Maddox lange in die Augen, und schließlich schien ihr zu dämmern, dass es die am Tisch sitzenden Leute tatsächlich ernst meinten.
»Sie wollen mir also sagen, dass Jake, kaum dass er freigesprochen wurde, ermordet worden ist?«
»Ja, und wir möchten mit Ihnen darüber sprechen.«
»Na gut. Gesetzt den Fall, dass Sie tatsächlich die Wahrheit sagen, was wollen Sie wissen?«
»Sie glauben uns immer noch nicht«, stellte Maddox fest.
»Wie könnte ich das? Das Ganze ist so absurd, dass es nur erfunden sein kann.«
»Und doch ist es wahr. Wenn Sie uns nicht glauben, rufen Sie bitte beim FBI-Hauptquartier am Federal Plaza an und fragen Sie nach Frank Lauders. Er ist unser Vorgesetzter.«
»Wissen Sie was? Genau das werde ich tun«, erklärte Mrs. Mason, stellte die Flasche auf die Ablage, griff nach ihrem Handy und ging ins Internet, um die Telefonnummer des FBI herauszufinden. Als sie den Eintrag gefunden hatte, tippte sie die Nummer ein und hielt sich das Telefon ans Ohr.
»Frank Lauders bitte«, sagte sie. »Mein Name ist Elisa Mason. Ja, ich warte … Mr. Lauders? Hier sitzen zwei Leute in meiner Küche und behaupten, vom FBI zu sein. Sie heißen Nicole Fulton und Carl Maddox. Sie sagen, mein Mann sei gestern Nacht ermordet worden … Wirklich? Oh … Okay … vielen Dank. Auf Wiederhören.«
Elisa Mason hielt ihr Handy noch für einige Sekunden in der Hand, bevor sie es langsam auf die Ablage neben der Flasche legte. Es schien so, als habe sie alle Kraft verlassen, als sie zu ihrem Stuhl tappte und sich schwer auf die Sitzfläche fallen ließ.
»Mrs. Mason … Es tut mir sehr leid«, sagte Fulton sanft.
»Er hatte sich so gefreut, als er mir am Telefon gesagt hat, dass er freigesprochen wurde«, erwiderte Mason leise.
»Was hat er Ihnen noch gesagt?«
»Er wollte mit seinen Kumpels feiern gehen. Als er heute Morgen nicht zu Hause war, bin ich davon ausgegangen, dass er bei einem seiner Freunde übernachtet hat. Das macht er manchmal.«
»Haben Sie heute schon versucht, ihn zu erreichen?«
»Nein. Ich dachte mir, dass er heimkommen wird, wenn er ausgeschlafen hat. Vorhin, als es an der Tür geklingelt hat, dachte ich, er sei es. Er vergisst manchmal seinen Hausschlüssel, wissen Sie …«
Die Frau stützte ihr Gesicht in die Hände und unterdrückte ein Schluchzen.
»Erinnern Sie sich, ob Jacob Ihnen gesagt hat, wo er feiern will?«
»Nein, aber ich weiß, dass er gerne in seine Stammkneipe geht. Sam´s Irish Pub heißt das Ding. Ziemliche Spelunke, wenn Sie mich fragen, aber ihm gefällt es dort.«
»Danke«, sagte Fulton. »Sagen Sie, Sie haben nicht zufällig die Adressen von Jacobs Freunden, oder?«
»Doch«, erwiderte die Frau. »Jake hat im Arbeitszimmer ein Notizbuch mit den Adressen. Warten Sie, ich hole es für Sie.«
Als Elisa Mason die Küche verlassen hatte, beugte sich Maddox zu seiner Partnerin hinüber. »Glaubst du, dass die Trauer echt ist?«
»Ich bin mir nicht sicher. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie durchaus erleichtert ist, dass ihr Mann tot ist. Auch wenn sie jetzt ihren Sohn allein großziehen muss, und auch finanziell wird es bestimmt schwierig für sie werden.«
»Denkst du, dass sie verdächtig ist?«
»Wir sollten es auf jeden Fall nicht ausschließen.«
»Hier ist das Buch«, sagte Mason und überreichte der Agentin ein dünnes Heft.
»Sagen Sie, Mrs. Mason, wo waren Sie eigentlich vergangene Nacht?«, fragte Maddox.
»Ich war hier«, antwortete die Frau. »Ich habe mein Buch weitergelesen und bin dann schlafen gegangen.«
»Wann war das?«
»So gegen elf, schätze ich.«
»Gibt es jemanden, der das bezeugen kann?«
»Moment«, sagte Mason gedehnt und schaute zuerst zum Agenten und dann zu seiner Partnerin. »Denken Sie etwa, dass ich ihn umgebracht habe?«
»Dies ist nur eine Routinefrage«, erklärte Maddox ausweichend.
»Kommt es öfter vor, dass eine Frau ihren Mann heimtückisch ermordet?«
»Öfter, als Sie denken«, gab er zu. »Mrs. Mason, beantworten Sie bitte meine Frage.«
Elisa Mason atmete mehrfach durch. »Nein«, erwiderte sie schließlich. »Ich war allein.«
»Vielen Dank. Meine Partnerin und ich müssen jetzt leider los, aber wir möchten Sie bitten, die Stadt bis auf Weiteres nicht zu verlassen.«
»Um mich verhaften zu können?«
»Um Sie aufsuchen zu können, sollten wir weitere Fragen haben.«
Die beiden Agenten verabschiedeten sich und verließen dann das Haus. Im Auto sitzend, warf Fulton noch einen Blick auf das Gebäude und sah, dass sich hinter einem der Fenster die Silhouette von Elisa Mason abzeichnete.
»Ich glaube nicht, dass sie es getan hat«, sagte sie in die Stille hinein.
»Warum nicht?«
»Nenne es weibliche Intuition. Sie macht auf mich nicht den Eindruck, dass sie zu einem Mord fähig ist.«
»Das Leben kann einem manchmal übel mitspielen. Sie wäre nicht die Erste, bei der sich plötzlich ein Schalter umlegt.«
Fulton nickte. »Schon klar, aber wir sollten uns jetzt noch nicht festlegen. Komm, lass uns zu Jannings fahren.«
Die Gegend, in der eines der früheren Opfer von Jacob Mason wohnte, unterschied sich drastisch von dessen eigenem Haus. Das Gebäude, das sich direkt an der Kreuzung Queens Boulevard, Jewel Avenue und Yellowstone Boulevard befand, war sechs Stockwerke hoch und zu einer Seite hin spitz zulaufend gebaut.
»Bisschen wie das Flatiron«, kommentierte Fulton den Anblick, womit sie das berühmte Gebäude an der Fifth Avenue meinte, welches bekanntermaßen die Form eines aufrechtstehenden Bügeleisens besaß.
»Aber wirklich nur ganz dezent. Hier ist sie«, sagte Maddox und zeigte auf eines der zahlreichen Klingelschilder an der Eingangstür.
»Soll ich wieder das Reden übernehmen?«, fragte die Agentin.
»Nachdem das FBI für Gleichberechtigung eintritt, bin ich jetzt an der Reihe«, gab ihr Partner zurück und drückte den Klingelknopf.
Außer einem leisen Summen, welches dem nächtlichen Quaken eines Frosches nicht unähnlich war, hörten sie nichts, bis die neben den Klingeln angebrachte Gegensprechanlage knisternd zum Leben erwachte.
»Hallo?«, fragte eine metallisch verzerrte Stimme.
»Ms. Jannings? Mein Name ist Carl Maddox. Ich habe meine Partnerin Nicole Fulton bei mir. Wir sind vom FBI und möchten gerne mit Ihnen sprechen.«
»Tut mir leid, ich habe gerade nicht viel Zeit.«
»Es wird nicht lange dauern. Wir wollen wirklich nur mit Ihnen reden. Bitte, lassen Sie uns rein.«
Nach einem kurzen Schweigen am anderen Ende summte der Türöffner. Fulton zog die schmucklose Pforte auf und hielt sie dann für ihren Kollegen offen. Sie folgten der Treppe bis in das vierte Stockwerk, wo sie unschlüssig stehenblieben. An den Wohnungstüren auf dieser Etage befanden sich keine Namensschilder. Sie wollten bereits an einer der Türen klopfen, als sie zu ihrer Linken eine Bewegung wahrnahmen. Die dort befindliche Tür öffnete sich einen Spalt weit.
»Ms. Jannings?«, fragte Maddox.
»Zeigen Sie mir bitte Ihre Marken«, forderte sie die Frau auf der anderen Seite auf, ohne sich selbst zu zeigen.
Die beiden Agenten taten wie verlangt, zückten ihre FBI-Ausweise und hielten sie gut sichtbar in dir Höhe.
»In Ordnung«, beschied ihnen Jannings nach einigen Sekunden und schloss die Tür wieder.
Den klappernden Geräuschen, die von drinnen zu hören waren, nach zu urteilen, entriegelte sie eine Kette. Dann zog sie die Eingangstür gerade so weit auf, dass eine Person hindurchgehen konnte.
»Kommen Sie herein.«
»Vielen Dank«, entgegnete der Agent und trat, gefolgt von Fulton, in die kleine Wohnung.
»Ziehen Sie bitte die Schuhe aus, ich habe gerade gewischt.«
Maddox und Fulton wechselten einen amüsierten Blick. Anscheinend waren heute alle, die sie besuchten, mit Putzen beschäftigt. Sie zogen ihre Schuhe von den Füßen und stellten sie auf den dafür vorgesehenen Platz; eine schmale Matte unter der Garderobe. Jannings beobachtete jede ihrer Bewegungen ganz genau.
Wie ein Tiger, der seine Beute betrachtet, schoss es Maddox durch den Kopf. Oder vielleicht eher wie ein verschrecktes Reh, fügte er im Geiste hinzu.
Sie folgten ihr durch den kurzen Flur in ein Zimmer, welches sowohl den Wohn-, als auch den Kochbereich darstellte.
»Möchten Sie sich setzen?«, fragte die Frau.
»Gern«, erwiderte der Agent und machte es sich auf einem breiten Holzstuhl bequem. Fulton ließ sich neben ihm auf einem Stuhl gleicher Bauart nieder und musterte Jannings unauffällig. Die Frau war jung und trug ihr blondes Haar etwa schulterlang. Ihre Figur war sportlich, ähnlich derjenigen von Mrs. Mason. Alles in allem eine hübsche Person, wenn sie gelächelt hätte. Aber ihre Augen … diese waren zu alt für eine so junge Person, so, als hätte die Frau in ihren Leben zu viel gesehen.
Hat sie auch, sagte Fultons innere Stimme. Sie hat zu viel gesehen und zu viel erlebt.
»Warum möchte das FBI mit mir sprechen?«, fragte Jannings in die Stille hinein.
»Wir ermitteln gerade in einem Fall, der mit jemandem zu tun hat, den Sie kennen«, antwortete Maddox.
»Bitte, sprechen Sie einfach Klartext. Ich habe nicht viel Zeit.«
»Okay«, antwortete der Agent, beugte sich vor und blickte Jannings direkt in die Augen. »Heute Morgen wurde Jacob Mason tot aufgefunden. Er wurde ermordet, und wir wollen herausfinden, wer ihn auf dem Gewissen hat.«
Jannings´ Augen weiteten sich. »Er ist tot?«
»Definitiv.«
»Sind Sie sich auch wirklich sicher?«
»So sicher, wie ich hier sitze«, bestätigte Maddox.
Die Frau antwortete nicht, sondern senkte den Blick und sah zu Boden.
Eine seltsame Reaktion, notierte Fulton im Geiste. Warum freut sie sich nicht?
Als Jannings nach einigen Sekunden immer noch nicht den Kopf gehoben hatte, ergriff der Agent wieder das Wort. »Ms. Jannings? Sind Sie in Ordnung?«
»Ja …«, sagte sie leise. »Es ist nur … ich habe mir nach dem, was er mir angetan hat, immer gewünscht, dass er tot wäre. Jetzt zu erfahren, dass mein Wunsch tatsächlich in Erfüllung gegangen ist, ist so …«
»… befriedigend?«, soufflierte der Agent.
»Nein«, widersprach ihm Jannings. »Ich kann nicht in Worte fassen, was ich gerade fühle. Auf eine seltsame Weise ist da einfach … nichts. Keine Freude, kein Entsetzen, gar nichts.«
»Glauben Sie mir, das ist vollkommen normal. Oftmals braucht das Gehirn eine gewisse Zeit, um die Nachricht vom Tod einer anderen Person verarbeiten zu können.«