Ihre letzte Nacht (AT) - Deborah Masson - E-Book

Ihre letzte Nacht (AT) E-Book

Deborah Masson

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Beschreibung

Die Autorin wurde mit dem Bloody Scotland Crime-Award für das beste Debüt ausgezeichnet

Auf einem Golfplatz wird die Leiche einer jungen Frau entdeckt: Sie hängt in einem Baum, auf den ersten Blick deutet alles auf einen Suizid hin. Doch für DI Eve Hunter mehren sich schon bald die Anzeichen, dass es sich in Wirklichkeit um einen kaltblütigen Mord handelt. Parallel müssen Hunter und ihr Team in einem anderen Fall ermitteln. Der Sohn eines einflussreichen Geschäftsmanns wird tot in seinem luxuriösen Appartement in Aberdeen gefunden. Als der Polizei klar wird, dass die beiden Fälle miteinander zu tun haben, stecken sie bereits mitten in einem Sumpf aus finsteren Machenschaften: Machtmissbrauch, Korruption und Menschenhandel. Und irgendwo im Hintergrund will jemand Rache nehmen. Jemand, der vor nichts zurückschreckt ...

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Seitenzahl: 414

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Das Buch

Über mir wirft El sich auf ihrer Matratze herum, was immer ein Zeichen ist, dass sie mir unbedingt etwas erzählen will. »Kleine?«, flüstert sie. »Ja?« Ich höre die Bettfedern quietschen, dann ergießt sich Els dunkles Haar wie ein Wasserfall über die Bettkante. »Ich habe ein Geheimnis.« Ich stütze mich auf die Ellbogen, kann es kaum erwarten, zu erfahren, was sie für sich behalten hat. »Und was?« »Versprichst du, es niemandem zu verraten?« »Immer.« Und ich meine es auch so. »Ich habe jemanden kennengelernt. Eigentlich sogar mehrere.« Ich reiße die Augen auf. »Wie? Wo?« Sie kichert leise, wobei mir auffällt, dass sie sich das erste Mal verhält, wie es ihrem Alter entspricht. Unbeschwert. »Das ist nicht wichtig. Ich will, dass du sie auch kennenlernst.« Ich lasse mich aufs Kissen zurückfallen, während mich eine Mischung aus Aufregung und Angst durchströmt. »Willst du denn gar nicht wissen, wer sie sind?«, flüstert El. Ich kneife die Augen fest zu, widerstehe dem dringenden Wunsch nachzufragen, weil ich weiß, dass ich damit etwas in Gang setze, das ich nicht mehr aufhalten kann. »Wer sind sie?« »Drei Jungs.« Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Jungs. Wieder kichert El. »Sie sind reich. Und voller Träume.«

Die Autorin

Deborah Masson, in Aberdeen, Schottland, geboren und aufgewachsen, arbeitete schon in den verschiedensten Jobs: als Sekretärin, im Marketing, als Reporterin und als Briefträgerin. Als passionierte Krimileserin nahm sie nach der Geburt ihrer beiden Kinder ihren ganzen Mut zusammen und legte mit »Dein letztes Wort« ihren preisgekrönten Debütroman vor. »Ihre letzte Nacht« ist der zweite Teil ihrer Serie um die Ermittlerin Eve Hunter.

DEBORAH MASSON

Ihre letzte Nacht

THRILLER

Aus dem Englischen von Andrea Brandl

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Out for Blood erschien erstmals 2020 bei Transworld Publishers, Penguin Randomhouse UK, LondonDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 10/2022

Copyright © Deborah Masson 2020

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Wiebke Bach

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, nach einem Entwurf von Beci Kelly/ TW, Coverillustration: Shutterstock/Fisher PhotostudioSatz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-25622-7V001www.heyne.de

Für meine beiden Mini-Monster, Holly und Ellis. Ich liebe euch.

1

Montag

George Christie hatte seine behandschuhten Hände fest um das vibrierende Lenkrad des kleinen Traktors gelegt und fuhr am Rand des Fairways entlang, wobei ihn das Holpern halb aus dem Fahrersitz hob. Erste Strahlen der aufgehenden Sonne fielen auf den Golfplatz. Er ließ den Blick über das bunt gefärbte Laub an den Bäumen und Sträuchern ringsum schweifen, während eine stramme Brise seine Atemwölkchen fortblies, und stieß einen tiefen Seufzer der Zufriedenheit aus. Genau deshalb liebte er seine Arbeit so sehr. Er war praktisch sein eigener Chef, und um diese Uhrzeit fühlte es sich an, als sei er der einzige Mensch auf der Welt auf diesem Fleckchen Erde, wo er bis zu seinem seligen Ende bleiben wollte: dem MacKenzie Championship Course des Hazlehead Golf Clubs.

Die Wochen Mitte Oktober mochte er ganz besonders. Die Golfsaison neigte sich dem Ende zu, deshalb musste der Rasen nur noch ein oder zwei Mal pro Woche gemäht werden, was ihm Gelegenheit gab, sich um Instandhaltungsarbeiten und Reparaturen vor dem bevorstehenden Winter zu kümmern. Auf dem Platz herrschte weniger Betrieb, die Sonne ging später auf, daher verlagerten sich die Abschlagszeiten weiter nach hinten. Gleich würde er noch die Bunker rechen.

In diesem Moment bemerkte er ein paar Bierdosen direkt vor ihm auf dem Grün. Er schnalzte mit der Zunge, sprang vom Traktor und stapfte kopfschüttelnd und leise fluchend über den Rasen. Manchmal trieben einen die Kids aus der Gegend zur Verzweiflung. Bestimmt gab es viel bessere Orte, um nach Einbruch der Dunkelheit abzuhängen, doch nach den Abfällen und Spuren des wiederkehrenden Vandalismus oder der Gedankenlosigkeit zu schließen, denen er auf seinen frühmorgendlichen Runden begegnete, sahen die Jugendlichen das anders.

Er hob die Dosen auf und schob sie hinter den Traktorsitz. In diesem Moment sah er Tom Bradshaw, der am fünften Loch aufteete. George lachte in sich hinein. Der alte Knabe war mit Leidenschaft dabei, das musste man ihm lassen.

Tom stammte aus Yorkshire, hatte jedoch vor zwanzig Jahren seinen Wohnsitz nach Aberdeen verlagert, um hier seinen Ruhestand zu genießen. Seitdem hatte George ihn nahezu jeden Tag auf dem Rasen gesehen. Tom war über achtzig und ein umgänglicher Zeitgenosse, der sich von keiner Witterung beirren ließ.

George wartete, bis Tom abgeschlagen hatte, ehe er weiterfuhr. Er tuckerte den sanften Hügel hinunter und um die scharfe Biegung links, wo er erneut anhielt, heruntersprang, seinen Rechen schnappte und sich an die Arbeit machte. Als der Bunker ordentlich gerecht war, kehrte er pfeifend zum Traktor zurück.

Über die Kuppe des Fairways hinweg sah er Toms Trolley mit den Schlägern beim fünften Tee stehen, von Tom selbst war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Noch einmal ließ George den Blick umherschweifen, ehe er beschloss, auf dem Traktor auf Tom zu warten. Er zog sein Handy heraus, um zum x-ten Mal zu versuchen, sein Level bei Candy Crush zu knacken, auf dem er seit Ewigkeiten festhing. Ein paar Minuten später war er kein bisschen weiter. Von Tom war immer noch nichts zu sehen, deshalb sprang er erneut vom Traktor und marschierte zu Toms Trolley hinüber, den Blick prüfend auf den Rasen geheftet und mit den Gedanken bei den beiden Fleischpasteten, die er sich zum Mittagessen gönnen würde. Ihm knurrte der Magen.

Er hob den Kopf und schnappte erschrocken nach Luft. Schlagartig war jeder Gedanke ans Mittagessen verflogen. Tom lag mitten auf dem Rasen, direkt neben seinen Schlägern. »Was um alles …« George verfiel in Laufschritt. Hatte der alte Knabe etwa einen Herzinfarkt erlitten?

Sekunden später war er an Toms Seite und beugte sich über sein kreidebleiches Gesicht, um sich zu vergewissern, ob er atmete. Tom faselte etwas und deutete mit seiner zittrigen, in einem schwarz-weißen Golfhandschuh steckenden Hand auf etwas. George beugte sich vor, hörte jedoch nur wirres Gemurmel, dann blickte er in die Richtung, in die Tom zeigte, nach links. Seine Augen weiteten sich.

»Du lieber Gott!« George kippte nach hinten, während sein Verstand versuchte, den Anblick zu verarbeiten. Ohne den Blick abzuwenden, stemmte er sich wieder hoch und setzte sich auf den Boden, die Beine ausgestreckt. Der Morgentau drang durch seine Arbeitshose. Eine Frau starrte zwischen den Bäumen am Rand des Fairways herüber. Langes dunkles, schlaff herabhängendes Haar umrahmte ihr bleiches Gesicht. George wusste, dass die hagere, schmutzverkrustete Frau ihre Blicke nicht sehen konnte. Und auch sonst nichts. Denn sie baumelte an einem Seil von einem der Bäume.

2

Als Erstes sah Detective Inspector Eve Hunter die Füße – in schmutzigen beigen Socken. Die lang ausgestreckten Männerbeine steckten in einer braunen Freizeithose. Das Blut am Kragen des knittrigen himmelblauen Hemds sah auf den ersten Blick wie Lippenstift aus, aber nur, bis man die Spur sah, die sich über den gesamten oberen Rücken zog.

Sie stand mit Papierüberziehern über den Schuhen in der weißen Hochglanzküche des offen gestalteten Apartments neben Detective Sergeant Mark Cooper und wippte auf den Fersen vor und zurück. Dabei bemerkte sie nicht zum ersten Mal, wie gut sich ihr verletztes Bein mittlerweile erholt hatte. Das Hinken war fast verschwunden, ein Resultat täglicher qualvoll schmerzhafter Reha-Übungen und purer Sturheit. Lediglich wenn sie übermüdet war oder sich etwas zu Anstrengendes zumutete, tat es noch weh. Sie sah zum Team der Spurensicherung hinüber, um sich von weiteren Gedanken über ihr Bein abzulenken … und davon, wohin sie sie unweigerlich führen würden.

Sie war ungeduldig, wollte endlich loslegen. Kurz wurde der Grund für ihre Anwesenheit – die Leiche auf dem Fußboden – wieder sichtbar, als die Spezialisten in ihrer methodischen Routine die Spuren ringsum sicherten.

»Hier drinnen kriegt man ja keine Luft«, sagte sie, eher an sich selbst gerichtet. Trotzdem murmelte Cooper zustimmend.

Garantiert trug auch die Fußbodenheizung ihren Teil zur Stickigkeit in dem Apartment bei. Hier hatte man keine Kosten und Mühen gescheut: beigefarbene Wandfliesen und Granitarbeitsflächen, eine große Dunstabzugshaube aus Edelstahl, eine passend gestaltete Frühstückstheke mit einem quadratischen Glastisch davor, um den vier dick gepolsterte weiße Lederstühle gruppiert waren, und dann das feudale Wohnzimmer.

Der Gegensatz zu den Lebensverhältnissen der Betroffenen ihres jüngsten Falls könnte nicht krasser sein: Man hatte Laura Robertson und ihre beiden kleinen Kinder in einer Notunterkunft in Torry untergebracht, um sie vor dem Zugriff ihres brutalen Ehemanns zu schützen, während die Polizei Beweise für eine Anklage wegen häuslicher Gewalt sammelte. Das Problem war nur, dass ihre Ermittlungen ein jähes Ende gefunden hatten, weil Laura zum Entschluss gelangt war, nun doch nicht gegen ihren Mann auszusagen und alle Vorwürfe gegen ihn fallen zu lassen. Das war am Freitag gewesen, vor gerade einmal drei Tagen, doch nach einem Wochenende voller Frust, weil ihr die Hände gebunden waren, und dem Anflug von Bedauern, dass ihr die Neuigkeit so an die Nieren ging, fühlte Eve sich, als wäre eine ganze Woche vergangen. Sie schloss die Augen. Wahrscheinlich wurde Laura in dieser Sekunde quer durchs Haus geprügelt.

Eve schlug die Augen wieder auf und zoomte sich in die geradezu obszön teure Küche zurück. »Hat hier jemals einer gekocht, was denkst du?«

Cooper sah zum Herd. »Falls ja, handelt es sich um einen Fall isolierter Zwangsstörung, weil sie die restliche Wohnung nicht mit einschließt.«

Der Fußboden der beiden ineinander übergehenden Räume war aus echtem Eichenholz – teuer, aber keineswegs makellos sauber. Auf den ersten Blick erinnerte das Apartment eher an einen Showroom, allerdings hatte es den Anschein, als hätte die Putzfrau, falls es denn eine gegeben hatte, kürzlich gekündigt. Nur auf dem gläsernen Esstisch mit der scheinbar achtlos hingeworfenen gerollten Banknote war kein Stäubchen zu sehen.

Eve und Cooper sahen sich um. Die Leiche lag bäuchlings mitten auf einem blutbefleckten cremefarbenen Teppich, der nahezu den gesamten Raum zwischen den beiden schwarzen Ledersofas einnahm. Die eine Handfläche war nach oben gekehrt.

Die gesamte Südseite des Wohnzimmers bestand aus einer Fensterfront, drei weitere Fenster befanden sich an der Wand rechts davon bis zur Küche. Bislang hatte niemand Anstalten gemacht, die schweren grauen Satinvorhänge zurückzuziehen. An der linken Wand hing eine großzügige Leinwand mit beigen und braunen verschlungenen Kreisen, die Eve an die nichtssagenden Kunstwerke erinnerte, wie man sie häufig in Hotelzimmern fand.

Ihr Blick fiel auf ein rechteckiges Stück Plastik, das mit der Vorderseite nach unten auf der Frühstückstheke lag. Sie hob es auf, drehte es um und blickte in das Gesicht des Mannes, bei dem es sich offensichtlich um das Opfer handelte, ehe sie es an Cooper weiterreichte. »Sieht nach einem Firmenausweis aus. Dean Johnstone. IT-Consultant bei einer Firma namens In-Serv.« Eve konnte Untätigkeit nicht ausstehen. Sie wollte endlich loslegen, irgendetwas tun, egal was.

Cooper legte den Ausweis zurück, damit er eingetütet und ins Beweismittelregister aufgenommen werden konnte, während Eve wieder zum Opfer trat. Brian MacLean, der Rechtsmediziner, hockte näher bei der Leiche, als Eve es jemals wollen würde, und versperrte ihr die Sicht. Coopers Lederschuhe knarzten, als er neben sie trat und sich auf die Zehenspitzen stellte, um einen besseren Blick auf das Opfer zu erhaschen, dessen Gesicht jedoch in Richtung des einen Sofas gewandt war. Zwischen seinem blutverklebten dunklen Haar am Hinterkopf schien eine Wunde zu klaffen. Ein Gegenstand lag auf dem Boden neben dem Sofa, bräunlich, aus Metall und mit einer verkrusteten Substanz bedeckt. Vermutlich Blut.

»Sieht aus, als hätte ihm jemand mit einem protzigen Dekogegenstand aus Messing auf den Kopf geschlagen«, bestätigte Cooper Eves Gedanken.

Wahrscheinlich hatte Cooper das »protzig« ihr zuliebe einfließen lassen, da er von ihrem ungewöhnlichen Geschmack für Möbel und Deko wusste. Beim Upcycling, ihrem Hobby, gab es keinen teuren Schnickschnack.

»Armer Teufel.«

Arm. So ziemlich das Letzte, was der Kerl war, dachte Eve. Bestimmt blätterte er jeden Monat locker einen Tausender Miete für die Bude hin. Der Apartmentkomplex befand sich gerade einmal zwanzig Gehminuten vom Stadtkern Aberdeens entfernt und lag inmitten von Luxushotels und schicken Restaurants.

MacLean und einer seiner Helfer drehten vorsichtig die Leiche um, sodass Eve einen ungehinderten Blick auf ihr Gesicht werfen konnte, das dem Foto auf dem Firmenausweis entsprach. Nach einer gefühlten Ewigkeit erhob sich MacLean endlich und trat zu ihnen.

Eve unterbrach ihr ungeduldiges Wippen. »Also, was haben Sie für uns?«, fragte sie.

MacLean seufzte. »Ich sehe schon, da erwartet wieder mal jemand Wunder. Die erste Untersuchung zeigt ein stumpfes Trauma am Hinterkopf. Das bestätigt auch die massive Bronzestatue, die neben dem Sofa lag.«

»Ein einzelner tödlicher Schlag oder mehrere?« Eve wollte Antworten. Wunder wären allerdings noch besser.

MacLeans Untersuchungskoffer schlug gegen sein Bein, als er zwei Technikern im Overall auswich. »Ich glaube nicht, dass ihn der Schlag auf den Kopf getötet hat.«

»Wieso? Gibt es noch eine weitere Wunde?«, hakte Eve mit einem Blick auf die Leiche nach.

»Das nicht«, antwortete MacLean.

Verwirrt und voller Ungeduld wartete Eve darauf, dass MacLean endlich mit der Sprache herausrückte.

»Ich muss meine Ergebnisse erst noch im Labor auswerten, aber für mich sieht es danach aus, als sei die Kopfwunde nicht tödlich gewesen. Sie mag eine leichte Gehirnerschütterung verursacht haben und eine Wunde, die hätte genäht werden müssen. Dass er von dem Schlag das Bewusstsein verlieren würde, ist ziemlich klar, allerdings wäre er nach einer Weile zweifellos wieder zu sich gekommen. Hätte ihn nicht vorher jemand erstickt.«

3

Eve saß kerzengerade neben Cooper auf dem Sofa, auf dem man ihnen einen Platz angeboten hatte, beide sorgsam darauf bedacht, bloß die perfekt arrangierten Kissen nicht zu zerdrücken. Die Wohnung war wie aus einem Inneneinrichtungskatalog. Selbst die tropischen Fische in dem Wand-Aquarium schienen farblich auf die Einrichtung abgestimmt zu sein.

»Ich kann nicht glauben, dass er tot ist.«

Die Kissenbesitzerin und Fischfarbenexpertin, eine gewisse Miss Lisa Taylor, stand in einem marineblauen Satinpyjama mit gefährlich tief ausgeschnittenem Oberteil auf der anderen Seite des Raums.

Eve war nicht sicher, wie nahe der Frau der Tod ihres Nachbarn ging, denn sie hatte die Nachricht ohne nennenswerte Gefühlsregung aufgenommen. Vielleicht war sie ja sogar erleichtert, dass nun Schluss mit der Musik war.

Cooper legte sein Notizbuch auf die Armlehne, schien sich jedoch eines Besseren zu besinnen, und behielt es in der Hand. Lieber die Strichrichtung des Wildleders nicht durcheinanderbringen. »Es muss ein Schock gewesen sein.«

Lisa machte keine Anstalten, Coopers Einschätzung zu bestätigen oder zu leugnen. »Sind Sie sicher, dass Sie keinen Kaffee oder Tee wollen? Oder ein Mineralwasser mit Eis?«

Eve musterte die Frau. Kein Härchen hatte sich aus dem blonden, zu einem Knoten im Nacken zusammengenommenen Haar gelöst und hing über den glatten Satinstoff. Eve war nie so perfekt zurechtgemacht, schon gar nicht um sieben Uhr morgens. Ein Hauch von Parfumduft hing in der Luft, teuer und unaufdringlich dezent. Nur gut, dass sie Cooper an ihrer Seite hatte. Detective Constable Scott Ferguson mit seinem gestylten und gegelten Haar und seinem dicken Bizeps wäre beim Anblick der attraktiven Blondine wohl zum sabbernden Teenager mutiert. Und vielleicht hätte Lisa sich von so einem arroganten Poser sogar beeindrucken lassen. Gleichzeitig musste Eve ehrlicherweise zugeben, dass Ferguson ihr neuerdings ans Herz gewachsen war und sie so etwas wie Respekt füreinander entwickelt hatten. Jedenfalls die meiste Zeit.

Eve verneinte Lisas Angebot. Ihre Gastgeberin würde bestimmt keinen gewöhnlichen Billigtee anbieten, sondern einen ausgefallenen Blend aus Ginseng und irgendetwas Unaussprechlichem. »Nein danke, ist schon gut. Wir brauchen nichts.«

Lisa ließ sich auf das minimalistische Designersofa aus schiefergrauem Wildleder gegenüber sinken. Dampf stieg aus der winzigen Tasse Espresso, die sie aus der Maschine gelassen hatte.

»Also, ich brauche jedenfalls meinen morgendlichen Wachmacher.« Lisa schien leicht verärgert zu sein. Vielleicht weil sie keine Gelegenheit bekam, ihre Qualitäten als Gastgeberin unter Beweis zu stellen oder ihr Nobel-Porzellan zu präsentieren.

Eve sah zu, wie sie die Tasse auf halber Höhe hielt, weil sie offensichtlich zu heiß war, um sie auf dem Schoß zu balancieren, und definitiv zu heiß zum Abstellen auf dem Sofa oder den Kissen. »Sie haben wegen der lauten Musik die Polizei gerufen?«

Lisa nickte. »Aber das war nichts Neues. Früher beschränkte es sich auf die Wochenenden, was mich nicht so sehr stört, aber in letzter Zeit kam es auch an den Wochentagen vor. Zu allen möglichen Zeiten. Gestern Abend hat es überhaupt nicht aufgehört.« Sie hielt inne, vielleicht weil ihr bewusst wurde, dass es nicht besonders einfühlsam klang. »Ich habe heute einen wichtigen Kundentermin.«

Eve tendierte zu der Ansicht, dass Lisa erleichtert war, wenn Dean Johnston künftig ihren Schönheitsschlaf nicht länger störte. »Was machen Sie denn beruflich, Miss Taylor?«

Die Frau sah sich im Raum um, als liege die Antwort auf der Hand. »Ich habe ein Geschäft für Inneneinrichtung. Ich habe mich erst kürzlich selbstständig gemacht.«

Das passte. »Glückwunsch. Kannten Sie Mr. Johnstone gut?«

Lisa kräuselte die Oberlippe, als hätte sie in etwas Saures gebissen. »Flüchtig. Ich fand ihn … zu vertraulich.«

»Zu vertraulich?«

»Ja, Sie wissen schon … er legte einem die Hand um den Ellbogen, wenn man sich unterhielt, oder kam viel zu nah, wenn wir zufällig gleichzeitig im Aufzug standen. Und immer eine Menge Gezwinker.«

»Glauben Sie, er stand auf Sie?«

Lisa schnaubte mit einem abfälligen Lächeln. »Ich glaube, am meisten stand Dean auf sich selbst.«

Eve dachte an das Foto auf dem Firmenausweis. Er war ein gut aussehender junger Mann gewesen. »Haben Sie gestern sonst noch etwas gehört? Außer der lauten Musik? Klang es, als hätte er Gesellschaft gehabt?«

»Dean hatte immer Gesellschaft.« Lisas Tonfall sprach Bände.

»Freunde? Eine Partnerin?«

Lisa zog die Beine an und kauerte sich in der Sofaecke zusammen, wobei der Satinstoff leise auf dem Wildleder raschelte. Eve spürte, wie Cooper neben ihr das Gewicht verlagerte. Selbst er konnte sich ihrer Aura nicht entziehen. Sie wirkte so präsent. Selbstsicher. Atemberaubend.

»Wie gesagt, normalerweise habe ich ihn nur im Vorbeigehen gesehen, allerdings habe ich wesentlich mehr von ihm gehört, als mir lieb war.«

Cooper legte sein Notizbuch in den Schoß. »Genau. Die Musik.«

»Wäre es nur das gewesen. Ich habe mich öfter gefragt, ob es so schlau war, sich zu beschweren. Oder ob es besser gewesen wäre, sie zu ertragen, als die Alternative.«

Eve begriff. »Haben Sie ihn jemals auf die Musik oder die anderen Geräusche angesprochen?«

»Einmal habe ich eine Andeutung gemacht, aber er schien es sogar toll zu finden, dass ich ihm beim Vögeln zuhöre. Ich habe mich gefragt, ob ihn das antörnt.«

Sie nannte das Kind beim Namen, das musste Eve ihr lassen. Sollte sie die Wahrheit sagen, war durchaus nachvollziehbar, weshalb sie ihn als übermäßig vertraulich beschrieb. »Und haben Sie seine Partnerin jemals kennengelernt?«

»Ich glaube nicht, dass er seine Talente an nur eine Frau verschwendet hat.«

Eve wartete.

»Gesehen habe ich die Frauen nie, aber gehört. Ganz eindeutig. Sagen wir mal so … entweder standen sie auf Rollenspiele, oder aber es waren unterschiedliche Frauen.«

Cooper räusperte sich. »Viele? Und oft?«

Lisas blaue Augen funkelten, als sie Cooper ansah. Sosehr sie sich über Deans Übergriffigkeit beschwert hatte, schien sie es regelrecht zu genießen, Cooper auf dieselbe Art in die Enge zu treiben. »Falls es nur eine einzige Frau gewesen sein sollte, hatten die beiden ein gewaltiges Durchhaltevermögen und Temperament. Als ich gestern Abend nach Hause kam, lief die Musik. Ohrenbetäubend laut. Ich dachte, er sei allein.«

»Haben Sie sonst noch etwas gehört? Laute Stimmen? Bumsen?«

Beim Anblick von Lisas Grinsen wünschte Eve, sie hätte ihre Wortwahl besser bedacht.

»Nichts. Aber das war auch völlig unmöglich bei der lauten Musik. Die Wand hat regelrecht gebebt. Meine Fische müssen sich gefühlt haben, als wären sie in einem Whirlpool. Keine Ahnung, wie lange das schon ging. Ich war ab Freitagmorgen geschäftlich unterwegs und bin erst gestern Abend zurückgekommen. Jemand muss bei ihm gewesen sein. Es sei denn, er hat Selbstmord begangen.«

Eve schwieg.

Lisa setzte sich auf. »Glauben Sie, es könnte eine der Frauen gewesen sein?«

»Noch können wir nichts ausschließen. Hatte er jemals Besuch von seiner Familie? Von Freunden?«

Lisa nippte an ihrem Espresso. »Schwer zu sagen, aber in dem Fall wäre es bestimmt leiser gewesen. Ihn selbst habe ich nie gehört, immer nur die Musik und die Sexgeräusche.«

»Haben sich die anderen Nachbarn nie beschwert?«

»Nicht dass ich wüsste. Ich bin Dean nur begegnet, weil er zu ähnlichen Uhrzeiten kam oder ging wie ich. Aber jetzt, wo Sie es erwähnen – ich hatte ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.«

In diesem Moment ließ ein Klopfen an der Tür alle drei zusammenzucken. Lisa stand auf und öffnete die Tür, vor der einer der Polizisten des Teams aus Johnstones Wohnung stand.

Eve trat hinaus auf den Korridor und zog die Tür nahezu hinter sich zu. »Ja?«

»Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber die Leiche wird jetzt abtransportiert. Die Spurensicherung bleibt noch. Sie haben den Laptop und andere persönliche Gegenstände sichergestellt. Interessante Freizeitgestaltung, wenn man sich sein Schlafzimmer so ansieht, würde ich sagen.«

Nach Lisas Erläuterungen waren keine weiteren Ausführungen nötig. Der Firmenname auf Johnstones Ausweis war der einzige brauchbare Hinweis, den sie hatten. »Okay. Danke, dass Sie mir Bescheid sagen.« Sie wandte sich um und kehrte in das Apartment zurück.

»Nun gut, Lisa. Wir lassen Sie jetzt in Ruhe, damit Sie sich für die Arbeit fertig machen können. Danke, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben.« Eve kramte ihre Visitenkarte aus der Innentasche ihres Blazers und reichte sie ihr. »Sollte Ihnen noch etwas einfallen oder sollten Sie etwas hören, rufen Sie mich bitte an.«

»Danke, das werde ich.« Lisa begleitete sie zur Tür und blieb stehen. »Eine Sache gibt es noch.«

Eve wartete.

»Sie haben mich nach Familie und Freunden gefragt.«

»Ja.«

»Ich weiß nicht recht, ob ich das sagen sollte. Aus Respekt?«, sagte Lisa, obwohl sich nicht einmal der Anflug eines Zweifels auf ihrer Miene abzeichnete; vielmehr drohte sie gleich zu platzen, wenn sie nicht loswurde, was sie wusste.

»Wir sind für alles dankbar, das uns weiterhelfen könnte.«

»Da war so ein Typ.«

»Ein Typ?«

»Ja. Er war ziemlich oft hier.«

»Und Sie haben ihn gesehen?« Eves Neugier erwachte, erlosch jedoch sofort wieder, als Lisa antwortete: »Nein, aber gehört.«

»Ich dachte, außer der Musik und den Sexgeräuschen hätten Sie …« Eve unterbrach sich, als der Groschen fiel.

»Nicht immer, aber ab und zu waren es eindeutig zwei Männer und eine Frau.«

Eve warf Cooper einen Blick zu. Das war in der Tat eine interessante Art der Freizeitgestaltung.

4

Der Sitz von Dean Johnstones Arbeitgeber, eine Öl- und Gasfirma namens In-Serv, war wesentlich feudaler, als Eve erwartet hatte. Sie klopfte ein zweites Mal gegen die gläserne Drehtür. Acht Uhr dreißig an einem Montagmorgen, und weit und breit war niemand zu sehen. Mit hängenden Armen trat sie einen Schritt zurück und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte, als sie hinter dem schwach erleuchteten Empfangstresen eine Bewegung registrierte.

Eine gebückte Gestalt in Uniform schlurfte herbei. Der Mann starrte sie mit einem unterdrückten Gähnen finster an, ehe er betont langsam und umständlich die Tür aufschloss.

»Für Publikumsverkehr ist erst ab neun Uhr geöffnet.« Seine großen Nasenlöcher blähten sich in der kühlen Morgenluft.

Eve zog ihren Dienstausweis aus der Tasche, den der Wachmann durch seine dicken Brillengläser beäugte.

»Ich bin DI Eve Hunter, und das ist mein Kollege, DS Mark Cooper.«

Der Wachmann strich sich sein grau meliertes, fettiges Haar mit dem Seitenscheitel glatt, machte jedoch keine Anstalten, sich von der Stelle zu rühren. Er genoss die kleine Machtdemonstration in vollen Zügen.

»Wir wollten jemanden sprechen, der Dean Johnstone kennt.«

Die Augenbrauen des Wachmanns schossen hinter seinen Brillengläsern hoch. »Jeder hier kennt Mr. Johnstone. Er ist der Sohn vom Chef.«

Eve versuchte, sich ihre Verblüffung nicht anmerken zu lassen. »Und wissen Sie, wie wir seinen Vater erreichen? Oder seine Mutter?«

»Darf ich fragen, worum es geht?«

»Ich fürchte, das kann ich Ihnen nicht sagen. Wir müssen zuerst mit seinen Eltern sprechen.«

Der Wachmann zögerte kurz, dann trat er zur Seite und winkte sie herein, als wären sie zwei Geheimagenten auf einer wichtigen Mission.

»Sind Sie allein hier?«, fragte Eve.

»Bis neun Uhr früh, wenn wir aufmachen, ist das Gebäude nur mit dem notwendigsten Personal besetzt.«

Eve ging nicht darauf ein, dass er bereits zum zweiten Mal die offizielle Öffnungszeit erwähnte. »Hat Mr. Johnstone auch einen Vornamen?«

»Robert.« Der Wachmann sah auf seine Uhr. »Er ist gerade auf dem Weg zum Flughafen.«

»Und wann geht seine Maschine?« Eve hatte den Blick auf seine Uhr geheftet, als er den Arm sinken ließ.

»Um neun Uhr fünfundzwanzig.«

»Haben Sie seine Handynummer? Und was ist mit Deans Mutter?«

Der Wachmann sah zur Glastür, als fürchte er, jemand könnte sie beobachten. »Sie ist vor Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, deshalb kann ich Ihnen in dem Punkt nicht weiterhelfen. Aber ich kann gerne Mr. Johnstone für Sie anrufen.«

Deans Vater die schlechte Nachricht zu überbringen, während der Wachmann danebenstand und jedes Wort mithörte, war sicher nicht die allerbeste Idee. »Danke, aber es wäre mir lieber, Sie geben mir die Nummer, und ich versuche es auf dem Weg zum Flughafen selbst. Wir haben es eilig.«

Zögernd blickte der Wachmann zwischen Eve und Cooper hin und her, als überlege er, sich noch einmal ihren Ausweis zeigen zu lassen. Dann seufzte er. »Sieht ganz so aus.«

Während er zu seinem Tresen schlurfte, fragte Eve sich, wie der verwitwete Mr. Johnstone wohl die Todesnachricht seines Sohnes aufnehmen würde.

Eve und Cooper blieben am Eingang des Abflugterminals stehen, während ein Mitarbeiter des Bodenpersonals möglichst diskret Deans Vater in der Menge auszumachen versuchte. An die Strippe hatten sie ihn nicht bekommen, weil sein Handy pausenlos besetzt gewesen war.

Eve reckte den Hals. »Da ist er.«

Cooper trat einen Schritt zurück. Der Flughafenmitarbeiter hatte Mühe, mit Robert Johnstones selbstsicheren, weit ausholenden Schritten mitzuhalten, als er mit seinem teuren Handgepäcktrolley auf sie zusteuerte.

Das Gesicht des Firmenchefs war leicht gerötet, seine von Äderchen durchzogenen Wangen und Nase ließen eine gewisse Neigung zur Genussfreude ahnen und standen in starkem farblichem Kontrast zu seinem unübersehbar schwarz gefärbten Haar. Er trug einen grauen Regenmantel über dem Arm, ein maßgeschneiderter schwarzer Anzug mit blütenweißem Hemd und gelb gemusterter Krawatte vervollständigten seine imposante Erscheinung. Auf den ersten Blick wirkte er verärgert über die Unannehmlichkeiten, doch als er vor Eve stand, war der Anflug von Besorgnis in seinen Augen unverkennbar. Kurz überlegte sie, ob er zur Beerdigung seines Sohnes wohl denselben Anzug tragen würde.

»Mr. Johnstone, ich bin DI Eve Hunter.« Sie streckte die Hand aus. Der Firmenchef betrachtete sie zögernd, als überlege er, ihr den Handschlag zu verweigern, ehe er sie ergriff und knapp schüttelte, wobei sich der goldene Siegelring an seinem kleinen Finger in ihre Haut bohrte.

»Worum geht es hier?« Sein Blick schweifte zu Cooper.

Eve war nicht sicher, wie sie ihn einschätzen sollte, und registrierte erstaunt ihre spontane Abneigung gegen ihn – auch wenn es noch so bedauerlich sein mochte, ihm die traurige Nachricht überbringen zu müssen. »Mr. Johnstone, wenn Sie mir und meinem Kollegen bitte folgen würden. Wir haben etwas arrangiert, wo wir ungestört reden können.«

Mr. Johnstone rührte sich nicht von der Stelle. »Worüber? Ich muss meinen Flug kriegen.«

Eve zögerte. Sie wollte es ihm nicht hier sagen, inmitten von zahllosen Menschen. »Ich halte es für besser, wenn wir uns nicht hier unterhalten.«

»Aber mein Flug … ich habe einen wichtigen Termin.«

»Mr. Johnst-«

»Sagen Sie es mir.«

Seine Stimme war laut und barsch geworden. Mehrere Passagiere auf dem Weg zum Abflugbereich sahen neugierig herüber. Eve konnte sich nicht erklären, weshalb der Mann sich so sträubte, Flug hin oder her. Eigentlich sollte er doch wissen, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte, wenn einen zwei Detectives am Flughafen abfingen. Er stand stocksteif da und seufzte ungeduldig. Ihre Geduld und ihr Mitgefühl mit dem Mann schwanden zusehends.

Mr. Johnstones Hand zitterte, als er sein Handy auf den Tisch zwischen sich und Eve und Cooper legte. Der scheinbar so wichtige Termin war soeben abgesagt worden.

Abgesehen von dem Zittern gab es allerdings kaum Anzeichen, was die Neuigkeit in ihm auslöste. Keine Reaktion, nachdem sie ihn endlich dazu hatten überreden können, sie aus dem Abflugbereich zu begleiten. Kein Wort, auch kein spontaner Ausbruch von Trauer, wie Eve es erwartet hätte. Stattdessen war er einfach losgegangen, was Eve als Zeichen wertete, dass er nun doch Privatsphäre wünschte. Doch dafür schien es zu spät zu sein. Die Leute reckten die Hälse, sahen herüber und tuschelten, zumindest diejenigen, die dicht genug bei ihnen gestanden hatte, um alles mitzuhören.

»Woher wussten Sie, dass ich hier am Flughafen bin?«

Eve musterte ihn. »Wir sind zu Ihrer Firma gefahren. Ihr Wachmann hat es uns gesagt.«

Mr. Johnstones Augen blitzten auf. »Sam? Großer Gott, dann weiß es inzwischen jeder. Sie hätten auch gleich eine Anzeige im Aberdeen Enquirer schalten können.«

»Deans Firmenausweis war unser einziger Anhaltspunkt. Letztlich hat er uns zu Ihnen geführt, und das ist doch gut, oder nicht?«

Wortlos verlagerte Mr. Johnstone das Gewicht auf seinem Stuhl.

Eve warf Cooper einen flüchtigen Blick zu. »Sam hat uns von Ihrer Frau erzählt. Es tut mir leid. Das muss sehr schwer für Sie sein.«

Mr. Johnstone schwieg immer noch.

»Wann haben Sie zuletzt mit Dean gesprochen?«

Sie saßen in einem Befragungsraum des Polizeireviers im Viscount House, das im internationalen Flughafen von Aberdeen untergebracht war. Es mochte nicht die ideale Lösung sein, weil es dem Ganzen einen offiziellen Charakter verlieh, den Eve lieber vermieden hätte, doch man hatte ihnen den Raum nun einmal zugewiesen. Über ihren Köpfen surrte die Klimaanlage, und der durchdringende Moschusgeruch von Mr. Johnstones Aftershave hing schwer in der Luft.

»Am Freitagabend.«

Es war sein Tonfall, seine barsche Art, die sie so irritierte. Die Arroganz, die Eve an so vielen Menschen wie Mr. Johnstone bemerkte, Menschen mit viel Geld und der festen Überzeugung, etwas Besonders zu sein, besser als all die anderen um sie herum … oder eher unter ihnen. Trotz der Tragik der Situation verströmte er auch jetzt noch diese Haltung, die unter den Umständen umso deplatzierter wirkte.

»Und wie wirkte er auf Sie?«, hakte sie nach.

»Okay.«

Das Ganze gestaltete sich wie Zähneziehen. »Hat er irgendwelche Pläne fürs Wochenende erwähnt? Mit wem er sich treffen wollte?«

»Nein.« Mr. Johnstone verließ allmählich die Geduld.

»Wissen Sie, wer ihn besucht haben könnte? Seine Nachbarin meinte, er hätte ziemlich oft Besuch gehabt.«

»Dazu kann ich nichts sagen.«

Eve versuchte nicht einmal, ihren Seufzer zu unterdrücken. »Mr. Johnstone, Sie stehen hier unter keinerlei Verdacht.«

»Das ist mir bewusst.«

»Sie scheinen uns nicht gerade bereitwillig Auskunft geben zu wollen. Wir versuchen, uns ein genaueres Bild der Aktivitäten Ihres Sohnes zu verschaffen, in der Hoffnung, dass es uns bei der Suche nach dem Täter weiterhilft.«

Er schwieg.

»Hatte Dean eine feste Freundin?«

»Nein.«

»Sicher? Die Nachbarin erwähnte auch, dass er regelmäßig Damenbesuch in seiner Wohnung hatte.«

»Diese Nachbarin scheint zu viel Zeit zu haben.« Mr. Johnstone zupfte an seinen Manschetten.

»Mag sein, aber das sind nun mal die Informationen, die wir bekommen haben.«

»Dean war Single. Was aber nicht gleichbedeutend mit Enthaltsamkeit sein muss.«

Eve zog ihr Handy aus der Tasche, als es vibrierte. Detective Constable Jo Mearns.

»Bitte entschuldigen Sie mich kurz, aber ich muss rangehen.« Mit einem kurzen Blick auf Cooper stand sie auf und ging zur Tür. Ihnen war bewusst, dass sie nichts Brauchbares aus Deans Vater herausbekommen würden, Unterbrechung hin oder her. Sie trat auf den Korridor und zog die Tür hinter sich zu.

»Hunter.«

»Hey, Boss.« Mearns’ Bereitwilligkeit, sie so zu bezeichnen, war immer noch ungewohnt. In dem knappen Jahr, seit sie sich das erste Mal begegnet waren, hatte sich ihr Verhältnis grundlegend verändert.

»Was liegt an?«

»Ein Selbstmord wurde gemeldet.«

»Wo?«

»Im Hazlehead Golf Club. Tod durch Erhängen. Ich hab’s im Funk gehört. Ferguson und ich sind gerade im Auto und am dichtesten beim Tatort. Ein Streifenpolizist ist schon vor Ort. Ich wollte nur fragen, ob wir hinfahren sollen.«

»Klar. Vielleicht können Sie ja die Person befragen, die den Vorfall gemeldet hat. Überprüfen Sie die Angaben, die die Kollegen von der Streife aufgenommen haben, und sorgen Sie dafür, dass sie vollständig sind. Wir sind hier fertig. Bringen Sie mich auf den neuesten Stand, wenn wir wieder auf dem Revier sind.«

Eve steckte ihr Handy ein und wandte sich mit einem Seufzer der Tür zum Befragungsraum zu. Sie brauchte sich nichts vorzumachen: Die Chancen, dass ihre Kollegen etwas Brauchbares aus dem Selbstmordopfer herausbekamen, standen vermutlich besser als ihre und Coopers bei Mr. Johnstone.

5

Im Schlafzimmer stank es nach altem Schweiß. Andreea lag zwischen zerknüllten Laken im unteren Stockbett und rieb sich mit den Fäusten die Augen, die nach einer schlaflosen Nacht brannten. Vage zeichneten sich die Umrisse menschlicher Gestalten in den anderen Betten im gräulichen Licht des frühen Morgens ab, das um die ausgefransten Seiten des Verdunklungsrollos herum drang. Nur die eine Gestalt, die sie gern sehen wollte, würde sie nicht ausmachen, das wusste Andreea schon jetzt.

Elena.

Die ganze Nacht hatte sie kein leises Quietschen von nackten Fußsohlen auf den Metallsprossen der Leiter zum oberen Bett gehört, keine kaputten Matratzenfedern, die unter Elenas Gewicht ächzten. Kein gedämpftes Flüstern zwischen ihnen als Versuch, so zu tun, als wäre alles ganz normal. Ihr Austausch war so vertraut gewesen. Tröstlich.

Aber nicht letzte Nacht, denn Elena war nicht zurückgekehrt.

Andreeas Blick blieb an der behaarten Riesenspinne hängen, die in der Ritze zwischen den verzogenen Holzpaneelen und der schmutzigen Matratze entlangkrabbelte. Immer wieder blieb das Tier stehen, als müsse es eine erschöpfte Pause einlegen, ehe es seinen Weg fortsetzte – der es nicht weit wegführen würde, trotz des beachtlichen Tempos, das es vorlegte. Der schwarze Körper und die grotesk langen Beine ekelten sie, doch ihre Angst war verflogen. In dem Jahr, seit ihr das erste Mal eines dieser Viecher im Zimmer begegnet war, hatte sie gelernt, dass es viel schlimmere Dinge gab, vor denen man sich fürchten musste.

Elena hatte ihr alles über die Riesenhausspinne erzählt, die in Großbritannien sehr verbreitet sei. Elena war klug und wusste eine Menge. Sie wusste, dass die Spinnenmännchen im Herbst ihr Netz verließen, um sich auf Brautschau zu begeben. Hatten sie ein Weibchen gefunden, paarten sie sich über mehrere Wochen hinweg, ehe sie starben. Und anscheinend schreckte das Weibchen nicht davor zurück, die Männchen zu verspeisen.

Wäre es doch nur so einfach.

Mit zusammengekniffenen Augen blickte Andreea zu den schlafenden Gestalten in den anderen Betten hinüber: Mädchen, die zu müde waren, um sich zu waschen, wenn sie in den frühen Morgenstunden zurückkehrten, und denen es egal war, wenn der Gestank auf ihrer Haut oder in ihren Körpern klebte. Doch Elena war nicht unter ihnen.

Ja, Elena wusste eine Menge. Aber diesmal hatte sie offenbar zu viel gewusst.

Andreea wischte sich eine Träne ab und richtete ihren Blick wieder auf die Spinne, die reglos in der Ecke des metallenen Bettgestells verharrte. Vielleicht war es ja ein Männchen auf der Suche nach einer geeigneten Partnerin. Auf der Jagd. Immer ging es um die Jagd.

Im Grunde galt das auch für die meisten Mädchen hier. Nur dass sie selbst nicht zu jagen brauchten. Stattdessen wurden sie zu den Männern hingebracht, blieben aber nicht sonderlich lange. Trotzdem war die kurze Zeit, die die Männer benötigten, schon lang genug.

Würden sie doch auch nur sterben, wenn sie fertig waren. Stattdessen fühlten sich eher die Mädchen so, als wären sie diejenigen, die starben. Jedes einzelne Mal höhlte sie weiter aus, als würden sie langsam von innen heraus verzehrt, weil ihnen jeder Mann, mit dem sie in Berührung kamen, ein Stück von dem raubte, wer und was sie einst gewesen waren.

Elena war anders. Sie weigerte sich schlicht, sich auffressen zu lassen. Wieder und wieder versprach sie Andreea bei ihren nächtlichen Zwiegesprächen, dass sie einen Ausweg finden würden. Und Andreea hatte ihr stets geglaubt.

Doch als die Mädchen im Lauf der Nacht zurückgekehrt waren, hatte sich Andreeas Hoffnung in Furcht verwandelt. Die Minuten waren zu Stunden geworden, irgendwann hatte der Morgen gegraut, ohne dass Elena aufgetaucht war. Die blanke Panik hatte sich um ihr Herz gelegt wie eine eisige Faust, die grauenvolle Erkenntnis, dass ihre Freundin es nicht geschafft hatte, den Weg hierher zu finden – ganz zu schweigen vom Weg zurück zu dem, wer sie einst waren. Sie war fort. Und schon bald würden sie es merken.

Andreea presste sich die Hand auf den Mund, um ihr Schluchzen zu unterdrücken, wobei ihre Finger das leicht erhabene Geburtsmal auf ihrer Wange berührten.

Elena hatte recht. Es waren nicht die Männer, die mit ihnen zusammen sein wollten, vor denen man sich fürchten musste. Elena hatte es immer gewusst, auf ihre typische Art. So wie sie sich mit Spinnen und deren Methoden auskannte.

Nur Andreeas Geheimnis hatte sie nicht gekannt. Vorsichtig legte Andreea eine Hand auf die leichte Wölbung ihres Bauches, als wollte sie beschützen, was darin heranwuchs.

Sie hatte vorgehabt, es Elena zu sagen, nachdem sie erst frei waren … hatte ihr sagen wollen, dass nicht nur ihnen beiden die Flucht gelungen war.

Doch nun hatte sie Angst, was ohne Elena und ihre Versprechungen aus ihnen werden sollte. Vor allem nun, da sie begriffen hatte, dass auch sie in einem Netz gefangen waren.

Mit dem Unterschied, dass der gierige, skrupellose Räuber in ihrem Netz danach nicht sterben würde und verspeist werden konnte.

6

DC Jo Mearns trat von dem kahlen Baum weg. Sonnenstrahlen fielen auf das lange, verfilzte dunkle Haar der jungen Frau, die in der kühlen Brise von einem der Äste baumelte. Die Schönheit der Natur wirkte angesichts der Hässlichkeit des Szenarios schrecklich deplatziert. Das Schlauchkleid aus schwarzem Lycra klebte an den nackten, schmutzverkrusteten Schenkeln, dürre Arme hingen an den Seiten herab, schmale Hände berührten den schwarzen Stoff. Es sah aus, als würde das Mädchen im Herbstwind tanzen.

Bloß ein einziges Mal sah Mearns ihr ins Gesicht – sie wusste, dass es vollauf genügen würde, um sich später an jedes Detail zu erinnern. Nur von den Füßen der jungen Frau konnte sie den Blick nicht lösen. Sie waren winzig. Selbst aus der Entfernung waren die schwarzen Trauerränder unter den Fußnägeln in den offenen Riemchensandalen zu erkennen. Unwillkürlich fragte Mearns sich, wo die Frau zuletzt gewesen sein, was sie zu diesem Schritt bewogen haben musste. Etwas irritierte sie. Etwas am Tatort, das nicht zu passen schien.

Fieberhaft überlegte sie, was es sein könnte, während sie sich fragte, was für ein Leben diese Frau geführt haben mochte. Seit dem Fall, den sie vor einem Jahr bearbeitet hatte, stellte sie sich diese Frage jedes Mal, wenn sie eine Frauenleiche vor sich sah. Sechs Frauen waren bei der Mordserie getötet worden, sie selbst hätte das siebte Opfer werden sollen, wozu es auch gekommen wäre, hätten ihre Kollegen sie nicht in letzter Sekunde gerettet. Die Nachwirkungen des Falls waren für sie alle brutal gewesen. Mearns hatte das dringende Bedürfnis verspürt, etwas zu tun, um andere zu unterstützen. Menschen zu helfen, für die es noch nicht zu spät war. Menschen, die es geschafft hatten, ihre eigene Version der Hölle zu überstehen. Seitdem half sie als Freiwillige in einem Frauenhaus aus. Natürlich blieb ihr wegen ihrer hohen Arbeitsbelastung nur wenig Freizeit, die sie jedoch so gut nutzte, wie sie nur konnte – manchmal lieferte sie dringend benötigte Toilettenartikel und Vorräte ab, oder aber sie plauderte bei einer Tasse Tee mit den Frauen, wenn diese ein wenig Ablenkung brauchten. Ab und zu hatte Eve sie dabei begleitet. Mearns hatte ihre Vorgesetzte nie nach deren Beweggründen gefragt, sondern war davon ausgegangen, dass es dieselben waren wie ihre eigenen.

Mearns richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Kollegen, DC Scott Ferguson, der neben sie getreten war. Er war ungewöhnlich still. Das Knarzen des Seils an der Baumrinde hallte laut in der Stille wider, als einer der Streifenkollegen eine Trittleiter gegen den dicken Stamm lehnte und hinaufkletterte, um das Seil von dem dicken Ast zu schneiden.

Die Leiter hatten sie im Golfclub ausleihen müssen. Mearns betrachtete die Äste, die vom Stamm aus nach oben und zu den Seiten ragten. Genau das ist es.

Ihre Gedanken wurden von einem kollektiven Japsen der anderen Beamten durchbrochen, die unter der Leiche standen, als sie sich unerwartet schnell aus der Schlinge löste. Instinktiv machte Mearns einen Satz nach vorn und fing die Frau im Fall auf. Eine eisig kalte Wange wurde gegen ihr Gesicht gepresst, als sie sie in einer makabren Umarmung hielt.

»Scheiße!« Auch jetzt noch, achtzehn Monate nach ihrer Versetzung aus dem Süden, war Mearns’ Boltoner Akzent deutlich zu hören. Mit weit aufgerissenen Augen taumelte sie unter dem Gewicht der Frau ein Stück nach hinten, während ihr mehrere Officer mit ausgestreckten Armen zu Hilfe eilten. Sie nahmen ihr die Leiche ab und trugen sie zu dem bereitgelegten Laken.

Mearns wischte sich die Jacke ab, als ein junger Officer – ein Neuling, der noch nicht allzu lange bei der Polizei war – auf sie zutrat. Er war als erster Beamter am Tatort eingetroffen.

»Ich habe den Mann, der sie gefunden hat.« Er klang nervös. Vielleicht wünschte er sich eine Bestätigung von ihr, dass er das Richtige getan, sich brav an sämtliche Vorschriften gehalten hatte. »Ich habe ihm gesagt, er soll bleiben, wo er ist, um das Ganze hier nicht noch mal sehen zu müssen. Ich hoffe, das ist in Ordnung. Er wartet beim Schuppen neben dem Clubhaus.«

Mearns nickte knapp. »Los, Ferguson, gehen wir rüber und hören uns an, was er zu erzählen hat.«

Mearns schätzte George Christie auf Anfang fünfzig, doch nach den Ereignissen dieses Morgens schien er um Jahre gealtert zu sein. Er saß auf einem Segeltuchklappstuhl vor einem großen Schuppen, der als Gerätehaus und Pausenraum gleichermaßen zu dienen schien, gerade einmal einen Steinwurf vom Clubhaus und dem Parkplatz entfernt. Seine Hände krallten sich um den silberfarbenen Deckel einer Thermoskanne, der als Trinkbecher diente. Feiner Dampf stieg daraus empor und umwölkte sein bekümmertes Gesicht, als Mearns und Ferguson sich näherten.

»George Christie?«

Er erhob sich, stellte den Becher neben seinem Stuhl ins Gras und strich seine Hose glatt, ehe er sichtlich angespannt die Hand ausstreckte. Sein Handschlag war fest, sein Gesicht wettergegerbt und freundlich. Er roch nach Öl, frisch gemähtem Gras und Kaffee.

»Entschuldigen Sie, wenn wir Sie in Ihrer Pause stören.« Mearns lächelte ihn höflich an.

»Tun Sie nicht. Es war keine richtige Pause. Ehrlich gesagt, habe ich nichts mehr getan, seit ich …«

»Das kann ich mir vorstellen. Es muss ein ziemlicher Schock gewesen sein. Ist es Ihnen recht, wenn Sie uns hier ein paar Fragen beantworten, oder möchten Sie lieber irgendwo anders hingehen?«

»Hier ist es gut, nur kann ich Ihnen beiden leider keinen Platz anbieten. Bitte entschuldigen Sie.«

Mearns winkte ab. »Wir sitzen uns lange genug den Hintern breit, keine Sorge. Bitte, lassen Sie Ihren Kaffee nicht kalt werden.«

George hob den Becher auf, machte jedoch keine Anstalten, sich wieder hinzusetzen.

»Sie haben die Frau gefunden?«

Er nahm einen Schluck, ehe er den Rest aus dem Becher ins Gras schüttete. »Nein. Einer unserer Stammgäste. Tom Bradshaw.« Ein gequälter Ausdruck trat in seine Augen, die leicht feucht zu werden schienen. »Ich habe vorhin im Krankenhaus angerufen. Wie es aussieht, hat er einen Herzinfarkt erlitten.«

»Tut mir leid, das zu hören.«

»Sie gehen davon aus, dass er wieder auf die Beine kommt. Der alte Knabe ist zwar schon über achtzig, aber immer noch gut in Form.«

»Muss er wohl, wenn er regelmäßig hier spielt. Darf ich Sie bitten, uns zu schildern, was passiert ist?«

»Ich habe die Bunker gerecht und Toms nächsten Schlag abgewartet. Ihn habe ich nirgendwo gesehen, nur seine Schläger, aber als ich näher kam, lag er am Boden. Natürlich bin ich sofort zu ihm gelaufen. Er wollte etwas sagen, allerdings habe ich es nicht verstanden. Er hat auf etwas gezeigt, und da habe ich sie gesehen.«

»Haben Sie die Frau erkannt?«

George schlug mit dem leeren Becher gegen sein Bein. »Nein, dabei kenne ich praktisch jeden hier. Selbst die Leute, die ihre Hunde Gassi führen.«

»Ist dieser Teil des Platzes Ihrer Einschätzung nach leicht zugänglich?«

»Ja, die Wege um den Golfplatz herum werden von vielen Leuten genutzt. Zum Spazierengehen, zum Reiten und so. Die Stelle, wo sie gefunden wurde, liegt ein gutes Stück vom Parkplatz entfernt, deshalb muss sie im Stockdunkeln hergekommen sein. Hier gibt es nirgendwo Licht.«

Mearns beschwor den Tatort vor ihrem inneren Auge herauf und dachte an das, was ihr daran merkwürdig vorgekommen war. »Könnte irgendjemand sie gesehen haben … bevor sie sich erhängt hat, meine ich?«

»Nach sieben Uhr abends wird nicht mehr gespielt, weil es zu dunkel wird. Aber viele Jugendliche aus der Gegend kommen her. Das Übliche – Kids, die Alkohol trinken, ohne dass die Eltern oder die Polizei es mitbekommen.« Er hielt inne. »Erst heute Morgen habe ich einige Bierdosen weggeräumt. Das heißt, es dürften eine Handvoll gestern Abend hier gewesen sein.«

»In der Nähe der Stelle, wo die Frau gefunden wurde?«

»Nicht allzu weit weg. Ich weiß jedenfalls sicher, dass sie noch nicht da war, als ich gestern Abend Feierabend gemacht habe, weil ich genau dieses Grün noch vorbereitet habe.«

»Und wann genau waren Sie fertig?«

»Gegen acht. Das heißt, ich muss gegen sieben Uhr von diesem Grün weggegangen sein.«

»Ist Ihnen aufgefallen, dass etwas an diesem Baum stand? Haben Sie vielleicht etwas weggenommen oder bewegt, bevor die Kollegen eintrafen?«, fragte Mearns nach kurzem Zögern.

George schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts angerührt.«

Mearns nickte. »Okay, danke. Diese Jugendlichen, die Sie erwähnt haben. Kennen Sie sie?«

»Nicht namentlich, aber es sind meistens dieselben. Sie sind fast jeden Abend hier. Wenn Sie wollen, kann ich gern später noch mal herkommen und nachsehen.«

»Das würde uns sehr helfen.« Mearns reichte George ihre Visitenkarte. »Danke, dass Sie mit uns gesprochen haben. Würden Sie mich bitte anrufen, falls Ihnen noch etwas einfällt oder Sie diese Kids zu fassen kriegen?«

»Natürlich.« George steckte die Karte ein und ergriff Mearns’ ausgestreckte Hand.

Mearns und Ferguson wandten sich zum Gehen. Nach ein paar Metern blieb Mearns stehen und wandte sich Ferguson zu. »Wir sollten aufs Revier zurückfahren. Hunter bringt uns um, wenn wir nicht pünktlich zum Morgenbriefing auftauchen.«

Ferguson schnalzte mit der Zunge. »Falls du mit der Bemerkung bezwecken wolltest, dass ich mir vor Angst in die Hose mache … vergiss es. Mir ist sehr wohl klar, dass Eve mir manchmal aus wesentlich geringfügigeren Gründen am liebsten den Hals umdrehen würde.«

Mearns ließ die Bemerkung unkommentiert. Ein nachdenklicher Ausdruck war auf ihre Züge getreten.

Ferguson musterte sie. »Was gibt’s?«

»Wir brauchen MacLean.«

»Wieso?«

»Diese Frau kann nicht aus freien Stücken auf diesen Baum gekommen sein.«

7

Cooper stand in der geöffneten Tür von Detective Chief Inspector Hastings’ Büro. Er wusste nur zu gut, weshalb sein Vorgesetzter ihn hatte antanzen lassen.

Hastings saß hinter seinem Schreibtisch. »Setzen Sie sich.« Er klang barsch, verärgert, noch bevor die Unterredung überhaupt angefangen hatte. »Ich wollte Sie unter vier Augen sprechen. Wie viel Zeit haben wir?« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte die Fingerspitzen vor dem Gesicht zu einer Pyramide zusammen.

»Sie müsste gleich hier sein. Ich habe sie auf dem Rückweg hierher bei Costa gegenüber abgesetzt. Wir brauchten beide dringend Koffein.«

»Hat sie erzählt, was am Freitag mit Colin Robertson vorgefallen ist?«

Cooper verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl. »Das war nicht nötig. Ich war ja dabei, als es passiert ist, und auch hier, als Sie sie in Ihr Büro gerufen haben.«

»Er hat übers Wochenende gedroht, sie anzuzeigen.«

Cooper schnalzte mit der Zunge. Wut stieg in ihm auf. »Soll das ein Witz sein? Der Typ, von dem wir wissen, dass er seine Frau grün und blau prügelt, droht jetzt also, eine Polizistin wegen etwas zu belangen, das man bestenfalls als kleinen Schubs bezeichnen kann?«

Hastings runzelte die Stirn. »Sie bestreiten also, dass Hunter auf ihn losgegangen ist, ihn in die Ecke gedrängt und so aggressiv angebrüllt hat, dass die Speicheltröpfchen nur so flogen?«

Wieder rutschte Cooper auf seinem Stuhl herum. »Nein, Sir, aber er hat sie provoziert.«

Hastings’ Miene blieb eisig. »Wir werden bei unserer Arbeit tagtäglich provoziert, das wissen Sie so gut wie ich. Es ist unsere Aufgabe, uns korrekt zu verhalten und die Vorschriften zu befolgen. Am Allerwichtigsten ist jedoch, Professionalität zu wahren.«

»Es war wirklich übel, Sir. Mearns hatte angerufen, um zu sagen, dass Laura Robertson ohne Erklärung mit den Kindern die Notunterkunft verlassen hatte. Colin war bereits da, als wir bei ihnen zu Hause eintrafen, und stand grinsend daneben, als Laura meinte, sie hätte die Anzeige gegen ihn zurückgezogen. Die Kinder waren nebenan. Wir haben sie weinen gehört.«

Hastings fuhr sich durch die spärlichen ergrauten Bartstoppeln über seiner Oberlippe und am Kinn. »Ich will ganz ehrlich sein. Vermutlich hätte ich dem Dreckskerl am liebsten auch eine reingehauen, aber …«

»Sie hat ihm keine reingehauen, Sir, sondern …«

»Ja, das sagten Sie bereits. Trotzdem ist es immer noch tätlicher Angriff eines Beamten. Und nicht das erste Mal, dass Hunter sich so vergisst. Weit gefehlt.«

»Bestimmt bereut sie es längst, Sir. Aber Sie wissen ja selbst, wie Eve reagiert, wenn Frauen misshandelt werden.«

Hastings schien nicht überzeugt zu sein. »Fakt ist, dass sie es schaffen muss, ihr Temperament in den Griff zu kriegen.« Er setzte sich aufrecht hin. »Glauben Sie, dass sie überarbeitet ist?«

Cooper fuhr mit dem Fingernagel über den kunstledernen Bezug seiner Armlehne. »Das Problem ist wohl eher, dass Sie ihr zu wenig geben, seit …« Er hielt inne. Unnötig, es auch noch laut auszusprechen.

Hastings blickte über Coopers Schulter, als eine Tür am Ende des Korridors aufging und das Echo von Eves beinahe militärisch strammen Schritten von den Wänden widerhallte.

Eilig erhob Cooper sich. Er wollte sich lieber nicht dabei erwischen lassen, wie er aus Hastings’ Büro kam.

»Behalten Sie sie im Auge und geben Sie mir Bescheid, falls etwas sein sollte, völlig egal, was.« Geschäftig schob Hastings irgendwelche Unterlagen auf seinem Schreibtisch hin und her.

Obwohl er wusste, dass Hastings eigentlich auf Eves Seite stand, kam Cooper sich wie der letzte Verräter vor, als er das Büro des Chiefs verließ.