Inhaltsverzeichnis
DIE DRACHENTEMPEL-TRILOGIE
Die Autorin
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Copyright
Das Buch
Entschlossen, in einer Gesellschaft, in der Frauen gnadenlos unterdrückt werden, eines Tages selbst Drachen, die heiligen Tiere des Landes, zu besitzen und zu züchten, gelingt es der 17-jährigen Zarq, vom Drachenmeister von Brut Re als Schülerin angenommen zu werden. Doch die machthungrigen Söhne des Kriegerfürsten stehen gegen sie, und auch der das gesamte Leben beherrschende Drachentempel ist nicht gewillt, ihren Aufstieg zu dulden. Zarq aber steht unter dem Schutz des mythischen Himmelswächters, und das Feuer der Drachen brennt mächtig in ihrem Blut …
DIE DRACHENTEMPEL-TRILOGIE
Erstes Buch: Auf dunklen Schwingen
Zweites Buch: Im Bann des Feuers
Drittes Buch: Das Gift der Drachen
Die Autorin
Fremde Welten begeistern Janine Cross seit ihrer Kindheit. Und so zog es sie schon früh in die Welt hinaus: Mit achtzehn Jahren wanderte sie im Mittleren Osten, molk Kühe in Israel, segelte den Nil hinab und radelte durch Asien und Australien, um erst nach mehreren Jahren in ihre kanadische Heimat zurückzukehren. Dort veröffentlichte sie zahlreiche Kurzgeschichten. Aufsehen erregte sie mit ihren Romanen aus der Drachentempel-Saga. Seither gilt die Autorin als große Hoffnung der modernen Fantasy. Janine Cross lebt mit ihren beiden Kindern in North Vancouver.
Für alle Mütter und Kinder
1
Der gewaltige Aasvogel sank rasend schnell vom Himmel herab und warf seinen kühlen Schatten rasch über die ganze Straße der Geißelung.
Die Zuschauer, die mich noch vor wenigen Augenblicken hatten steinigen wollen, hielten einen Herzschlag lang inne, bis ihnen zu Bewusstsein kam, was sie da sahen: Eine Kreatur aus der Legende stürzte sich auf sie, mit einer Flügelspannweite von fast siebzehn Metern, den Rachen mit den rasiermesserscharfen Zähnen aufgerissen und die säbelartigen Krallen ausgestreckt, der riesige Körper von einem blauen Schimmer umhüllt.
Sie starrten auf einen Himmelswächter, ein Wesen, das als Wächter des Himmlischen Reiches Gewalt über Leben und Tod sowohl der sterblichen Menschen als auch der göttlichen Drachen hatte.
Eine Kreatur, die, und das wussten sie nicht, der Geist meiner Mutter war. Sie würde nicht zulassen, dass sie mich steinigten, nur weil ich die Kühnheit besaß, als Novizin in die Lehre des Drachenmeisters zu gehen. Oh nein. Ihr Geist wollte, dass ich lebte, damit ich so ihren eigenen, wahnsinnigen Zwecken dienen konnte.
Der Himmelswächter krächzte; sein Schrei ließ sowohl die Herzen der Menschen als auch die Bretter der nahegelegenen Stallungen erzittern. Die Zuschauer gingen in Deckung, ausnahmslos, kreischend vor Angst.
Ich saß derweil auf dem Rücken eines Drachen auf der Straße der Geißelung, auf der Kreatur gehalten von Waikar Re Kratt, dem Ersten Sohn des Kriegerfürsten von Brut Re. Aus mir bislang unbekannten Gründen war Kratt mitten in den Steinhagel hineingeritten und hatte mich auf sein Reittier gezerrt. Als der Himmelswächter jetzt krächzte, antwortete der Brutdrachen, auf dem wir ritten, mit einem lauten Trompeten und bäumte sich auf; ohne Sattel, an dem ich mich hätte festklammern können, landete ich mit einem harten Rumms auf dem Boden. Die scharfen Krallen des Drachen zischten dicht über mir durch die Luft; die spitzen Steine, die den Boden bedeckten, bohrten sich schmerzhaft in meine nackten Pobacken und meine Beine. Ich wich auf allen vieren vor dem Drachen zurück.
Der Himmelswächter schoss mit erschreckender Geschwindigkeit auf uns herab. Knapp fünf Meter über dem Erdboden fing er seinen Sturz ab und fegte über die Straße; er wirbelte Staub auf und hinterließ den stechenden Gestank von Aas, während die Luft plötzlich unnatürlich kalt wurde.
Die Drachen der Parade, die an die mit Satin und Silberschmuck hergerichteten Karren geschirrt waren, trompeteten ebenfalls und versuchten zu fliehen. Krallen blitzten wie frisch gehämmerter Stahl, und fast transparent wirkende Kinnlappen schimmerten milchig in der Sonne, als die Drachen sich aufbäumten und gegen ihr Geschirr kämpften. Kutschen überschlugen sich, verkeilten sich ineinander und schleuderten kreischende Bayen-Frauen und ihre Kinder in den Staub der Straße.
Mit einem mächtigen Schlag seiner gewaltigen, bebenden Schwingen schwang sich der leuchtende Himmelswächter von der Straße in den Himmel empor. Er kreischte noch einmal laut auf, es war ein peinigender, ohrenbetäubender Laut, und flog dann mit rauschenden Schwingen auf eine einsame Wolke zu, die hoch oben an dem grellen, blauen Himmel schwebte.
Meine Mutter ließ mich wieder im Stich.
Trauer überwältigte mich, als ich zusah, wie der Himmelswächter sich zu einer zirkonfarbenen Murmel verkleinerte und schließlich in der Wolke verschwand.
Der Brutdrache, auf dem ich gesessen hatte, bockte, schlug die Krallen in den Boden, schnaubte, verdrehte die Augen, und aus seinem Mund flog nach Drachengift duftender Schaum. Waikar Re Kratt hatte alle Hände voll zu tun, den Drachen zu zügeln und sich im Sattel zu halten. Sein schwarzblauer Seidenumhang leuchtete hinter ihm auf wie die Schwingen eines gigantischen, aufgeregten Raben.
Ich krabbelte noch weiter von seinem panischen Reittier weg und sah mich ungläubig um.
Die Menge war verschwunden. Die Schüler des Drachenmeisters, Mönche, Zuschauer sowie die anwesenden Ersten Heiligen Hüter - sie alle waren in Deckung gegangen. Mutter, soll heißen der Himmelswächter, hatte mir das Leben gerettet.
»Hoch mit dir, Mädchen.«
Mein Blick zuckte zu dem geröteten Gesicht des Drachenmeisters von Brut Re. Im Unterschied zu den anderen war er nicht vor dem Himmelswächter geflohen, oh nein. Er war mitten auf der Straße der Geißelung stehen geblieben. Als er jetzt auf mich zuschritt, seine grüngefleckte braune Haut im Sonnenlicht glänzte und der kurze Glasknebel am Ende seines Kinnbartes im Takt seiner Schritte hin und her schwang, grinste er wie ein Schwachsinniger, als hätte ihm das Auftauchen dieser Kreatur unbändige Freude bereitet. Sein Blick streifte Waikar Re Kratt, der immer noch mit seiner Bestie kämpfte, bevor er ihn erneut auf mich richtete.
»Steh auf!«
Ich rappelte mich hoch, meine Beine fühlten sich wacklig an, mein flacher Atem kalt. Ich suchte meine Tunika, die ich auf Geheiß des Drachenmeisters hatte abstreifen müssen, damit ich durch das Ritual der Geißelung in seine Lehre aufgenommen wurde. Genau das hatte die Menge zu ihrer mörderischen Wut angestachelt: Meine Nacktheit, die mein weibliches Geschlecht enthüllte.
Das Gewand war nirgendwo zu sehen.
»Tritt rüber an die Schranke!«, blaffte der Drachenmeister.
Ich glotzte ihn an.
Er wollte mich auspeitschen, die alljährliche Zeremonie des Mombe Taro fortsetzen, ob mit oder ohne Prunk und Ritual. Er hatte immer noch vor, mich in seine Lehre aufzunehmen.
Furcht und Triumph hielten sich in meinem Herzen die Waage.
Es war noch nicht zu spät, umzukehren und zu fliehen. Schließlich wurden niemals Frauen als Novizen in die Lehre eines Drachenmeisters aufgenommen, und da ich eine Frau von siebzehn Jahren war, würde ich eine jahrhundertealte Tradition brechen, wenn ich es wagte, als Schülerin in die Lehre des Drachenmeisters von Brut Re einzutreten.
Floh ich jedoch, würde ich nie wieder dieser wundervoll berauschenden Erfahrung teilhaftig, die das Drachengift einem bereitete, würde nie wieder seinen Geschmack nach Süßholz und Limone kosten; würde nie wieder die Chance bekommen, mich einem Drachen hinzugeben und sein göttliches Drachenlied in meinem Hirn zu hören.
Selbstverständlich würde ich nicht weglaufen.
Mein Mund war so trocken, dass ich nicht einmal schlucken konnte, als ich zitternd zur Peitschenschranke ging. Ich war mir meiner Nacktheit sehr deutlich bewusst und fühlte mich sehr verletzlich. Meine nackten Füße wirbelten den roten Staub der Straße auf, der für meine Geburts-Brutstätte so charakteristisch war. Er war warm, dieser Staub, fein wie Puder und auf meiner Haut fast wie eine Liebkosung. Ich stellte mir vor, vollkommen davon eingehüllt zu sein.
Hinter mir hörte ich den Wortwechsel zwischen Waikar Re Kratt und dem Drachenmeister.
Eine ungeheuerliche Erkenntnis überkam mich: Der Brauch schrieb vor, dass der Novize eines Drachenmeisters nicht von ihm selbst als Novize eingeführt oder bestätigt werden konnte, sondern dass das Ritual der Geißelung von jemand anderem ausgeführt werden musste. Also würde Kratt die Aufgabe zufallen, mich auszupeitschen.
Mir wurde schlecht, ich strauchelte und wäre gestürzt, wäre da nicht die Peitschenschranke gewesen, die hüfthoch die Straße der Geißelung der Länge nach teilte. Ich umklammerte das glatte Holz der Schranke und zwang mich, langsam ein- und auszuatmen.
Das Holz der Peitschenschranke schimmerte wie goldener Wildhonig, und sie war glitschig vom geweihten Öl, das an einigen Stellen von rotem Staub überzogen war. Sie war in Form eines gewundenen, unmöglich langen Drachen geschnitzt, und zwischen den hölzernen Schuppen der Schranke hervor starrten mich verzerrte, menschliche Gesichter lüstern an. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Kratt zu einem etwas weiter entfernten Abschnitt der Schranke ritt und sein schweißgebadetes, erschöpftes Tier dort festband.
Jetzt würde ich bekommen, wonach ich mich am meisten sehnte.
Gift.
Aber dieses Gift würde mir mittels einer Peitsche verabreicht werden, die zudem jemand schwang, den zu töten ich geschworen hatte, jemand, den ich hasste und fürchtete, der meinen Vater ermordet, meine Mutter in den Abgrund des Wahnsinns gestürzt und mir so meine Kindheit genommen hatte.
»Mo Fa Cinai, wabaten ris balu«, murmelte ich. Reinster Drache, werde zu meiner Kraft.
Ich schloss die Augen.
Die Drachen, die sich in den Trümmern der Karren und Kutschen am Ende der Straße verheddert hatten, brüllten vor Furcht und Schmerz. Ich hörte das Splittern von Holz, das Klirren von Ketten; der Gestank von heißem, ranzigem Öl drang mir in die Nase, der Geruch eines erregten Drachen. Frauen und Kinder weinten. Etwas weiter entfernt heulte ein Rudel wilder Hunde; ihr langgezogenes Jaulen und Kläffen wirkte irgendwie unheimlich.
Dann hörte ich Schritte, die sich mir von hinten näherten. Gemessene, leise Schritte, ohne Hast.
Mein Puls schlug schneller.
Die Schritte verstummten.
Ich hörte ein raues Schaben von Leder: Eine Peitsche, die ausgerollt wurde.
Meine Finger packten die Schranke fester, und ich konnte nicht mehr richtig atmen. Ich begann zu keuchen. Mein nackter Rücken und meine Pobacken kribbelten vor furchtsamer Erwartung; ich fühlte, wie sich meine Muskeln immer stärker verkrampften.
Das Warten zog sich hin, scheinbar endlos.
Mo Fa Cinai, wabaten ris balu, wiederholte ich mein Mantra. Mo Fa Cinai, wabaten ris balu.
Dann drang ein kaum wahrnehmbares Wispern an mein Ohr, bevor ein scharfer Knall direkt daneben ertönte. Ich zuckte zusammen, riss die Augen weit auf und schrie.
Wieder trat eine lange Pause ein. Mir schwindelte.
Peng!
Diesmal knallte es neben meinem anderen Ohr. Die Peitsche berührte mich nicht, wenngleich sich mein Haar in ihrem Luftzug leicht bewegte. Wieder zuckte ich krampfhaft zusammen und schrie, unwillkürlich, doch plötzlich kochte Wut in mir hoch. Dieser Sadist spielte mit mir, derselbe, der einst meiner Mutter den Kiefer zertrümmerte, als er ihr immer und immer wieder mit seinem Stiefel ins Gesicht trat. Ich würde sein boshaftes Spiel nicht mitmachen; niemals würde ich das.
Wie immer in solchen Situationen konnte ich den Mund nicht halten, obwohl es besser gewesen wäre.
»Du drachenlutschender Wichser!«, schrie ich und wirbelte herum. »Bist du nicht Manns genug, mich richtig auszupeitschen? Hast du erst genug Kraft oder Mumm, wenn ich mich vor Angst bepisst habe?«
Wir starrten uns an, Kratt und ich, einen angespannten Moment lang; der Blick seiner blauen Augen bohrte sich in meine braunen. Dann hob er die Peitsche. Der Schmerz raubte mir den Atem, als meine Haut über meiner linken Brust platzte, dann brannte er zwischen meinen Beinen, als die Peitsche unter mein Geschlecht zuckte und mein Steißbein so hart traf, dass ich hätte schwören können, das Brechen von Knochen zu hören. Ich schrie und wirbelte herum, weg von der Peitsche, prallte gegen die Peitschenschranke, die ich vergessen hatte, und wäre fast kopfüber auf die andere Seite gestürzt.
Immer wieder klatschte die Peitsche auf meine Haut.
Ihre Hiebe stachen, brannten, und ich rang keuchend nach Luft, meine Brust hob und senkte sich, während ich meinen Kopf instinktiv mit den Armen schützte. Ein Novize des Drachenmeisters durfte nur achtmal bei seiner Einführung gepeitscht werden. Achtmal. Kratt jedoch ließ die Peitsche viel, viel öfter auf meinen nackten Leib klatschen.
Bei jedem Schlag schwollen meine Schreie an, bis sie wie kreischende Vögel aus meinem Mund zu flattern schienen und die Peitschenhiebe nicht mehr brannten und klatschten, sondern wie Eisbrocken auf meiner Haut landeten. Es war ein Gefühl, als würde man mit kochendem Öl bespritzt: zunächst fühlte es sich nicht heiß an, sondern unerträglich kalt, dann weder kalt noch heiß, sondern unbeschreiblich. Ein Gefühl, das man nur als eine stechende Qual bezeichnen konnte.
Die Peitschenhiebe trafen mich wie Faustschläge, drangen in meine Haut ein wie Wurfmesser. Jeder Schlag erschütterte meinen ganzen Körper und brannte sich wie mit eisigen Flammen bis auf meine Knochen.
Plötzlich schien die Welt zu schwanken. Harte Erde krachte gegen meine Knie, meine Stirn sank langsam, dann mit einem Ruck in den Staub, ich fühlte mich verwirrt und schien plötzlich in schwindelnder Höhe zu taumeln. Staub überzog meine Zunge, und eine salzige, metallische Flüssigkeit erfüllte meinen Mund.
»Hört auf, bitte! Hört auf.«
Das war nicht ich, die diese Worte aus einer Kehle würgte, die so wund war, dass jedes Wort nach Blut schmeckte. Das konnte ich nicht sein. Ich war viel stärker, würde niemals von diesem Mann Gnade erbitten, ausgerechnet von diesem Mann.
Schweigen antwortete mir.
Stille.
Und dann …
Schwarze Stiefel, die von feinem rotem Staub überzogen waren, tauchten schemenhaft vor meinem Gesicht auf, fast schwebend. Verblassten, schillerten. Unter meiner Wange pulsierte die heiße Erde. Ein schwaches Wimmern drang mir in die Ohren. Eine Hand packte mein Haar und zerrte grob meinen Kopf hoch.
Es schimmerte blau vor meinen Augen: der Himmel. Nein. Ein Auge. Zwei Augen. Seine Augen! Kratts Augen. Über diesen so blauen Augen schimmerte Haar in der Farbe von sonnengetrockneten Mandeln, die mit goldenem Zuckerrohrsirup überzogen waren.
Die Hand ließ meinen Kopf los. Er sank zu Boden, immer tiefer, locker und wirbelnd, schien ewig zu fallen.
Bis meine Wange auf die Erde prallte.
Alles war dunkel - nur ein blendend weißer Punkt gleißte in der Mitte.
Der größer wurde, pulsierte. Die Dunkelheit lichtete sich. In der Mitte des Lichtpunktes formte sich ein Gesicht. Nicht das von Kratt, nein. Dieses hier hatte tiefe Falten, und seine Haut hatte die scheckige Farbe von getrockneten Kräutern und Borke. Die grauen Augenbrauen, dünn wie ausgetrocknete Tausendfüßler, waren gefurcht, der Schädel kahl und vernarbt. Ich starrte in die Augen dieses Gesichts: Sie waren von geplatzten Blutäderchen marmoriert.
Dieses Gesicht mit den blutunterlaufenen Augen hob sich vor dem Licht ab; es grinste mich an. Es war ein wissendes Grinsen, ein Grinsen, das von der Weisheit des Wahnsinns besessen war. Die verzogenen Lippen entblößten krumme, faule Zähne, Zahnfleisch, das mit Beulen übersät war. Unter dem lüsternen Grinsen baumelte ein Kinnbart, dessen Ende mit einem grünen Glasknebel geschmückt war.
»Beiß zu«, sagte das Gesicht.
Die Sonne glänzte auf etwas Feuchtem, Schwarzem: Eine Peitsche. Ihr Griff wurde mir quer in den Mund geschoben. Und dann …
Oh, dann …
Langsam breitete sich ein Prickeln auf meiner Zunge aus, das nach Süßholz und Limonen schmeckte. Das brennende Gefühl, das ihm folgte, war so wundervoll, so allumfassend, dass es meinen Mund und meinen Hals in Brand zu setzen schien, eine Hitze durch meine Nase, meine Augen und meine Ohren trieb, die den Schmerz augenblicklich linderte.
Drachengift. Süßes, verbotenes Drachengift.
Die quälenden Schmerzen auf meinem Rücken und meinen Waden flackerten wie Kerzen im Wind, als dieses betäubende Halluzinogen durch meine Blutbahnen rann.
Doch nein, ich sollte kein Gift schmecken! Ich hatte dieser verbotenen Droge abgeschworen, für meinen Rachefeldzug gegen Kratt. Dennoch konnte ich ebenso wenig verhindern, das Gift zu schlucken, wie ich meine Bitte um Gnade vor der Peitsche hatte unterdrücken können. Einige Dinge sind stärker als noble Bestrebungen, mächtiger als jede Entschlossenheit. So manche würden es Instinkt nennen. Etliche vielleicht Magie.
Wieder andere Sucht.
Also tat ich, was ich tun musste, um dieser überwältigenden Qual ein Ende zu bereiten. Während ich das Gift einsaugte, fiel die vom Schmerz ausgelöste Benommenheit von mir ab, und ich erkannte das fleckige, grünbraune Gesicht, das mich so lüstern anstarrte. Es gehörte dem Drachenmeister.
Er tätschelte meinen Kopf, als wäre ich ein Hund, zog die Peitsche aus meinem Mund und stand auf.
»Wer ist sie?«, wollte Kratt wissen. Er stand hoch aufgerichtet neben mir, kaum eine Peitschenlänge entfernt, und atmete noch schwer von der körperlichen Anstrengung, die es ihn gekostet hatte, mich zu geißeln.
»Wer ist sie?«, ahmte der Drachenmeister ihn nach. »Ihr habt sie auf der Straße der Geißelung während des Mombe Taro ausgepeitscht. Infolgedessen ist sie also meine Novizin …«
»Weicht mir nicht aus, alter Mann!«
»Sie ist diejenige, von der ich Euch erzählt habe«, knurrte der Drachenmeister. »Die Dirwalan Babu.«
Dirwalan Babu. Das bedeutete in der uralten Sprache der Malacariten: Tochter des Himmelswächters.
»Habt Ihr Beweise dafür?«, grollte Kratt.
»Andere als den Heiligen Willen Res, der mich leitet?«
»Ja.«
»Andere als die, derer Ihr soeben Zeuge wart?«
Kratt schwieg, während er zum Himmel hinaufblickte, wo der Himmelswächter verschwunden war.
Dann sah er wieder auf mich herunter. Seine Augen waren kalt und durchdringend, schienen aus Türkisen und Quarz zu bestehen. Ich senkte meine Lider vor diesem Blick.
»Sie kennt Gift«, erklärte Kratt gedehnt. »Und zwar recht gut, wenn sie so an der Peitsche saugen konnte.«
»Glaubt Ihr?«, erwiderte der Drachenmeister gelassen; dann brüllte er vor Lachen. Hinter meinen geschlossenen Lidern verwandelte sich sein Lachen in einen Regenschauer von Juwelen, scharfen, bunten Edelsteinen, die nach Eisen und Kohle schmeckten. Angst züngelte in mir hoch, wurde jedoch rasch von dem Gift beschwichtigt, das durch meine Adern strömte. Das Lachen des Drachenmeisters kündete von jahrelangem Kontakt mit dem Gift und seinem inneren Kampf, bei Verstand zu bleiben. Jeder, der häufig von dem flüssigen Feuer der Drachen gekostet hatte, vermochte dieses Lachen zu erkennen.
»Sie wird für diese Farce sterben, Komikon«, sagte Kratt finster. »Keine Frau darf dem Bullen dienen, und keine sollte Gift so gut kennen, wie sie es tut.«
»Nicht einmal als meine Novizin?«
»Haltet mich nicht für einen Narren! Der Tempel wird sie köpfen, noch bevor heute die Sonne untergeht.«
»Ihr werdet ihre Hinrichtung verhindern«, fuhr der Drachenmeister ihn wütend an.
»Tatsächlich?«
»Bei allem, was heilig ist, Ihr müsst ihre Hinrichtung verhindern, darauf haben wir uns geeinigt.«
»Ihr wollt, dass ich mich dem Tempel widersetze, nur wegen eines Mythos, den außer Euch niemand kennt?«
»Es ist eine Prophezeiung, die so real ist wie die Kreatur, die vorhin über unsere Köpfe hinweggeflogen ist. Nur wenige kennen sie.«
Ich konnte die Anspannung zwischen den beiden Männern förmlich riechen, da sie ihre Willenskräfte maßen, diesen stechenden Duft, wie ihn männliche Makis im Kampf absondern. Ich hob die Wange ein wenig an, mein Kopf war von dem Gift wie betäubt, und blinzelte in die Sonne. Die beiden Männer standen sich frontal gegenüber, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Waikar Re Kratt atmete immer noch schwer von der Geißelung, sein blondes Haar schimmerte wie eine Krone in der Sonne, seine Augen wirkten wie polierte Berylle, seine erhabenen Wangenkochen und die gerade Nase strahlten Macht und Stärke aus. Der Drachenmeister stand zusammengekauert da, als wollte er ihn anspringen, und war bis auf einen schmutzigen Lendenschurz nackt. Jeder Zentimeter seines sehnigen, fleckigen Körpers war von Narben übersät.
Kratt kehrte dem Drachenmeister den Rücken zu und erreichte mit wenigen Schritte die Stelle, wo ich lag. Seine Lederstiefel machten kaum Geräusche auf der harten Erde. Mit der lässigen Anmut einer Dschungelkatze hockte er sich neben mich und betrachtete mich.
»Ihr Mund sollte eigentlich von dem Gift verbrannt sein«, murmelte er. »Sie sollte Blasen auf den Lippen haben, fast erstickt sein, Schaum vor dem Mund haben, Blut spucken.«
»Sie kennt das Gift«, erwiderte der Drachenmeister schlicht, wiederholte dieselben Worte, die Kratt eben selbst geäußert hatte.
»Wer bist du, Rishi-Balg?« Kratt legte den Kopf auf die Seite. Sein Ton klang süß, als würde er ein Kind in den Schlaf singen, aber der durchdringende Blick seiner blauen Augen straften seine beherrschte Stimme Lügen. »Wer bist du, dass du das Gift so gut kennst?«
Ich versuchte, genug Speichel zu sammeln, dass ich ihm ins Gesicht spucken konnte, vermochte es jedoch nicht. Ohnehin hätte ich nicht den Mut dazu gehabt, nicht mit den frischen Wunden auf meinem Rücken und der noch so gegenwärtigen Erinnerungen an den Schmerz.
»Ich habe dir eine Frage gestellt, Rishi-Balg. Antworte!«
»Zarq«, krächzte ich. »Ich bin Zarq.«
»Tatsächlich? Eine Frau, die den Namen von Malacars legendärem Kriegerhelden trägt. Ein höchst ungewöhnliches Exemplar Abschaum also.« Seine Lippen verzogen sich amüsiert, doch in seinen Augen fand sich keine Spur Heiterkeit. »Vermagst du diesen Vogel nach Belieben herbeizurufen, hm? Diesen Himmelswächter?«
»Ja«, log ich, ohne unseren Blickkontakt zu lösen.
»Dann ruf ihn jetzt.«
»Das kann ich nicht.« Das Gift verlieh mir die Inspiration zur Lüge. »Die Anstrengung würde mich töten, in meinem jetzigen Zustand.«
»Und welcher Zustand ist das?«
Er wollte hören, wie sehr er mich verletzt hatte, wartete darauf, dass ich es zugab. Aber eine solche Genugtuung würde ich ihm nicht gewähren.
Von dem Ende der Straße der Geißelung, an welchem die Stallungen und die umgestürzten Karren und Kutschen lagen, drangen Stimmen und das Schnauben und Brüllen der in den Trümmern verhedderten Drachen zu uns, die ihnen antworteten. Die Menschen wagten sich allmählich aus ihren Verstecken in Ställen und Eingängen, und ich hörte, wie sie sich den zerstörten Karren näherten, den Verletzten etwas zuriefen.
Kratts Blick wich keine Sekunde von meinem Gesicht.
»Könntest du den Himmelswächter auch in die Arena rufen, Rishi-Balg, wenn du deine Lehrzeit lange genug überlebst, um es bis dorthin zu schaffen?«
»Ich werde lange genug überleben«, erwiderte ich mit mehr Zuversicht, als ich empfand. »Und der Himmelswächter gehorcht meinem Willen.«
»Tut er das.« Er blickte von mir weg, zum Ende der Straße, als könnte er die Zukunft aus ihrem Staub ersehen.
Ich hörte Weinen, eine Frau, ein jammerndes Kind. Jemand rief immer wieder um Hilfe. Kratt hatte es vorgezogen, mich zu geißeln, statt ihnen zu helfen. Ich fragte mich, ob sich in diesen zertrümmerten Karren und Kutschen auch Schwestern, Töchter, erwählte Frauen von ihm befanden.
Ich leckte meine Lippen, konnte aber nicht schlucken, so trocken war mein Mund.
Er sah mich wieder an, kühl und fast anerkennend. »Warum?«
Ich verstand die Frage nicht.
»Was treibt dich, dass du dich dem Tempel widersetzt, indem du bei dem Drachenmeister in die Lehre gehst? Wenn du dieser prophezeite Spross eines Wächters des Himmlischen Reiches bist, wieso musst du dann mir und meinem Drachenbullen dienen?«
Ich bediente mich eines Ausspruchs des Drachenmeisters. »Der Wille Res leitet mich.«
»Tut er das, ja?«
»Ja.«
»Der heilige Wille meines Drachenbullen verlangt also von dir, ihm zu dienen.«
»Ja.«
»Tatsächlich.«
Ich zwang mich, seinen harten Blick mehrere Herzschläge lang zu erwidern.
»Also gut«, murmelte er schließlich mit einem spöttischen Unterton. »Dem Willen Res müssen wir uns alle unterwerfen, nicht wahr?«
Er stand auf, löste die Spange seines Umhangs und warf ihn mir über. Die Seide bauschte sich. »Schaff sie hier weg, Komikon!«, fuhr er brüsk fort, ungeduldig. »Schaff sie weg, bevor die anderen zurückkehren. Ich werde mich um den Tempel kümmern.«
2
Der Drachenmeister warf mich über seine Schultern wie ein erlegtes Kitz und trug mich hinter die imposanten Sandsteinmauern der Stallungen, hinein in die Welt, in welcher er herrschte. Dann legte er mich bäuchlings auf eine Hängematte, befestigte brüsk den Umhang, den Kratt mir übergeworfen hatte, mit der Spange an meinem Hals und zog ihn so gut er konnte zurecht, um meinen abstoßend nackten Leib vor den Augen seiner Schüler zu verbergen. Ich nahm diese Schüler nur undeutlich wahr; Fieberkrämpfe schüttelten mich, so wie sie nur unter dem Einfluss des Gifts auftreten, vom Schmerz intensiviert.
Ich schlief den ganzen Tag bis in die Nacht hinein, auf dem Bauch liegend, in einem Meer aus Gift treibend. Auch als es schließlich dunkel wurde, ein Dunkel, das so dick und erstickend wirkte wie Kohle, die in Wasser aufgelöst wird, blieb ich in den Klauen des Giftes gefangen, allein in dieser Hängematte, die von den Dachbalken einer der hundert Boxen in den Drachenställen von Roshu-Lupini Re, dem Kriegerfürsten meiner Geburts-Brutstätte, herunterhing.
Ich sage, ich schlief, was ein wenig ungenau ist, denn Schmerz, Furcht und Halluzinationen fördern den Schlaf nur wenig.
Die Nacht zog sich lang hin, unmöglich lange. Sie dehnte sich ohne Anzeichen, jemals enden zu wollen, wie eine ebenholzschwarze Schlange, die langsam aus dem Schlund einer gewaltigen, zeitlosen Himmelsbestie hervorgewürgt wird.
Mitternacht kam und verstrich, schien erneut zu kommen; ich hasste diese Dunkelheit, die so erbarmungslos allgegenwärtig war, jedes Mal, wenn ich mich im Schlaf wälzte und mich der Schmerz weckte, den diese Bewegung auslöste. Irgendwann tauchte der Drachenmeister auf, stumm wie eine Erscheinung in meinem Kopf, und schob mir den kalten Stahl eines Trinkrohrs zwischen meine vor Trockenheit spröden Lippen.
»Trink, trink das«, zischte er. Sein Atem roch nach dem Limonenaroma des Giftes.
»Was ist das?« Meine Worte waren vom Gift verzerrt und unverständlich. Ich brauchte jedoch keine Antwort, ich wusste sehr wohl, welche kalte, zähe Flüssigkeit in dem Trinkkürbis schwappte, den der Drachenmeister in den Händen hielt.
Also trank ich.
Geschüttelt von Schmerz, zitternd vor Kälte, brennend vor Durst, trank ich sein fürchterliches Gebräu, mit jedem Schluck das Gift darin gleichzeitig ersehnend und verachtend.
Ich verachtete es, weil ich einst so abhängig davon gewesen war, weil es mich so leichtsinnig machte, meine Glieder mit animalischer Lust erfüllte und meinen Verstand mit lebhaften Halluzinationen vernebelte.
Ich sehnte mich danach, weil das Gift einen Schild gegen den Geist meiner Mutter schuf, den Himmelswächter, der versuchte, mich von meiner Aufgabe abzubringen und mein Leben damit zu verschwenden, nach Waivia zu suchen, meiner verschwundenen und sehr wahrscheinlich toten Halbschwester.
Sollte jemand herausfinden, dass der Drachenmeister mir dieses Gift gab, hätte das ernstliche Konsequenzen gezeitigt.
Der Genuss des Giftes wurde vom Ranon ki Cinai streng geregelt, dem Tempel des Drachen, und es durfte niemals an eine Rishi verschwendet werden, an eine Brut-Leibeigene, wie ich eine war. Niemals. Doch nicht aus Furcht vor dem Tempel erzitterte ich jedes Mal, wenn ich einen Schluck des Gebräus nahm.
Wann würde der Morgen grauen?
Niemals.
Ich würde für immer in diesem Kreis aus Schmerz und Schwindel, aus Verlangen und Verachtung, aus Realität und eisblauen Halluzinationen gefangen bleiben.
Diese Halluzinationen! Es waren quälende, anklagende Visionen. Von meiner Schwester Waivia, die von brutalen Männern zu entwürdigenden sexuellen Handlungen gezwungen wurde. Von ausgemergelten heiligen Frauen, die mit kochendem Öl gefoltert und anschließend vom Krummsäbel eines Inquisitors enthauptet wurden. Immer und immer wieder hörte ich dieses Geräusch, wenn der Säbel auf den Hals traf, wie wenn eine Melone halbiert wurde; das feuchte, blubbernde Ausatmen; das gruselige Klatschen der Klinge, wenn sie traf und plötzlich vom Knochen aufgehalten, vom Inquisitor mit einer Drehung des Handgelenks aus dem halb durchgetrennten Hals gezogen wurde; sein angestrengtes Knurren, wenn er erneut zum endgültigen Streich ausholte.
Es war eine bittere Nacht, in der ich abwechselnd von Halluzinationen verfolgt und vom Schmerz gepeinigt wurde.
Schließlich graute der Morgen doch. Fahl sickerte das Licht des frühen Tages in den Stall, wo ich nach wie vor in der Hängematte lag, und färbte die Steine unter mir hellgrau. Liebkost von diesem Licht, begannen die Muskeln in meinem Körper sich ein wenig zu entspannen.
Endlich kam der Schlaf.
»Sa Gikiro«, keckerte eine Stimme in mein Ohr. Mein Herz setzte einen Schlag aus, dann raste es, und ich war mit einem Schlag wieder schmerzlich wach. »Zeit für mich, mehr Novizen einzusammeln, heho! Frisches Futter für unseren Drachenbullen.«
Ich drehte den Kopf und starrte in die blutunterlaufenen Augen des Drachenmeisters. Der grüne Knebel am Ende seines Kinnbartes baumelte vor meinen Augen hin und her, als er einen weiteren Kürbis mit Giftgebräu vor meinem Gesicht hin und her schwenkte.
»Trink, Babu, trink.«
Das Gift, das noch von dem letzten Trank durch meine Adern strömte, verlieh mir die Kraft, mich zu weigern. »Nein.«
»Du wirst diese Entscheidung sehr bald bereuen! Es gibt keinen Zentimeter auf deinem Rücken, der nicht blutig oder verletzt ist.«
»Ich brauche Euer Gift nicht«, sagte ich weit zuversichtlicher und mit weniger Furcht in der Stimme, als ich empfand.
Der Drachenmeister beugte sich vor. »Du willst also nicht trinken, heho?«
Er kicherte. Ich schloss die Augen, als mir sein säuerlicher Atem ins Gesicht schlug.
»Dann werde ich es tun.«
Ich riss die Augen auf. Er setzte den Kürbis an die Lippen. Das stählerne Trinkrohr fiel klappernd zu Boden. Seine Gurgel tanzte auf und ab, da er den Kürbis leerte. Wut überkam mich, denn dieses Gift war für mich bestimmt gewesen.
Kaum schoss mir dieser Gedanke durch den Kopf, hasste ich mich dafür und auch den Drachenmeister, der ihn provoziert hatte.
Er leerte den Trinkkürbis, warf ihn achtlos beiseite und grinste mich an. Tropfen des verdünnten Gifttrunks glitzerten in seinem Bart, und in seinen Augen flammte Triumph auf, als er meine widerstreitenden Gefühle sah.
»Ich komme heute Abend zurück, mit frischem Futter für Re und Gift für dich. Ich warne dich, Mädchen, verschmähe es nicht noch einmal!«
Er drehte sich um und schlurfte aus dem Stall.
Kochend vor Widerwillen und Bedauern, sah ich ihm nach, wie er den Hof überquerte, betrachtete seine mit Narben übersäte, muskulöse Gestalt. Der Drachenmeister bewegte sich wie ein Affe, vornüber gebeugt, die langen Arme nahezu über den Boden schleppend. Ich erwartete fast, dass er auf die Dächer der Stallungen springen und sich von Giebel zu Giebel schwingen würde.
Was er nicht tat.
Stattdessen ging er zu einer langen, weiß gekalkten Lehmhütte, die an die Sandsteinmauer grenzte, welche die gesamten Stallungen umringte, und verschwand durch eine Türöffnung, vor der Tierhäute hingen.
Erst jetzt atmete ich aus, und der Schmerz, der eben noch so beherrschbar gewesen zu sein schien, schwoll an, brannte wie Feuer auf meinen Waden, ein Feuer, das sich rasch über meine Pobacken und meinen Rücken ausbreitete.
Was hatte ich nur getan, in meinem derzeitigen Zustand das Gift auszuschlagen?
Doch nein, gewiss konnte ich den Schmerz auch ohne die Hilfe des Drachengiftes besiegen. Ganz sicher, denn nach all dem, was ich in meinem Leben bereits durchgemacht hatte, war ich stark genug dafür.
Ich kniff die Augen fest zu, wandte das Gesicht vom Hof ab, kehrte sozusagen dem Drachenmeister den Rücken, und lag so reglos wie möglich bäuchlings da, atmete nur flach, sorgfältig, ritt auf den Wellen des Schmerzes. Verzweifelt erwartete ich den Anbruch der Nacht, die Rückkehr des Drachenmeisters und sein böses, unwiderstehliches Gebräu.
Das Getrampel und Gebrüll der hungrigen Drachen in den Stallungen kündete den neuen Tag an. Ein Schwarm Tauben landete gurrend im Hof und flatterte dann flügelklatschend wieder auf. Draußen vor den Stallmauern kläffte ein Hund, ein anderer fiel mit ein. Aus der Hütte, in welcher der Drachenmeister verschwunden war, drangen streitende Stimmen, die rasch wieder verstummten.
Die Sonne klomm über die Bergkämme, die das Tal von Brut Re umringten. Ich fühlte, wie das Licht des Tages vom Hof auf meinen verwundeten Rücken reflektiert wurde. Meine Blase, die von der Flüssigkeit gefüllt war, welche ich in der Nacht zu mir genommen hatte, pulsierte drängend, wollte geleert werden.
Was sollte ich tun? Aufstehen? Unmöglich, in meinem Zustand. Und auch sinnlos, denn wohin sollte ich mich wenden, hier in der nur für Männer eingerichteten Domäne des Drachenmeisters? Es gab hier gewiss keinen vom Tempel gebilligten Ort, an dem eine Frau ihr schmutziges Wasser ausscheiden konnte, ohne die vom Drachen gesegnete Erde zu verseuchen.
Doch schließlich war ich keine gewöhnliche Frau. Ich war schon vor Jahren beschnitten worden, im Konvent von Tieron, gesäubert worden von einem Heiligen Messer. Also, konnte ich folglich nicht dorthin pissen, wohin auch die männlichen Schüler und Novizen ihr Wasser trugen?
Der Drang zu urinieren machte mich fast wahnsinnig. Ich stützte mich auf die Ellbogen; quälender Schmerz schoss über meinen Rücken. Ich keuchte, und mir traten Tränen in die Augen.
Ich hielt den Atem an, setzte mich langsam auf und schwang meine Beine über den Rand der Hängematte. Kratts Umhang hing schief von meinem Hals herunter, bedeckte meinen Körper bis zu meinen Oberschenkeln, und meine Blase drohte, sich ohne mein Zutun zu entleeren, als die Veränderung meiner Körperhaltung den Harndrang verstärkte.
Doch nein, ich konnte unmöglich hier urinieren, mitten auf den Stallboden! Zwar ist die gesamte Erde einer Brutstätte vom Drachen gesegnet und darf nicht von den Ausscheidungen einer Frau entweiht werden, doch der Boden der Drachenställe selbst, wo der heilige Drachenbulle der Brutstätte residiert, ist der bei weitem heiligste Grund. Wie sehr ich auch mein Handeln damit rechtfertigen mochte, dass meine Weiblichkeit vom Heiligen Messer eines Konvents beschnitten worden war, würde ich dennoch ein grundlegendes Prinzip der Tempelstatuten verletzten, wenn ich hier urinierte.
Ich musste den Drachenmeister suchen, ihn fragen, wo ich mich erleichtern konnte.
Ich ignorierte den Schmerz, als die harten Fasern über meine wunden Pobacken scheuerten, glitt von der Hängematte, schwindelnd vor Schmerz, dem Gift und dem Drang. Ich zuckte in dem hellen Licht zusammen und taumelte zu der Hütte am rechten Ende des Hofs, in die der Drachenmeister verschwunden war.
Ich spürte jeden Schritt wie einen Peitschenhieb auf meinen Rücken, als ich über die staubige, harte Erde des Hofs ging. Jeder Schritt vibrierte schmerzhaft wie die Nachwirkungen eines Keulenschlags in meinen von Schwellungen gezeichneten Pobacken. Die weiß gekalkte Hütte verschwamm vor meinen Augen, als wäre ich trunken, wurde nur mit fast quälender Langsamkeit größer.
An der Hütte roch es nach der feuchten Asche der primitiven Kochstelle, die sich davor befand, und der stechende Gestank des Blutes, das in den Schlachttisch daneben eingesickert war, drang mir in die Nase.
Die Gharial-Häute, die vor dem Eingang hingen, fühlten sich hart wie Borke an, waren von einer dicken Staubschicht überzogen und von Guano gesprenkelt.
Ich duckte mich in das dunkle Innere und stolperte, weil der quälende Drang mich ungeschickt machte. Dann fiel ich der Länge nach auf den harten Lehmboden; meine Blase entleerte sich. Ich zitterte vor schamerfüllter Erleichterung.
Einige Herzschläge lang blieb ich einfach dort liegen, verachtete mich dafür, dass ich heilige Erde entweiht hatte, und murmelte ein Gebet in die ranzig stinkende Erde unter mir.
»Ris shiwenna gindwari, mo Fa Cinai.« Reinster Drache, strafe und vergib mir.
Etwas bewegte sich dicht neben meinem Kopf.
Ich stützte mich rasch auf die Ellbogen und sah mich um. Ich erkannte nur Dunkel und Schatten, roch feuchte Erde und ranzigen Talg.
Doch da …
Bewegungen. Geflüster erfüllte die Luft um mich herum, glitt über mich hinweg. Ich nahm den Geruch ungewaschener Leiber wahr.
Ich war umstellt.
Ich versuchte, zur Tür zu krabbeln, durch die ich gerade hereingestolpert war, kroch durch die entweihende Pfütze, die ich selbst gemacht hatte, und stieß gegen haarige Schienbeine, vor denen ich mit einem Aufschrei zurückwich; ich erstarrte und wagte mich nicht zu rühren.
Langsam stellten sich meine Augen auf die Dunkelheit ein.
Ich war von Männern umringt.
Es waren Jünglinge und Männer, die mich ausnahmslos alle anstarrten, wie ich, erstarrt vor Angst, auf dem Boden hockte. Ihre starren Augen schimmerten feucht und weißlich in dem spärlichen Licht, das seinen Weg zwischen den Häuten vor der Tür fand.
Draußen brüllte ein hungriger Drache; ich fuhr zusammen. Von den anderen in der Hütte rührte sich niemand.
Dann überlief mich ein machtvoller Schauer von Kopf bis Fuß. Meine Zähne schlugen fest zusammen, dann noch einmal und noch mal. Es hörte sich an, als würde jemand mit einem Stock über die Holzlatten eines Zaunes fahren. Ich presste die Kiefer zusammen, aber es nützte nichts. Die Zähne klapperten unaufhörlich. Gelähmt vor Angst, vermochte ich mich nicht vom Boden zu erheben.
»Du bist ja ein Mädchen!«
Mein Blick zuckte über die Gesichter, hin und her, rundherum.
»Das bist du doch, he?« Die Stimme klang wie die eines reifen Mannes, und dennoch schwang die Unschuld der Jugend darin mit. Die Worte dagegen schienen ein wenig undeutlich, als wären die Lippen des Mundes, der sie aussprach, schlaff. Jemand in der Menge bewegte sich. Mein Blick zuckte dorthin.
Ein korpulenter, breitschultriger Jüngling trat vor und zog verblüfft die Nase kraus. Seine kräftigen Arme hingen weit über seine Oberschenkel hinab, und seine Haltung war leicht gebeugt.
Dann deutete er auf mich. »Mädchen können nicht in die Lehre gehen.«
»Ich habe schon Bullen gedient.« Ich leckte meine trockenen Lippen, ich wollte Wasser.
»Wo?«
»Tieron. Konvent Tieron. Ich war eine Onai.«
»Und?«
Eine andere Stimme antwortete für mich, eine aus dem dunklen Schatten der Hütte. »Sie glaubt, sie kann dienen, weil sie beschnitten wurde, Eierkopf. Geläutert. Beschnitten, als heilige Frau.«
Jemand kicherte, während einige der Jünglinge sich unsicher ansahen.
Die Augen des Einfältigen weiteten sich, als er auf meine Lenden starrte. Lust zeichnete sich auf seinem großen, übergroßen Mondgesicht ab. Die Lähmung wich mit einem Schlag von mir, ich rappelte mich auf, während das Herz mir bis zum Hals schlug, und zog Kratts Umhang so fest um mich, wie ich konnte. Den Schmerz, den die Berührung des Stoffs auf meinem Rücken auslöste, ignorierte ich.
»Du bist also ein Mädchen«, stieß der Gimpel hervor, ohne den Blick von meinem Schoß abzuwenden. »Wie sieht das aus, da, wo du beschnitten worden bist?«
»Warum siehst du es dir nicht selbst an, heho?«, schlug dieselbe unsichtbare Stimme im Schatten vor. »Mach schon, Dotterhirn.«
Unmerklich rückten die Schüler dichter aneinander, bildeten einen engeren Ring. Auf einigen Gesichtern lag ein Grinsen, ein unfreundliches Grinsen.
»Fasst mich nicht an!«, stieß ich heiser hervor.
»Warum denn nicht?«, fragte die Schatten-Stimme. »Mach schon, Dotterhirn, spreiz ihr die Beine. Zeig uns, wie sie aussieht.«
»Ja, mach schon, Eierkopf!«, sagte ein anderer. »Und wenn du einmal dabei bist, kannst du sie auch gleich besteigen.«
Sie kicherten, schubsten sich und grinsten angespannt.
Der kräftige Einfaltspinsel trat auf mich zu. »Zeig es mir.« Seine Stimme klang belegt. »Lass es mich sehen.«
»Lass mich in Ruhe!«
»Komm schon. Will’s doch nur ansehen. Tu dir nichts. Los, komm schon.«
»Nur zu, Dotterhirn!«, rief jemand. »Wir halten sie fest, wenn sie zu kräftig für dich ist.«
Gelächter.
»Los, Eierkopf, spreiz ihre Beine!«
»Besteig sie, Dotterhin, los, besteig sie!«
»Nein!«, schrie ich. »Niemand berührt mich. Ich habe Pocken, hört ihr!«
Der Einfaltspinsel blieb wie angewurzelt stehen und runzelte angestrengt die Stirn. »Pocken?«
»Warum sonst wohl würde ich mein Leben riskieren, indem ich mich dem Tempel widersetze, hm?« Ich stieß diese Lüge zuversichtlich, glaubwürdig hervor, auch wenn meine Stimme krächzte. »Ich sterbe. Und wer mir zu nahe kommt, wird mir bald in den Tod folgen.«
Der Gimpel schnaubte angewidert. »Ich werde sie nicht anfassen.«
»Sie lügt, Dotterhirn. Sie hat keine Pocken.«
Ich drehte mich zu der Stimme um, die nach wie vor aus dem undurchdringlichen Dunkel der Hütte kam. Halb verrückt vor Angst und berauscht von dem Gift, das noch in meinem Blut floss, stieß ich atemlos hervor: »Was für ein Feigling bist du, dass du dich im Schatten versteckst und andere zu bösen Taten anstachelst?«
Der Raum selbst schien den Atem anzuhalten.
Die jungen Männer bewegten sich, als der Besitzer der Stimme vortrat, und ich verfluchte mein impulsives Wesen, das meine Schwierigkeiten erneut nur vergrößert hatte.
Ich erkannte ihn, den hageren, muskulösen Jüngling, der auf mich zukam. Ich kannte sein Gesicht, obwohl es von Aknenarben entstellt war. Ich erkannte die Art, wie sein braunes Haar die vertrauten, lebendigen, intelligenten Augen über der gebogenen Nase halb verhüllte. Dieses Gesicht, auf dem Bartstoppeln wucherten und das von einer harten Jugend gezeichnet war, hatte einst neben mir an der Brust meiner Mutter getrunken.
Vor mir stand Yelis Dono.
Dono, ein Waise aus dem Danku Re, dem Töpferclan, in dem ich geboren worden war. Dono, mein Spielkamerad aus der Kindheit. Dono, der Möchtegern-Liebhaber meiner so schändlich verkauften Schwester.
»Dono«, sagte ich abfällig.
Er stand vor mir, schön wie ein verlorener Rubin, den man angeschlagen und schmutzig auf einer einsamen Straße wiedergefunden hatte.
»Ich kenne dich«, er kniff die Augen zusammen. »Wie heißt dein Clan?«
Jetzt erst fiel mir auf, dass Dono seinen Sprachfehler überwunden hatte, der in seiner Jugend so auffällig gewesen war. Als Siebenjähriger bereits hatte er seine Männlichkeit erlangt, indem er sich alle ihm verbliebenen Milchzähne herausgerissen hatte. Die daraus folgende Infektion hatte seine gerade erst im Wachsen begriffenen zweiten Zähne verfaulen lassen und ihn fast umgebracht. Seitdem hatte er gelispelt. Ich konnte mir vorstellen, wie er am Anfang seiner Lehrzeit jede Nacht grimmig die Worte geübt, sich gezwungen hatte, klar und deutlich zu sprechen, und schließlich das Lispeln abgelegt hatte, während er sich irgendwo in den dunklen Stallungen verbarg.
Absurderweise rührte mich die Erkenntnis, dass es ihm gelungen war.
»Ich bin’s, Zarq. Danku Res Darquels Zarq. Wir sind zusammen aufgewachsen.«
Die Schüler, die uns umringten, sahen sich verblüfft an.
Dono starrte mich ungläubig an. »Zarq? Was in Res Namen willst du hier?«
»Ich bin in die Lehre des Drachenmeisters eingetreten. Wie du.«
»Du bist eine Frau.«
»Ich wurde geläutert.«
Er runzelte die Stirn. »Das kannst du nicht tun.«
»Ich habe bereits in einem Konvent den Bullen gedient …«
»Eine heilige Frau, die einem ausgemusterten Bullen dient, ist etwas vollkommen anderes als ein jungfräuliches Mädchen, das einem fruchtbaren Bullen dient. Das weißt du.«
»Ich erkenne da keinen Unterschied.«
»Du kannst Re nicht dienen.« Er ballte die Hände zu Fäusten; so fest, dass die Adern auf seinen Unterarmen hervortraten. »Wenn du den Tempel gegen den Drachenmeister aufbringst, werden sie ihm den Titel aberkennen. Aber dann verlieren auch alle Schüler, die unter ihm dienen, ihren Status. Ich werde hier herausgeworfen. Wir alle werden herausgeworfen.«
Die anderen Schüler murmelten untereinander, einige fluchten und zupften sich an den Ohrläppchen, um Unbill und Böses abzuwenden. Einer spie in meine Richtung.
Seine Spucke landete vor meinen Füßen. »Hör zu, Dono. Es gibt eine Schriftrolle, in der steht, dass jemand wie ich dienen …«
»Verschwinde hier, Zarq.« Donos Wut wurde von dem Unbehagen, das er unter seinen Gefährten erzeugt hatte, noch gesteigert. »Verschwinde, sofort!«
»Der Drachenmeister hat mich als Novizen auserwählt.«
»Du hast meine Pläne schon einmal durchkreuzt, Zarq. Ich lasse mich eher in den Arsch ficken, als dass ich das noch einmal dulde. Und jetzt verschwinde!«
»Ich hätte deine Pläne vereitelt? Was redest du da?«, schrie ich. »Ich habe dich nicht mehr gesehen, seit wir neun Jahre alt waren. Ich habe dir nichts getan!«
»Raus!«, brüllte er.
Ich betrachtete erneut die Gesichter derer, die mich umringten. Einige der Jünglinge schienen kurz davor, mir Gewalt anzutun; andere waren rot angelaufen vor Unbehagen. Ich verkniff mir eine Erwiderung, die ohnehin sinnlos gewesen wäre, schob mich durch die Meute und stolperte aus der Hütte.
Trotz meiner eiternden Wunden und einem Fieber, das durch die nachlassende Wirkung des Giftes stärker wurde, kehrte ich nicht in die leere Stallbox zurück, die mir zugewiesen worden war, damit Dono die anderen Lehrlinge nicht anstacheln konnte, mich mit Gewalt aus der Domäne des Drachenmeisters zu entfernen. Stattdessen taumelte ich über den Hof und verschwand im nächsten Stall, dann im nächsten und verlor mich rasch in dem Labyrinth aus aneinandergrenzenden Stallhöfen.
Ich bewegte mich wie ein verwundeter Eber, wenn er durch das Unterholz bricht und blindlings versucht, vor dem Schmerz zu fliehen, den die Speere in seiner Flanke ihm bereiten, und dennoch diese Qualen überall mit hinnimmt, wohin er sich auch wendet.
Mein Schmerz stammte nicht nur von den Striemen auf meinem Rücken.
Während sich das Gift in meinem Blut immer weiter auflöste, toste ein Mahlstrom aus Gefühlen in meinem Inneren, der nicht nur durch den langsamen Rückzug des Drachenfeuers freigesetzt wurde, sondern auch von Donos Feindseligkeit und der pulsierenden, hartnäckigen Erinnerung an Kratts Vergnügen, als er mich am Vortag bis zur Bewusstlosigkeit gepeitscht hatte.
Beides war gleichermaßen beunruhigend.
Es brannte mir auf der Seele, dass ich Kratt erlaubt hatte, Hand an mich zu legen. Es tat weh, dass ich mich ihm so einfach unterworfen hatte, ausgerechnet ihm, den ich hatte umbringen wollen. Ich hatte es so sorgfältig geplant, hatte jahrelang Pläne geschmiedet, wie ich an dem Mann Vergeltung üben wollte, der meinen Clan ruiniert und mir meine Kindheit genommen hatte. Bis zu dem Moment, als der Drachenmeister mich aus der Menge auserwählt hatte, welche die Straße der Geißelung am Mombe Taro säumte, hatte ich fest damit gerechnet, für die Ermordung Waikar Re Kratts getötet zu werden.
Und jetzt erwies sich dieser Wahnsinn, der mich gepackt hatte, seit der Drachenmeister mir diese verrückte Hoffnung eingeimpft hatte, als genau das: Wahnsinn. Hier stand ich, litt unsägliche Schmerzen, wenn ich doch längst in die Schwärze der Unterwelt des Einen Drachen hätte stürzen können. Statt von dem gefühllosen Vergessen des Todes umhüllt zu werden, befand ich mich hier, schrecklich lebendig und schwindelnd von der schockierenden Feindseligkeit eines Milchbruders, der nicht bereit war zu akzeptieren, dass ich in die Lehre des Drachenmeisters berufen worden war, den Konventionen trotzte und meinem geschworenen Feind erlaubte, weiterzuleben - und all das nur, damit eines Tages solche wie Dono und ich selbst frei von der Tyrannei des Tempels, der Aristokraten und des Imperators leben konnten.
Ich sank auf die Knie in den kühlen Staub hinter einem Getreidesilo. Dort kniete ich, schwankte in dem spärlichen Schatten, durchgeschüttelt von körperlichem und seelischem Schmerz, während die grelle Sonne glühend und pulsierend am Himmel stand.
Ich hatte Durst. Und träumte.
Ich träumte von einem Aasvogel, dessen Talgdrüsen auf dem Schnabel obszön rot schimmerten. Er stand vor mir, den großen, grauen Schädel leicht auf die Seite gelegt. Wie brillant und grausam diese glasklaren Augen mich anstarrten!
»Ich kann es beenden, heho!«, krächzte der Truthahngeier. »Ich kann deinem Schmerz ein Ende bereiten.«
Ich ignorierte die Halluzination, konzentrierte mich aufs Atmen, darauf, nicht mit dem Gesicht in den Staub zu fallen.
»Ein Handel, ja?«, krächzte der Vogel. Er hob eine Schwinge, die so lang war wie der Arm eines Mannes. Mit dem Schnabel fuhr er geschwind in das Gefieder, schnappte nach Läusen und Staub. Dann sah der Vogel mich wieder an und faltete die Schwinge. Im Schnabel hielt er eine Feder. Eine blaue Feder.
Natürlich. Das war kein Fiebertraum, und es war auch kein gewöhnlicher Aasvogel. Es war der Geist meiner Mutter. Ich hasste und fürchtete diese Kreatur fast genauso, wie mich ihr Erscheinen erleichterte.
»Mutter!«, stieß ich keuchend hervor.
Der Geist legte behutsam die Feder auf den Boden.
»Ein Handel«, krächzte er. »Gesundheit gegen deine Dienste.«
Ich starrte die Feder an, die in der Hitze flimmerte, und sagte mir, dass dies nicht meine Mutter war, sondern eine Verkörperung der Besessenheit meiner Mutter, Waivia zu finden. Was von meiner Mutter auch immer in dieser Kreatur stecken mochte, es lag tief unter vielen Schichten von Wahnsinn, Magie und bösen Absichten verborgen.
»Du weißt, das dies dich heilen kann, ja?« Der Vogel stieß mit seiner schuppigen Kralle gegen die blaue Feder.
Ja, ich wusste, dass die Feder mich heilen konnte. So etwas war schon einmal geschehen. Und ich musste gesund werden, nicht nur, um die Feindschaft Donos und seiner Gefährten zu überleben, sondern auch, um das Wagnis angehen zu können, ein Leben als Schüler zu überstehen.
»Wenn du sie nimmst, dann stimmst du zu, hier wegzugehen und Waivia zu suchen«, krächzte der Vogel. »Gesundheit gegen deine Dienste.«
»Einverstanden«, sagte ich und stürzte mich schnell wie eine Schlange auf die Feder. Der Geier erhob sich mit einem schrillen Schrei in die Luft, und der Schlag seiner Schwingen wirbelte mir Staub in Augen und Mund. Meine Finger packten die Feder; sie löste sich in eine prickelnde Wolke auf, die sich sanft wie Nebel über mich legte, so zärtlich wie die Liebkosung einer Mutter. Ein feuchter Duft breitete sich aus, ein schwacher Geruch, wie Tau auf einer Orchideenblüte.
Mein Kopf wurde sofort klar, meine Sinne geschärft. Auch wenn die Wunden auf meinem Rücken noch pulsierten, ebbte der Schmerz ab, bis er erträglich wurde.
Der Geier landete einige Meter entfernt wieder auf der Erde und betrachtete mich argwöhnisch.
Du wirst jetzt diesen Ort verlassen, sagte die Kreatur in meinem Schädel. Du wirst deinen Teil der Abmachung einhalten.
Ich zögerte, stellte mir ein Leben vor, in dem ich fruchtlos Brutstätte Re durchwanderte, auf der Suche nach meiner gewiss längst toten Schwester.
Der Geier hackte mit dem Schnabel nach mir. Du wirst dein Leben nicht wegen der Vision eines Wahnsinnigen wegwerfen! Nein! Es ist nur eine Fantasie, eine, an die du selbst nicht glaubst.
Es ärgerte mich, dass sie so rasch und mühelos meine Schwäche und meinen Zweifel durchschaute. Wie alle Töchter meines Alters - ich war siebzehn und ungeheuer welterfahren, oder zumindest glaubte ich das - war auch ich sogleich entschlossen, die Wahrheit abzustreiten, die in den Worten meiner Mutter lag, und wenn auch nur, weil sie die Unverfrorenheit besaß, das Offenkundige auszusprechen.
»Ich glaube an das, was ich in seinen Augen sah!«, schrie ich. »Ich kann es schaffen. Ich muss es, und ich werde es!«
Wenn du dem Drachenmeister folgst, dann begibst du dich auf den Weg eines langsamen Selbstmordes.
»Und was verlangst du von mir? Dass ich mein Leben wegwerfe, um eine Schwester zu suchen, die sehr wahrscheinlich längst tot ist.«
Betrügerin! Lügnerin!
»Nein! Ich halte mein Wort; ich werde hier weggehen.« Ich holte bebend Luft. »Aber noch nicht. Du hast nicht gesagt, wann ich gehen sollte, und ich bin noch nicht bereit dazu. Ich kann gut mit Drachen umgehen; vielleicht kann ich das erreichen, was ich im Blick des Drachenmeisters sah.«
Der Geier kreischte und spreizte seine Schwingen.
Ich hielt mir die Ohren zu, aber das konnte nicht verhindern, dass die krächzenden Schreie des wütenden Vogels in meinem Kopf widerhallten.
Niemals mehr! Du wirst niemals mehr eine meiner Federn bekommen!
»Dann lass mich allein! Verschwinde!«
Mit einem letzten wütenden Kreischen schwang sich der erboste Vogel in die Luft, stieg mit kräftigen Schlägen seiner Schwingen in den Himmel empor und verschwand hinter den Stalldächern. Ich sank zitternd in den Schatten des Silos zurück.
Ich hatte den Geist wirklich wütend gemacht. Welche Konsequenzen hatte ich zu erwarten?
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE DRAGON TEMPLE SAGA 2: SHADOWED BY WINGS Deutsche Übersetzung von Wolfgang Thon
Verlagsgruppe Random House
Deutsche Erstausgabe 11/2008 Redaktion: Uta Dahnke
Copyright © 2006 by Janine Cross
Copyright © 2008 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlagillustration: Paul Youll
eISBN : 978-3-641-02447-5
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