Im Bann des Schattenwaldes - Heike Rau - E-Book

Im Bann des Schattenwaldes E-Book

Heike Rau

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Beschreibung

Sechs wahre Hexen hat der raffinierte Hexenmeister Rostropow vor dem Scheiterhaufen retten können, indem er die Leute getäuscht und als Scharfrichter durch die Lande gezogen ist. Er hat sich mit ihnen im Schattenwald in einer alten Klosterruine verschanzt und den ganzen Wald mit einem Bann belegt, sodass niemand ihn betreten kann. Zuerst sind die Frauen froh, dass die Hexenjagd beendet ist. Doch Rostropow erweist sich als böse und herrschsüchtig. Seine Gedanken gelten seinen zukünftigen Nachkommen, mit denen er seine Macht zurückerobern will. Die sechs Hexen sind von diesem Plan nicht begeistert, können aber nicht fliehen, denn der Bann verwandelt sie in Wölfe, sobald sie die Klosterruine verlassen. Sie können nichts tun, wissen aber, dass sie sich, wären sie sieben Hexen, gegen Rostropow zur Wehr setzen könnten. Durch die Kristallkugel sehen sie, dass es tatsächlich noch eine siebente Hexe gibt. Tessa wurde kurz vor dem Tod ihrer Mutter unbemerkt in einem dunklen Kerker geboren und lebt nun in einem Dorf bei Pflegeeltern. Zur jungen Frau herangewachsen, ist sie den Dorfbewohnern bald ein Dorn im Auge. Hübsch, wie sie ist, mit ihren langen roten Haaren und den seltsam smaragdgrünen Augen. Angeblich tanzt sie nachts für den Teufel. Die Gerüchteküche brodelt und Lambert, ein Arzt, der die wenigen Dörfer der Gegend betreut, sieht mit Sorge den Hexenwahn wieder aufflammen. Tessa denkt, sie hat Glück, als sie dem Hexenrichter in letzter Minute entkommt. Aber am Rande des Schattenwalds lauern schon die Wölfe.

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Heike Rau

Im Bann des Schattenwaldes

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Klappentext

Prolog

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Impressum neobooks

Klappentext

Sechs wahre Hexen hat der raffinierte Hexenmeister Rostropow vor dem Scheiterhaufen retten können, indem er die Leute getäuscht und als Scharfrichter durch die Lande gezogen ist. Er hat sich mit ihnen im Schattenwald in einer alten Klosterruine verschanzt und den ganzen Wald mit einem Bann belegt, sodass niemand ihn betreten kann.

Zuerst sind die Frauen froh, dass die Hexenjagd beendet ist. Doch Rostropow erweist sich als böse und herrschsüchtig. Seine Gedanken gelten seinen zukünftigen Nachkommen, mit denen er seine Macht zurückerobern will.

Die sechs Hexen sind von diesem Plan nicht begeistert, können aber nicht fliehen, denn der Bann verwandelt sie in Wölfe, sobald sie die Klosterruine verlassen. Sie können nichts tun, wissen aber, dass sie sich, wären sie sieben Hexen, gegen Rostropow zur Wehr setzen könnten.

Prolog

Die Menschenmenge stand dicht gedrängt um den Scheiterhaufen. Alle Anwesenden waren neugierig und tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Ein Raunen ging durch die Menge, als die gefesselte Hexe endlich unter schwerer Bewachung aus dem Gefängnis geführt wurde.

„Jetzt gibt es kein Entrinnen mehr!“, schrie eine aufgebrachte Frau. „Du richtest keinen Schaden mehr an!“

Aber Miranda hatte keine Angst, nicht um sich selbst. Sie ließ sich ohne Gegenwehr die schräg angestellte Leiter zum Scheiterhaufen hinauf schieben. Ein Leinensack wurde ihr unsanft über den Kopf gezogen, um die Menge vor ihrem bösen Blick zu schützen. Eilig, als könnte sie noch flüchten, band man sie an den Pfahl, der aus den Holzscheiten ragte.

Der Pfarrer der kleinen Stadt redete ein paar Worte, aber die Menge wurde immer unruhiger. „Nun macht schon!“, schrien die Leute. „Wir wollen die Hexe brennen sehen!“

Der Scharfrichter trat mit einer brennenden Fackel an das aufgeschichtete Holz. Er war zufrieden mit sich. Er hatte Miranda nicht lange foltern müssen. Daumenschrauben hatten genügt, um sie zum Geständnis zu bringen. Er stieß die Fackel in den Holzstoß und bemerkte nicht, wie die ersten Wolken sich zusammenzogen. Als die Scheite anfingen zu brennen, kam ein fürchterlicher Wind auf. Die Menschen sahen sich besorgt um. Ausgerechnet jetzt. Der Sack flog von Mirandas Kopf. Ihre Augen sprühten Funken, als sie zum Himmel schaute. Erschrocken mussten die Zuschauer mit anschauen, wie Miranda ihre Arme zum Himmel hob, als wäre sie nie gefesselt gewesen. „Verflucht seid ihr!“, schrie sie mit donnernder Stimme. Dann schlugen die Flammen, vom Wind angefacht, über ihr zusammen.

Das Unwetter war nicht mehr aufzuhalten. Die Menschen stoben auseinander, als Dachziegel, Unrat, Äste und brennende Holzstücke auf sie niederprasselten.

Nachdem Miranda aus dem Gefängnis geführt worden war, trat eine alte Frau durch die Hintertür des Gefängnisses ein. Eine Verkleidung war überflüssig gewesen, denn sogar die Wärter waren hinausgegangen, um dem Spektakel beizuwohnen. Ein einziger Gefangener hatte sich in seiner Zelle befunden, aber der war eifrig bemüht gewesen, sich an den Gitterstäben seines hoch gelegenen Fensters hinaufzuziehen. Vielleicht könnte er ja sehen, was da draußen vor sich ging. Er hatte also kein Auge für die Frau gehabt, die eilig auf Mirandas Zelle zugesteuert war. Sie hatte ihren Holzeimer abgestellt und begonnen, das modrige Stroh, das als Bettstatt gedient hatte, zu durchwühlen, bis sie das kleine Bündel gefunden hatte.

Miranda hatte das Baby erst vor zwei Tagen geboren. Die ständig betrunkenen Wärter hatten nichts bemerkt. Jammerlaute und Wehgeschrei waren für sie alltäglich. Außerdem mieden sie ohnehin die Nähe der Gefangenen, die als Hexe abgeurteilt waren. Viel, viel schwieriger war es gewesen, die Schwangerschaft vor dem Scharfrichter zu verstecken. Aber da sie in viele Lumpen gewickelt war, hatte er sie nicht nur für schmutzig, sondern auch für fett gehalten. Unter der ersten Folter hatte sie gestanden, sodass der Hexenrichter darauf verzichtet hatte, sie ausziehen zu lassen, um nach Hexenmalen auf ihrer nackten Haut zu suchen.

Das Baby gab keinen Mucks von sich, als wüsste es genau, dass es still zu sein hatte. Die alte Frau legte es in ihren Eimer zu den Putzlumpen und deckte es zu. Dann trat sie wieder ins Freie. Ein Blick nach oben verriet ihr, dass sie sich beeilen musste. Die Wolken zogen sich bereits zusammen.

Sie lief aus der Stadt hinaus. Dorthin, wo die Zirkuswagen auf sie warteten.

„Schnell, schnell!“, rief sie und sprang auf einen der Wagen. „Wir müssen weg, es ist nicht mehr viel Zeit.“

Als sie sich später umsah, stand eine große schwarze Rauchwolke über den Resten der kleinen Stadt. Die Frau lächelte zufrieden und drückte ihre Enkeltochter liebevoll an die Brust.

Erster Teil

Tessa stand traurig vor ihrer Waschschüssel und schaute in den trüben und mehrmals gesprungenen Spiegel. Sie haderte etwas mit ihrem Aussehen. Immer musste sie, wegen ihrer hellen Haut, auf der Hut vor der Sonne sein. Tessa kniff sich in die Wangen, damit sie sich wenigstens etwas röteten. Mit der Bürste kämmte sie ihre Haare aus dem Gesicht. Warum musste ausgerechnet sie so widerspenstige Haare haben? Und diese Farbe! Man konnte sie ohne Übertreibung als feuerrot bezeichnen.

„Was ist!“, brüllte Tante Berta und betrat ungebeten die Küche. „Fummelst du wieder an deinen Haaren herum? Da ist doch Hopfen und Malz verloren.“

Eilig drehte Tessa ihre Haare um die Finger, setzte ihre Haube auf und schlüpfte an Berta vorbei. Ein Griff zum Korb mit den Eiern, dem selbst gemachten Ziegenkäse und dem fadenscheinigen Wolltuch und schon war sie auf der Türschwelle.

„Vergiss meinen Abschiedskuss nicht!“, tönte die derbe Stimme von Onkel Frieder aus der Wohnstube.

„Ich kann nicht“, rief Tessa. „Ich muss zum Laden!“ Schnell lief sie weiter. Erleichtert pustete sie ihren Atem in die Morgenluft. Tessa mochte Onkel Frieders Küsse nicht. Entsetzlich, wie er da fett und nur mit Unterwäsche bekleidet in dem abgewetzten Sessel fläzte, schon morgens einen Krug warmes Kräuterbier in der Hand.

Tessa lief wie immer einen Umweg. Sie genoss die frische und kühle Morgenluft. Eine schwarze Katze kam aus einem Gebüsch und strich miauend um ihre Beine. An einem alten zweistöckigen Fachwerkhaus ging sie langsamer und schlich sich in den Hintergrund des Gebäudes. Sie lehnte sich an den Stamm der knochigen Eiche, schaute sehnsüchtig nach oben und versuchte etwas in einem der Fenster zu erspähen. Aber Michael war schon längst mit dem Vater in den Wald gegangen, das wusste sie. Heute Abend würde sie ihn vielleicht sehen oder viel mehr hören können.

Aber bis dahin hatte sie noch eine Menge Arbeit vor sich, nachdem sie die Eier und den Käse im Laden abgegeben hatte.

Tessa hatte selten eine Minute für sich. Hühner und Ziegen mussten gefüttert werden. Der Garten wollte versorgt sein und im Haushalt war Hilfe selbstverständlich. Alle Arbeiten, die eigentlich einer Magd zukamen, wurden von ihr erledigt. Onkel Frieder ließ sich bedienen und erwartete, dass jeder Wunsch von seinen Lippen abgelesen wurde. Er erhob sich aus seinem Sessel nur, um sich wie jeden Abend in die Gastwirtschaft zu schleppen. Er war schon betrunken, wenn er losging. Kam er nicht pünktlich zurück, musste Tessa ihn abholen und auf dem Heimweg stützen. Onkel Frieder machte sich dann immer absichtlich schwer und blies Tessa seine saure Bierfahne ins Gesicht.

Während Onkel Frieder in der Gastwirtschaft saß, machte Tante Berta meist ein Schläfchen. Tessa nutzte die Zeit manchmal, um sich davonzuschleichen. Eilig ging sie wieder zur Eiche hinter dem Fachwerkhaus. Ein Fuchsfell hing im Hof gespannt. Herr Stade war Jäger und Waldhüter. Sein Sohn Michael sollte bald in seine Fußstapfen treten. Aber am Abend, wenn alle Arbeit getan war, setzte sich Michael ans Klavier seiner verstorbenen Mutter und spielte.

Tessa kletterte vorsichtig den Baum hoch und setzte sich auf einen dicken Ast. Sie versuchte sich in dem Baum, dessen Laub gerade erst wieder austrieb, so gut es ging, zu verstecken. Andächtig lauschte sie. Eine schwarze Katze lag unterm Baum und hörte ebenfalls zu. Doch bei einem besonders lebhaften Stück sprang sie auf und miaute laut.

Plötzlich flog ein Fenster auf. Frau Stork, die ein Zimmer in Stades Haus hatte, und den Haushalt führte, seit Frau Stade tot war, steckte ihren Kopf heraus.

„Ja, ist denn das die Möglichkeit!“, schrie sie aufgebracht. „Du elender Spanner! Hast du es denn nötig, bei fremden Leuten ins Fenster zu spähen und sie zu beobachten?

Frau Stork schüttete ihren vollen Nachttopf in Tessas Richtung. Sie bekam nichts ab, dafür war die Entfernung zu groß, aber beim eiligen Abstieg verfehlte sie einen Ast und schlug sich die Knie auf.

„Ach, du bist das!“, zeterte die Stork. „Jetzt ist mir alles klar, schnüffelst dem Michael hinterher, du verdorbenes Luder ...“

Was Frau Stork sonst noch sagte, hörte Tessa nicht mehr, denn sie rannte weg. Die Katze sprang hinter ihr her, als wollte sie spielen.

Auch Michael hatte den Krach gehört. Er stand auf und ging zum Fenster. Im Mondlicht sah er ein Mädchen mit roten Haaren wegrennen. Das ist doch die Tessa, dachte er. Was hat die hier zu suchen?

Doch dann schmunzelte er. Natürlich, sie mag Musik. Das arme Mädchen hatte ja sonst nichts. Sie lebte bei Pflegeeltern, dem Ehepaar Berta und Frieder Wieber, die er nicht mochte. Ob sie dieses leuchtend rote Haar von ihrer Mutter hatte? Versonnen dachte Michael nach und stellte sich vor, es einmal zu berühren.

Er setzte sich wieder ans Klavier. Michael liebte die Musik. Durch die Krankheit seiner Mutter, einer unheilbaren Blutkrankheit, hatte er schnell erwachsen werden müssen. Frau Stade war es jeden Tag ein bisschen schlechter gegangen, bis sie schließlich eines Tages nicht mehr aus dem Bett konnte und Monate später gestorben war. Alles hatte die Familie damals verkauft, um sich die teure Medizin für die Kranke leisten zu können. Geblieben war nur das Klavier, als einzige Andenken an die Mutter.

Michael ging, seit er die Schule beendet hatte, mit seinem Vater oft in die Wälder. Aber nur, um zu beobachten und Wildschäden festzustellen. Das große Ereignis, die Einführung in die Jagd, stand noch bevor.

„Wenn es so weit ist, Vater“, fragte Michael seinen Vater oft, „gehen wir dann auch in den Schattenwald?“ Es hieß, dass in diesem Wald noch nie ein Jäger gejagt hatte. Es war der größte Wald in der Gegend. Er sah dunkel und unheimlich aus. Vom bloßen Hinsehen bekam man eine Gänsehaut. Die Älteren im Dorf behaupteten, er hätte kein Ende.

„Nein, mein Junge“, antwortete der Vater. „Du weißt, aus dem Schattenwald ist noch keiner zurückgekehrt. Er birgt ein schreckliches Geheimnis.“

Michael nickte. „Und die Wölfe … Ich höre sie nachts heulen.“

Michael vertiefte sich wieder in die Musik. So viele schöne Lieder hatte die Mutter ihm einst beigebracht. Michael wollte sie nicht vergessen. Er musste üben und das jeden Tag. Die Notenblätter waren ja verkauft.

Als Tessa zu Hause ankam, sie kam vom Ziegenstall her, um Fragen nach ihrer Abwesenheit zu vermeiden, war sie wirklich froh, dass ihr Onkel in seinem Sessel saß. Sie hätte es jetzt nicht ertragen, ihn aus der Wirtschaft abzuholen. Seine Tränensäcke waren geschwollen, und er grinste, als ob er sie fressen wollte.

Tessa stieg die Leiter zum Dachboden hinauf. Hier war ihr Reich. Onkel und Tante kamen hier nicht herauf. Sie hatten Angst, sich auf der morschen Leiter, die Knochen zu brechen.

Dass man hier oben nicht aufrecht stehen konnte, störte Tessa nicht. Sie stieß die Dachluke auf, ein winziges Loch, und schaute nach oben. Unzählige Sterne glitzerten am Himmel. Tessa lauschte dem unheimlichen Geheul der Wölfe und überlegte, wie groß das Rudel wohl sein könnte.

Sie setzte sich auf ihre Strohmatratze und zündete eine Kerze an. Diese hatte sie in der Küche stehlen müssen. Sie sollte, so ihre Tante, nachts gefälligst schlafen, und dazu braucht man bekanntlich kein Licht.

Tessa zog eine einfache Holzkiste aus der Ecke hinter ihrer Matratze hervor. Hier drin war alles, was sie besaß. Eine kleine Decke, in die sie gewickelt gewesen war, als Unbekannte sie vor der Tür dieses Hauses abgesetzt hatten. Waren das ihre Eltern gewesen? Traurig nahm sie einen Stofffetzen aus der Kiste und wickelte ihn auf, bis das silberne Amulett zum Vorschein kam. Die Tante durfte nicht wissen, dass sie es wieder hatte, denn sie verkaufte es damals sofort. Wenn sie schon ein Kind ernähren müsse, so hatte sie sich rechtfertigt, habe sie auch das Recht, dieses Schmuckstück zu verkaufen und das Geld für den Unterhalt zu verwenden.

Frau Stade, Michaels Mutter, hatte Mitleid gehabt und es zurück gekauft. Da ging es ihr noch gut. Sie gab es Tessa wieder, als die Kleine acht Jahre alt war. Jedes Kind, so meinte sie, sollte ein Andenken an seine Mutter haben.

Tessa legte das Amulett an. Wie schade, dass sie es nicht immer tragen konnte, aber die Tante hätte es ihr nur wieder weggenommen, und diesmal sicherlich heimlich verkauft.

Tessa war sauer auf Frau Stork. Sie musste etwas unternehmen. Da sie nicht recht wusste was, beschloss sie, der alten Frau wenigstens einen Schrecken einzujagen. So stand sie an einem der nächsten Tage an einem frühen Morgen wieder hinter dem Haus im Schutz des Baumes und hörte auf Geräusche. Stades schienen wie immer fort und Frau Stork schlief sicher noch. Tessa nahm den erstbesten Stein, den sie fand, und warf ihn ans Fenster. Eine der kleinen Fensterscheiben zwischen den Holzsprossen zersprang mit lautem Knall und Tessa nahm die Beine in die Hand. Sie stellte sich lebhaft vor, wie Frau Stork blitzschnell aus dem Bett sprang und zum Fenster eilen würde, um nachzusehen, was passiert ist. „Und wenn ich Glück habe“, murmelte Tessa, „dann stolperst du über deine eigenen Füße und brichst dir ein Bein.“

Tessa hatte keine Ahnung, dass der Zufall mitspielte. Frau Stork brach sich tatsächlich ein Bein. Sie dachte sofort an Tessa, als sie den Stein auf dem Boden vor dem Fenster fand. Und sie erzählte Doktor Lambert, dass Tessa sie verhext haben musste.

„Aber, aber, liebe Frau Stork“, versuchte der Landarzt sie zu beruhigen. „Die Zeit der Hexen ist vorbei. Die sind doch längst alle verbrannt oder gehängt.“

Aber Frau Stork war davon überzeugt. „Dann verraten Sie mir doch mal, wo das Mädchen überhaupt herkommt! Kein Mensch kann sie leiden. Tessa ist keine Hiesige. Und diese Haare, als würden sie brennen!“

„Rotes Haar allein macht noch keine Hexe, liebe Frau! Und wie Sie wissen, nehmen wir an, dass sie von fahrendem Volk, von Zigeunern oder Zirkusleuten, ausgesetzt wurde“, sagte Doktor Lambert und rührte einen Brei aus getrockneten und pulverisierten Beinwellwurzeln an. Er erhielt eine Salbe, die er großzügig auf dem Bein zur Fixierung des Knochens aufbrachte und wartete, bis die Masse ausgehärtet war.

„Dieses Mädchen ist verdorben. Ich habe sie selbst erwischt. Sie hat den Michael beobachtet, mit ihren seltsamen grünen Augen.“

Der Doktor sah verwundert auf. „Sie ist doch noch ein Kind und höchstens sechzehn Jahre alt.

„Verdorben sag ich!“ Frau Stork war sich sicher. „Schauen sie doch mal genau, wie sie läuft und mit den Hüften schwingt. Einfach abstoßend! Die gehört weggesperrt. Wiebers sind mit der Erziehung des Mädchens doch völlig überfordert.“

Doktor Lambert war nachdenklich geworden. Er beendete seine Behandlung so schnell wie möglich. So ein Gerede hatte er lange nicht mehr gehört. Dabei hatte er selbst erlebt, wie aufgebrachte Bürger dieses Dorfes Selbstjustiz übten und eine angebliche Hexe gefesselt in den Dorfteich trieben. Das war lange her und seitdem hatte er auch nichts mehr von Hexenverbrennungen in der Gegend gehört. Es gab sie wohl noch hier und da, aber sehr selten.

Tessa hielt es zu Hause nicht aus. Sehnsucht erfüllte ihr Herz und so schlich sich trotz allem an einem Abend wieder zum Haus der Stades. Diesmal war sie jedoch noch vorsichtiger. Sie schmiegte sich von hinten an den Stamm der alten Eiche, sodass sie nicht zu sehen war. Solange das Blätterdach nicht dichter war und ihr einen besseren Schutz bieten konnten, wollte sie nicht noch einmal hoch in den Baum klettern. Das war zu riskant.

Endlich begann die Musik. Leider war hier unten nicht so viel zu hören, wie oben auf dem Ast vor dem Fenster. Plötzlich hörte Michael auf zu spielen. Tessa lugte hinter dem Stamm hervor und beobachtete, wie er das Fenster kurz öffnete, um etwas frische Abendluft hereinzulassen. Als er sich aufmerksam umsah, erschrak Tessa und drückte wieder sich ganz fest an den Stamm der alten Eiche. Das Fenster wurde wieder geschlossen und die Musik ging weiter. Tessa schloss die Augen und entspannte sich. Die Zeit verging wie im Fluge. Sie musste langsam zurück zu den ungeliebten Pflegeeltern. Sie streckte zaghaft ihren Körper, der vom regungslosen Stehen ganz steif geworden war. Ihr Blick streifte kurz einen hellen Fleck in der Rinde des Baumes und das weckte ihre Aufmerksamkeit. Tatsächlich, hinter einem Stück eingeschnittener Rinde war etwas Papier eingeklemmt. Tessa nahm den zusammengefalteten Zettel in ihre Hand, schloss sie und drückte die Faust an ihre Brust. Es war zu dunkel zum Lesen geworden. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit. Ein leises Kribbeln wie von Schmetterlingen. Jetzt verstand Tessa. Er hatte das Fenster wegen ihr geöffnet, um zu sehen, ob sie da war. Er wusste, dass sie ihn beobachtete und hatte eine Nachricht für sie versteckt. Anders konnte es nicht sein.

Tessa wollte auf ihren Dachboden, wollte träumen. Sie lief über die feuchte Wiese nach Hause, fühlte sich unbeobachtet, drehte sich beim Laufen im Kreis und summte leise Michaels Lieder.

Aber es blieb keine Zeit zum Träumen. Der Onkel war nicht zu Hause.

„Wo warst du!“, fragte die Tante böse. Wieso hatte sie ihr Schläfchen schon beendet?

„Die Ziegen sind so unruhig“, log Tessa. „Da war ich noch mal im Stall.“

„Hol den Onkel!“, befahl die Tante. Und ohne einen weiteren Ton ging sie zurück in die Stube, um in Ruhe weiter zu dösen.

Tessa rannte die staubige Straße hinunter. In der Wirtschaft stank es nach Bier, Tabakrauch, verkochtem Kohl und Schweiß.

Onkel Frieder saß mit anderen Männern am Tisch. Er unterhielt sich lallend. Sein Bauch wippte beim Lachen wie ein dicker Ball. Jetzt bemerkte er Tessa. Er schwenkte einen Zipfel Rotwurst mit der Hand hin und her. „Hast du Hunger?“, schrie er.

Aber bevor sie antworten konnte, hatte er die Wurst in die Ecke zu einem Hund geworfen, der sich begeistert drauf stürzte. Frieder grinste unverschämt und begann mit den Fingern auf den fleckigen Tisch zu trommeln.

„Los! Tanz für uns!“, forderte er Tessa auf. Seine Freunde lachten. Einer von ihnen schlug Tessa mit der Hand auf den Po. Doch sie beachtete es nicht.

„Die Tante wartet“, sagte Tessa ruhig.

Schwerfällig erhob sich der Onkel. Der Hund kam sofort, hatte umsonst Hoffnung auf noch einen Leckerbissen, denn er wurde nicht beachtet. „Wenn Berta ruft, muss ich gehen, sonst kriege ich Prügel“, sagte der Onkel. Er lachte über seinen Witz und stützte sein ganzes Gewicht auf Tessa. Ihr ging schon auf dem Weg zur Tür fast die Puste aus.

Zu Hause lag die Tante schon im Bett und war somit aus dem Weg.

„Nun, was ist!“, brummte der Onkel. „Bekomme ich einen Gute-Nacht-Kuss von dir?“ Er hatte Tessa mit seinem dicken Bauch an die Wand gedrückt. Aber Tessa war flink. Sie brachte ihn aus dem Gleichgewicht und schlüpfte seitlich durch. Fast jedenfalls. Er schaffte es noch, sie am Arm zu packen. Trotzdem der Onkel so betrunken war, hatte sie alle Mühe, sich loszureißen und zur Leiter zu flüchten.

„Hol dich der Teufel“, murmelte Onkel Frieder, während sie nach oben auf ihren Dachboden kletterte.

Die Tage vergingen wie im Fluge. Tessa fand nun immer mal wieder einen kleinen Zettel in der Rinde des Baumes versteckt. Ein Dutzend kleine, zarte und etwas unbeholfen klingende Liebesgedichte hatte sie schon gesammelt. Am Anfang tauschten Michael und Tessa nur verstohlene Blicke aus, wenn sie sich zufällig sahen. Aber bald kam ein leises Lächeln dazu. Und wenn es niemand sah, auch ein kaum wahrnehmbares Zunicken. Tessa war glücklich. Die harte Arbeit ging ihr etwas leichter von der Hand. Trotzdem war es ein trügerisches Glück. Sie wusste natürlich, dass ihre Pflegeeltern eine Freundschaft mit Michael niemals dulden würden.

Dann kam der Tag, an dem nicht nur ein Gedicht auf dem Zettel stand, sondern auch eine Einladung. „Um Mitternacht an der Quelle beim Schattenwald“, stand geschrieben.