Im Bauch der Königin - Karosh Taha - E-Book

Im Bauch der Königin E-Book

Karosh Taha

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als junges Mädchen tut Amal etwas Unerhörtes: Sie verprügelt ihren Mitschüler Younes. Ihr Vater verteidigt ihr Verhalten und ermuntert sie, sich in der Welt zu behaupten. Trotzdem wird Amal fortan von allen gemieden. Und dann verlässt der Vater die Familie. Zuflucht findet Amal ausgerechnet bei Younes und seiner Mutter Shahira, die ebenfalls Außenseiter sind. Als sich die Situation Jahre später zuspitzt und der Streit mit der Clique um Raffiq eskaliert, flieht Amal nach Kurdistan und begibt sich auf die Suche nach ihrem Vater. Raffiqs Freund Younes steht ungewollt im Zentrum der Aufmerksamkeit ihres Viertels. Der Grund ist seine Mutter Shahira, die durch ihre Freizügigkeit alle Regeln bricht. Auch Raffiqs Gedanken kreisen ständig um Shahira: Er ist gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen. Als Younes die Situation nicht mehr aushält, plant er abzuhauen. Für Raffiq, dessen Freundin Amal ebenfalls wegziehen möchte, bricht eine Welt zusammen. Er versucht, ihre Pläne zu sabotieren. Und es stellt sich die Frage, was er mit seinem Leben eigentlich anfangen will.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 347

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Als junges Mädchen tut Amal etwas Unerhörtes: Sie verprügelt ihren Mitschüler Younes. Ihr Vater verteidigt ihr Verhalten und ermuntert sie, sich in der Welt zu behaupten. Trotzdem wird Amal fortan von allen gemieden. Und dann verlässt der Vater die Familie. Zuflucht findet Amal ausgerechnet bei Younes und seiner Mutter Shahira, die ebenfalls Außenseiter sind. Als sich die Situation Jahre später zuspitzt und der Streit mit der Clique um Raffiq eskaliert, flieht Amal nach Kurdistan und begibt sich auf die Suche nach ihrem Vater.

© Havin Al-Sindy

Karosh Taha debütierte 2018 mit ihrem Roman ›Beschreibung einer Krabbenwanderung‹. Sie lebt in Essen. Für Auszüge ihres zweiten Romans ›Im Bauch der Königin‹ hat sie mehrere Auszeichnungen erhalten.

Karosh Taha

IM BAUCHDER KÖNIGIN

Roman

Die Autorin bedankt sich ganz herzlich für die finanzielle Unterstützung des Romanprojekts bei:

Literarisches Colloquium Berlin

dem Land Niedersachsen und der Stadt Lüneburg für das Heinrich-Heine Stipendium

Kunststiftung.NRW

Deutscher Literaturfonds e.V.

eBook 2020

© 2020 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Marion Blomeyer/Lowlypaper. München

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-7009-7

www.dumont-buchverlag.de

IM BAUCHDER KÖNIGIN

Und immer fragten sie mich, wie ich es angestellt hatte, den neuen Jungen, der wesentlich größer und stärker war, zu verprügeln, und ich erzählte, weil mir jeder zuhörte und mich glauben ließ, etwas Bedeutendes vollbracht zu haben, und ich erzählte, weil die Männer sich freuten und die Frauen sich ärgerten, weil mein Vater mich auf den Schoß nahm und mich aufforderte, die Geschichte seinen Männerfreunden zu erzählen, als wäre sie eine seiner Anekdoten, als wäre ich seine Handpuppe. Aber es ist meine Geschichte, hätte ich beinahe gesagt, hätte mich beinahe umgedreht zu meinem Vater und ihm gesagt, das ist meine Geschichte. Ich war noch jung genug, Männerrunden zum Lachen zu bringen, aber zu alt, um auf jemandes Schoß zu sitzen, auch wenn er mein Vater war und auch wenn er mich einlud, auf seinem Schoß zu sitzen, weil sie immer fragten, wie ich es angestellt hatte, den neuen Jungen, der wesentlich größer und stärker war, zu verprügeln. Und ich erzählte, manchmal fiel mir ein neues Detail ein, und ich erfand neue Details, weil ich wollte, dass sie mir zuhören, irgendwann sagten auch die Männer: Ihr müsst auf sie achtgeben, und da hörte mein Vater auf, mich wie eine Handpuppe auf seinen Schoß zu setzen, und auch weil meine Mutter ihn abends dafür ausschimpfte. Jede Nacht schrien sie sich an, und Mutter schloss alle Fenster und die Balkontür, und die Hitze beschlug die Fenster, die Hitze rann an den Scheiben hinab, die weinten, weil es sonst niemand tat. Mein Vater öffnete nach dem Streit die Fenster, und die Wohnung konnte wieder atmen, und ich konnte schlafen, um am nächsten Tag den älteren Jungen im Viertel zu erzählen, wie ich den neuen Jungen verprügelt hatte, weil sie mich danach gefragt hatten, einer hielt noch seinen Fußball unter dem Arm, sie unterbrachen ihr Spiel, nur um zu hören, wie ich davon erzählte, den neuen Jungen verprügelt zu haben. Und einer von den Jungen fragte mich, ob ich ihm meinen Bizeps zeigen könne, und ich wusste nicht, was das ist, da schob er den kurzen Ärmel seines Shirts ein wenig hoch und beugte den Arm, strengte sich an, eine Kugel auf dem Arm zu bilden, und ich machte es ihm nach und brachte damit alle zum Lachen, und ein anderer fragte, ob ich ihm meinen Schwanz zeigen könne, und da lachten wieder alle und widmeten sich ihrem Spiel.

Ich erzählte es auch den Lehrerinnen, die danach fragten, und weil sie bestürzt schauten, verkürzte ich die Geschichte, sparte mit Details, vor allem den erfundenen, und sie sagten dann, ich solle keine Freude bei dem Gedanken an diese Tat empfinden. Und ich empfand keine Freude, nur das Gefühl, etwas Bedeutendes vollbracht zu haben. Meine Mutter verbot mir, die Geschichte zu erzählen, aber ich konnte nicht aufhören, weil alle mich danach fragten. Sie war nur verärgert, weil die Mutter des Jungen an einem Nachmittag vor unserer Wohnungstür gestanden und uns ausgeschimpft hatte, Mutter vorwarf, mich nicht unter Kontrolle zu haben: Ein Mädchen, das Jungen verprügle, könne nicht normal sein, ich sei verzogen, und Mutter sei daran schuld, das sagte sie alles. Wie die Tiere, sagte sie und wiederholte den Satz, bis ich das glaubte, und ich wollte ihren Sohn wieder anspringen, der mit gesenktem Kopf neben ihr stand, und dann beugte sich die Mutter zu mir, als hätte sie meinen Gedanken gehört, und drohte, mir die Augen herauszureißen, sollte ich noch einmal ihren Sohn anfassen. Mutter schützte mich mit ihrem Arm vor der anderen Mutter und versuchte, sie mit einer eigenen Drohung zu übertönen, trotzdem hatte ich sie gehört, hatte aber keine Angst und wollte gegen ihr Schienbein treten, da knallte meine Mutter die Wohnungstür zu, als spürte sie die Bewegung in mir, und Mutter drohte mir das Gleiche an wie die fremde Mutter und beendete die Szene mit einer Ohrfeige und der Aufforderung, mich zu schämen. Am Abend schrie sie meinen Vater an, er brüllte zurück und sagte ihr, wenn sie nicht den Mund halte, würde er uns nach Kurdistan zurückbringen, und meine Mutter ließ sich nicht davon beeindrucken und schlug vor, seinen Koffer zu packen, aber Vater ignorierte sie, rauchte seine Zigarette zu Ende, während die Fenster weinten.

Meine Eltern wurden zur Direktorin gerufen, und weil Vater arbeitete, kam Mutter allein zur Schule und hörte sich an, was die Direktorin ihr erzählte. Sie sagte, man würde Maßnahmen ergreifen, im jungen Alter muss man da schon hart durchgreifen, Frau Zaynal, da müssen Sie konsequent bleiben, sagte die Direktorin, probierte viele Sätze aus, um Mutters harte Mimik aufzubrechen, und dann sagte die Direktorin, Sie müssen mit Ihrem Mann an einem Strang ziehen, und in diesem Moment schützte Mutter das Gesicht, das sich entblößte, das uns beschämte, schützte das nackte Gesicht mit beiden Händen: Sie weinte und atmete in kurzen Zügen, weinte, wie sonst Grundschulmädchen weinen, und meine Mutter bat nur um Entschuldigung, sagte, sie habe mich nicht so erzogen, ich würde ja ständig mit Jungen toben, da hätte ich ihr Verhalten angenommen, das müsse doch irgendwie abfärben, und Mutter war wie die anderen Mädchen, die mich bei den Lehrerinnen verpetzten, den Zeigefinger ausgestreckt in meine Richtung und die Augen flehend. Das Gesicht der Direktorin entspannte sich: erleichtert zu sehen, wie Mutter weinte, und die Direktorin stimmte ihr unbedingt zu, unbedingt, sagte sie, und Mutter hörte nicht auf zu weinen, und die Direktorin sorgte dafür, dass sie nicht aufhörte, und sagte, Amal ist wie ein Bursche, völlig außer Kontrolle, und nickte begeistert und sagte, sie habe mich schon länger beobachtet, sie sei froh, dass dieses Verhalten auch meiner Mutter aufgefallen sei, und dann lehnte sie sich zu meiner Mutter vor, die Tischkante schnitt ihr in den Bauch, aber das war der Direktorin egal, und sie sagte, ich sei wie Mogli, der mit den Wölfen aufgewachsen ist, und da heulte meine Mutter heftiger, nannte mich ein Mogli-Mädchen, während sie heulend in das Taschentuch rotzte, das ihr die Direktorin angeboten hatte, um ihr zu bedeuten, dass nicht sie bestraft werde, sondern die Tochter, das Mogli-Mädchen. Es würde ihr guttun, wenn sie mehr Freundinnen hätte, sagte die Direktorin, eine Resozialisierung sozusagen, sagte sie und war sich unsicher, ob meine Mutter sie verstand, und zum ersten Mal schaute die Direktorin mich an, fragte, Amal, hast du Freundinnen und wie viele überhaupt. Ich schwieg.

Amal, das muss dir nicht peinlich sein, sagte sie und wollte mich zum Weinen bringen, wie sie meine Mutter zum Weinen gebracht hatte. Kein Mädchen wollte mit mir befreundet sein, das wusste die Direktorin, weil ich jedes schon mindestens einmal in seinem Leben geärgert hatte, wie es sonst die Jungen taten, und sie erzählten es jedem in der Schule, erzählten einander so gerne, wie sie von mir geärgert worden waren, erzählten, wie sie gelitten hatten, wie ihnen wehgetan worden war. Wenn ich ein Mädchen schubste, dann hatte ich alle geschubst, weil sie es einander sofort erzählten und weil sie einander zuhörten und die Geschichte so weitererzählten, als wäre jede Einzelne betroffen. Und an dem Abend schrien meine Eltern sich wieder an, weil meine Mutter die Demütigung, die sie bei der Direktorin erlitten hatte, so sagte sie es, an meinen Vater weitergab, und wie sehr es sie beschäme, dass er nicht da gewesen sei, als würde er sich nicht für seine Tochter interessieren. Und sie betonte, wie sehr ich doch seine Tochter sei, deine Tochter hat das getan, deine Tochter hat das nicht getan, als wäre ich aus dem Nabel meines Vaters gekrochen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sie aufzufordern, endlich mal das Maul zu halten, und da wurde Mutter noch wütender und schwieg meinen Vater für Wochen an, und weil ich der Grund ihres Streits war, schwieg sie auch mich an. Die ersten Tage genossen mein Vater und ich ihr Schweigen, weil wir in Ruhe essen konnten, Karten spielen, in Ruhe faul sein, alles in Ruhe. Dann wurde es schwierig, weil mein Vater sein Feuerzeug nicht fand und Mutter schwieg oder ich den Bastelkleber und Mutter schwieg, und bald wurde ihr Schweigen so mächtig, dass auch wir schwiegen, dass die Fenster aufhörten zu weinen. Aber mein Vater, der so gern Geschichten erzählte, der gern lachte, entschuldigte sich schließlich bei meiner Mutter, und er musste es gut angestellt haben, weil meine Mutter doch stur ist, weil sie einen Zementblock im Kopf hat. Die Nachbarin fragte sie, wie er das angestellt habe, weil die Nachbarin auch wusste, wie stur meine Mutter sein konnte, und meine Mutter lächelte und schlürfte ihren Chai, schlürfte und hörte nicht mehr auf zu schlürfen, als wäre ihr Chai-Gläschen bodenlos. Nachdem sie den Chai in einem Schluck ausgetrunken hatte, strich sie sich den Schweißbart von der Oberlippe, weil Mutter dort schwitzt, wenn ihr heiß ist, und dann erzählte sie, er habe mit seiner süßesten Zunge gesprochen. Die Nachbarin lachte laut und sagte, ich wette, er hat mit seiner Zunge nicht nur gesprochen, und da stand Mutter unruhig auf und goss sich einen weiteren Chai ein.

Mit Worten konnte ich Mutter nicht versöhnlich stimmen. Mein Vater sprach immer für uns beide, und diesmal hatte er nur für sich gesprochen, und ich fing an, mein Bett herzurichten, meine Klamotten unaufgefordert in den Wäschekorb zu werfen oder meinen Teller abzuräumen, und Mutter schwieg weiter, und irgendwann bot ich ihr an, mein Haar kämmen zu dürfen, ohne Worte, weil ich doch ein Mogli-Mädchen war. Ich ging zu Mutter und reichte ihr ein Haargummi und einen Kamm, damit sie mein Haar, das sie schon immer geärgert hatte, bändigen konnte. Ich setzte mich ihr zu Füßen, und sie konnte auf der Couch mit der Arbeit anfangen. Meine Frisur war danach ordentlich, selbst die Direktorin bemerkte es, und meine Sportlehrerin meinte, ich solle den Zopf nicht so streng binden, sonst bekäme ich Kopfschmerzen, aber selbst dann sprach Mutter nur das Nötigste mit mir. Und wenn die Jungen Fußball spielten und mich nicht mitspielen ließen und mich Rapunzel nannten, dachte ich nur daran, wie sehr es in meinen Schläfen wehtat, der Schmerz erinnerte mich an Mutter, und so tat ich nichts, und so schubste ich keinen Jungen, der mir zu nah kam, und so beschimpfte ich kein Mädchen, das mich auf leise Art beleidigt hatte, und so widersprach ich keiner Lehrerin, die mich mit fremden Wörtern verwirrte. Der Schmerz war da, und ich konnte ihm nicht entfliehen, weil er direkt auf meinem Kopf saß, und dann hielt ich es im Sachunterricht nicht mehr aus und holte mir die Lehrerschere, als die Lehrerin einmal nicht schaute, und schnitt den Zopf ab. Die anderen Schüler schrien, und die Lehrerin wurde auf mich aufmerksam, sie rannte mit Angst im Gesicht auf mich zu und nahm mir die Schere weg, und erst dann wurde sie wütend: Sie vergaß all ihre feinen, fremden Wörter und schrie mit verständlichen. Einige Schüler lachten, andere waren bestürzt, und es war egal, weil der Schmerz seine Krallen aus meiner Kopfhaut zog, er löste sich auf, und das fühlte sich gut an, wie ein Duschstrahl mitten auf dem Kopf, und ich genoss, wie der Schmerz sich in einen Duschstrahl verwandelt hatte, und dann fragten mich alle, warum ich meine Haare mitten im Unterricht abgeschnitten hatte, und sie lachten, wenn ich sagte, der Zopf habe wehgetan, aber danach habe er sich in einen Wasserstrahl verwandelt.

Vater brachte mich zum Friseur, damit er den Rest abschnitt, und auch der Friseur fragte, warum ich meine Haare denn so kurz geschnitten hätte, und er lachte nicht, als ich sagte, der Zopf habe wehgetan, und sagte nur, ich müsse meine Mutter bitten, die Haare nicht zu fest zu binden, und dem Friseur konnte ich nicht erzählen, dass ich nicht wusste, wie ich mit meiner Mutter reden konnte. Meine Mutter weinte, als sie mich mit kurzen Haaren sah, und sprach zu meinem Vater, ganz ruhig, wie es nicht ihre Art war, dass er mich verdorben habe, dass ich nun endgültig verloren sei. Er nahm sie nicht ernst, sooft wie er mir über den Kopf strich, von der Stirn bis zum Nacken, und dort ruhte dann seine Hand.

Mit seiner Hand an meinem Nacken begleitete er mich manchmal von der Schule nach Hause. Wenn er früher von der Arbeit kam, stand er vor dem Schultor und wartete auf mich, und wenn ich gerade aus dem Gebäude rannte mit all den anderen Schülern und er sah, dass mich einer der älteren Jungen schubste, sagte er mir, ich solle zurückschubsen, ich dürfe mir nichts gefallen lassen, gerade als Mädchen dürfe ich mir nichts gefallen lassen, sie dürften nicht wagen, sich mir zu nähern, und wenn meine Muskeln nicht ausreichten, müsse ich beißen, alle Mittel seien recht, wenn man sich verteidige. Einmal wartete Vater mit der Mutter von dem neuen Jungen, und sie rauchten gemeinsam, und Vater bemerkte mich nicht, bis ich vor ihm stand, und die Frau schaute mich an, sie lächelte, wollte mir nicht mehr die Augen ausreißen. Und dann kam auch ihr Sohn, der Younes hieß, und mein Vater sagte, das sei ein schöner Name, aber der Junge bedankte sich nicht, er war nur traurig, und seine Mutter sagte, Younes sei ein schüchterner Junge, und ich dachte, er sei ein Feigling, aber ich sagte das nicht der Frau, weil sie mir nicht mehr die Augen ausreißen wollte. Younes und seine Mutter wohnten ein Haus weiter und schienen freundliche Menschen zu sein, sagte mein Vater, also sollte ich ihn in Ruhe lassen.

An dem Abend schimpfte Mutter mit Vater; nachdem sie die Fenster und die Balkontür geschlossen hatte, schrie sie ihn an, weil eine Nachbarin ihr erzählt hatte, wie Vater mit der Nachbarin, die enge und kurze Röcke trug, nach Hause gelaufen sei, und sie hätten wohl sehr erregt miteinander gesprochen, weil Vater die Nachbarin nicht grüßte, die gerade an ihnen vorbeilief, und er sei ganz vertieft gewesen ins Gespräch mit der anderen Nachbarin, die immer enge und kurze Röcke trägt, als wollte sie Mutter persönlich beleidigen. Sie fühlte sich entehrt, dass Vater mit dieser läufigen Hündin redete, wie sie es sagte, und fragte, ob er sich denn nicht schäme, mit einer Frau zu reden, deren Rock alles von ihr preisgebe, und was jetzt die Nachbarn wohl von ihnen dächten, von meinem Vater und von meiner Mutter und wahrscheinlich von meinem Vater mit der neuen Nachbarin, und Vater rauchte nur seine Zigarette und öffnete das Fenster, als wollte er die lästernde Nachbarin an dem Streit teilhaben lassen, die ihn verursacht hatte. Aber da hielt Mutter auch schon ihren Mund und schwieg, was ganz angenehm war, und Vater kam in mein Zimmer und versprach, mir das Autofahren beizubringen, damit ich irgendwann einfach davonfahren könne, wenn Mutter mich nerve, und wir lachten beide, ich nervös und er nachdenklich. Und ich bat ihn, mir eine Geschichte aus alf leila wa leila zu erzählen, weil er das so gut konnte und damit er auf andere Gedanken kam, und so erzählte er mir Geschichten aus alf leila wa leila, als Frauen noch Königinnen waren und Ifrite aus Meeren aufstiegen, um Menschen das Leben zu erschweren, und ich lauschte ihm, beobachtete seine Mimik, weil er die Geschichte erzählte, als würde Shahrasad auf seiner Zunge sitzen. Shahrasad durfte nicht aufhören zu erzählen, sonst würde sie sterben. Ich hatte Angst, dass ihr keine Geschichte mehr einfiele. Sie würde vom König getötet werden, sollte sie aufhören zu erzählen: Und Shahrasad erzählte.

Und Mutter fragte mich, was ich auf der Straße beobachtet hätte, als Younes’ Vater ihn absetzte; alle glotzten, und Younes weinte. Ich schwieg, und Mutter schimpfte, warum ich nicht wie die Töchter anderer Frauen sei, die ihren Müttern immer alles erzählten, und ich wollte wissen, woher sie Younes’ Namen kannte. Mutter drängte mich zu erzählen, und ich erzählte ihr davon, wie ich Younes verprügelt hatte, und da wurde sie sauer und befahl mir, aufs Zimmer zu gehen, aber ich ging nach draußen.

Younes’ Vater hatte ihn vor der Haustür abgesetzt, hatte ihn aus seinem Auto gezerrt, und Younes wand sich wie unter Bauchschmerzen, und seine Mutter mit ihrem engen Rock trippelte um Younes herum und versuchte, ihn festzuhalten, weil er dem Auto seines Vaters hinterherrennen wollte, und alle glotzten. Seine Mutter drückte ihn an sich, flüsterte ihm Sachen ins Ohr, die niemand hörte, nur Younes; obwohl alle glotzten, widmete die Mutter sich Younes und schaffte es, ihn zu beruhigen, aber er weinte immer noch, und alle glotzten. Die Mutter lief mit Younes ins Haus und schimpfte mit den Leuten, dass sie aufhören sollten zu starren, habt ihr nie einen heulenden Jungen gesehen, schrie sie, und da hörten einige Leute auf zu glotzen. Die Erwachsenen schauten verschämt in eine andere Richtung, schoben ihre Kinder vor sich her und schauten dann noch einmal, wie das Ganze enden würde.

Von dem Tag an setzte sich Younes nach der Schule immer auf den Bordstein und wartete auf seinen Vater, und am Anfang glotzten alle und erzählten einander, was sie an dem Tag beobachtet hatten, als sie glotzten, und dann erzählten sie einander, was sie gedacht hatten, als sie glotzten, und sie schüttelten den Kopf, als hätten sie Mitleid mit Younes, der auf seinen Vater wartete und alle auf der Straße daran erinnerte, dass er auf seinen Vater wartete. Abends holte ihn seine Mutter rein. Er folgte ihr mit gesenktem Kopf, und die Traurigkeit triefte aus seinen Augen, und sie tropfte auf den Asphalt, pralle Wasserkugeln nässten den Weg vom Bordstein bis zur Haustür.

Auch nach Wochen schien Younes seinen Vater nicht vergessen zu haben, und er setzte sich auf den Bordstein, aber die Leute, die geglotzt hatten, glotzten nicht mehr, weil sie wieder Younes’ Mutter nachglotzten, die kurze und enge Röcke trug. Und er wartete noch länger, und die Erinnerung nahm nicht ab, die Traurigkeit auch nicht und auch nicht, als seine Mutter ihm einen Basketball mitgab, damit er die Zeit vergaß, und Younes nur lustlos im Sitzen dribbelte. Er stand nie auf, als hätte man ihm die Knie gebrochen. Wenn das Gummi des Basketballs den Asphalt traf, hallte es im Viertel, und das Dribbeln begleitete die Nachmittage der Bewohner, und alle wussten, dass Younes draußen saß und wartete. Wenn ein Auto in die Straße einbog, drückte er den Ball an die Brust und schaute auf und immer wieder und nirgendwo sein Vater. Bis die Straßenlaternen automatisch angingen, und Younes blieb auf dem Bordstein sitzen und konzentrierte sich auf das Geräusch, das der Asphalt mit dem Basketball machte. Und irgendwann musste seine Mutter ihn nicht mehr reinholen, er ging freiwillig, weil er wusste, dass er morgen weiter warten konnte. Während Younes wartete, dachten die Jungen im Viertel, man könnte Younes’ Rücken als Tor nutzen, weil er stillsaß und gebrochene Knie hatte, und es ärgerte sie, dass der Hurensohn nicht aufhörte zu warten, sagten sie, und wir sorgen dafür, dass er nicht mehr wartet, sagte einer. Wer traf, bekam einen Punkt, und nicht alle trafen, sie waren sogar ziemlich schlecht, aber Raffiq traf immer Younes’ Rücken, schoss immer mit rasender Härte, und alle hielten für einen Moment den Atem an, hingerissen zwischen Mitleid und Schaulust, warteten darauf, Younes heulend ins Haus rennen zu sehen. Aber Younes bewegte sich nicht, er blieb weiterhin sitzen und atmete schwer und dribbelte und hörte nicht die rasende Wut in Raffiqs Schuss, sondern das stetige Geräusch, dass der Asphalt mit seinem Basketball machte, und es hallte so laut im Viertel, und es hallte so laut in Younes’ Körper, sein gekrümmter Rücken zuckte kurz, aber das Geräusch von Younes’ Basketball war lauter, das Geräusch war im Treppenhaus zu hören und in der Küche und wenn Vater mir eine Geschichte erzählte, und der Basketball war lauter als Shahrasad.

Ich war wütend, nicht auf die Jungen, sondern auf Younes, der ihnen nicht seinen Basketball gegen den Kopf schmetterte oder aufstand und ging. Es ärgerte mich, dass er den Schmerz aushielt, und es ärgerte mich, dass ich mich freute, wenn er getroffen wurde, weil ich dann glaubte, er würde doch aufstehen und das Warten aufgeben. Einmal kam mein Vater früher von der Arbeit und sah, wie die Jungen Younes’ Rücken zum Ziel ihres Spiels gemacht hatten. Er schimpfte mit ihnen und fragte, ob sie sich nicht schämten, einen harmlosen Jungen zu schikanieren, und Raffiq, der immer mit rasender Wut schoss, sagte, Younes spielt mit, Onkel, wir schikanieren ihn nicht, sagte er, gebrauchte ein zu großes Wort für seinen Mund, und der andere Junge, Walid, sagte, Younes sei das Tor, und da brüllte mein Vater, sie sollten sich gefälligst ein anderes Tor suchen. Aber wir hatten kein Tor im Viertel, es wurde immer improvisiert, mit Schulranzen oder Wasserflaschen; es gab einen Spielplatz mit einer einseitig gerissenen Schaukel, weil es im Viertel mehr Kinder als Spielmöglichkeiten gab, und mein Vater wusste das und schimpfte immer darüber, dass die Stadt das Viertel vergessen habe, also schnappte sich Vater den Ball und meinte zu den Jungen, sie sollten ihm folgen. Wir liefen alle meinem Vater hinterher, der auf den großen Marktplatz zusteuerte, wo ein Lidl war, und fragte, ob jemand von den Jungen einen Edding dabeihabe. Sie reichten ihm einen Edding, und mein Vater malte ein großes Rechteck an die Seitenwand des Supermarkts und rief den Jungen zu, hier sei ihr Tor, und die Jungen öffneten die Münder in blödem Staunen, als hätte mein Vater ihnen das Universum gezeigt. Dann fingen sie an zu lachen und meinten, ja, Mann, danke, Onkel, und bevor sie weiterreden konnten, drohte Vater ihnen mit Prügel, wenn sie noch einmal Younes anrührten, und da drehte Raffiq sich zu mir und meinte, Amal, erzähl mal, wie du Younes geschlagen hast, und da schämte ich mich, weil ich meinen Vater blamierte. Mein Vater wendete sich mir erschrocken zu und fragte, ob ich bei ihrem dummen Spiel mitgemacht hätte, und da konnte ich ihn beruhigen. Ich glaubte zu wissen, warum ich Younes nicht mehr verprügeln durfte, damit Vater ihn zukünftig vor anderen beschützen konnte, ohne sich Vorwürfe anhören zu müssen. Auf dem Nachhauseweg erzählte mir Vater, warum Younes dasaß, als wüsste ich das nicht.

Keiner möchte gegen Younes kämpfen. Eigentlich: Keiner könnte gegen Younes kämpfen; sie lauern, streunen um ihn herum, und er steht da und ist groß und mächtig und unberührt, und sie flüstern einander ins Ohr, und im nächsten Moment lachen sie laut auf und kreischen ein unverständliches Wort, sodass ich ihnen gerne meine Faust in den Mund rammen würde, aber ich darf nur auf der Bank sitzen, als Einzige, ich bin ein Mädchen. Es gibt sonst keine Zuschauer, weil es langweilig ist: Und niemand traut sich, mit Younes in den Ring zu steigen. Ich begleite Younes nur, der unbedingt bei der Box-AG mitkämpfen möchte und Angst verbreitet und mich zum Beobachten zwingt, weil ich nicht hier sein darf, denn die Box-AG ist nur für Jungen, sagt der Lehramtsstudent. Younes meinte, ich müsse ihn nicht begleiten, und ich habe ihm nicht gesagt, dass ich Raffiqs Gruppe nicht vertraue, und ich musste das nicht sagen, weil wir uns an das Dribbeln des Basketballs erinnerten. Sie sind hinterhältige Feiglinge, das wissen wir beide, sie sind wie fünf Finger, die nur als Faust stark sind, ansonsten leicht zu brechen. Ich genieße es, wie die Unsicherheit sie umgibt. Wie kleine Hügel sehen sie mit Younes in ihrer Mitte aus. Und Younes verwandelt sie in die Jungen aus der fünften Klasse, die an ihm zerrten: Von hinten kamen sie, immer von hinten die Hände an Younes Rücken, bis ich lernte, was es heißt, jemandem den Rücken freizuhalten, und ich hatte nicht die Muskelkraft, also biss ich zu, und sie zogen an meinem lang gewordenen Haar.

Mutter brachte mich nicht zum Friseur, seit Vater gegangen war. Younes und ich schnitten im Badezimmer die Haare so kurz, als wäre Vater nie gegangen, und wir nahmen die Schere seiner Mutter, schnitten wütend die nachgewachsenen Haare und planten, wie wir Raffiq und seine Freunde schlagen könnten, und die Pläne blieben nur Ideen, weil sie uns überraschten, als sie auf der Treppe zum Klassenraum an Younes’ Rucksack zogen, und ich konnte Younes vor einem Sturz retten, aber sie beschimpften ihn als Hurensohn, und ich schubste Raffiq von der Treppe, dass er sich ein Bein brach, und so konnte er nicht mehr Fußball spielen und musste warten, und da wurde die Jungengruppe wilder, verwandelte sich in ein Tier, das uns jagte. Younes verzog keine Miene, als wartete er lediglich darauf, dass sein Vater endlich auftauchte, endlich auftauchte, damit er keine Schläge mehr gegen den Rücken bekam, und wir rannten zu Younes’ Mutter, und sie beherbergte uns in ihren Armen. Sie strich mir immer wieder über die kurzen Haare und versprach, den Schnitt zu korrigieren.

Younes steht heute vor diesen kleinen Jungen und fordert sie heraus. Er zeigt auf Raffiq und sagt, du und ich, sagt, wir kämpfen jetzt, und Raffiq schüttelt den Kopf, schüttelt und schaut die anderen an, sagt, er würde lieber von Walid, der auch den Kopf schüttelt, eins auf die Fresse bekommen, als von jemandem wie dir berührt zu werden, sagt er, und Younes steht ruhig da an der Seite des Lehramtsstudenten, der neben Younes verloren wirkt; er kann keinen zwingen, mit Younes zu kämpfen, deswegen klatscht er in die Hände und schlägt vor, jeder solle mit einem Partner sparren, und er weiß, dass Younes keinen Partner hat, und ich darf nur auf der Bank sitzen.

Die Jungen verteilen sich in der Sporthalle, und Younes bleibt mit dem Studenten allein. Er schaut zu mir rüber, und ich lächle ihn an, schneide die Haare, damit ich seinen Rücken freihalten kann, ziehe weite T-Shirts an, laufe seine Schrittgeschwindigkeit, um an Younes’ Seite zu bleiben, aber es reicht nicht. Er lächelt zurück, als müsste er mir versichern, dass es ihm gut geht.

Und der Lehramtsstudent wirkt verloren in dieser großen Sporthalle, und seine Worte haben keinen Wert hier, treffen auf niemanden, auch auf Younes nicht, der mit großen Schritten auf Raffiq zuläuft, läuft, und seine Bewegungen geben dem Wind einen Sinn. Die Jungenpaare schauen alle zu Raffiq, der an der Stelle verharrt und dessen Mimik nicht verrät, ob er gerade einen Schlaganfall hat oder einfach nur Angst. Ich schmecke Blut im Mund. Als Younes vor ihm stehen bleibt, zuckt Raffiq kurz zusammen, und sein Zucken dauert lediglich eine Sekunde, aber es reicht, um Younes zu zeigen, dass er sein Ziel erreicht hat, und in diesem Moment, die Jungen und der Lehramtsstudent sind meine Zeugen, wächst Younes um zehn Zentimeter, einfach so, als hätte Gott beschlossen, kein Geheimnis mehr aus seiner Existenz zu machen und das Wunder vor unseren Augen zu vollführen. Younes grinst Raffiq an, grinst über diesen tollen Scherz, über das Zucken und über Gott, der ihn vor aller Augen wachsen ließ, und verabschiedet sich von Raffiq mit einem tollen Grinsen und schreitet zu mir, befreit die Hände von den Handschuhen, wirft sie auf die Bank und sagt nur: Wollen wir? Eine der schönsten Fragen auf Deutsch: Wollen wir? Und ich darf mir aussuchen, was wir wollen, und denke die Frage im Kopf zu Ende, und ich würde gern Younes’ Hand nehmen und aus der Sporthalle stürmen. Zusammen sind Younes und ich unwiderstehlich, sind Titanen, wenn wir wollten, könnten wir Welten bauen, bräuchten dafür nur einen Tag, und ich denke das alles zu Ende, während Younes und ich aus der Sporthalle laufen und den Wind Wind sein und den Lehramtsstudenten weiter verloren wirken lassen.

Draußen fällt Younes in sich zusammen wie ein Zaubertrick; jetzt, da keiner von Raffiqs Jungs ihn sehen kann, brechen wir uns die Knie, weil wir nie Titanen waren, wir sind noch nicht einmal Mann und Frau, wir sind Kinder auf Stelzen.

Wir gehen zur Fahrschule: Wir werden uns anmelden, wir machen das gemeinsam, Younes und ich, und weil sein Vater verschwand und weil mein Vater verschwand, warteten wir gemeinsam auf dem Bordstein auf ein Auto, das in unsere Straße einbiegt, und irgendwann beschlossen wir, selbst das Fahren zu lernen, und Younes sagte, das sei gar nicht so schwer, und ich bestätigte, es sei nicht schwer.

Mein Vater hat nie Jeans getragen, erzähle ich Younes, und er nickt, er weiß das, und er raucht. Er tut es meinem Vater gleich, und Younes hat meinen Vater in besserer Erinnerung als seinen eigenen. Sein Vater bedeutet für Younes Warten und Aushalten, das Warten aushalten.

Er hat immer nur schwarze Stoffhosen getragen und das Hemd locker in der Hose, sage ich zu Younes, er war schlaksig, deswegen flatterte das Hemd an den Seiten, die Klamotten wirkten eine Nummer zu groß für seinen Körper und trotzdem genau richtig an ihm. Kein Aktenkoffer, sondern die Lässigkeit war sein Accessoire, und ich frage mich, wie er sich jetzt kleidet, ob er noch Klamotten trägt, die aus seiner Studentenzeit stammen.

Einmal nahm Vater mich mit zu seiner Arbeit, wo er von allen Kollegen begrüßt wurde, von den Schwarzköpfen auf die Schulter geschlagen wurde und von den Almans nur ein Nicken bekam, und da fiel mir auf, dass alle mit Ausnahme meines Vaters Jeans trugen, fleckige, löchrige, enge oder weite Jeans trugen – nur mein Vater trug schwarze Stoffhosen, und das Hemd war zu weit für seinen Oberkörper, da fiel es mir auf, als ich diese anderen Männer in ihren Arbeitsklamotten sah. Mein Vater zog sich wie alle anderen eine dunkelblaue Weste an und reichte mir eine, weil es drinnen kalt war, um das Obst und Gemüse frisch zu halten.

Bei seiner Arbeit musste Vater immer nur zuhören, reden sollte er nur, wenn er etwas nicht verstanden hatte, sonst hatte er zu nicken und auszuführen, und das machte er, und wir fuhren in einem Gabelstapler, und Vater brachte Paletten mit Obstkisten von einem Ort zum nächsten und witzelte mit seinen Kollegen und verstummte, wenn der Chef auftauchte. Und in der Pause fragte einer seiner Kollegen, warum ich denn so kurze Haare hätte, und Vater antwortete, dass sie sonst beim Fußballspielen störten, und der Chef tauchte auf und fragte, ob ich denn nicht zur Schule müsse, und Vater sagte, dass ich hier bestimmt mehr lernen würde als in der Schule, und der Chef schaute meinen Vater streng an und fragte mich, was ich heute gelernt hätte, aber ich konnte dem Chef nicht erzählen, dass mein Vater ihn nicht mochte, dass mein Vater keine Jeans trug, immer nur schwarze Hosen. Später verstand ich, warum er wutentbrannt die Jeans, die meine Mutter ihm gekauft hatte, aus seinem Kleiderschrank auf den Boden schleuderte, obwohl sie ihm erklärte, dass Jeans bei seiner Arbeit doch sinnvoller seien. Mein Vater verstand sich aber nicht als Obstkistenstapler, sondern immer noch als Architekt, der schwarze Hosen trug und weiße Hemden, das sagte er ihr nicht. Meine Mutter wollte ihn als Obstkistenstapler kleiden, ihn unter die anderen mischen, damit er seinen Beruf endlich vergaß, das sagte sie ihm nicht. Sie glaubte, durch eine Jeans wäre er kein Architekt mehr, und mein Vater glaubte, durch die schwarze Stoffhose wäre er immer noch ein Architekt. Dann besuchte er abends die Schule, anstatt sich mit Mutter zu streiten, die sich auf dem Balkon mit den Nachbarinnen unterhielt, die Geschichten erzählten, über die Nachbarin mit den kurzen, engen Röcken. Und sie nannten sie Shahira, und ich dachte an Shahrasad.

Er ging und hatte vergessen, mir das Autofahren beizubringen; er wollte mir das Autofahren beibringen, sage ich Younes, und Younes lächelt, als müsste er mir versichern, dass es ihm gut geht. Younes lächelt, um mir zu bedeuten, ich dürfe weiter über meinen Vater reden, der mich verließ und vergaß, mir das Autofahren beizubringen, bevor er mich verließ. Nur das Lenken hatte ich gelernt, weil er mich einmal auf seinen Schoß setzte, und ich lenkte das große Auto, er gab die Richtung vor, aber ich durfte lenken, und irgendwann konnte ich sogar richtig abbiegen. Aber das Fahren hat er mir nicht beigebracht, das wird ein fremder Mann machen, der gar nicht weiß, dass mein Vater mir versprochen hatte, mir das Fahren beizubringen, und fast begehe ich den Fehler, Younes zu fragen, ob sein Vater ihm auch das Fahren beibringen wollte, und dann höre ich, wie sein Vater mit rasender Geschwindigkeit wegfuhr, und Younes krümmte sich, als hätte er Seitenstiche, und ich erzählte meiner Mutter nicht, was ich beobachtet hatte.

Ich habe angefangen, Vaters Spuren zu sammeln. Vater hinterließ Abwesenheit, Vater hinterließ Fehlen, Vater hinterließ Scham, Vater hinterließ Ungewissheit. Vater hinterließ Zersplitterung, Vater hinterließ Auflösung.

Und Vater hinterließ Unvollständigkeit.

Im Viertel machen alle ihren Führerschein bei Rolf. Er ist klein und, wie soll es anders sein, auch dick. Bei Rolf im Laden steht Sanye und füllt ein Anmeldeformular aus. Sanye ist groß und, wie soll es anders sein, auch schlank, ihr laufen alle Jungen hinterher, weil sie keinen beachtet. Ihre Haare trägt sie lang und offen und schwarz und glatt, perfekt zum Dranziehen. Ihre Handschrift ist genauso schön wie ihr Gesicht. In der vierten Klasse wurde ich neben sie gesetzt, damit sie mich erzieht, wie sie ihren jüngeren Bruder erzogen hat. Ich hielt es neben dieser kleinen Frau nicht aus und schubste sie und riss an ihren glatten Haaren und zerkratzte ihr hübsches Gesicht, und Mutter musste wieder zur Direktorin. Mutter war nicht überrascht, gerufen zu werden, nur davon, dass es diesmal ein Mädchen getroffen hatte, ein liebes Mädchen, sagte die Direktorin, ein kluges, sagte sie, ein braves, sagte sie, ein harmoniebedürftiges, eine Einser-Schülerin, sagte sie, und Amal schafft gerade einmal, mit ganz viel Mühe, eine Drei, sagte sie, und ich verstand nicht, warum Noten besprochen wurden. Die Direktorin nannte mich emotional gestört, und Mutter strich sich über den Kugelbauch, weil sie im achten Monat schwanger war, und sagte der Direktorin, sie bete zu Gott, es möge ein Junge sein, nicht noch ein Mädchen, ein Mogli-Mädchen. Vater habe mich verzogen, und nun habe er sich verzogen, erzählte sie der Direktorin, und die Direktorin nickte wissend und nahm sich unserer an, indem sie Mutter half, eine Liste an Strafen für mich zu erstellen. Auf dem Weg nach Hause zog sie mich am Arm, weil sie wusste, dass ich abhauen würde. Ich hätte mich leicht von ihr losreißen können, hatte aber Angst, sie könnte umfallen und ihr Bauch könnte platzen, und nur einmal wollte ich verantwortungsvoll sein wie Sanye.

Mit rot lackierten Nägeln streicht sie sich eine Strähne aus dem Blick und sieht uns und grüßt Younes. Younes lächelt zurück und fragt, ob sie jetzt auch mit dem Führerschein anfange, und sie lächelt ein Ja und erzählt Younes, wie aufgeregt sie sei; plötzlich gibt es mich nicht.

Draußen sage ich zu Younes, dass sie ihm gefalle, dass mir das aufgefallen sei, dass es auffalle. Aber er fragt nur, wen ich meine, hält mich für blöd. Sanye mit den schwarzen, glatten Haaren, mit dem schönen Gesicht wie Schönschrift. Amal, du spinnst, sagt er, aber ich spinne nicht, sage ihm, es sei mir aufgefallen, wie er sie angestarrt habe, und dann grinst er wieder und fragt, eifersüchtig? Ich wehre mich mit einem übertrieben ironischen Ton, der mich entlarvt. Und dann sage ich einfach, er solle aufpassen, weil Sanye zu Raffiqs Gruppe gehört. Und Younes lacht, verursacht ein Erdbeben im Viertel, zumindest im Kopf fühlt es sich so an.

Wir gehen immer gemeinsam nach Hause, und manchmal will ich Younes sagen, dass er sich verpissen soll aus dem Viertel. Er hat dafür gesorgt, dass alles auf dem Kopf steht, er und seine Mutter, wie sie das Viertel einfach für sich vereinnahmt haben. Wie seine Mutter es geschafft hat, dass Familien zerbrechen, ja, verpisst euch von hier, und ich höre meinen Vater mir erzählen, ich solle den Jungen in Ruhe lassen. Mein Vater ist nicht da. Seit er verschwunden ist, hat sich das Viertel verändert. Ich verabschiede mich mit einer halben Umarmung von Younes, und ihn kümmert es nicht, er geht. Vor dem Aufzug warten polnische Saisonarbeiter, die wie Sardinen zu zehnt in die Wohnungen gesteckt werden, weil die Wohnungen hier billig sind. Im Aufzug starren sie einen an, deswegen laufe ich lieber die Treppe hoch, und ihr Lachen knallt gegen meinen Rücken, wenn ich vor ihnen weglaufe, als wüssten sie, dass ich vor ihnen weglaufe, und obwohl ich kein Polnisch verstehe, verstehe ich sie. Weil wir nicht die gleiche Sprache sprechen, fällt es ihnen leichter, mir auf den Arsch zu starren, auch wenn ich so alt bin wie ihre Töchter zu Hause, und mir fällt es leichter, sie zu verachten, weil wir nicht die gleiche Sprache sprechen.

In meinem Bett hält mein kleiner Bruder Baran ein Mittagsschläfchen. Wenn Mutter die Bettwäsche wechselt, legt er sich in diesen frischen Duft hinein. Manchmal tickt er wie eine alte Frau, und ich lasse ihn drin schlafen, weil die Bettwäsche dann seinen Geruch annimmt, den Schweißgeruch eines Achtjährigen, und ich kuschele mich von hinten an ihn heran und lege einen Arm um seinen Körper und hoffe, dass er eines Tages so stark wird wie Younes. Baran ist die Erfüllung von Mutters Gebeten. Als Vater ging, erzählte sie mir abends immer, weil sie niemanden hatte, mit dem sie sich streiten konnte, erzählte sie mir abends immer, wie sehr sie hoffe, in ihrem Bauch würde ein Junge heranwachsen. Jungen sind unkompliziert, sagte sie, man braucht sich keine Sorgen zu machen, sie leiden weniger, sagte sie und küsste mich auf die Stirn und wünschte mir eine gute Nacht. Wenn sie aus dem Zimmer ging, wischte ich mit dem Ärmel über meine Stirn.

Am Telefon verpetzte ich Mutter bei Vater und fragte, wann er denn endlich zurückkomme, wann er mir wieder Geschichten aus alf laila wa laila erzählen würde, und er antwortete immer mit einem Wort: bald.

Wenn du nicht bald zurück bist, dann verliere ich meinen Verstand, drohte Mutter und wiegte den kleinen Baran hin und her, der von der Welt abgekapselt in seinem kleinen Babykopf wohnte und nur schlief, und wenn er die Augen aufmachte, dann lachte er. Das Lächeln war nicht aus seinem Gesicht zu kriegen, als erwartete ihn das beste Leben, als wüsste er bereits mit sechs Monaten, dass Gott für ihn das beste Leben reserviert hatte. Mutter hat ihn Baran genannt, Regen, weil Baran getarnt als Regen eigentlich Mutters Tränen symbolisieren soll, ihre Tränen, die sie nicht weint, seit Vater weg ist, weil er zurückkommen wird, ihre Tränen darüber, dass ich ein Mogli-Mädchen bin, ihre Tränen, weil sie eine Frau ist und Frauen etwas mehr leiden als Männer. Baran weiß nichts von all dem, als Baby lachte er ungewöhnlich viel und widersprach damit seinem Namen und machte Mutter glücklich, und sie sagte ständig, schau mal, wie er lacht, Amal. Schau ihn dir an, und ich antwortete, ich würde ihn gerne auffressen, so süß ist er, und küsste ihn auf die Wange, bis die Wange rot wurde, und nein, nein, niemand frisst meinen Sohn auf, sagte Mutter und nahm mir das kleine Bündel aus der Hand, um es fest an sich zu drücken, wie ich es jetzt mit ihm tue. Ich hoffe, er wacht nicht auf und stößt mich nicht weg. Aber das würde er nie tun. Baran ist so brav, als wäre er mit einer glücklichen Mutter und einem fürsorglichen Vater in der Vorstadt aufgewachsen. Das Lächeln ziert immer noch sein Gesicht, dabei gibt es wirklich nichts zu lächeln für ihn. Er hat meinen Vater noch nie gesehen. Denn Vater kam nicht zurück und wird es auch nicht tun. Er kann endlich schwarze Stoffhosen tragen, weil er in einem Büro arbeitet, weil er eine Frau hat, und diese Frau hat drei Töchter, und jetzt hat auch Vater drei Töchter, ohne etwas dafür getan zu haben, er musste nur nach Kurdistan zurück, und dort wartete auf ihn das Leben, das er gelebt hätte, wenn er nicht in Deutschland gewesen wäre. Das Leben hat einfach auf meinen Vater gewartet, war auf Stand-by geschaltet, und Vater ging und drückte auf Play, und Kurdistan tat so, als wäre Vater nie weggewesen, nein, behandelte ihn sogar besser, um ihn nie wieder zu verlieren, und wenn du Kurdistan einen Sohn entreißt, wird sie dich mit ihren langen Ärmeln strangulieren.