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Vorsehung? Karma? Oder ureigenes Talent? Als kleine Schwester von zwei grösseren hatte ich früh gelernt, was es bedeutete, nicht gewollt zu werden. Ich störte. Wenn ich mitspielen wollte, musste ich mich anstrengen. Denn naturgemäss hatte ich den Platz der mittleren Schwester als Jüngste streitig gemacht. Auch sagen erfahrene Familienaufsteller, dass das erste Kind dem Vater zugewandt wäre, das zweite Kind der Mutter und das dritte Kind beiden zu gleich. Ich entwickelte ein Gespür für jede Seite. Für die mittlere Schwester, die sich so schnell ausgeschlossen und benachteiligt fühlte und eifersüchtig über die älteste Schwester wachte, und für meine älteste Schwester, die sich isolierte. Und auch für meine beiden Eltern, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Das war nur der Startschuss für mein Interesse, alle Seiten zu verstehen. Ich entwickelte mit den Jahren eine Begabung, diese nicht nur zu sehen, sondern auch zu analysieren. Ich fing an diese Gegensätze ins Verhältnis zu setzen, verkrustete Seiten aufzulockern, neue Perspektiven zu gewinnen und zu verbinden: Altes Wissen - neue Technologien. Karten legen - Google Maps. Kelten - Berber. Christentum - Neue Spiritualität. Nähe - Single. Mutter - Versorgerin. Weiblich - Abenteurerin. Gesellschaft - Freiheit. Im fortgeschrittenen Alter entstand mein folgendes Werk - ein Spiegel meiner Entwicklung. Neue Perspektiven für meine Protagonisten Aurelia, Maria und Mohamed. Neue Gesichter. Und wie immer ein bisschen Autobiographisches... Schreiben ist auch Spiegeln. Ich - immer dazwischen - zwischen unterschiedlichsten Welten und Zeiten. Auch meiner eigenen.
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Seitenzahl: 448
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AUTORIN
Monika Elsen
Geboren 14.01.1967 i Wittlich, Deutschland
Mit einer riesigen Portion Lebenserfahrung und Wissen. Immer noch auf der Suche und Reise. Viele Antworten hat sie auf ihre Warums bereits bekommen. Doch je mehr, desto mehr Fragen taten und tun sich wiederum auf.
"Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden. Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde. Hermann Hesse"
INHALT
Ein wenig autobiographisch – mit größtenteils geänderten Namen – drei Zeitalter - beleuchtet aus einer etwas anderen Perspektive – mehrdimensional oder metaphysisch? Eine Theorie, wie es hätte sein können. Wie sich alles zusammenfügen möchte - zu einem großen Bild. Auch dieses Buch ist geflossen – als sollte es so sein.
Weitere Erscheinungen: Durchreise 2022 und Kaleidoskop 2014
Wiborada - eine Frauengestalt aus dem frühen Mittelalter
Einführung
Buch I
Buch II
Buch III
Buch IV
Maria
1916. Noch kein Ende in Sicht! Aber ein zarter Anfang!
2016 - 100 Jahre später
Perspektivwechsel
Die Söhne des Ahmed M.
WEITER
Marokko
2022. Back to life?
Corona – die Arabische Welt – und was mich sonst noch so umtreibt
18.04.2022 - Reisevorbereitungen
Die Reise
Ich wandere aus...
Recherchen
Angekommen
Nachspann – Essays
Essay vom 20.02.2020 (vor Corona) – Fangen wir an es zu ändern
Ehre, Moral, Gesellschaft und der Preis der Freiheit
Marokko - zwischen Tradition und Moderne
Sprachen
Die Tifinagh Schrift
Ein besonderes Kind - das Glückskind
Die Religion und ihre Rolle in unserem Reise-Alltag
Sex vor der Ehe ist tabu
Die Waschung
Mein persönliches Fazit
Von Flüchen, Segen oder der Macht des Placebo-Effekts
Formulierungen
Gleichberechtigung - zurück ins Paradies?
Der Apfel vom Baum der Erkenntnis
Sodom und Gomorrha - in allen drei Religionen ein Begriff
Marokko - die Uhren ticken hier anders - im wahrsten Sinne des Wortes
Erklärung zum Inhalt
Sie wurde zur ersten Heiligen ernannt. Der Name Wiborada ist jedoch nur eine alte Bezeichnung für "Weiberrat". Ihr eigentlicher Name ist nicht mehr rekonstruierbar.
Sie wurde zu einer Inklusin. Die letzten 10 Jahre ihres Lebens liess sie sich einmauern. Beim Kloster St. Gallen in der heutigen Schweiz.
Aber was trieb eine weise, lebenserfahrene Frau dazu sich einmauern zu lassen? War es vielleicht ein Schutzbedürfnis und die Verleugnung ihres alten Namens und ihrer Herkunft?
Auch war sie gebildet, was vermuten lässt, dass sie aus einer adeligen Familie stammte. In meinen Recherchen sprach ich sie den Alamannen zu.
920, also 4 Jahre nach ihrer Einmauerung, gab sie ein Liederbuch heraus. Lieder waren damals auch Teil des mystischen Wissens und eine Form der Wissensspeicherung und -vermittlung.
Sie wurde bekannt für ihre Visionen und ihre Ratschläge. Viele Menschen pilgerten zu ihr, um dort Heilung zu erfahren. Später pilgerten sie zu ihrer Grabstätte.
Wiborada wurde von den Ungarn 926 n. u. Z. umgebracht, hat jedoch vorher noch alle Schriften gerettet. Dies legt die Vermutung nahe, dass sie einen grossen Bezug zu der Bibliothek - womöglich auch ihren eigenen Büchern - und dem dortigen Wissensschatz und Schriftentum hatte.
In meiner Geschichte habe ich den Versuch unternommen, damalige geschichtliche Ereignisse, Namen, Könige u. v. a. m. in Zusammenhang zu bringen.
Es ist eine Zeit, über die wir nicht viel wissen. Einiges kann man ableiten. Aus dem Fortschritt der Christianisierung. Aus Kriegen mit den Ungarn und Verwicklungen mit dem Mährenreich. Auch gab es bereits Geschichtsschreibungen über sie – die erste wohl 40 Jahre nach ihrem Tod. Doch darf man nicht vergessen, dass das Verbot der alten Götter vor der Christianisierung noch nicht lange zurück lag. Vieles durfte einfach nicht überliefert werden. Beziehungsweise noch nicht einmal ausgesprochen.
Ich nehme auch an, dass es damals wie heute um Macht, Reichtum, Habgier und Neid ging. Warum hätte es jemals anders sein sollen?
Dies alles floss in meine Geschichte ein. Inklusive meines Wissens über die Pflanzenwelt und deren Heilkräfte, aber auch deren psychoaktive Wirkungen.
Wiborada ist mir bei einem Besuch der Bibliothek in St. Gallen begegnet. Eine seltene weibliche Erscheinung in unserer Geschichtsschreibung. Doch immer noch gesichts- und geschichtslos in der Verklärung ihres Daseins als Heilige.
Ich bin in dieser Recherche einer weisen, kräuterkundigen Frau begegnet, deren Schicksal ich ein neues Gewand geben durfte. In meiner Geschichte.
886 n. Chr. – nach alter Zeitrechnung: Nach der Erschaffung der Welt im Jahre 6394
Zu einer Zeit, als der alte Glaube der keltischen und später germanischen Völker durch Karl den Grossen fast gänzlich unterbunden worden war, gab es trotzdem noch vereinzelt Priesterinnen, die das alte Wissen hüteten. In dieser Übergangszeit von der alten zur neuen Religion wurden, auch im Namen der Könige, Bischöfe und Priester angehalten, Sprache und Orte dieses alten Glaubens zu verbieten und zu zerstören. Die Überzeugung und der Eifer wuchsen. Die Macht der neuen Religion und damit ihre sollte unangefochten werden. Die heiligen Eichen wurden gefällt. Doch die alten Brauchtümer wollten nicht weichen, und wurden sie gänzlich verboten, lebten sie unterschwellig fort. Die Feste des Jahreskreises wurden weiterhin gefeiert. Die Gebete bei Geburt und Tod weiterhin gesprochen. Die Heilkräuter, die den alten Göttern geweiht waren, weiterhin dem Volk für ihr Heil gegeben. Schliesslich gab es einen Richtungswechsel von Seiten der Kirche und man ging über, an den heiligen Orten Kapellen zu bauen. Aus den dort gefällten Eichen. Und den alten Göttern neue Namen zu geben. Maria, Jesus, Kaspar, Melchor und Baltasar und viele viele Heilige folgten. Eine immer grössere Vermischung entstand. Aber selbst heute noch leben die alten Götter und der Glauben an sie in alten Märchen und Sagen fort.
Die Rolle der Frau war im Raum um St. Gallen teilweise noch römisch geprägt, d. h. die Frau durfte Besitztümer besitzen und vererben. Zum Teil war die Frau jedoch bereits dem Mann unterstellt und sollte auch dem Priestertum und der Rolle der Heilerin enthoben werden. Das letztere gelang jedoch nicht vollständig.
Erst um die Jahrtausendwende war nicht nur den Bischöfen, sondern auch den Mönchen und Priestern offiziell die Ehe und der Sex verboten. Zu dieser Zeit wurde verstärkt der Hopfen mit seiner sedierenden Wirkung dem Bier beigemischt, um die Triebhaftigkeit der Männer zu besänftigen. Und ab da war natürlich das Weib diesen Männern eine grosse Gefahr.
Noch später erst, nämlich in der kleinen Eiszeit ab ca. 1550 wurden Frauen (meist Heilkundige), aber auch vereinzelt Männer, als Hexen verteufelt, da es einen Schuldigen für den Hunger und das Leid geben musste. Die Begrifflichkeit Hexe wurde dann erst richtig negativ behaftet. Doch bereits vorher wurden die «Hexen» mehr und mehr in Misskredit gebracht.
Misstrauen geschürt. Niemand konnte beurteilen, wie weit das Wissen und die Macht der «Hexen» ging. Wissen ist Macht. Und je mehr ein Geheimnis daraus gemacht werden musste, weil dieses Wissen und die Anwendung von der Kirche verboten wurde, desto unheimlicher wurde das Mysterium der Hexe.
Die eigentliche Bedeutung der Hexe ist die «auf der Hecke/dem Hag sitzende». Und diese war der Schutzwall zwischen den Welten – der immateriellen, geistigen im Wald und der materiellen, alltäglichen im Dorf. Diese Hecke – dieser Übergang – wurde von den weisen Frauen, den Priesterinnen und Heilerinnen beherrscht. Das Wissen um Leben und Tod. Das Wissen um Spiritualität und Macht des Geistes! Und diese Konkurrenz galt es mit aller Macht zu brechen.
Zu dieser Zeit um 886 nach Christus wurden alte Schriften von den griechischen Gelehrten und Philosophen immer mehr verboten. Einzelne Gelehrte in den Klöstern lasen sie trotzdem. Und vieles der alten Lehren floss heimlich in die neuen Schriften ein. Um diese Zeit war es so auch Notker, einem Schreiber im Kloster St. Gallen, bekannt, dass die Erde (noch) eine Kugel war.
Diese Geschichte spielt also in einem Zeitfenster des Übergangs, als altes Wissen noch überall präsent war, die neuen Regeln und Doktrinen noch nicht vollends griffen, doch die Bemühungen, eine neue Weltordnung zu schaffen schon überall spürbar waren.
Rixa holte sie mit ihrer Dienerin ab. Aurelia hatte ihr schönstes Kleid angezogen. Im Bund waren duftende Kräuter eingenäht. Stickereien zierten die Ränder des sonst weissen Stoffs. Mit einer wunderschönen goldenen Fibel war ein breiter Schal über Hüfte und Brust gespannt. Um ihre Hüfte hatte sie eine schmale Kette mit einer ganzen Reihe von persönlichen Gegenständen geschnürt. Hier gab es einzelne Talismane, besondere Steine, darunter eine Versteinerung, ein Kristall in einer Fassung, eine Stück Meisterwurz Wurzel, deren Duft sie an ihre Mutter erinnerte, ein Säckchen mit Pfefferminze und noch viel Platz für weitere Schätze.
In ihr hellblondes, langes Haar hatte sie sich mehrere zarte Blumengirlanden kunstvoll einflechten lassen. Und was sie in ihrem kleinen Handspiegel sah, erfreute sie heute mehr als es sie ängstigte. Sie fühlte sich schön und durfte es heute auch sein. Beim Tanz in den Mai. Der Walpurga-Nacht.
Rixa drehte sie im Kreis und klatschte in die Hände. «Wundervoll siehst du aus! Du wirst heute alle Männer verzaubern!» Aurelia wurde rot. Das lag nicht in ihrer Absicht. Mit ihren zarten 14 Jahren hatten sich gerade erst ihre fraulichen Rundungen entwickelt. Und diese Entwicklung war noch nicht voll in ihrem Bewusstsein angelangt. Vorsichtig erinnerte sie sich an die Tage bei den Weisen Frauen als sie das erste Mal ihre roten Tage bekommen hatte. An die Erklärung ihrer Weiblichkeit. An ihre Schätze, die sie in sich trug. Und die sie verschenken durfte – an einen Mann. Sollte sie wirklich? Ihre Gedanken wanderten zu Salomo…. Dieses schöne Gesicht! Wie gerne hätte sie ihn gestreichelt und liebkost. Aber mehr?
Schnell schob sie den Gedanken wieder weg. «Komm Rixa», forderte sie ihre Freundin auf. «Lass uns gehen». Sie band sich noch schnell ihren breiten Ausgeh-Gürtel mit Schüssel, Löffel und Beutel um und legte noch eine Stola um ihre Schultern. So ausstaffiert liefen sie los. Auf den vertrauten Pfad zum Waldrand. Unaufdringlich folgten ihnen Mathilda und Hedwic in einem geringen Abstand, ihre beiden Dienerinnen.
Sie kamen auf die Lichtung, auf der fast die ganze weibliche Bevölkerung des Städtchens Constantia versammelt war. Etwas abseits auf Strohballen sassen die Musikerinnen. Überall rund um den Platz und auch dazwischen steckten Fackeln. Am Rand waren Bänke aufgestellt. Für die Älteren unter ihnen, die nicht mehr so viel tanzen würden. Oder nach dem Genuss des Pilseners nicht mehr könnten.
Spannung lag in der Luft. Eucenia trat in den Kreis. Eine ungefähr 50-jährige Frau mit grauen Haaren und einem ausdruckstarken aber ernsten Gesicht. Tiefe Falten durchzogen dieses einstmals schöne Antlitz, was bei näherem Hinsehen durchaus noch zu erahnen war. Sie war in eine gelbe Tunika gehüllt, hatte eine stolze Haltung und verkörperte Stärke und Macht.
Die Priesterin erhob die Hände! Sofort herrschte Stille. «Meine lieben Frauen! Wir versammeln uns heute, um der heiligen Maria zu danken. Um den Frühling und die Sonne zu preisen. Lasst uns die Beendigung des Winters feiern. Das Ende der Wetterunruhen des Aprils. Das neue Grün der geschlüpften Samen. Und unsere eigene Fruchtbarkeit.» Sie machte eine Pause. «Ausserdem möchte ich unsere gemeinsame Kraft heute nutzen, um die Geschicke Constantias zu lenken. Dazu werden wir gemeinsam singen!» Sie wandte sich zu einem grossen Fass, das abseits stand. «Aber zunächst einmal unsere Stärkung für den heutigen Abend!» Fast zärtlich legte sie eine Hand auf das Fass. «Ich segne dieses Fass Pils! Auf dass es unsere heutige Reise unterstütze! Lasst uns der Brauerinnen und Brauer gedenken. Der Fassbinder. Der Bäume, die ihr Holz spendeten. Der Körner. Der Bauern, die das Korn anbauten. Des Quellwassers. Der Luft im Gewölbe und… vor allem des Bilsenkrauts, das uns seine Macht schenken wird.» Sie griff nach einer bereitliegenden Axt und hub ein grosses Loch in den Fassdeckel. Verhaltener Jubel brandete durch die Menge. Die Priesterin drehte sich zu ihnen um und sah allen Umstehenden in die Augen. Dann gewahrte sie Aurelia. Kurz verengten sich ihre Augen zu Schlitzen und sie fixierte sie. Kurz schüttelte sie den Kopf. Aurelia verstand sofort. Sie durfte kein Pils trinken. Sie senkte betreten die Augen. Die Priesterin nickte kurz, dann wandte sie sich wieder allen zu. «Nehmt eure Schüssel und stellt euch an. Ich schöpfe euch nun den Trunk. Wir starten zusammen. Wir trinken zusammen. Wir gedenken zusammen!» Langsam schlugen die Musikantinnen die Trommeln an. Die Frauen bewegten sich schrittweise im Takt. Sobald sie ihren Trunk in Händen hielten, stellten sie sich an den Rand. Und warteten bis alle anderen ebenfalls so weit waren. Die Priesterin winkte zum Schluss Aurelia herbei. «Es ist hier nicht der richtige Moment», raunte sie ihr zu. «Du bekommst Quellwasser.» Aurelia nickte. Sie hatte es schon wieder vergessen. Wie konnte sie nur! «Bringe bitte diese Karaffe zu den Musikerinnen. Für sie und für dich. Und bleibe heute Abend bei ihnen.» Aurelia gehorchte und ihre Freundin Rixa, die neben ihr gestanden hatte, sah ihr verwundert nach.
Die Priesterin schloss die Augen. Ruhe kehrte ein. Die Trommeln erstarben. Wieder hob sie die Hände. «Meine lieben Gefährtinnen. Konzentrieren wir uns auf den Trunk. Lasst ihn vorsichtig eure Kehle hinunterrinnen. Spürt jedem Tropfen nach. Spürt, wie sich euer Bewusstsein ändert. Weitet. Frei wird.» Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. «Trinkt!» Sie setzten alle ihre Schüssel an ihre Lippen und tranken in vorsichtigen kleinen Schlucken. Ein Käuzchen rief. Die Bäume rauschten um sie herum. Die Flammen der Fackeln zitterten im Wind. Das alles nahm Aurelia wahr. Sie brauchte kein Pils. Sie wusste, dass alleine die Trommeln sie in Schwingungen versetzen konnten, um sie wegzuziehen. Sie musste auf sich aufpassen. Immer wieder vergass sie es.
Dann setzten die Trommeln der Musikerinnen wieder ein. Erst ein langsamer, ruhiger Rhythmus. Die Priesterin schaute sich um. Ja, alle hatten ihr Pils getrunken. Sie hob wieder die Hände. «Wir singen nun unser Kraftlied. Lasst uns darum beten mit der Kraft unserer Gedanken, einen neuen starken Bischof zu erhalten. Der öfter anwesend ist und sich für unsere Geschicke interessiert. Der unser Land, unsere Kultur und unser Leben hier in Constantia beschützt. Der sich darum kümmert, dass es uns gut geht. Der Allianzen eingeht mit anderen dütschen Grafen und Bischöfen. Der stark ist zu unserem Wohl. Dass wir nicht darben und nicht hungern.» Damit drehte sie sich zu Aurelia um und nickte ihr zu. Aurelia sammelte sich und hub an. Sie sang wie ein Engel. Ihre klare helle Stimme stimmte eine Melodie an, die jede kannte. Bald sangen alle zusammen die vertraute Melodie. Es klang wie eine vielstimmige Vereinigung vom Rauschen des Windes und der morgendlichen Vogelstimmen. Aber es wurde zu mehr. Im Gesang schwang die Macht des Äthers mit.
Die Priesterin formulierte jenen starken Satz, den sie so gut kannten. «Wir!», alle sangen zusammen «Wir». «Wir bitten dich». «Wir bitten dich». «Wir bitten dich um Schutz». «Wir bitten dich um Schutz». Es ging so weiter. Bis alle in stetigen Refrains zusammen, aber eine Gruppe zeitlich versetzt, denselben langen Text sangen: «Wir bitten dich um Schutz für Leib und Leben. Um genug zu Essen. Um einen warmen Platz zum Rasten und Erholen. Um Frieden und Liebe. Mit all deinen Mitteln.» Ihre Worte hallten wider. Im Gesang der anderen. Im Rhythmus. Die Musikerinnen trommelten ihren Takt dazu. Die Flötistinnen fielen ein. Die Musik wurde immer lauter und intensiver. Und bald verschwammen die Worte mit den Schwingungen der Musik und dem Gesang von Aurelia.
Eucenia nahm schliesslich ihre nächste Nachbarin an die Hand. Beide gingen zu den vorbereiteten Holzhaufen und zündeten sie mit einer Fackel an. Das trockene Holz zündete sofort. Nun nahm jede der beiden wiederum eine Frau an die Hand. Bis schliesslich alle um die Feuer versammelt waren. Der Gesang war verstummt. Aber die Trommeln tönten leise weiter.
Nun warf die Priesterin abwechselnd auf die Glut am Rande der beiden Feuerstellen gesammelte Harze, getrockneten Beifuss, Johanniskraut und Schafgarbe. Der Duft umhüllte die Anwesenden. Sie badeten im flackernden Licht, im Geruch, in der Musik, im leichten Wind und in der Gemeinschaft. «Meine lieben Gefährtinnen. Wir sind nun an der Kreuzung angekommen. Der Trunk fängt an zu wirken. Nun werden wir tanzen. Aber zunächst, lasst uns unsere Liebe spüren. Auch um diejenigen aufzufangen, die gerade bemerken, dass es ihnen nicht so gut geht. Nehmt eure Nachbarin oder eure engste Freundin, Tochter, Mutter, Schwester in die Arme und drückt sie ganz fest.» Alle fingen an durcheinander zu laufen. Umarmten dazwischen immer wieder auch andere. Rixa eilte zu Aurelia, um auch sie zu umarmen. Aber da kam sie zu spät. Die Priesterin höchst selbst hatte diese bereits in ihre starken Arme geschlossen. Enttäuscht wollte sie sich abwenden als Aurelia sie erspähte. Sie öffnete die Umarmung und winkte Rixa zu sich. Und zu dritt schlossen sie den Kreis wieder von Nähe und Geborgenheit. Schliesslich wandte sich Eucenia erneut zu den Feuern. Nahm Rixa und Aurelia mit an die Hand. Und forderte sie auf, weitere Frauen an die Hand zu nehmen. In einer grossen Acht gingen sie zunächst bedächtig um die beiden Feuerstellen. Immer schneller. Sie liessen ihre Hände los und fingen an zu tanzen. Sich zu drehen. Angetrieben durch ihre erneuten Gesänge und den immer schneller werdenden Rhythmus der Trommeln und Flöten. Sie wurden freier in ihren Bewegungen, freier in ihrem Gesang. Bald schon tanzten sie wild umher und verliessen den vorgeschrieben Pfad. Sie wirbelten herum. Viele warfen ihren Kopf hin und her, auf und ab. Manche hatten sich schon auf den Bänken niedergelassen. Erschöpft aber glücklich. Sie waren eins in dieser Gemeinschaft. Sie spürten ihre gemeinsame Kraft. Sie fühlten sich erhaben und frei. Kurz, bevor der Caph Stern den senkrechten Stand über dem Polarstern erreichte, gab ein Trommelwirbel das Zeichen. Jede von ihnen wandte sich zu dem vorbereiteten Kräuterhaufen neben den Strohballen. Und nahm sich einen Zweig des dort vorbereiteten Bärlapps. Vorsichtig hielten sie die Hände darunter, um keinen der kostbaren Samen zu verlieren. Und wie auf ein Zeichen liefen sie zum Feuer, warfen das Kraut mitsamt der Samen hinein und schrien zum aufsteigenden Feuerwerk ein letztes Mal «Wir bitten». Dies war das Ende ihres alljährlichen Rituals und der Anfang für das Weiter des hiesigen Brauchs: Es kamen die Männer hinzu. Brachten Bier und Speisen mit. Nicht alle. Nur die, die auch tanzen und singen oder neugierig den Zustand der Frauen beäugen wollten. Zu gerne hätten einige von ihnen gewusst, was die Frauen bis hierhin getrieben hatten. Einige hatten wilde Fantasien. Andere wiederum hatten Respekt vor dem geheimen Wissen dieser Frauen. Und wieder andere nutzten einfach die Chance, eine Frau kennenzulernen. Vielleicht ergab sich eine Verbindung? Dies war nicht unüblich. Hier konnte man sich näherkommen.
Aurelia fühlte sich gut. Keine Vision holte sie ein. Sie fühlte sich ebenso verbunden mit allen, wie die anderen. Ja, sie waren eins. Sie hatten die Kraft. Sie fühlte die Änderungen ihres Gebetes bereits wirken. Sie schaute zu den in den Kreis hineinströmenden Männern. Nun sangen sie alle zusammen andere Lieder. Teilweise zotige Lieder. Lustige Lieder. Und brachen ein Fass nach dem anderen auf. Diese waren mitgebracht und die Dosis des Bilsenkrauts war hier nur leicht spürbar. Das erste Fass hatte bedeutend mehr davon gehabt. Nach einem uralten Rezept. Endlich labten sich die erschöpften Frauen an den mitgebrachten Sauerbrotfladen, dem kalten Schweinefleisch und den Schüsseln von Nüssen und Salaten. Eucenia zog sich nun zurück. Als sie Salomo sah schaute sie zu Aurelia hinüber und zwinkerte ihr zu. Nur zu deutlich spürte sie die Verbindung zwischen ihrer Schülerin und dem Priester. Dies war eine starke schicksalshafte Verbindung, ohne dass sie ausgesprochen war.
Aurelia erblickte Salomo ebenfalls und errötete. Er steuerte direkt auf sie zu. «Meine liebe Aurelia.
Schön dich hier zu sehen. Wie geht es dir? Schon fertig mit Tanzen?» Er blickte auf ihre leere Schüssel und nahm sie kurzentschlossen an die Hand. Zog sie zum Bierfass. «Lass uns etwas trinken.» Aurelia war unsicher. Doch wusste sie um die Dosis. Es würde schon gut gehen. Sie stiessen ihre Schüsseln an bis das Bier überschwappte und lachten sich an. Ihr Herz klopfte laut. Würde es ihm anders gehen? Zumindest wich er keinen Schritt von ihrer Seite. Leicht aneinander gelehnt wiegten sie sich im Takt. Aurelia spürte schliesslich, wie Rixa sie beobachtete. Fühlte sie sich vernachlässigt? Sie wandte sich zu Salomo um. «Ich müsste einmal nach meiner Freundin schauen.» Salomo sah sie liebevoll an. «Aber komm schnell zurück!» Er drückte ihr kurz die Hand und wieder durchlief sie ein heisses Ziehen. Wie auf Wolken schwebte sie zu Rixa. «Warum gibst du dich mit ihm ab?», wollte diese ungehalten wissen. «Er ist nicht gut für dich.» «Warum nicht?» «Wenn er Bischof wird, darf er keiner Frau mehr beiwohnen. Und heiraten kann er dich erst recht nicht.» «Ich möchte sowieso nicht heiraten», entgegnete Aurelia. «Und wer soll dann für dich sorgen?» «Mein Bruder Hatto»
Es kam so überzeugend von ihr, aber sicher war sie nicht. Ihr Vater war erst diesen Winter gestorben, hatte aber bereits vorher einen Handel mit dem Kloster des heiligen Gallus getroffen. Die zweite Ausfertigung der Urkunde lag säuberlich gefaltet Zuhause in der familieneigenen abgeschlossenen Dokumentenkiste. Die genauen Details würden im nächsten Monat mit dem Klostervorsteher besprochen werden. Wenn ihre Mutter, Hatto und sie dort zum vereinbarten Termin erscheinen würden.
Rixa zuckte mit den Schultern. «Ich zumindest weiss schon, dass ich bald heiraten werde.» Erstaunt schaute Aurelia ihre Freundin an. «Davon weiss ich ja gar nichts! Wer ist es denn?» «Er hat schon um meine Hand angehalten…» Rixa holte tief Luft und verkündete stolz: «Es ist Adalbert von Babenberg».
Aurelia war überrascht. Zum einen, dass es so schnell gegangen war. Immerhin war ihre Freundin ein knappes Jahr jünger als sie. Und zum anderen, wie weit sich der Einflussbereich von Rixas Vater doch ausdehnte. Sie kannte den Namen aus Erzählungen ihres Vaters. Er war ein ostfränkischer Graf. «Hast du ihn schon kennengelernt?», wollte Aurelia wissen. «Ich habe ihn kurz gesehen. Er ist zwar schon älter und sieht auch nicht so gut aus, aber er hat mich angelächelt und mir bei einem Handkuss versichert, dass er mich auf Händen tragen würde.» Rixa kicherte. Oje.
Unvermittelt tat Rixa ihr leid. Sie stellte sich die beiden vor und plötzlich fühlte sie, dass es hier Schwierigkeiten geben würde. Sie ergriff Rixas Hand. Das Gefühl nahm überhand. Sie bekam kaum mehr Luft, so eng zog sich ihr Brustkorb zusammen. Bilder von Gewalt und einer unglücklichen, abgemagerten Rixa überfielen sie. «Du darfst ihn nicht heiraten!», sprudelte es aus ihr heraus. Rixa sah sie ungläubig an.
«Wie meinst du das?» «Ich fühle Unglück! Starkes. Es tut mir so leid!» Rixa kannte die Vorhersagen ihrer Freundin. Nicht immer glaubte sie ihr. Und diesmal, bestärkt durch das Pilsener, kamen all ihre unguten Gefühle ihrer Freundin gegenüber hoch. «Nein, Aurelia. Diesmal nicht! Ich werde versorgt sein. Die Frau eines Grafen! Das lasse ich mir nicht von dir kaputt machen!» Aurelia sah sie konsterniert an. Warum reagierte Rixa so heftig? Warum verstand sie nicht? Hatte sie zu viel getrunken? Aurelia wollte nicht, das Rixa unglücklich würde. «Aber Rixa. Vielleicht gibt es ja noch einen besseren?» Rixa winkte unwillig ab. «Nein. Dieser oder keiner.» Sie schaute Aurelia finster an, wandte sich ab und liess Aurelia einfach stehen. Kaum stand Aurelia alleine, steuerte ein betrunkener junger Mann auf sie zu. Er umfing sie und säuselte ihr ins Ohr. «Du bist so schön! Ich möchte dich so gerne küssen!» Sie drückte vorsichtig sein Gesicht weg und wand sich aus seiner Umarmung. Er griff nach ihrem Handgelenk. «Was ist los?», fragte er sie entgeistert. «Du weisst schon, dass heute alles erlaubt ist?» «Aber nicht für unverheiratete Adelige,» versetzte sie. «Lass mich in Ruhe». Enttäuscht schaute er sie an. Er wusste, dass er dieses Tabu nicht brechen durfte, ohne sein Gesicht zu verlieren, und wandte sich ab. Hätte er nur auf ihre Fibel geachtet! Im Weggehen murmelte er noch «Nichts für ungut». Salomo stellte sich an ihre Seite. «Gut! Sonst wäre ich dazwischen gegangen.»
Dankbar lehnte sie sich an ihn. Es tat so gut, ihn zu spüren. «Darf ich dich nach Hause bringen?» «Das würde mich sehr freuen.» Sie schaute sich nach Rixa und Hedwic um. Rixa befand sich im angeregten Gespräch mit Hatto. Aurelia war so glücklich gewesen, als dieser endlich aus Reichenau zurückgekommen war, nachdem er eine Unterredung mit dem dortigen Abt gesucht hatte.
Aurelia wandte ihren Blick zu Hedwic. Diese unterhielt sich mit dem jungen Mann, der sie vorhin versucht hatte, zu umgarnen. 'Der hat sich aber schnell getröstet', dachte sie bei sich. Und Hedwic schien empfänglich für seine Komplimente. «Bitte warte kurz hier», bat Aurelia Salomo. Sie steuerte zunächst auf Hedwic zu, da sie hoffte, dass Hedwic mitkommen würde. Doch Hedwic winkte ab, als sie sie aufforderte. «Lass mich bitte an diesem wichtigen Tag noch etwas bleiben!» «Hedwic! Sei vorsichtig! Ich möchte nicht, dass du dich da in etwas hineinbegibst.» Aber Hedwic wollte nicht hören. Zu sehr hatte sie das Gefühl zu leben. Ihr Körper kribbelte.
Sie war glücklich. «Aurelia, ich nehme heute meinen freien Tag. Bitte.» Aurelia spürte, was folgen würde. Aber durfte sie Hedwic von ihrem kurzen Glück abhalten? Sollte sie sie womöglich besser jetzt stoppen, damit sie vielleicht später ihr Glück finden würde? Hedwic war schon fast 30 Jahre alt. Aurelia kannte sie, seit sie selbst auf der Welt war. Und sie wusste, dass Hedwic noch nie einem Mann beigewohnt hatte. Es war vielleicht ihre letzte Chance. Sie schaute Hedwic in ihr so vertrautes Gesicht. Und betrachtete sie erneut. Ja, die grauen Haare waren kaum zu übersehen. «Gut. Hedwic. Bis morgen.» Sie wandte sich ab und steuerte auf Hatto und Rixa zu. Hedwic lächelte glückselig und strahlte ihren Begleiter erneut an.
Rixa freute sich Aurelia zu sehen. «Auri, wie schön. Ich habe dich schon vermisst.» Sie hatte wirklich zu viel getrunken, so wankelmütig wie sie war. Hatto umarmte seine kleine Schwester. «Grüss dich Aurelia. Ich hoffe, du hast dich gut amüsiert!» Aurelia grinste. «Grüss dich mein Grosser. Ja, habe ich. Und deshalb bin ich auch schon müde. Salomo…», sie deutete auf ihn, «wäre bereit, mich nach Hause zu begleiten. Allerdings möchte Hedwic nicht mit zurück. Daher bitte ich euch, uns anzuschliessen.» Sie wusste, es geziemte sich nicht, wenn Salomo sie alleine begleitete. «Natürlich kommen wir mit», antwortete Hatto und nickte Rixa auffordernd zu. Rixa gab sich geschlagen. «Gut, ich suche Mathilda.»
«Nicht nötig.» Mathilda erschien just in diesem Moment im Schein der Fackel. «Dann sind wir ja komplett!», beschied Salomo, der sich ebenfalls dazu gesellt hatte.
Aurelia hakte sich bei ihm unter und freute sich, ihm zumindest soweit nahe sein zu dürfen. Schliesslich war er ein alter Freund der Familie und gehörte quasi dazu.
Abt Bernhard empfing sie freundlich. Er breitete beide Arme aus und ergriff nacheinander ihre Hände. Doch die schmalen, verkniffenen Lippen schienen im Widerspruch zu seiner Freundlichkeit zu stehen. Er strahlte stattdessen eine gewisse Hochmütigkeit aus. Die Tonsur unterstrich noch seine Distanziertheit. Und der Bauchansatz unterstützte den Eindruck, dass Bernhard das gute Essen liebte.
Er lud sie in seine Schreibstube ein, wo sie sich ihm gegenüber setzten. Er stand am Schreibpult und faltete eine Urkunde auf. Dabei musterte er die beiden. Aurelia wirkte selbstbewusst und stolz. Bernhard mochte ihre Ausstrahlung nicht. Wado hatte sie wirklich schlecht erzogen. Hatto war dagegen eher ruhig und ausgeglichen. Ein schöner, junger Mann.
«Meine Lieben. Zunächst einmal bedaure ich sehr, dass eure Mutter nicht anwesend sein kann.» Aurelia nickte. «Ja, sie liegt leider seit dem Tod unseres Vaters darnieder.» «Umso wichtiger ist es, dass Ihr erfahrt, was euer Vater und natürlich Ehemann eurer Mutter für euch vorgesehen hat.» Er machte eine bedeutungsvolle Pause. Er deutete schliesslich auf das Pergament in seinen Händen. «Diese Urkunde wurde auf Wunsch eures Vaters ausgestellt. Mit den Zeugen Sintram, Notker und meiner Wenigkeit. Wir schworen auf die Gebeine des heiligen Otmars.» Er schaute beide eindringlich an. «Er vermachte uns euer Gut mit allen dazugehörigen Höfen und Hörigen. Im Gegenzug dazu erhaltet ihr jeweils einen Wohnraum im Kloster bzw. am Rand des Klosters auf Lebenszeit und jährliche Zinsen in Form von einem Anteil an der Ernte und einem Jungschwein sowie Wein und Bier. Alternativ könnt ihr hier bei uns an der täglichen Vesper teilnehmen.
Euch steht natürlich die Begleitung eurer Diener zu. Ausserdem erhält jeder von euch und auch eure Diener spätestens alle drei Jahre eine Garnitur neuer Kleidung. Die weitere schulische Bildung von euch muss von unserem Kloster gewährleistet sein. In Absprache dürft ihr auch im Gutshof leben, abhängig von der zukünftigen Verwendung des Hauses. Solange eure Mutter lebt, könnt ihr natürlich auf dem Gut bleiben. Eure Mutter hat lebenslanges Nutzungsrecht, ist das Gut ja eigentlich ihre Mitgift von eurem Vater gewesen.» Aurelia und Hatto schauten sich überrascht an. Das wussten sie ja gar nicht. Der Abt fuhr fort: «Ausserdem sollst du, Hatto, die Rüstung, die Speere, das Schwert und die Hufeisen als deins ansehen dürfen.» Er schaute die Kinder Wados an.
Wie würden sie es aufnehmen? Aurelia übernahm das Wort: «Das heisst, wir können leben und lernen, ohne etwas dafür tun zu müssen?» «Richtig! Dafür verzichtet ihr auf den Hof, der natürlich viel mehr erwirtschaftet als ihr kostet.» Dabei lächelte er leicht süffisant. Er dachte an das grosse Land mit den Bauernhöfen, der Färberei, Bäckerei und der Bierbrauerei und rieb sich gedanklich die Hände. «Aber als Ausgleich beten wir für die Seele eures Vaters. Wir sind auch verpflichtet euer Seelenheil mit einzubeziehen, das eurer Mutter, sowie das eurer womöglich noch ungläubigen Familienmitglieder und Vorfahren.»
«Können wir noch etwas daran ändern?», wollte Aurelia wissen. «Nein. Es ist alles urkundlich festgehalten und besiegelt. Wado hat bereits eine Abschrift erhalten.» Aurelia schluckte. Es fühlte sich etwas unangenehm an, so über sich verfügt zu wissen. Und ihr Elternhaus einfach so zu verlieren. Gleichzeitig fühlte sie sich aber doch getröstet. Dankbar gedachte sie ihres Vaters, der so gut für sie gesorgt hatte. Aurelia konnte sich um ihre Mutter kümmern, ohne Existenzängste haben zu müssen. Hatto würde weiter lernen können. Er hatte ihrem Vater deutlich signalisiert keinerlei Ambitionen zu haben, das Gut einmal zu übernehmen.
Bernhard hatte allerdings tunlichst verschwiegen, dass das Gut bei der bereits angebahnten Heirat dem Kloster wieder entzogen würde. Und dass selbst bei einer Nicht-Eheschliessung nach Aurelias 21. Lebensjahr die Würfel wieder neu gemischt werden könnten. Gegen eine angemessene Entschädigung des Klosters könne sie und Hatto das Gut dann zurück in ihren Besitz nehmen.
Was für ein Frevel. Dieser Freigeist von Wado… Einer Tochter ein solches Gut zu vermachen! Wo sollte das noch hinführen? Er blickte auf Hatto und musste zugeben, dass dieser so wirkte, als wäre er mehr an Büchern als an einem Gut interessiert. Wollte er nicht sogar Priester werden? Hatto war von grosser, aber schmaler Statur. Sein hübsches Gesicht mit den vollen Lippen und dem männlichen Kinn liess ihn sogar ein klein bisschen verwegen aussehen. Eine Mischung aus Intellekt und Kämpfer. Er war noch so jung. Seine Gedanken schweiften ab. Vielleicht könnte er ihn unter seine Fittiche nehmen?
Er riss sich zusammen. Naja, das alles würde auf gar keinen Fall passieren. Wenn Aurelia einmal hier wäre, würde er schon dafür sorgen, dass sie keinen Zugang zu dem notwendigen Wissen erhalten würde, um ein solches Gut zu verwalten und … unter andere geeignete Fittiche käme als die geplanten. Diese geplante Heirat! Er schüttelte unwillig den Kopf. Wusste sie davon? Anscheinend nicht. Die Urkundenerstellung war noch nicht so lange her. Wados Tod war gerade rechtzeitig gekommen.
Leichte Zweifel kamen ihm ob ihrer Selbstsicherheit. Es war doch so viel einfacher, bei den kleinen Kindern, die oft im Alter von 6 oder 7 Jahren zu ihnen kamen, ein ordentliches Mitglied der Gemeinde heranzuziehen, als bei diesen späten Hinzuzüglern. Und vor allem die kleinen Jungs. Immer besser als Mädchen. Besser zu führen. Besser zu erziehen. Er lächelte versonnen. Gut, dass Aurelia kein Mönch werden, sondern lediglich im Trakt der Frauen eine Rolle spielen konnte. Sollte sie doch da gezügelt werden.
So konnte sie langsam in Vergessenheit geraten. Vielleicht würde auch einer der Priester sie zur 'Frau' nehmen wollen. In diesem Fall war das Thema Mitgift nur noch eine Sache innerhalb der Klösterlichen Mauern. Und Aurelia würde nichts mehr gehören. Die Kinder durften einfach nichts von den Zusätzen in der Urkunde erfahren… Das würde er schon zu verhindern wissen.
Sie verabschiedeten sich schon bald wieder von Bernhard, nachdem dieser Aurelia abschliessend auch ihre Ausfertigung des Pergamentes offiziell überreichte. Ihm war natürlich klar, dass sie nichts damit anfangen können würde. Ihr Bruder müsste es ihr übersetzen und vorlesen. Also die nächste Zeit wäre der Inhalt wohl erst einmal vor ihr sicher. Und ob Hatto von sich aus Interesse daran hätte? Er bezweifelte es.
Er wies die beiden noch an, wann es Essen gäbe und liess ihnen von einem Novizen ihr Zimmer für diese Nacht zeigen. Aurelia lief mit grossen Augen durch die Gebäude, die so ganz anders waren als das heimatliche Gut. Und stellte sich vor, wie es wäre hier einmal zu leben. Ein grüner Innenhof lud zum Verweilen ein. Holunderbüsche säumten den Kreuzgang. Säulen hielten ein starkes Dach aus Schindeln. Die Atmosphäre war friedvoll und ruhig. Fast schon andächtig. Nicht so quirlig wie in ihrem Zuhause mit all den Dienern und Arbeitern, die ständig ein und ausgingen, Bericht erstatteten, um Gehör baten, oder schlicht Beratung einholten. Aurelia war zwiespältig. Das hier hatte wirklich seinen Reiz. Aber es ängstigte sie auch ein wenig.
Abends beim Essen sah sie Salomo, der sie beide ins Kloster mit begleitet hatte. Er sass bereits mit Sintram zusammen, einem gross gewachsenen, dunkelhaarigen Mann in Salomos Alter. Dieser hatte ein feingeschnittenes römisches Antlitz und faszinierte Aurelia auf eine ganz eigene Art. Salomo stellte sie vor und berichtete flüsternd, dass Sintram ein alter Freund aus Kindertagen sei. Sie hatten gemeinsam einige Jahre hier im Kloster verbracht. Heute war Sintram Schreiber bei Notker, dem Gelehrten und Vorsteher der Bibliothek. Später am Abend gesellte sich noch Tuotilo dazu. Ein etwas pummeliger Mittdreissiger, mit rundem sympathischen Gesicht. Salomo prahlte mit Tuotilos Fähigkeiten. «Du musst dir einmal die Säulen im Innenhof genau anschauen! So wunderbare filigrane Muster, schöne Gesichter, geschwungene Blätter!» Tuotilos schaute verschämt beiseite. Er war wohl nicht gewöhnt, so über Gebühr gelobt zu werden. «Ich verspreche es, dass ich morgen früh noch danach schauen werde, bevor wir wieder abreisen!» Sie plauderten nach dem Essen noch angenehm und ausgelassen bis zum Abendgebet und sie genoss den feinsinnigen Humor von Sintram und den spitzbübischen Schalk von Tuotilo. Salomo erzählte ihr von Notker, den er heute treffen durfte.
«Stell dir vor, was er zu mir bei der Begrüssung gesagt hat: 'wie ich hörte, habt ihr euren Lehrer verloren'. Woher er wohl gewusst hatte, dass ich von deinem Vater unterrichtet wurde?» Aurelia zuckte die Schultern. «Und wie seid ihr verblieben?» «Wir kamen ins Gespräch. Notker hat mir angeboten, meine Unterrichtung weiter zu übernehmen. Bis ich die Priesterwürde empfangen würde.» Er hatte eingewilligt. Ja, Salomo war regelrecht glücklich darüber.
Denn Notker machte auf ihn einen weisen, humorvollen und tiefsinnigen Eindruck. Er mochte ihn.
Also würde er in Zukunft wieder hier sein. Noch fühlte es sich etwas bedrohlich an. Aber Aurelia würde in Zukunft auch hier sein, wie er wusste. Er kannte die Vereinbarung. Hier wäre sie ihm nahe.
Und hier wäre sie in Sicherheit vor irgendeiner männlichen Konkurrenz. Er lächelte leise in sich hinein und beobachte sie verstohlen, wie sie mit den Händen gestikulierte, während sie versuchte mit den Anwesenden eine Diskussion anzuzetteln. Es gab wohl niemandem am Tisch, der sie nicht bezaubernd fand. Am nächsten Tag brachen sie zeitig wieder auf.
Sie würden fast zwei Tage unterwegs sein. Salomo, Hatto und sie verabschiedeten sich von ihrem womöglich neuen Zuhause und von dem Abt, der wie immer kurz angebunden winkte und sie entliess. Auf dem Weg nach draussen warteten bereits Notker, Sintram und Tuotilo. Vertraut klopften sie Salomo und Hatto zum Abschied auf die Schultern. Aurelia drückten sie herzlich die Hände. Dann liefen die drei los. Unterwegs schwärmte Aurelia Salomo und Hatto immer wieder von den Säulen und Staturen vor. Es gab so viele Anregungen dort und… Bücher! Ja. Sie konnte sich langsam vorstellen, dort eine Zeitlang zu leben. Und zu lernen!
Abends rasteten sie in einem Gasthaus in Romanishorn, auf halber Wegstrecke. Aurelia fühlte sich gut zusammen mit den Beiden. Geborgen und beschützt.
Sie wusste, dass Salomo eine Ausbildung im Schwertkampf genossen hatte. Und so oft es ging, gab er sein Wissen an Hatto weiter. Also würde auch im Notfall jemand da sein, der sie verteidigen konnte.
Und so war es für sie auch gut zu wissen, dass die beiden direkt neben ihrem kleinen Kämmerchen schliefen. Sie hörte ihren Atemgeräuschen zu, bis sie selbst in ihrem kleinen Bett im Halbsitz langsam hinwegdämmerte.
Sie wurde unsanft von einem schabenden Geräusch geweckt. Jemand zwängte sich an den Fensterläden vorbei in ihr Zimmer. Sie hatte die Läden nicht fest zugemacht. Ein Fehler. Erschrocken hielt sie die Luft an. Der jemand machte sich an ihrem Beutel zu schaffen. Sie dachte an ihre sorgsam gehüteten Denare, die in ihrem Kleidersaum eingenäht waren. Gut, diese hatte der Dieb wohl noch nicht entdeckt. Im Beutel war nur die Reiseapotheke und ihre Urkundenabschrift. Warum hatte sie nicht vorher schon eine Ahnung gehabt. Es war doch sonst immer Verlass auf ihre Ahnungen? War dieses Erlebnis nicht schlimm genug? Oder waren ihre Sinne durch die Präsenz von Salomo vernebelt? Es half nichts. Sie musste etwas tun. Langsam setzte sie ein Bein auf den Boden. Dann ein zweites. Der Dieb war beschäftigt. Vorsichtig und leise nahm sie die Holzschüssel vom Tisch, schlich sich hinter den Dieb und holte aus. In dem Moment drehte sich der Dieb um, schaute sie mit grossen erschrockenen Augen an und riss seine Arme schützend über den Kopf. Ein kleines Mädchen! Sie hielt in ihrer Bewegung inne. Diese Sekunde nutzte das Mädchen. Sie ergriff das Pergament, drehte sich zum Fenster und war kurz davor, einen Sprung zu wagen. Rechtzeitig ergriff Aurelia ihren Arm und setzte sie mit Nachdruck auf den kleinen Hocker. «Was tust du hier?» Sie schüttelte das Mädchen leicht und wand ihr dabei ihr Pergament aus den Händen. Nichts kam über ihre Lippen.
Aurelia betrachtete sie näher. Sie zündete eine Kerze an und schob sie zum Mädchen hin. Sie sah mager aus. Und verängstigt. Höchstens neun Jahre alt. «Ich tue dir nichts!». Aurelia schaute ihr ernst ins Gesicht.
«Aber du musst mir erzählen, wer du bist und warum du meine Urkunde stiehlst. Also sprich!». Das Mädchen schwieg weiter. «Möchtest du einen Apfel?»
Aurelia hielt ihr einen Apfel aus ihrer Reisetasche hin. Das Mädchen riss ihr gierig den Apfel aus der Hand und biss hinein. Der Apfel war schneller verschwunden als Aurelia gucken konnte. «Und? Verrätst du mir jetzt, wer du bist?» Das Mädchen schien sich langsam aus der Starre zu lösen. «Hiltiburga».
«Gut Hiltiburga. Das ist ein Anfang. Bist du von hier?» «Nein. Wir sind auf Reisen.» in diesem Moment öffnete Hatto die Tür. Er hatte etwas gehört und wollte seiner Schwester zur Hilfe eilen. Auch Salomo steckte seinen Kopf herein. In dem Moment griff das Mädchen wieder nach der Urkunde, schubste Aurelia heftig gegen die Kommode und zwängte sich an den Männern vorbei in den Gang hinaus. Hatto zögerte nicht lange und rannte Hiltiburga hinterher, während Salomo besorgt Aurelia auf die Beine half. Eine kleine Beule entstand auf ihrer Stirn. Sie schwankte etwas benommen. Salomo nahm sie in den Arm und streichelte vorsichtig ihre Stirn. «Du Arme. Was war denn los? Was wollte sie?» Aurelia stammelte, «Wohl meine Urkunde. Aber sie hat nichts gesagt.»
Salomo drückte sie tröstend an sich, spürte mit einem Schlag Aurelias Körper in seinen Armen. Sie hatte ja nur ein dünnes Hemdchen an. Ihre kleinen festen Brüste reckten sich ihm entgegen. Er konnte sich dem Gefühl nicht erwehren. Und ohne zu denken, küsste er sie. Sie erwiderte seinen Kuss. Auch sie war überrumpelt von ihren Gefühlen. Ein Kuss. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt! Es wurden mehr Küsse. Leidenschaftlich. Etwas entlud sich. Er schob seine Hände unter ihr Hemdchen. Darunter war sie nackt. Er spürte ihre zarte Haut. Sie brannte unter seinen Händen. Er suchte ihre Brustwarzen. Kniff sie zärtlich. Umfasste ihren kleinen runden Hintern mit der anderen Hand und vergass sich vollständig.
Schnell hatte er seine Beinkleider abgestreift, hob Aurelia hoch und legte ihre Beine um seine Hüfte. So schnell war er in sie eingedrungen. Sie schrie auf.
Ein kurzer Schmerz liess sie wieder zu sich kommen. Was geschah hier mit ihr??? Er bewegte sie vorsichtig auf und ab. Es tat ihr weh. Aber gleichzeitig fühlte es sich auch schön an. Etwas besonders. Er war es wert, dass sie sich ihm hier und jetzt hingab.
So lange hatte sie auf ihn gewartet.
Ohne Voranmeldung und überraschend verströmte er sich in ihr. Es war auch sein erstes Mal mit einer Frau gewesen. Er setzte sie vorsichtig wieder ab und umarmte sie fest. Vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge. Der Kopf setzte wieder ein und tausend Gedanken überschlugen sich. Was war nur in ihn gefahren! Ein schlechtes Gewissen. Schuldgefühle durchfuhren ihn. Er hatte sie ausgenutzt. Nicht wertgeschätzt. Ihre Ehre beschmutzt. Was, wenn Hatto reingekommen wäre? Und er hatte seiner Fleischeslust nicht widerstanden! Nicht widerstehen können. Er war so schwach! Er schob sie von sich. «Entschuldige», stammelte er. «Das war nicht richtig von mir!
Es tut mir so leid!» Aufgewühlt verliess er die Kammer und hinterliess eine verwirrte, verunsicherte und zitternde Aurelia. Sicher, sie hatte das Zusammensein bildlich erklärt bekommen. Damals hatten die weisen Frauen den Mädchen Tonio vorgestellt, der sich für sie ausgezogen hatte. Ein Waldarbeiter der dies sichtlich genossen hatte. Und wer von den Mädchen sich traute, durfte auch sein Glied anfassen. Ihnen wurde erklärt, was passieren konnte, wenn Tonio erregt wurde. Was danach passieren konnte zwischen Mann und Frau. Und dass sie im Notfall einem Mann an dieser Stelle zwischen den Beinen auch extreme Schmerzen zufügen konnten. Sie lernten den Fluch über das Nestelknüpfen, falls ein Mann sie dauerhaft im Bett nicht gut behandeln würde. Und auch die Gegenzauber mit Beifuss unter dem Bett, die ein gutes Sexualleben garantieren würden.
Das allerdings alles nur in der Theorie. Ihnen wurde erklärt, welche Kräuter sie nehmen, welche kräutergetränkten Öle sie zum Einreiben ihres Geschlechtes nutzen mussten, um die Empfängnis zu verhindern.
Und ihnen wurde erklärt, welche Kräuter und Wurzeln sie nehmen konnten, wenn sie das Kind nicht wollten. Ihnen wurde auch erklärt, dass sie das alleinige Recht an ihrem Körper hatten. Dass niemand sie zwingen dürfte. Dass es aber auch Situationen gab, in denen sie dem Mann zu Willen sein mussten, wenn sie überleben wollten. Von Lust hatten sie nicht gesprochen. Von diesem Gefühl des Zusammensein Wollens auch nicht. Aber auch nicht von dem Gefühl der totalen Einsamkeit nach dem Beisammensein. Ihr stiegen die Tränen in die Augen. Nein, sie wollte jetzt keine Schwäche zeigen. Sie nahm das bereitliegende Tuch, tunkte es in die Wasserschüssel und wusch sich ausgiebig. Sie hatte keine passenden Kräuter dabei. Aber daran dachte sie auch gerade nicht. Eher daran, dass bald Hatto kommen würde – ob mit Hiltiburga oder ohne – dass sie morgen früh weiterreisen würden und dass sie Salomo wieder begegnen würde. Wie sollte sie sich verhalten? Sie sehnte sich nach ihm und seiner Liebe. Sie wollte die Bestätigung, aber niemals ein neues Stehengelassen werden. Sie würde auf sich aufpassen.
Hatto zerrte Hiltiburga hinter sich her. Er hatte sie bei fahrenden Händlern gefunden, bei denen sie sich in einen Wagen verkrochen hatte. Die Händler hatten beteuert, dass sie nicht zu ihnen gehöre. Sie haben sie beim Kloster aufgesammelt. Und so hatten sie sie herausgegeben. Hiltiburga schien sich ihrem Schicksal zu ergeben. «Du kommst erst einmal mit», hatte Hatto kurz entschlossen entschieden. So verstockt, schien es unmöglich zu sein, sofort Antworten von ihr zu bekommen.
Aurelia, die mit Salomo draussen auf Hatto gewartet hatte, musterte sie. Anscheinend gehörte sie wirklich zu niemandem. War sie eines der vielen Findelkinder im Kloster? «Wo ist das Pergament?» Hiltiburga schaute weg. «Wo ist das Pergament?» Aurelia schüttelte sie. Hiltiburga riss sich los und blieb ein paar Schritte entfernt stehen. Hatto machte kurzen Prozess, zog sie wieder vor Aurelia und hielt sie fest.
«Durchsuche sie», forderte er Aurelia auf. Hiltiburga strampelte, hatte jedoch keine Chance gegen Hatto.
Hasserfüllt trat sie um sich. Aurelia ignorierte Hilitburgas Anstrengungen und tastete sie ab. Nirgends war das Pergament zu finden. Sie musste es in dem Wagen versteckt haben. Und der war sicher schon weit weg. Sie fluchte. «Du kannst sie loslassen.»
Hiltiburga wand sich aus Hattos Umklammerung und drückte sich an den Rand des Weges. Aber sie lief nicht weg. Als sie weitergingen, lief sie in einigem Abstand hinterher. Bei der nächsten Rast bot Aurelia ihr ein Stück Brot und einen Apfel an. Gierig griff sie danach. Ein wenig wie ein wildes Tier.
Als sie Zuhause ankamen, rief Aurelia als erstes Hedwic, sich um Hiltiburga zu kümmern. Hiltiburga war verwirrt. Wieso kümmerte man sich um sie? Sie war es gewohnt, nur etwas für eine Gegenleistung zu bekommen. Hier schien es anders zu sein. Es sei denn, sie waren nur so lange nett zu ihr, bis sie verriet, wer sie beauftragt hatte. Nie würde sie das sagen!
«Mutter, du musst in die Kirche gehen.» Aurelia fasste nach ihrer Hand. Wieder einmal sass sie an ihrem Bett. «Ich weiss es. Gott kann geben und nehmen. Wir müssen ihn nur bitten!» Ihre Mutter schüttelte schwach den Kopf. «Nein, mein Kind. Du weisst, dass ich die Kirche ablehne. Sie sagt mir nichts. Nichts, was ich nicht schon wüsste. Ich sehne mich einfach nur nach Frieden. Und nach deinem Vater.» Aurelia blickte sie verzweifelt an, überging dann aber ihre Sorgen, indem sie sich erneut darauf konzentrierte, die Stirn ihrer Mutter mit einem feuchten Tuch abzutupfen. Verstohlen wischte sie eine Träne mit ihrem Handrücken weg. Hiltiburga beobachtete sie heimlich. Sie mochte Aurelia. Und spürte, dass diese unglaublich stark war, auch wenn sie trotz ständiger Versuche keine Chance hatte, ihre Mutter zu einem Kirchgang zu bewegen. Aurelia glaube fest daran, dass Maria sie heilen könne, wenn schon keine Kräuter der alten Göttinnen helfen wollten. Aber Hiltiburga erkannte bereits mit ihren wenigen Lenzen, dass Aurelias Mutter nichts mehr retten würde.
Abends sass Aurelia mit ihrem Bruder zusammen. Solange sie aufs Essen warteten diskutierten sie über ihre Zukunft. «Ich werde so bald wie möglich ins Kloster des heiligen Gallus gehen», eröffnete ihr Hatto. Aurelia schien überrascht. «Wirklich? Wolltest du nicht eigentlich in Reichenau studieren?» «Ja, ursprünglich schon. Aber der Abt dort ist alt und lässt sich nichts sagen. Die Mönche sind allesamt unzufrieden und unglücklich mit ihm. Aber man kann ja nichts daran ändern.» Er brach ein Stück des bereitliegenden Brotes ab und steckte es sich in den Mund. Kauend fuhr er fort. «Ich werde meine Studien im Kloster Saint Gallus wieder aufnehmen. Salomo hat mir erzählt wie fähig Notker ist. Und genau bei ihm möchte ich weiter lernen. Ausserdem ist Salomo dort ebenfalls demnächst ein Schüler von ihm.»
Etwas neidisch fühlte sich Aurelia schon. Und irgendwie ausgeschlossen. Aber sobald sie konnte, würde sie ja ebenfalls folgen. Ob sie auch von Notker unterrichtet werden könnte?
Während des Essens zitierte Aurelia aus einem Psalm: «Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten, der Weg der Frevler aber führt in den Abgrund.» Sie schlürfte den Rest Suppe aus ihrer Schüssel. Dann fragte sie Hatto: «Was verstehst du eigentlich hier unter diesem Frevler?»
Sie provozierte ihn. Denn eigentlich hatte sie die letzten Jahre die Psalmen besser lesen und verstehen gelernt als er selbst. Sie war schnell im Übersetzen aus dem Lateinischen und liebte es, mit ihren Worten zu spielen. Und sie animierte ihn immer wieder, mit ihr in Konkurrenz zu treten. Ja, sie war eine ernstzunehmende Gegnerin. Normalerweise waren selbst adelige Frauen nicht des Lesens mächtig. Die meisten sahen keinen Sinn darin. Weder die Lehrenden noch die Lernenden. Obwohl Karl der Grosse, wie jeder wusste, vor über 100 Jahren eine Lernpflicht eingeführt hatte.
Im Hause der von Constantias war es anders gewesen. Lesen gehörte hier einfach dazu. Oft hatten sie abends zusammen gesessen und über die Lieder und Gebete sinniert. Als die beiden noch kleiner waren, hatten Mutter und Vater aus ihrer so wertvollen Psalmensammlung vorgelesen. Wenn Aurelia sich unbeobachtet fühlte, hatte sie oft heimlich das Buch genommen und andächtig darin geblättert. Da schon hatte sich ihre Liebe zu Büchern entwickelt. Aurelia empfand sie als etwas ganz Besonderes. Fast heiliges. Etwas sehr Wertvolles und Mächtiges. Als ob alles Heil darin stehen könnte.
Ein zweites Buch fand sie später in der hintersten Ecke im Zimmer ihrer Eltern. Versteckt? Es handelte von Pythagoras, einem Philosophen und Magier. Das jedoch erfuhr sie erst später als sie wirklich lesen konnte. Auch hier blätterte sie von Zeit zu Zeit herum.
Zunächst war sie nur vorsichtig den Buchstaben nachgefahren. Hatte sie mit dem Finger nachgemalt. Und die wenigen Bilder studiert. Später hatte sie sich neben Hatto gesetzt, wenn er von Vater unterrichtet wurde. Wado hatte dem zunächst keine grosse Bedeutung beigemessen. Er hatte angenommen, dass seine Tochter das Interesse schon bald verlieren würde, wie es anderswo auch für ein Mädchen üblich war. Doch im Gegenteil. Bald schon war unverkennbar, dass sie ein Talent hatte. Sie lernte schnell. Und es machte ihm zunehmend Spass, ihr alles beizubringen. Er schenkte ihr schliesslich ein eigenes Pergament und eine Feder. Übte mit ihr schreiben, sogar rechnen und natürlich lesen. Hatto war im Rechnen ebenfalls sehr begabt. Aber Aurelia übertraf alles und wurde zum ganzen Stolz der Familie.
Bereits nach einem Lehrjahr studierte sie heimlich auch das zweite Buch, das Philolaos zitierte. Sorgsam achtete sie darauf, nicht erwischt zu werden.
Ahnte sie doch, dass das Buch nicht umsonst versteckt war, und ihr Vater nicht begeistert wäre, wenn er es wüsste. Auch ihre nun zunehmend weiter gefasste Weltanschauung hielt sie weitgehend für sich.
Bald schon durfte sie selbst aus der wertvollen Bibel bei den abendlichen Zusammentreffen vorlesen. Salomo war eines Abends wieder einmal zu Gast, war er doch Schüler ihres Vaters und als entfernter Verwandter sowieso Teil ihrer Familie. Er wohnte an dem Abend dieser Vorlese- und Diskussionsrunde bei. Und war mit einem Mal fasziniert von ihrer Stimme. Ihrer Intelligenz. Und erstaunt über ihre interessierten und sinnhaften Fragen. Wahrscheinlich war das der Moment gewesen, an dem er sich in sie verliebt hatte. Da war sie gerade 11 gewesen. Und er 20. Und noch war sie nicht in der vollen Schönheit erblüht, die sie später erlangen sollte.
Nun, heute nahm Hatto den Faden wieder auf. «Meine liebe Aurelia! Ein Frevler ist jemand, der nicht im Sinne Gottes handelt. Der nicht teilt. Nicht gütig ist. Gierig ist. Nicht nach den 10 Geboten lebt.» Aurelia lachte in sich hinein. Verschmitzt schaute sie ihn an. «Gut. Dann müsstest du ja nun besonders gerne mit mir dieses leckere Hühnchen teilen!», dabei deutete sie auf seinen Teller, der gerade erst serviert worden war. «Hei! Du hast selbst welches!», rief er entrüstet. «Richtig. Aber ich habe noch sooo viel Hunger! Und ich muss doch noch sooo viel wachsen» Hatto schüttelte seinen Kopf über ihren Schalk, der ihr ins Gesicht geschrieben stand. Er musste lachten. «Gut. Dann musst du es aber auch ganz aufessen. Und wehe es bleibt ein Krümelchen übrig!» Sie gab sich geschlagen und hielt ihren Bauch. «Aber Brüderchen, möchtest du, dass ich platze???» Nun lachten beide herzhaft. Es war schön, dass sie sich gegenseitig hatten.
Am nächsten Tag schaute Aurelia wie so oft bei Eucenia vorbei. Diese war gerade dabei, Rhabarber- und Mangoldblätter zu ernten. Aurelia berichtete ihr von ihrer Mutter. Von ihren Versuchen, diese dazu zu bewegen, in die Kirche zu gehen. Dann erzählte sie natürlich von Hattos Plänen und schlussendlich von ihren eigenen. Lange sagte Eucenia nichts. Aurelia wollte sie fast schon fragen, ob sie gehen solle.
Doch dann ergriff Eucenia das Wort: «Weisst du Aurelia, es macht mich sehr traurig, dass du ins Kloster gehen willst.» Sie richtete sich auf. «Du hast doch hier alles! Eine Zukunft! Und vor allem dürfen wir den Unterricht nicht aufgeben. Du weisst doch, eine Priesterin im herkömmlichen Sinne lernt mindestens 20 Jahre von der Beruferin.» Betrübt schaute Aurelia sie an. «Aber sie haben all diese Bücher. All das Wissen. Das neue Christentum. Antworten.» Eucenia schnaubte. «Antworten! Worauf denn? Auf die Fragen des Lebens? Die Antworten, um die es sich immer dreht, findest du im Atem der Götter. Lausche sie. Versuche sie zu verstehen. Und du erhältst alle Antworten, die du brauchst. Gerade du kannst doch auf dem Äther reiten. Du hast einen Zugang zum Reich der Ahnen. Sie lieben dich und geben dir die Macht mit ihrer Hilfe Geschicke zu verändern. Kräfte zu bündeln. Antworten zu finden. Die Bibel und das Christentum sind nichts anderes als ein fader Ersatz und… eine grosse Erziehungsmassnahme. Aber wir,» sie machte eine bedeutungsschwere Pause: «Wir Priesterinnen brauchen sie nicht. Wir hören die Götter. Wir geben Ratsuchenden von jeher Antworten.
Wir rufen heute Maria an, die ein guter Ersatz für