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Wo die Schatten der Vergangenheit lauern … Der fesselnde Thriller »Im dunklen Holz« von Bestseller-Autor Stephan M. Rother als eBook bei dotbooks. Nach einem Burnout zieht sich die Journalistin Sophie von Wiedenthal in die Abgeschiedenheit eines einsamen Dorfes zurück. Dort stößt sie überraschend auf die berühmte Schriftstellerin Dorothea Helmke, die sich seit Jahrzehnten von der Öffentlichkeit abschottet. Sophie wittert eine einmalige Chance und überredet die ältere Dame zu einem Exklusiv-Interview. Dabei stößt sie auf ein dunkles Kapitel in der Vergangenheit der Schriftstellerin, ein Tabu, über das niemand spricht. Während Sophie zu recherchieren beginnt, häufen sich merkwürdige Vorfälle im Dorf … Doch die Gefahr, in der sie längst schwebt, erkennt Sophie erst, als ein Mord geschieht – wird sie das nächste Opfer sein? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Thriller »Im dunklen Holz« von Bestseller-Autor Stephan M. Rother. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 340
Über dieses Buch:
Nach einem Burnout zieht sich die Journalistin Sophie von Wiedenthal in die Abgeschiedenheit eines einsamen Dorfes zurück. Dort stößt sie überraschend auf die berühmte Schriftstellerin Dorothea Helmke, die sich seit Jahrzehnten von der Öffentlichkeit abschottet. Sophie wittert eine einmalige Chance und überredet die ältere Dame zu einem Exklusiv-Interview. Dabei stößt sie auf ein dunkles Kapitel in der Vergangenheit der Schriftstellerin, ein Tabu, über das niemand spricht. Während Sophie zu recherchieren beginnt, häufen sich merkwürdige Vorfälle im Dorf … Doch die Gefahr, in der sie längst schwebt, erkennt Sophie erst, als ein Mord geschieht – wird sie das nächste Opfer sein?
Über den Autor:
Stephan M. Rother wurde 1968 im niedersächsischen Wittingen geboren, ist studierter Historiker und war fünfzehn Jahre lang als Kabarettist auf der Bühne unterwegs. Seit dem Jahr 2000 veröffentlicht er u. a. unter seinem Pseudonym Benjamin Monferat erfolgreich Romane für Erwachsene und Jugendliche. Der Autor ist verheiratet und lebt in einem verwinkelten Haus mit vielen Büchern und Katzen am Rande der Lüneburger Heide.
Stephan M. Rother veröffentlicht bei dotbooks ebenfalls:
»Das Babylon-Virus«
»Die letzte Offenbarung«
»Sturmwelle«
Die Website des Autors: www.magister-rother.de
Der Autor im Internet: www.facebook.com/stephan.m.rother/
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eBook-Neuausgabe April 2019
Copyright © der Originalausgabe 2013 Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Helen Hotson
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)
ISBN 978-3-96148-389-1
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Stephan M. Rother
Im dunklen Holz
Thriller
dotbooks.
Die Vergangenheit vergisst nicht. Die Vergangenheit tötet.
Hohenholz 1998
Die Luft schmeckte nach Feuer.
Ascheflocken tanzten vor einem Horizont, den noch immer das Inferno des Brandes rötete, taumelten sekundenlang dem Boden entgegen, bis eine plötzliche Turbulenz eine neue Funkenfontäne aufstieben ließ.
Hinter einem Vorhang aus Glut und Hitze glich das Dorf mit seinen eng aneinandergedrängten Höfen unter den trockengrauen Bäumen einem unwirklichen Fantasiegemälde. Die öde, verkohlte Heidefläche endete nur einen Steinwurf entfernt.
Wir haben es zum Stehen gebracht, dachte Dorothea Helmke.
Wir haben das Feuer eingedämmt.
Sie stand reglos aufrecht, betrachtete unverwandt das Bild hinter dem flirrenden Schleier aus brennender Luft.
Um sie herum hetzten Menschen rastlos hin und her, um die letzten Brandnester zu ersticken. Menschen in der Alltagskleidung der Bauern von Hohenholz, Menschen in britischen Uniformen. Dieses eine Mal arbeiteten sie Hand in Hand.
Nur wenige Schritte entfernt kauerte Wilhelm am Boden, das Gesicht versengt von der Glut, geschwärzt von der Asche. Eine Sanitäterin war dabei, ihm die Schulter zu verbinden. Zerbröckelndes Gebälk hatte ihn gestreift, als sie versucht hatten, in den Unterstand vorzudringen. Er hatte gekämpft. Ja, diesmal hatte er mit allen Kräften gekämpft.
Er ist ein alter Mann, dachte Dorothea, als sie ihren Ehemann betrachtete, und es war das erste Mal, dass ihr das in dieser Deutlichkeit klar wurde.
Und er ist jünger als ich.
Wir sind alte Leute.
Ein Räuspern in ihrem Rücken.
Ganz langsam drehte sie sich um.
Ein junger britischer Offizier, der automatisch Haltung annahm.
»Lieutenant William Richardson, Mam. - Ich hätte ... Wir hätten ...«
»Ich soll sie mir ansehen«, sagte Dorothea ruhig. »Damit Sie sie abtransportieren können.«
Er nickte, und sie konnte erkennen, wie seine Kieferknochen hervortraten, als er die Zähne aufeinanderbiss.
Dorothea warf einen letzten Blick auf Wilhelm.
Sie hatte gewusst, dass diese Aufgabe auf sie allein wartete.
Wie hätte es auch anders sein können?
Ganz genau so soll es sein, dachte Dorothea Helmke.
Ein Viereck aus Beton, Meter unter der Erde: die Bunkeranlage einer aufgegebenen Geschützstellung, wie es sie auf dem Truppenübungsplatz im Herzen der Lüneburger Heide zu Dutzenden gab.
Nur ein einziges Detail unterschied sie von all den anderen Luftschutzkellern auf dem Gelände.
»Ja«, sagte Dorothea. »Das ist meine Enkeltochter.«
Der Drang, der am Boden zusammengekauerten Gestalt das strohblonde Haar aus dem Gesicht zu streichen, war nahezu überwältigend.
Steh jetzt auf, Liebling. Das Spiel ist vorbei.
Das kleine Mädchen würde nie wieder aufstehen.
Die Flammen hatten hier keinen Zugang gefunden. Doch die erstickende Glocke aus Glut und Hitze musste binnen Sekunden jeden Rest Sauerstoff in dem unterirdischen Raum aufgezehrt haben.
Der Körper des kleinen Mädchens war unversehrt.
Anders als die anderen.
Dorothea wandte sich um.
»Und das sind ihre Eltern.«
Die beiden Körper lagen auf einer der engen Betontreppen, die hinab in den Luftschutzkeller führten. Erst die britischen Soldaten hatten die Trümmer beiseite geräumt, die ihnen den Weg in den Bunker versperrt hatten.
Und ebenso den Rückweg.
Ihre Hände. Dorothea starrte auf die halb verkohlten Hände, die einander im Tod umfangen hielten. Verschmolzen, dachte sie. Im Tod verschmolzen.
Für eine Sekunde spürte sie ein so unbezähmbares, so überwältigendes Gefühl, dass sie Mühe hatte, ihm einen Namen zu geben.
Neid.
Als sie das Wesen des Gefühls begriff, war es schon wieder fort.
Die alte Frau stand allein in dem unterirdischen Raum, umgeben von den Körpern der Menschen, die sie geliebt hatte. Lieutenant Richardson hatte sich diskret entfernt.
Sie war allein mit der Erinnerung.
Und sie schob sie zurück in den hintersten, dunkelsten Winkel der Gefängniszelle ihres Bewusstseins.
Noch nicht, dachte sie. Jetzt noch nicht.
Noch war das Spiel nicht vorbei.
Dorothea Helmke drehte sich um und verließ den unterirdischen Raum, ohne die Toten noch einmal anzusehen.
Das wirbelnd Wasser widerspiegelt', was wahrer mir als Wahrheit war. Im schäumend Scheinbild schien's versiegelt, was ich erkannt', doch nimmer sah. (Dorothea Helmke, An weihvollen Wassern)
Sie sind da.
Ein heftiger Schlag lässt das Tor erzittern.
Zentimeterdickes Holz, doch es wird nicht standhalten.
Sie stolpert zurück, blickt sich gehetzt nach einem Ausweg um.
Ein markerschütterndes Quietschen:
Der andere Raum! Sie sind im anderen Raum!
Sie weiß, was sie tun muss, weiß, dass es keine andere Chance gibt für sie, wenn sie leben will.
Willst du leben?
Kein Gedanke mehr. Die Rückseite des Gebäudes, an der das Mauerwerk beschädigt ist, wo das morsche Gebälk sich beiseiteschieben lässt: Dort gibt es eben ausreichend Raum, um sich hindurchzuzwängen.
In die Nacht.
Und die Dunkelheit.
Ein grelles Aufblitzen von Licht.
Sophie war wie blind, sekundenlang. Ihr war schwindlig. »Ein Lächeln, Sophie! Ein Lächeln! Noch etwas strahlender! - Ja!«
Blitz.
»Genau so! Etwas vorbeugen jetzt!«
Sophie gehorchte mechanisch, tastete nach Kurts Arm, spürte den edlen Stoff seines Abendanzugs. Seine Hand besitzergreifend auf ihrer Hüfte, ein Hauch seines herben Aftershaves.
»Sophie! Bitte einmal zu mir!«
Blitz.
Die Stimmen der Fotografen. Rufe, Kreischen von Kurt-Sandow-Fans draußen auf der Straße vor dem Foyer, die von der Kette der Sicherheitsleute zurückgehalten wurden.
Mindestens die Hälfte von ihnen ist seinetwegen hier, dachte Sophie. Nicht meinetwegen.
Doch das war ihr geringstes Problem. Schon die Hälfte war mehr als genug. Schon die Hälfte war zu viel.
Ihr Lächeln war wie festgetackert in ihren Mundwinkeln, der rote Teppich viel zu weit weg unter ihren Schuhen mit den plötzlich viel zu hohen Absätzen.
»Sophie! Zum dritten Mal hintereinander den Journalistenpreis zu bekommen: Wie fühlt sich das an?«
Wie sich das anfühlte?
Es war die Hölle.
»Ts, ts.« Ein kritisches Zungenschnalzen. »Schätzelchen, das ist wirklich nicht einfach, wenn du so schwitzt. Du willst doch nicht ausgerechnet heute krank werden?«
Bleistiftdünne, ausrasierte Augenbrauen, die skeptisch gehoben wurden.
Tante Tilly ließ den Wattebausch sinken, mit dem sie seit zehn Minuten versuchte, Sophie von Wiedenthals Stirn und Wangen trocken zu tupfen, um eine neue Grundierung aufzutragen.
Tante Tilly. Sophie ging gerade auf, dass sie nicht einmal wusste, wie die füllige, immer gut gelaunte Person mit den schrillen Klamotten in Wahrheit hieß.
Till möglicherweise?
Aber der Gedanke kam ihr nur ganz am Rande.
Sie schwitzte.
Draußen auf dem roten Teppich hatte es angefangen, im Blitzlichtgewitter der Pressefotografen. Ihrer Kollegen. Wobei Sophie selbst beim Abendblatt natürlich nicht für die Fotos zuständig war, sondern für die Texte. Für einen dieser Texte - Der Preis der Gier. Über die Verflechtungen zwischen Politik und Großkapital -würde sie in einer halben Stunde die diesjährige Auszeichnung des Journalistenverbandes entgegennehmen.
Zum dritten Mal hintereinander.
Als jüngste Preisträgerin aller Zeiten.
Ein Schweißtropfen suchte sich kitzelnd den Weg über Sophies Hals.
Ihre Haut war eiskalt.
»Dir geht es nicht gut.« Tilly betrachtete sie mit gerunzelter Stirn. »Du siehst aus wie eine Leiche.«
»Danke für die Blumen«, murmelte Sophie. Ihr Mund fühlte sich trocken an, als ob ihre Zunge irgendwie nicht dorthin gehörte.
Tante Tilly schüttelte langsam den Kopf. »Keine Blumen - und kein Preis. Solange du so aussiehst, lass ich dich nicht aus diesem Raum. Du bist krank.«
Eine Berührung an ihrem Handgelenk.
»Mein Gott«, hauchte Tilly. »Schätzelchen, dein Puls ist ja sonst wo! Du gehörst ins Bett.«
Sophie schüttelte stumm den Kopf. Schon die angedeutete Bewegung kostete sie plötzlich alle Kraft. Ihre Zunge wollte ihr nicht gehorchen.
»Wo ist Kurt, verflixt noch eins?« Suchend sah sich die Maskenbildnerin über die Schulter um.
Wo soll er schon sein? Sophies Gedanken verwirrten sich. Die Redaktionsräume waren leer um diese Uhrzeit. Wahrscheinlich legte er gerade eine der Praktikantinnen flach, die für die Pressegala als Hostessen eingeteilt waren.
Sophie und Kurt führten eine offene Beziehung.
Nein, dachte sie. Kurt führt eine offene Beziehung.
Sophie selbst blieb gar keine Zeit für irgendeine Art von Beziehung, die über das Händchenhalten mit Kurt Sandow hinausging, für die Kameras, auf dem roten Teppich.
Rote Teppiche bei Presseveranstaltungen: Sophies Welt.
Rote Teppiche bei Filmpremieren: die Welt von Kurt Sandow.
»Ich - muss - da - raus.« Sophies Worte kamen stockend, Silbe für Silbe.
Tillys Stirnrunzeln verstärkte sich. Im selben Moment war eine Bewegung in der Tür des kleinen Schminkraums wahrnehmbar: Kurt, der sich hastig die Fliege richtete.
Einen Moment lang wurden Sophies Augen klarer: ein eins neunzig großer Mann im anthrazitfarbenen Maßanzug, die dunklen Haare dramatisch nach hinten gekämmt, Dreitagebart. Die Augen, die Sophies Blick im Spiegel trafen, waren so dunkel, dass sie beinahe schwarz wirkten.
Er sah aus wie ein Schauspieler.
Er war ein Schauspieler.
»Sophie ist krank.« Tilly drehte sich zu ihm um. »Sie kann unmöglich da raus!«
»Krank?« Kurt Sandows Stirn legte sich in Falten. »Blödsinn!«
Er schob die Maskenbildnerin beiseite, drängte sich an den Schminktisch.
Sophies Blick wurde wieder verschwommen. Sein Gesicht war nichts als ein hellerer Fleck, umgeben von dunklem Haar.
Seine Finger, die sich hart auf ihre Stirn legten.
Sie brannten wie Feuer auf ihrer Haut.
»Kleine Erkältung vielleicht.« Die Hand wurde zurückgezogen. Eine Pause. Kurt schien zu zögern.
Dann ein Rascheln. »Mach mal die Hand auf!« Ganz leise.
Sophie gehorchte, ohne wirklich zu wissen, was sie tat.
»Nimm zwei von denen, dann geht's dir gleich besser.«
Zwei Tabletten, die in ihre Handfläche gelegt wurden.
»Hier.« In die andere Hand wurde ein Glas Wasser gedrückt.
»Was ist das?«, fragte Tante Tilly aus dem Hintergrund.
Kurt Sandow antwortete ihr nicht.
Sophie öffnete die Lippen. Die Tabletten waren Fremdkörper auf ihrer Zunge. Kurt half ihr, das Glas an den Mund zu führen.
Sein Brummen war ohne Worte.
Aber es klang zufrieden.
Als Sophies Name durch die Lautsprecher tönte, waren ihre Augen wieder klar. Sie sah jedes Detail. Und doch kam es ihr vor, also ob sie sich mit jedem Schritt durch einen Nebel tasten müsste.
Sie erinnerte sich an die Tabletten, die Kurt ihr gegeben hatte.
Sie wusste, dass er immer Tabletten dabeihatte. Tabletten, die ihn veränderten, wenn er sie nahm.
Ihre Bettelei, damit aufzuhören, hatte sie vor ein oder zwei Jahren aufgegeben. Sie hatte plötzlich gespürt, dass sie keine Kraft mehr dazu hatte.
Beinahe wie heute Abend.
Draußen auf dem roten Teppich, später bei Tilly im Schminkraum war ihr auf einmal klar geworden, dass sie keine Kraft mehr hatte.
Doch diesmal war es anders.
Heute Abend wurde nicht mehr und nichts anderes von ihr verlangt, als auf der Bühne hinter das Pult zu treten und den überdimensionierten goldenen Füllfederhalter in Empfang zu nehmen. Den Journalistenpreis. Zum dritten Mal.
Ich danke Gott und meinen Eltern - und Kurt Sandow hier neben mir, ohne den ich niemals so weit gekommen wäre.
Sie würden gemeinsam in die Kameras blicken, mit festgetackertem Lächeln.
Die Scheinwerfer stachen ihr in die Augen, als sie an seinem Arm auf die Bühne trat. Der Applaus des Publikums brandete ihr entgegen wie eine Woge, die sie mit sich reißen wollte, zurück in die Kulissen.
Kurt ließ es nicht zu. Seine Hand um ihren Unterarm war wie ein Polizeigriff.
Ich kann das nicht, hämmerte ihr durch den Kopf. Ich habe keine Kraft.
Doch gleichzeitig ging sie wie auf Wolken, einen Schritt neben sich. Als wenn Kurt Sandow zwei Frauen an seinen Armen führte, jede an einer Seite.
Und Sophie von Wiedenthal wurde klar, dass eine von ihnen auch heute funktionieren würde.
Die Schminke, die Tilly unter wiederholten Protesten dann doch noch aufgetragen hatte, begann in der Hitze der Bühnenscheinwerfer bereits zu verlaufen. In der eisigen Hitze von Sophies Haut.
Das Pult. Sophies Hände suchten Halt.
Ein steinalter Mann im dunklen Anzug. Ein Wrack im Frack, das einen knisternden Umschlag aus der Jackentasche zog und mit monotoner Stimme vorzulesen begann.
Sophies Leistungen: der diesjährige Journalistenpreis für den Preis der Gier. Irgendein Wortspiel. Das Publikum tat, was von ihm erwartet wurde, und lachte pflichtschuldig.
Mit einer dramatischen Geste zog der Alte den gigantischen, goldglänzenden Schreibfüller hervor.
Sophie sah ihn an.
Die Augenbrauen des alten Mannes hoben sich, er streckte ihr den Preis auffordernd entgegen.
Sekundenlang.
Kichern im Publikum.
Ein vorbereiteter Gag?
Meine Rede.
Sophies Mund war Asche. Bis zu diesem Moment war sie irgendwo in einem Winkel ihres Hirns davon überzeugt gewesen, dass sie doch irgendwie die Kraft finden würde, diese verfluchten zwei, drei Sätze zu sprechen. Kurts Tabletten, die ihr plötzlich wieder die Kraft gegeben hatten, auf zwei Beinen zu laufen.
Sie öffnete den Mund - doch da war nichts. Nichts als Leere in ihrem Kopf.
Eine Hand mit sorgfältig manikürten Fingernägeln griff an Sophie vorbei nach dem goldenen Füllfederhalter.
Kurt Sandow schob die junge Frau mit einer Geste beiseite, die aus den Reihen des Publikums vorsichtig und behutsam wirken musste.
Doch das war sie nicht.
»Sophie hat sich ein bisschen erkältet und ist nicht bei Stimme«, erklärte er, legte den Arm um ihre Schultern.
Mit einem Mal war es nur noch dieser Arm, der sie aufrecht hielt.
»Seid ihr vielleicht einverstanden, dass ich ein paar Worte sage?«
Lauter Beifall. Kurt-Sandow-Fans überall, auch unter den Abendanzügen im Medienhaus. Unter den Abendkleidern sowieso.
»Schon gut, Leute.« Eine beschwichtigende Geste, die bei jedem anderen Menschen affig gewirkt hätte, nur bei Kurt Sandow nicht. »Pssst! Schon gut. - Also: Diese wundervolle Frau würde euch in diesem Moment einfach nur sagen wollen, wie stolz sie darauf ist, dass ihr sie für diesen hübschen Kuli ausgesucht habt. - Schon wieder.« Kichern im Publikum.
»Was denkst du, Süße?« Sein Kopf drehte sich zu ihr, doch die Augen waren irgendwo anders, während er über die nächste Pointe nachdachte. »Kommt in die Kiste auf dem Schreibtisch, oder? Zu den andern?«
Das Kichern wurde lauter.
»Aber im Ernst: Wir sind mordsmäßig stolz auf diesen Preis, alle beide, und wisst ihr was? Diese tolle Frau hat ihn auch wirklich verdient.«
Er senkte die Stimme, als er leise ins Mikrofon sprach: »Komm, Liebes, sag danke! Das schaffst du.«
Er drehte den Kopf, und diesmal traf sie sein Blick, und er war ein Befehl.
Sophie beugte sich vor. Zwei Silben, sie wusste, dass sie es konnte. Zwei Silben nur.
»Dan-ng-ke ...«
Ein Lallen. Völlig stoned.
Doch es ging bereits unter im tosenden Applaus, dieser Woge, der sie nun keinen Widerstand mehr entgegensetzen konnte.
Das Publikum war unsichtbar, doch sie sah den alten Mann, der die Hände jetzt ebenfalls zum Beifall hob, und Kurt, der Sophie losließ, um selbst zu klatschen.
Der sie losließ.
Sophie starrte auf das Pult, sah, wie es auf sie zukam.
Dann sah sie nichts mehr.
Das Pult, das auf sie zuraste.
Ihre letzte Erinnerung.
Gusseisen, schwarz und massiv, ein Traditionsrequisit aus den Zwanzigern.
Ich muss mir den Kopf angeschlagen haben.
Ein nervtötendes Sirren in ihrem Kopf, gleichmäßig.
Piep - piep - piep - piep - piep - piep ...
Blinzelnd bekam Sophie von Wiedenthal die Augen auf.
Das Licht war grell und stach ihr in den Augen. Es dauerte Sekunden, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte.
Und noch einmal Sekunden, bis ihr klar wurde, wo sie sich befand.
Blasse Farben um sie rum, ausgenommen eine Batterie schwerer, blinkender Apparate. Auf einer elektronischen Skala hüpfte ein grüner Lichtpunkt auf und ab: piep - piep - piep - piep - piep - piep ...
Ich liege im Krankenhaus!
»Schau an, da ist jemand aufgewacht.«
Ein älterer Mann mit Halbglatze, dunkle Tränensäcke unter den Augen.
Im Jahr zuvor hatte Sophie für einen ihrer Artikel über die Arbeitsbelastung in den Hospitälern recherchiert. Doppel- und Dreifachschichten waren mittlerweile an der Tagesordnung. Bereitschaftsdienst rund um die Uhr.
Keine Luft zum Atmen. Krankenhausmediziner oder Journalistin, in dieser Hinsicht nahmen sich die Jobs nicht sonderlich viel.
»Was ... was ist mit mir passiert?«, flüsterte sie.
Ihre Stimme klang rau, doch es war eindeutig wieder ihre eigene.
»Sie sind umgefallen«, erklärte der Arzt. »Hajo Schroeder«, stellte er sich vor, tippte kurz auf ein Schild an der Brusttasche seines Kittels. Im selben Moment hatte er einen kleinen Gegenstand in der Hand. »Versuchen Sie bitte dem Lichtpunkt zu folgen.«
Sophie zuckte zurück, als sich der Lichtpunkt bis in ihr Hirn zu bohren schien.
Ein gemurmeltes »Sorry«. Das Licht wurde schwächer.
Sophies Augen folgten der Lampe. Links - rechts - links. Oben - rechts - unten.
»Okay.« Das Licht erlosch. »Haben Sie Kopfschmerzen?«
Sophie zögerte. »Ein bisschen«, gab sie zu.
Aber die hatte sie vorher schon gehabt.
»Ist Ihnen übel?«, erkundigte sich Dr. Schroeder. »Schwindlig? Nein? Können Sie mich klar erkennen?«
Sophie nickte. Im selben Moment wurden die Kopfschmerzen heftiger.
»Der Nacken?«, fragte der Mediziner.
»Ja.« Sie beschloss, das Nicken erst mal zu lassen.
»Könnte ein Trauma geben«, brummte Dr. Schroeder. »Ein Schleudertrauma, wohlgemerkt. Kann ziemlich unangenehm werden, ist aber nicht akut bedrohlich. Sie haben eine leichte Gehirnerschütterung, doch in der Tomografie haben wir nichts Besorgniserregendes gefunden. Ein paar Tage Ruhe, dann sind Sie wieder auf dem Damm.«
Ein paar Tage.
Sophie kniff die Augen zusammen. »Wie spät ist es?«
Der Arzt warf einen Blick über ihre Schulter. »Kurz vor halb drei.«
»Verflixt!«, zischte sie.
Im nächsten Moment ein gedämpftes Signal. Dr. Schroeder griff in seine Brusttasche.
»Notfall«, murmelte er. »Fühlen Sie sich fit genug für Besuch?«
Besuch?
Kurt! Er musste stundenlang im Krankenhaus gewartet haben!
Piep - piep - pi-pi-pi-piep - piep ...
»Nicht aufregen!«, mahnte der Arzt mit Blick auf den Herzmonitor. »Sonst darf er nicht zu Ihnen. - Zehn Minuten, hören Sie? Die Schwestern passen auf. - Wir beide sehen uns später noch.«
Mit raschen Schritten verließ er den Raum.
Mühsam setzte Sophie sich im Bett auf. Jemand hatte ihr ein pastellfarbenes Hemd angezogen, mit dem eingewebten Logo des Krankenhauses.
Sie sah fürchterlich aus. Nirgends ein Spiegel, aber sie wusste es auch so. Ihre Gesichtshaut spannte von den Überresten der auseinandergeflossenen Schminke.
Ein vorsichtiges Klopfen. Die Zimmertür öffnete sich.
Eine violette, auftoupierte Haartolle.
Sophie ließ die Schultern sinken.
Tante Tilly.
»Entlassung? Schätzelchen, ich glaub, ich muss deinen Medizinmann rufen. Du fantasierst.«
Sophie verdrehte die Augen. Selbst das tat weh.
»Mir ist klar, dass sie mich heute Nacht nicht wieder raus lassen«, erklärte sie und hörte sich in ihren eigenen Ohren ziemlich vernünftig an. »Aber ich kann unmöglich mehrere Tage ausfallen.«
»Unmöglich?« Die Maskenbildnerin schlug die Beine in einer Weise übereinander, wie nur Tante Tilly das hinbekam, hob die Hand, Daumen und Zeigefinger einen halben Zentimeter auseinander. »So ein Stück! So ein Stück, und du hättest exakt die Ecke von diesem Pult erwischt. Dann könnte das Abendblatt sich jetzt eine neue Starjournalistin suchen.«
Sophie spürte, wie ihre Kehle eng wurde, doch sie schüttelte den Kopf. Vorsichtig, aber entschieden.
Sophie hatte sich den Abend der Preisübergabe mit Not und Mühe freigeschaufelt. Sie steckte mitten in einem Bericht über die Zement-Connection, Verwicklungen zwischen den Stadtwerken und dem größten Bauunternehmen der Stadt. Aufträge, die unter der Hand weitergegeben wurden, illegale Beschäftigung.
Stoff genug für den nächsten Journalistenpreis, wenn sie auf so was besonderen Wert gelegt hätte.
Sie hatte sechs Jahre lang um genau diesen Job in genau dieser Redaktion gekämpft, damit sie genau diese Sorte Artikel schreiben konnte. Darauf legte sie Wert.
Und es lauerten genug Kollegen inner- und außerhalb der Redaktion, die auf diesen Posten scharf waren und nur darauf warteten, dass Sophie von Wiedenthal einen Fehler machte.
Oder ausfiel.
»Was war das vorhin?« Tillys Stimme war plötzlich verändert.
»Was war was?« Unbehaglich setzte Sophie sich zurecht. »Ich bin mit dem Kopf gegen das Pult geknallt. -Tolle Bilder für die Kollegen, nehme ich an.«
»Absolut von der Stange.« Großzügig winkte die Maskenbildnerin ab. »Verglichen mit dem, was danach kam. Kurt Sandow mit der Liebe seines Lebens auf seinen starrrrken Arrrrmen. - Rhett Butler und Scarlett O'Hara.« Düsterer: »King Kong und die weiße Frau.«
»Du magst ihn nicht«, stellte Sophie sachlich fest.
»Wie hast du das bloß erraten?« Tilly zog eine Grimasse, wurde dann ernst. »Weißt du was? Ob Herr Sandow seine Amphis einwirft, geht mir am wohlgeformten Gesäß vorbei. Ich hab selbst genug Zeug geschluckt in meiner wilden Zeit - und man kann eine Menge einwerfen, wenn man sich mal dran gewöhnt hat. Aber dafür muss man fit sein, Schätzelchen, und das warst du nicht.«
Sophie von Wiedenthal kannte die schrille Maskenbildnerin, seitdem sie in der Abendblatt-Redaktion arbeitete, fast zehn Jahre inzwischen. Tante Tilly, Mädchen für alles in der Redaktion, beim Lokalsender, der Werbeagentur: den einzelnen Zweigen der Unternehmensgruppe, die unter dem Dach des Medienhauses versammelt waren. Oder vielleicht doch eher Bübchen für alles, aber das spielte vermutlich keine so große Rolle, wenn man Tante Tilly sah in ihren farblich gewagten, pastellfarbigen Anzügen. Herrengarderobe dann doch irgendwie, aber eben mit dem ganz gewissen, flamboyanten Etwas.
Ja, Sophie kannte Tante Tilly.
Aber dieser Blick aus nur einem Spaltbreit geöffneten Augenlidern war neu.
»Du warst nicht fit«, sagte Tilly. »Schon bevor du dir dein zauberhaftes Köpfchen an diesem wunderhübschen Art-déco-Pult angeschlagen hast. Und bevor Mr. Butler dich aus seinem Pillenvorrat versorgt hat. - Was ist mit dir los, Sophie? Wie lange hast du die letzten Nächte geschlafen? Wann hattest du den letzten richtigen Urlaub?«
Sophie öffnete den Mund.
»Und damit meine ich nicht denjenigen Urlaub, über den es die vierseitige Fotostrecke in der Gala gab«, fuhr die Maskenbildnerin fort, bevor Sophie zu Wort kommen konnte. »Der war gut für Sandows Image. Zwei Wochen Gran Canaria mit der Trägerin des Journalistenpreises, und wie durch ein Wunder bekommt er plötzlich ernsthafte Rollen angeboten. - Ich will wissen, wann du einen Urlaub hattest, der gut für dich war.«
Sophie biss die Zähne zusammen, gab es im nächsten Moment aber wieder auf, als sich ihr lädierter Nacken meldete.
Das könnte ein Trauma geben. Ein Schleudertrauma.
Ein Kollege aus der Redaktion hatte vergangenes Jahr monatelang mit einer Nackenstütze rumlaufen müssen - nach einem Bagatellunfall.
Traumata waren tückisch. Vor allem, weil sie ihre volle Wirkung oft erst Tage oder Wochen nach dem Unfall entfalteten. Tickende Zeitbomben.
Das Letzte, was sie brauchen konnte.
»Einen Urlaub muss man sich leisten können«, sagte sie ruhig, fuhr aber fort, bevor Tilly sie wieder unterbrechen konnte. »Und das meine ich nicht nur finanziell, sondern in erster Linie zeitlich. Und ich habe mir einen Beruf ausgesucht, in dem man nicht einfach nine to five arbeiten kann. Das war meine Entscheidung.«
Sie verstummte.
Wie kam sie überhaupt dazu, sich vor Tante Tilly zu rechtfertigen? Sicher, Tilly war einer der wenigen Menschen, die sie auch an den übelsten Tagen innerhalb von Sekunden zum Lächeln bringen konnten. Doch Sophie war sich nicht einmal sicher, ob sie die exaltierte Person überhaupt als Freundin bezeichnen sollte.
Aber Tilly hatte stundenlang auf dem Krankenhausflur gewartet.
Kurt Sandow dagegen war verschwunden, nachdem er Sophie hinter die Bühne und aus dem Blitzlichtgewitter getragen hatte.
Aber Kurt war schließlich mitten in einem Dreh. Morgen - heute - früh musste er wieder in Lübeck sein. Er war einzig und allein für die Preisverleihung nach Köln gekommen. Für Sophie.
Und für die Kameras.
Nein, das war nicht fair. Kurt musste zurück. Auf eine Rolle wie in der Buddenbrooks-Verfilmung hatte er sein Leben lang hingearbeitet. Nicht anders als Sophie auf ihre Position in der Redaktion. Und von den Kameras profitierten sie beide.
Jedenfalls gelang es ihr, sich das einzureden. Noch immer.
Ein Räuspern. Die Krankenschwester.
»Sie sind schon über zwölf Minuten hier.« Ein undefinierbarer Blick auf Tilly. »Das muss reichen. Die Patientin braucht jetzt Ruhe.« Ein Nicken zur Tür, überdeutlich.
Mit einem übertriebenen Seufzen griff die Maskenbildnerin nach ihrer mintgrünen Handtasche.
»Ich komme wieder«, sagte sie in bedrohlichem Tonfall. »Wir beide sind noch nicht durch mit dem Thema.« In ihren Augen funkelte ein Lächeln. »Hasta la vista, Schätzelchen!«
Sophie schloss die Augen.
Ein halber Zentimeter, und ihr Kopf wäre exakt auf die Ecke des Pults geknallt. Und das Abendblatt hätte ihre Stelle neu besetzen müssen.
Doch Sophie hatte Dr. Schroeders Gesicht gesehen, ganz am Anfang.
Es war nicht vollkommen sicher gewesen, ob diese Neubesetzung nicht so oder so anstand.
Ein Trauma.
Es konnte eine Weile dauern, bis die volle Wirkung eintrat.
Tilly schaute von nun an jeden Tag vorbei, in der Regel am späten Nachmittag, gleich nach dem regulären Dienstschluss.
Das Thema Urlaub sprach sie regelmäßig an, aber nie wieder so deutlich wie in der ersten Nacht.
Das war nicht notwendig.
Das Trauma war schon an der Arbeit.
Einige von Sophies Freundinnen aus der Redaktion ließen sich ebenfalls blicken. Der Chefredakteur hatte gleich am ersten Tag ein monströses Blumenbouquet geschickt.
Wie zur Beerdigung, dachte Sophie.
Kurt Sandow blieb in Lübeck. Im Augenblick wurden Szenen abgedreht, bei denen er Tag für Tag gebraucht wurde.
Doch er hatte angerufen. Und ehrlich besorgt geklungen, ehrlich erleichtert, nachdem Dr. Schroeder ihm auf Sophies Bitte hin versichert hatte, dass die Verletzte auf dem Weg der Besserung sei.
Auch Sophies Mutter hatte sich gemeldet, aus Antalya, wo ihre Eltern noch bis nach Ostern gebucht hatten. Wie jedes Jahr. Doch wenn sie irgendetwas für ihre Tochter tun könnten: Ein Wort, und ... keine Frage, sie würden alles stehen und liegen lassen.
Sophie verkniff sich dieses Wort.
Ihre Mutter schien nicht unglücklich darüber.
Eine Woche im Universitätsklinikum.
Eine Woche, in der der Chef der Stadtwerke von sich aus an die Presse ging und das Ergebnis einer internen Untersuchung in seiner Behörde verkündete: Man war auf eine Reihe von Unregelmäßigkeiten zum Vorteil eines ortsansässigen Bauunternehmens gestoßen, an denen sich mehrere subalterne Mitarbeiter bereichert hatten. Die Führungsetage zeigte sich erschüttert.
Sophies Artikel über die Zement-Connection war damit gestorben.
Sie las die Berichte im Abendblatt, den Kommentar von Hartwig Schöttel. Einer der Kollegen, die fest davon überzeugt waren, dass sie selbst auf Sophies Posten eine weit bessere Figur machen würden.
Ein äußerst wohlwollender Kommentar im Übrigen, der ausdrücklich hervorhob, dass auf die Selbstreinigungskräfte in den städtischen Behörden eben doch Verlass sei.
Sophie von Wiedenthal stellte fest, dass sie nichts dabei empfand, als sie die Worte las.
Dr. Schroeder war äußerst zufrieden mit ihren Fortschritten. Nach der Gehirnerschütterung hatten sich keinerlei Komplikationen eingestellt. Mit ihrem Nacken musste Sophie sich noch immer vorsehen, ruckartige Bewegungen vermeiden ... Doch sie wusste selbst, dass nicht das unangenehme Ziehen im Genick der eigentliche Gegenstand des Traumas war.
Ihre Kraft wollte einfach nicht zurückkommen.
Sophie war sich nicht sicher, wie sie das Gefühl beschreiben sollte. Es war mehr als Kraftlosigkeit. Ihr war klar, dass sie die Kraft hätte erzwingen können. Kraft, aufzustehen und ihre sofortige Entlassung aus dem Krankenhaus einzufordern. Kraft, wieder zur Arbeit zu gehen und zu schreiben. Möglicherweise war sie im Moment nicht zu Wunderdingen in der Lage, zu dem geschliffenen Stil, der Sophie von Wiedenthals Kolumne im Abendblatt auszeichnete, doch sie war sich sicher, dass sie schon irgendwie funktionieren würde, wenn sie nur wollte.
Aber wollte sie überhaupt?
Was sie fühlte, war nicht eigentlich Verzweiflung.
Es war überhaupt kein starkes Gefühl. Ein bisschen Ärger vielleicht über ihre Kraftlosigkeit, aber vor allem ...
Gleichgültigkeit.
Sophie von Wiedenthal, einunddreißig Jahre, dreifache Gewinnerin des Journalistenpreises.
Sophie von Wiedenthal, liiert mit dem Mann, nach dem Millionen von Teenagern schmachteten. Teenager von vierzehn bis vierundachtzig.
Nichts davon schien mehr irgendeine Bedeutung zu haben. Ihr Posten in der Redaktion, der allmählich in Gefahr geriet, wenn sie kein Signal gab, wann sie die Arbeit wieder aufnehmen würde. Die ungeklärte Beziehung mit Kurt Sandow.
Eine Woche nach ihrer Einlieferung stand sie in der Nasszelle ihres Krankenzimmers und betrachtete das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte.
War sie schmaler geworden in den letzten Monaten? Dann verriet die Waage nichts davon. Außerdem hätten in diesem Fall ihre Gesichtszüge deutlicher hervortreten müssen, und genau das Gegenteil war der Fall. Unbestimmt. Dunkelblondes, halblanges Haar, die Augenbrauen, in denen irgendwann mal ein Piercing gesessen hatte, so farblos, dass sie kaum zu sehen waren. Ein Gesicht, das irgendeinem Menschen gehören konnte, seltsam blass in der fensterlosen Nasszelle.
Vollkommen anders als die Gestalt, die plötzlich über Sophies Schulter ins Bild kam.
Tante Tilly, ganz in Blau heute, von der auftoupierten Tolle bis zu den farblich abgestimmten Sportschuhen.
»Du bist aufgestanden«, stellte die Maskenbildnerin fest. »Welche Freude für deine älteste und beste Freundin.«
Sophie hob die Schultern, ohne sich umzusehen.
Tilly blieb stehen, und Sophie konnte beobachten, wie ihre Augen wieder schmal wurden.
Was ist mit dir los, Sophie?
Hätte ihre älteste und beste Freundin die Frage laut gestellt, hätte sie diesmal wohl sogar eine Antwort bekommen.
Wenn Sophie die Antwort nur gekannt hätte.
»So, und jetzt reicht es!«
Resolut deponierte Tante Tilly ihre Handtasche - blau wie der Rest - auf Sophies Krankenbett, pflanzte ihr ausladendes Gesäß auf die Bettkante und klopfte auffordernd auf das Laken.
»Jetzt unterhalten wir beide uns mal ernsthaft von Frau zu Frau. Ich habe genug davon, mir ansehen zu müssen, wie du jeden Tag weniger wirst.«
Sophie hatte sich zu ihr umgedreht. Ihre Augen zogen sich zusammen, und für einen Moment spürte sie Wut in sich aufsteigen.
Diese Person war nicht ihre Mutter.
Doch die plötzliche Aufwallung war kurz und schwach, wie alle Gefühle schwach waren in den letzten Tagen.
Keine Kraft.
Schwer ließ sich Sophie auf das Krankenhausbett sinken.
»Du wirst krank werden, wenn du noch länger hierbleibst«, stellte die Maskenbildnerin fest. »Sieh dich doch um!«
Sophie hatte ein Einzelzimmer, einer der Vorteile ihrer privaten Krankenversicherung. Doch sie wusste, was Tilly meinte.
»Jeder zweite Mensch in diesem Gebäude ist krank«, schnaubte die Maskenbildnerin. »Kein Wunder. Du musst hier raus - aber du wirst auf keinen Fall wieder zur Arbeit gehen.«
»Was?« Kraftlos oder nicht, es gab eine Grenze.
Jeder Mensch hat das Recht, seine Art zu leben zu verteidigen, dachte Sophie. Und wenn es nur ein jammerndes Elend ist, das er verteidigt.
»Du wirst Urlaub machen.« Tilly ließ sie nicht aus den Augen. »Deine Kolumne wird so lange ausgesetzt, Dein Platz in der Donnerstagsausgabe auf Seite drei bleibt dir erhalten. Keine andere Kolumne, keine Vertretung. Du behältst deinen Schreibtisch und dein Büro.«
»Was?« Sophie schüttelte den Kopf. »Schöttel versucht seit Jahren, an diesen Job zu kommen! Im Abendblatt hat es an dieser Stelle immer eine Kolumne gegeben! Cornelsen würde doch niemals freiwillig ...«
Justus Cornelsen war neunundachtzig Jahre alt, doch kein Verleger dieser Welt hatte seine Redaktion dermaßen im Griff wie der greise Inhaber des Abendblatts, des Lokalsenders, der Werbeagentur - von allem, was dazugehörte im Medienhaus. Er schien geradezu in den Redaktionsräumen zu wohnen. Wenn sämtliche Mitarbeiter in den Feierabend verschwunden waren, selbst Sophie, die nun wirklich ungewöhnliche Arbeitszeiten hatte, brütete Justus Cornelsen in seinem Glaskasten noch über den Revisionsabzügen der nächsten Ausgabe. Und wehe, es hatte sich irgendwo ein Fehler eingeschlichen. Dann musste Tilly als Mädchen für alles ...
Tilly!
Die Maskenbildnerin betrachtete nachdenklich ihre Fingernägel. Stirnrunzeln, als sie die Hand über die Revers ihres blassblauen Jacketts legte.
»Das beißt sich.« Gemurmelt. »Frisch aufgetragen war das ein wunderschönes Bleu. Aber jetzt? - Das ist ein Taubengrau! Ein taubendreckiges Grau! Und ich wunder mich den ganzen Tag, was die Leute mich anstarren.«
Justus Cornelsen. Irrwitzige Vermutungen darüber, was der hinfällige Verleger und Tante Tilly nach Dienstschluss wohl miteinander anstellen mochten, gehörten zu den standing jokes, die in den Redaktionsräumen hinter vorgehaltener Hand ausgetauscht wurden.
Irrwitzig, weil schon die bloße Vorstellung Wahnsinn war.
Derselbe Wahnsinn wie der Gedanke, dass es oben rechts auf Seite drei zum ersten Mal seit 1876 keine Kolumne geben sollte.
»Ich hab vorgeschlagen, dass wir an der Stelle das Wetter bringen.« Tilly blickte auf. »Kommt zwar auf der neun noch mal, aber das ändert sich ja so schnell.«
Sophie bekam den Mund nicht wieder zu. Die Maskenbildnerin musste irgendwas gegen den alten Mann in der Hand haben, kompromittierende Fotos oder sonst was. Anders war dieser Irrsinn nicht vorstellbar.
»Zwei Bedingungen«, sagte Tilly.
Sophie kniff die Augen zusammen.
»Keine Sorge.« Eine abwiegelnde Handbewegung. »Die erste wird dir gefallen. Hohenholz wird dir gefallen. Ich bin selbst seit ...«
Die Maskenbildnerin verstummte. Ihr Blick schien sich in weiter Ferne zu verlieren. Ein Seufzen. »Lange, lange her.« Ein Kopfschütteln. »Jedenfalls wird es dir gefallen. Wenn es einen Ort gibt, an dem überhaupt nichts los ist, dann ist es Hohenholz. Genau, was du brauchst.«
Da kommt sie her! Der Gedanke war plötzlich in Sophies Kopf. Das muss ihr Heimatort sein!
Sophie von Wiedenthal hatte noch nie von einem Hohenholz gehört, doch wenn dieses verschlafene Örtchen ansatzweise so aussah, wie sie es sich vorstellte, genügte ein Blick auf Tante Tilly, um zu erklären, warum sie sich dort ein halbes Leben nicht mehr hatte blicken lassen.
Und, vielleicht war es nur der Klang des Wortes: Hohenholz. Vielleicht war es das Gefühl, das Sophie plötzlich spürte: etwas vollständig Unbekanntes, das doch etwas Bestimmtes in ihr anrührte. Hohenholz. Ganz weit draußen, ganz weit weg. Ein Ort, um Atem zu holen. Ein Ort, um etwas wiederzufinden, das man vor langer, langer Zeit verloren hatte.
Aber vielleicht war es auch einfach nur ihre Kraftlosigkeit. Die Tatsache, dass sie selbst nicht imstande war, einen anderen Vorschlag zu machen.
»Gut«, sagte sie. »Deine erste Bedingung. Du hast mir ein Quartier ausgesucht. In Ordnung.«
»Ein Quartier.« Tilly nickte. »Und eine Bahnverbindung für morgen früh. - Nein, das ist nicht die zweite Bedingung. Aber es wär schon schön, wenn du in den Zug steigst, sonst verfällt das Ticket. - Ach ja, Dr. Schroeder ist einverstanden, dass du morgen aus der Klinik entlassen wirst.«
Justus Cornelsen. Dr. Schroeder.
Sophie hob die Augenbrauen.
»Mit wem hast du nicht gesprochen?«
»Kurt Sandow.«
»Was?«
Tilly fixierte sie. »Das ist die zweite Bedingung.«
»Was hat Kurt Sandow damit zu tun?«
»überhaupt nichts«, stellte Tilly fest. »Und deshalb wird er auch nicht erfahren, wohin du fährst. Dein Handy lässt du am besten hier. - Sophie.« Die Maskenbildnerin griff nach ihrer Hand. »Diese Zeit ist für dich. Ganz allein für dich. Und es ist vollkommen gleichgültig, wie lange sie dauert. Hohenholz ist ein besonderer Ort, das wirst du sehr schnell merken. Und Sandow hat dort nichts verloren. Der würd noch mit der Mistgabel auf dem Heuhaufen versuchen, in die Bunte zu kommen.«
Sophie antwortete nicht.
Hohenholz.
Kein Handy. Kein Kurt Sandow.
Zeit für mich.
»Einverstanden«, sagte sie leise.
Acht Uhr dreißig.
Tante Tilly war auf die Minute pünktlich, lotste Sophie über die Krankenhausflure, nachdem die ehemalige Patientin sich von Dr. Schroeder verabschiedet und einen Zwanziger für die Schwesternkasse dagelassen hatte.
In Tillys Peugeot, der einer Louis-Vuitton-Handtasche so ähnlich sah, wie das für ein Auto möglich war, wartete Sophies Reisegepäck.
Sie stellte fest, dass sie kein bisschen verwundert war. Am zweiten Tag im Krankenhaus hatte sie widerstrebend ihre Wohnungsschlüssel rausgerückt, damit die Maskenbildnerin sich um ihre Zimmerpflanzen kümmern konnte.
Auf der Suche nach dem Abfahrtgleis hängte Tilly die jüngere Frau beinahe ab. Die Tage in den klimatisierten Krankenhausräumen forderten ihren Tribut.
Und nicht diese Tage allein.
Sophie spürte eine Erwartung, eine verhaltene Neugier tief in ihrem Innern, wie ein Kind sie am Heiligen Abend spürt, wenn es eigentlich schon zu groß ist für den Weihnachtsmann. Nicht offen eingestanden, aber doch zu deutlich, um sich vollständig verleugnen zu lassen.
Hohenholz.
Sophie von Wiedenthal war auf jedem der sechs Kontinente gewesen, in den meisten Fällen auf journalistischer Mission. Doch es war der Klang dieses Wortes, der ein leises Kribbeln in ihr weckte.
Hohenholz.
Aber da war die bleierne Müdigkeit in ihrem Körper. Es fühlt sich nicht an, als ob ich frisch aus dem Krankenhaus komme.
Es fühlt sich an, als wäre ich auf dem Weg dorthin.
Zu ihrer Überraschung hatte Tilly nicht den ICE gebucht, sondern eine bessere Bimmelbahn, die alle zehn Kilometer halten würde. Erst als die Maskenbildnerin ihr den Fahrplan erklärte, begriff Sophie, warum.
Die Fahrt würde über fünf Stunden dauern. Der ICE hätte für den allergrößten Teil der Strecke - bis Hannover - weniger als zwei gebraucht. Doch dafür würde Sophie kein einziges Mal umsteigen müssen.
Sie beobachtete, wie Tilly sich einen Zugbegleiter schnappte und ihn unmissverständlich anwies, auf diese Reisende ein besonderes Auge zu haben. Der Mann widersprach nicht. Niemand widersprach Tilly, wenn sie diesen Ton anschlug. Schon in der Hoffnung, dass das Gespräch dann schneller vorbei sein würde.
»So, Schätzelchen.« Tilly verstaute das Gepäck an Sophies Fensterplatz. »Sie werden in Dorfmark am Bahnhof auf dich warten. Erkennen werden sie dich schon; da steigt kaum ein Mensch aus. Und schließlich trägst du keine Uniform.«
Keine Uniform?
Doch Tilly hatte eine Miene aufgesetzt, als versuchte sie sich im letzten Moment an etwas Wichtiges zu erinnern.
»In wenigen Minuten hat Abfahrt der Regionalexpress nach Hamburg über Leverkusen, Remscheid ...«
Die Bahnsteigdurchsage.
Mit einem Mal veränderte sich Tillys Gesichtsausdruck. Ihr Blick zuckte zur Tür.
Wie ein Tier in der Falle. Ein merkwürdiges Gefühl in Sophies Magen.
Sie hatte nicht die Spur eines Zweifels: Die Maskenbildnerin war davon überzeugt, dass Hohenholz Sophie von Wiedenthal guttun würde.
Doch Tilly selbst hatte eine panische Angst vor ihrem Heimatort. Schon bei der Vorstellung, in einem Zug gefangen zu sein, der Kurs auf Hohenholz nahm - oder den nächstgelegenen Bahnhof -, wurde sie blass unter ihrer künstlichen Bräune.
Die Maskenbildnerin fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
»Wenn du irgendwie ein schlechtes Gefühl hast«, schärfte sie Sophie ein. »Wenn du das Gefühl hast, dass irgendwas ... nicht stimmt: Du hast meine Nummer. Ruf mich an, und ich komme und hol dich. - Sie haben Telefon im Ort.«
Was sagte es aus, dass es offenbar notwendig war, das zu erwähnen? Einen Moment lang dachte Sophie an ihr Handy.
Tilly holte Luft.
»Wenn du mit Dorothea sprichst, sag ihr Grüße von mir, und ...« Sie biss die Zähne zusammen. »Ach ja: Ich bin Schichtleiter in der Fertigung.«
»Was?«
Tilly schob sich bereits rückwärts durch den Gang in Richtung Ausstieg.
»Den Kindern geht es bestens.«
»Was?«
Doch Tilly war jetzt fast an der Tür, eine halbe Wagenlänge von Sophie entfernt, blieb für eine Sekunde stehen.
Ihre Blicke trafen sich.
Werd gesund!
Dann war sie nicht mehr zu sehen.
Momente später fanden Sophies Augen sie wieder. Tilly stand auf dem Bahnsteig, hatte ein schneeweißes Stofftaschentuch gezückt und winkte.
Mit einem ächzenden Geräusch schlossen sich die Türen, und der Zug ruckte an.
Sophie hob die Hand und hielt sich an dem fliederfarbenen Farbtupfer fest, bis er aus ihrem Blick verschwunden war.
Das Käuzlein ruft zur nächt'gen Stille: Auf, lasst die Pflöck' und Pflüge fahr'n! Nun ruhet aller Menschen Wille. Für heut' ist's Tagewerk getan. (Dorothea Helmke, Heide im Halblicht)
Das monotone Stampfen der stählernen Räder.
Ein grauer Regenvorhang vor dem Fenster. Der Regionalexpress kam kaum dazu, richtig zu beschleunigen, bevor er für den nächsten Halt schon wieder abbremsen musste.
Kleinstadtbahnhöfe, Ortsnamen, die Sophie schon bald nichts mehr sagten.
Ihre Augen waren ständig im Begriff zuzufallen. Der von Tilly eingeschüchterte Zugbegleiter hatte sich kurz nach der Abfahrt erkundigt, ob es ihr gut gehe, und Sophie beobachtete aus dem Augenwinkel, dass er immer mal wieder in ihre Richtung sah.