Die letzte Offenbarung - Stephan M. Rother - E-Book
SONDERANGEBOT

Die letzte Offenbarung E-Book

Stephan M. Rother

0,0
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Atemlose Jagd und heikle Spurensuche: Der fesselnde Thriller »Die letzte Offenbarung« von Bestseller-Autor Stephan M. Rother jetzt als eBook bei dotbooks. Feuer im Vatikan! Lodernde Flammen fügen zahlreichen uralten Schriftstücken der Biblioteca Apostolica schwerste Schäden zu. Nur einer kann die unersetzbaren Dokumente retten – der Restaurator Amadeo Fanelli. Als er im Umschlag eines mittelalterlichen Buches unerwartet auf Fragmente eines viel älteren Pergamentes stößt, ahnt er sofort, welche Sprengkraft seine Entdeckung in sich trägt: Es handelt sich um eine bisher unbekannte Schrift des Apostels Johannes, dessen geheime Aufzeichnungen mit einem Mal das gesamte Christentum infrage stellen! Seine fieberhafte Jagd nach weiteren Fragmenten führt Amadeo quer durch Europa – doch schon bald stellt er fest, dass es Mitwisser gibt, die die hochbrisante Entdeckung um jeden Preis vertuschen wollen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Thriller »Die letzte Offenbarung« von Bestseller-Autor Stephan M. Rother verwebt historische Fakten mit packender Fiktion. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 614

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Feuer im Vatikan! Lodernde Flammen fügen zahlreichen uralten Schriftstücken der Biblioteca Apostolica schwerste Schäden zu. Nur einer kann die unersetzbaren Dokumente retten – der Restaurator Amadeo Fanelli. Als er im Umschlag eines mittelalterlichen Buches unerwartet auf Fragmente eines viel älteren Pergamentes stößt, ahnt er sofort, welche Sprengkraft seine Entdeckung in sich trägt: Es handelt sich um eine bisher unbekannte Schrift des Apostels Johannes, dessen geheime Aufzeichnungen mit einem Mal das gesamte Christentum infrage stellen! Seine fieberhafte Jagd nach weiteren Fragmenten führt Amadeo quer durch Europa – doch schon bald stellt er fest, dass es Mitwisser gibt, die die hochbrisante Entdeckung um jeden Preis vertuschen wollen …

Über den Autor:

Stephan M. Rother wurde 1968 im niedersächsischen Wittingen geboren, ist studierter Historiker und war fünfzehn Jahre lang als Kabarettist auf der Bühne unterwegs. Seit dem Jahr 2000 veröffentlicht er u. a. unter seinem Pseudonym Benjamin Monferat erfolgreich Romane für Erwachsene und Jugendliche. Der Autor ist verheiratet und lebt in einem verwinkelten Haus mit vielen Büchern und Katzen am Rande der Lüneburger Heide.

Stephan M. Rother veröffentlicht bei dotbooks ebenfalls:

»Das Babylon-Virus«

»Im dunklen Holz«

»Sturmwelle«

Die Website des Autors: www.magister-rother.de/

Der Autor im Internet: www.facebook.com/stephan.m.rother/

***

eBook-Neuausgabe März 2019

Copyright © der Originalausgabe 2009 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/fabrycs

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-396-9

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter.html (Versand zweimal im Monat – unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Die letzte Offenbarung« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Stephan M. Rother

Die letzte Offenbarung

Thriller

dotbooks.

»Deus caritas est.«Pp. Benedictus XVI.

Prolog

Rom brannte. Allerdings waren von hier, von den Terrassen der päpstlichen Sommerresidenz, keine Flammen zu erkennen. Der Palast von Castel Gandolfo erhob sich am Rand der Colli Albani, fünfzehn, zwanzig Kilometer von der Ewigen Stadt entfernt.

Doch der Nachthimmel im Norden sah aus wie blasses Blut, einem fluoreszierenden Nordlicht gleich oder dem Furcht einflößenden Schweif eines Kometen. Beides Naturerscheinungen, welche die Menschen früherer Zeiten als Botschaften Gottes gedeutet hatten: Vorboten schrecklicher Ereignisse.

Dies aber waren keine Vorboten.

Dies war das Verhängnis selbst.

Das Unheimlichste an der nächtlichen Szenerie war die vollkommene Lautlosigkeit, mit der das ferne Geschehen vor sich ging. Kein Motorenlärm der Einsatzfahrzeuge, kein Sirenengeheul war hier in den Albaner Bergen zu hören. Alles war weit weg.

Aus den Tiefen der päpstlichen Gärten erklang das Konzert der Grillen. Klang es verstört in dieser Nacht? Verstörend? Das halblaute Gemurmel der Betenden mischte sich darunter.

Auch ich sollte beten, dachte Pedro De la Rosa. Mehr als jeder andere. Er fröstelte. Er versuchte, es zu verbergen, doch es gelang ihm nicht. Ohne Aufforderung legte ihm jemand etwas über die Schultern, einen Mantel oder eine Decke, er achtete nicht darauf.

Hin und wieder erschienen schemenhafte Gestalten aus der Dunkelheit. Mit gedämpfter Stimme brachten sie Neuigkeiten. De la Rosa hörte die Worte, nickte und konnte sie doch nicht begreifen.

Rom brannte.

Ich sollte dort sein, dachte er. Wojtyla wäre längst dort gewesen. Der Deutsche, Benedetto, auch. Vermutlich.

Was hätte ER wohl getan? Das Frösteln kam wieder, und diesmal war es heftiger. Was hat er wohl getan?, verbesserte er sich. Er war dabei, als Nero die Stadt in Brand steckte und es dann den Christen in die Schuhe schob. Simon Petrus war dabei gewesen. Wie so viele seiner Glaubensbrüder und -schwestern war er dafür am Kreuz gestorben.

Er hätte mit angepackt, dachte De la Rosa. Er hätte versucht, den Menschen zu helfen. Er war mit Sicherheit ein kräftiger Mann, schließlich war er mal Fischer gewesen. Kein großer Gelehrter oder Politiker. Petrus hätte sich nicht abseits gehalten.

»Ich muss zu ihnen«, murmelte er.

»Sua Santità?«, fragte eine leise Stimme. »Euer Heiligkeit?«

Pedro De la Rosa, Papst Pius XIV., horchte auf. Diese Stimme war anders als die anderen. Die Worte waren nicht etwa laut gesprochen, doch sie besaßen einen anderen Klang als das Geflüster, mit dem man ihm Nachricht von den Vorgängen in der Stadt gab.

Der Papst wandte sich um, und Bruder Duarte deutete eine knappe Verneigung an. Der dunkelhäutige junge Mann war schon in Venezuela De la Rosas Vertrauter gewesen.

»Ich muss zu ihnen«, wiederholte der Papst. »Weide meine Herde, hat der Herr zu Petrus gesprochen, und dort unten ... dort unten verbrennt die Herde.«

Duarte nickte, und seine Lippen verzogen sich zum Anflug eines Lächelns. Es lag Verständnis darin, nicht Herablassung. Duarte, stellte De la Rosa wieder einmal fest, war ein gut aussehender Mann.

»Wenn Sie jetzt nach Rom fahren, Euer Heiligkeit, wird der Präfekt der carabinieri ein Großaufgebot von seinen Mannschaften abziehen. Wollen Sie das?«

»Ich könnte nach meinen Kräften ...«

»Sie würden nach Ihren Kräften«, nickte der junge Mann. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Sie Seite an Seite mit den Arbeitern auf den Plantagen gestanden haben. Abends, wenn die anderen erschöpft am Boden saßen, haben Sie ihnen noch das Wort des Herrn verkündet. Nur waren Sie damals fünfzehn Jahre jünger – und Sie waren nicht der Papst, das Lieblingsziel aller Verrückten und Fanatiker dieser Welt.« Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Es war, als wäre eine Wolke vor den weißen Mond gezogen. »Was Sie dort unten geben könnten, Euer Heiligkeit, stände in keinem Verhältnis zum Aufwand und den Gefahren. Hier dagegen können Sie etwas tun. Der Bürgermeister wird natürlich auch reden – aber der Bürgermeister ist nicht Sie.«

De la Rosa sah ihn an. Er wusste, dass Duarte recht hatte. »Das Studio ist vorbereitet«, sagte der junge Mann. »Sind Sie bereit?«

Der Papst neigte den Kopf. Er war es nicht. Er war nicht bereit, doch er wusste, dass dies das Beste und Einzige war, was er im Augenblick tun konnte, also würde er jetzt zu den Menschen sprechen.

Ein letzter Blick auf den blassroten Schimmer über dem Horizont, dann folgte er Duarte in das Innere der Villa. Sobald er eintrat, nahmen zwei Schweizergardisten Haltung an. Er kannte ihre Gesichter, nicht aber die Namen. De la Rosa nickte ihnen zu, dann hatte er auch schon die Tür zu seinem Arbeitszimmer erreicht, die Duarte ihm aufhielt.

Er kniff die Augen zusammen. Einige Männer waren eben noch dabei, die Scheinwerfer auszurichten.

»Rai uno bringt uns auf Sendung, sobald Sie das Zeichen geben, Sua Santità«, sagte einer von ihnen.

Eine dunkelhaarige Frau eilte auf den Papst zu, auf den Armen ein Tablett mit mehreren kleinen Gefäßen und Wattebäuschchen.

De la Rosa sah sie an. »Sie wollen mich doch jetzt nicht zurechtmachen?«

Die Frau warf einen kurzen Blick auf Duarte, woraufhin der junge Mann fast unmerklich den Kopf schüttelte.

Der Papst ging um den schweren Schreibtisch herum. Irgendjemand musste ihn aufgeräumt haben. De la Rosa ärgerte sich darüber, aber dafür war jetzt keine Zeit. Er ließ sich auf den Stuhl gleiten. Für einen Augenblick stützte er die Ellenbogen auf den Tisch und verbarg das Gesicht in den Händen. Er musste sich sammeln, beten ... wo immer der Unterschied lag. Nein, es war nicht möglich. Er konnte es nicht.

Als er wieder aufblickte, waren die Scheinwerfer so hell, dass ihm Tränen in die Augen traten. Sofort korrigierte einer der Techniker die Ausleuchtung, und es wurde besser.

De la Rosa zog einen Bogen Papier zu sich heran, griff nach einem Stift und machte sich rasch Notizen. Er würde während des Sprechens nicht auf das Blatt schauen. Trotzdem. Es half, jetzt etwas aufzuschreiben.

»Der Stand der Dinge?«, fragte er leise. Er wusste, dass Duarte zwei Schritte hinter ihm war.

»Die Notaggregate funktionieren«, erwiderte der junge Mann. »Weder der Petersdom noch der Apostolische Palast ist in Gefahr.«

Er weiß, wie ich mich fühle, dachte De la Rosa. Er sagt es mit keinem Wort, doch ich höre es aus seinem Ton. Es fühlte sich an, als hätte ihm der jüngere Mann für einen Augenblick die Hand auf die Schulter gelegt, um ihm Kraft zu geben. Allerdings ahnte er, dass gleich noch etwas kommen würde.

»Von der Viale Vaticano her hat das Feuer auf die Museen übergegriffen, auf die Bibliothek. Damit haben sie nicht gerechnet. Sie setzen die meisten Kräfte in Trastevere ein. Die Leute dort haben in ihren Häusern Benzin gebunkert wie ...« Er bemerkte den Blick des Papstes und seufzte.

»Was ist ...« De la Rosas Stimme klang unsicher. »Was ist mit den Brandschutztüren, die Wojtyla hat einbauen lassen? Was ist mit der ... der untersten Ebene?«

»Wir wissen wenig, Euer Heiligkeit. Es scheint ein Problem mit der Automatik gegeben zu haben. Aber das ... das sind die neuesten Nachrichten. Inzwischen sind die automatischen Sprinkler überall angesprungen. Mehr können wir nicht sagen.«

Die Museen, dachte De la Rosa. Die Bibliothek. Er spürte einen schmerzhaften Stich in der Brust. Die Bücher, die kostbaren Bücher. Doch daran durfte, daran konnte er jetzt nicht denken. Nicht heute Nacht. Nein. Was bedeuteten schon Bücher?

»Was ist mit den Menschen?«, fragte er laut.

»Der Vatikan ist geräumt, Euer Heiligkeit. Ansonsten gibt es wohl ein ziemliches Chaos. Trastevere ist betroffen und Teile von Prati. Wir müssen mit Verletzten und Toten rechnen, aber Zahlen hat zu dieser Stunde niemand.«

Die Menschen. Er glaubte nicht, dass er jetzt fähig war zu sprechen.

»Ich bin bereit«, sagte er.

Der Techniker nickte, und im nächsten Augenblick begann das rote Licht zu leuchten. Sie waren auf Sendung.

Die Menschen, dachte er. Dann die Bücher.

»Carissimi fratelli e sorelle«, begann Pius XIV. »Geliebte Brüder und Schwestern ...«

Rom 1. September

Kapitel I

Eine Frau wurde dem heiligen Antonius zum Verhängnis. Im Grunde war das ganz passend, hatte sich der große Asket doch sein Leben lang darum bemüht, den Versuchungen des Fleisches zu widerstehen.

Amadeo Fanelli hatte weder die Disziplin des Heiligen noch einen solchen Ehrgeiz. Im Übrigen hatte er auch keinerlei Chancen bei Chiara di Tomasi. Doch damit stand er nicht allein. Er sah, wie sich an den Arbeitstischen der officina ein knappes Dutzend Augenpaare neugierig dem Eingang zuwandten. Denn dort kam sie: Mit gut trainiertem Hüftschwung und einem überlegenen Lächeln ging – nein, tanzte! – die Tochter des capo an Amadeos Schreibtisch vorbei und verschwand ohne anzuklopfen im Büro ihres Vaters.

Das geschah jeden Tag um diese Zeit, kurz vor dem Mittag, und die Männer in der officina hatten durchaus ihr Vergnügen an diesem Auftritt.

Mit einem grinsenden Kopfschütteln beobachtete Amadeo seine Kollegen und sah, wie sich die Tür hinter Chiara schloss, ehe er sich wieder den Pergamenten zuwandte.

»Ciao, Amadeo!« Taddeo Niccolosi kam schnaufend aus Richtung der Toiletten und steckte sich eben noch das Hemd in die Hose. »Sag nicht, ich hab sie schon wieder verpasst!«

»Ich fürchte schon. Du wirst dich gedulden müssen, bis sie rauskommt.«

Tröstend lächelte Amadeo dem Glatzkopf zu. Niccolosi zählte zu dem knappen Dutzend Restauratoren, welche die officina di Tomasi fest beschäftigte. Amadeo schätzte ihn. In den bald zwei Jahren, die er der Restauratorenwerkstatt inzwischen zuarbeitete, hatte er erkannt, dass in diesem kahlen Schädel ein echtes Forscherhirn wohnte. Mit seiner Neugier und Begeisterung machte Niccolosi so manches wett, was Amadeo ihm durch sein Studium voraushatte. Doch dann gab es wieder Augenblicke ...

»Maledetto!«

Übertrieben heftig hieb Niccolosi mit der Faust auf den Arbeitstisch. So heftig, dass Amadeos Tasse ins Kippeln kam. Der Restaurator keuchte. Er sah es kommen, fasste zu –

Zu spät.

Das Antonius-Manuskript aus der frühen Stauferzeit, an dessen schadhaftem Rücken Amadeo seit dem Morgen arbeitete, schwamm in lauwarmem caffè.

Entsetzt starrten sie auf die Bescherung.

»Maledetto«, wiederholte Niccolosi mit schwacher Stimme.

Amadeo löste sich als Erster aus seiner Erstarrung. Wie immer hatte er bei der Arbeit seine Anzugjacke abgelegt. Sie war nicht billig gewesen, dennoch warf er sie ohne zu zögern auf den Arbeitstisch und begann zu tupfen. Der Antonius war ein Vermögen wert – wenn Niccolosi für den Schaden aufkommen sollte, war die Jacke das geringste Opfer.

»Maledetto!«, fluchte er jetzt selbst. »Sieh dir das an!« Er zog die Jacke beiseite.

Das Manuskript bot ein Bild des Elends. Taufrisch hatte das Pergament auch vorher nicht ausgesehen, doch kein Sammler der Welt war so blind, dass er solche Spuren übersah. »Porca miseria!«

Eine Tür öffnete sich in seinem Rücken.

»Was zur ...«

Giorgio di Tomasi verstummte. Amadeo holte tief Luft und drehte sich zum capo um. Das Gesicht des Inhabers der officina di Tomasi schien das Rot der italienischen Nationalflagge aufzugreifen, die durch die offene Tür in seinem Büro zu sehen war. Das schlohweiße Haar stand ihm zu Berge, dass es Einstein alle Ehre gemacht hätte. Der Grünton, der zur italienischen Trikolore noch fehlte, fand sich in Niccolosis Gesicht. Vergeblich versuchte sich der Glatzkopf hinter Amadeo zu verkriechen.

»Sie!« Giorgio di Tomasis Blicke durchbohrten Niccolosi. Der Finger des capo streckte sich aus wie in einer satanischen Geste. »Sie!«

Amadeo schob sich vor den Glatzkopf und hüstelte. »Ähm, ich fürchte, das ... das war ich.«

»Sie?« Di Tomasi zwinkerte und starrte ihn ungläubig an.

»Ich« Amadeo hüstelte erneut, heftiger diesmal, und hielt sich die Hand vor den Mund. »Der viele Staub. Ich muss irgendwie ...«

»Aha.« Der capo verriet mit keiner Miene, ob er ihm die Geschichte abkaufte. Sein böser Blick lag noch immer auf Niccolosi. Doch Amadeo spürte, dass sein Plan aufging.

Der Unglücksrabe hatte Frau und Kind – und di Tomasi war ein impulsiver Mensch, der schon häufiger Mitarbeiter an die Luft gesetzt hatte. Amadeo konnte das nicht passieren, schließlich war er kein Angestellter des capo. Zudem wusste di Tomasi nur zu gut, was er an ihm hatte.

»Na schön«, murmelte der Inhaber der officina. »Schwamm drüber.« Er kratzte sich hinter dem Ohrläppchen. »Ist wohl der erste Schritt. Wenn einer das wieder hinbekommt, dann wohl Sie, Signor Fanelli.«

»Mein Kollege Niccolosi wird das unter meiner Anleitung tun«, sagte Amadeo und nickte dem Unglücklichen zu. Es war das Mindeste, was von Niccolosi zu erwarten war angesichts des Ärgers.

»Natürlich«, stotterte der. »Das werde ich.«

»Schön«, sagte di Tomasi noch einmal. »Dann räumen Sie diese Schweinerei erst mal auf. Signor Fanelli, ich bin jetzt mit meiner Tochter zu Tisch. Danach bitte in meinem Büro!«

Er rauschte davon, mit einem Blick auf Niccolosi. Einem Blick, wie ihn Cicero seinerzeit Catilina zugeworfen haben musste.

Chiara, mit einem feinen Lächeln, stolzierte hinterher.

Die Männer in der officina blieben zurück und betrachteten das Bild der Verwüstung.

»Puh«, murmelte Niccolosi. »Das war knapp.«

»Ist ja noch mal gutgegangen«, lächelte Amadeo.

»Ich sag's doch«, strahlte der Glatzkopf. »Als Team sind wir eben unschlagbar.«

Kapitel II

»Sie waren in der Anna Amalia«, stellte Signor di Tomasi fest.

Er hatte Amadeo keinen Stuhl angeboten, doch der Restaurator nahm es hin: Sollte der capo seine kleine Rache haben. Wenn er allerdings glaubte, ein Amadeo Fanelli aus den Marken würde die Hände auf dem Rücken verschränken und schuldbewusst zu Boden blicken, dann hatte er sich getäuscht. Diesen Gefallen würde er Giorgio di Tomasi nicht tun.

Doch egal. Niccolosi wurde nicht gefeuert, das war die Hauptsache. Auf. der anderen Seite war der capo verdächtig schnell wieder ruhig geworden. Wenn Mitarbeiter gekündigt worden waren, dann waren oft Kleinigkeiten der Anlass gewesen, nicht ansatzweise vergleichbar mit der Flutung des heiligen Antonius. Und was zum Teufel hatte der Mann jetzt mit der Anna Amalia Bibliothek?

Giorgio di Tomasi hatte selbst eine dampfende Tasse caffè corretto auf seinem Schreibtisch stehen und nahm jetzt einen Schluck. Der Duft nach Grappa drang an Amadeos Nase. Der capo erwartete, dass der corretto jeden Tag um Punkt Viertel nach zwei für ihn bereitstand. Ein sonderbares Getränk zu einer sonderbaren Zeit. Aber das war wie beim Mittagessen: Di Tomasi nahm auch sein pranzo zu einer sonderbaren Zeit ein und erwartete, dass man auf seine Eigenheiten einging. Der caffè corretto gehörte zu Amadeos undeutlich umrissenen Aufgaben. »Wissenschaftliche Beratung«, hieß es in seinem Vertrag. Er war gespannt, wo heute Beratungsbedarf bestand.

»Ja«, sagte er. »Ich war in Weimar. Sie erinnern sich: der große Brand vor ein paar Jahren. Ich sollte die beschädigten Bücher eigentlich nur sichten, doch am Ende habe ich eher beim Binden ...«

Giorgio di Tomasi nahm noch einen Schluck. Nur der caffè, wohlgemerkt, war Amadeos Aufgabe, den Grappa gab der alte Mann nach eigenem Gutdünken zu. Heute hatte er sich für eine ganz beachtliche Dosis der Spirituose entschieden.

»Ich weiß, ich weiß.« Di Tomasi winkte ab. »Sie kennen sich aus mit alten Büchern.«

Sonst wäre ich hier auch falsch, dachte Amadeo.

»Sie gelten als verschwiegen«, fuhr der capo fort. Er schien eher mit sich selbst zu sprechen. »Und das ist auch gut so. Ich weiß, dass Sie oft in den Manuskripten lesen, die Sie auf den Tisch bekommen. Von den Angestellten liest niemand fließend Latein oder Griechisch oder ...«

»Aramäisch«, half ihm Amadeo. »Hebräisch, Arabisch. – Auf Sanskrit hatten wir noch nichts.«

»Dio mio.« Der capo stellte seine Tasse ab. »Was haben Sie nur alles studiert«, murmelte er anerkennend. »Nein, erzählen Sie's nicht. Steht ja hier drin.« Er legte die Hand auf einen Stapel dunkler Ordner.

»Geschichte, Kunstgeschichte, Vergleichende Kulturwissenschaften – was auch immer das ist. Theologie ...« Di Tomasi fuhr sich durchs Haar. »Sie als Monsignore – so viel Fantasie habe ich nicht. Wenigstens wären die Ministranten sicher vor Ihnen.« Er seufzte. »Es sind schreckliche Zeiten. Wenn ich mir vorstelle, dass jemand meiner Chiara zu nahe kommt ...« Sein Blick veränderte sich, richtete sich starr geradeaus. »Dem Kerl würde ich das Genick brechen.«

Amadeo schluckte. Der Mann konnte offenbar durch geschlossene Türen sehen.

»Den heiligen Antonius geben Sie bitte an Niccolosi weiter«, wechselte di Tomasi unvermittelt das Thema. »Der bügelt das wieder hin. Und wenn er die Handschrift wirklich bügeln muss. Für Sie habe ich etwas anderes.«

Er erhob sich ächzend. Giorgio di Tomasi war vierundsiebzig und damit exakt vierzig Jahre älter als Amadeo, doch für sein Alter war er eigentlich fit. Das Ächzen ist ein Vorwurf, dachte der Restaurator. Aber da wird er an sich deutlicher. Sehr viel deutlicher. Und lauter vor allem.

Vielleicht war es die ungewöhnliche Dosis an Grappa, möglicherweise auch der römische Sommer. In diesem Jahr war die Sommerhitze besonders unerträglich. Seit Wochen schien sich kein Lüftchen zu regen. Zwei Monate nach dem großen Brand, der halb Trastevere eingeäschert hatte, verströmte die Stadt noch immer den Duft eines frisch erloschenen Scheiterhaufens.

Andererseits war der capo die Sommer in der Ewigen Stadt von Kindesbeinen an gewohnt.

Mit langsamen Schritten trat er an einen deckenhohen Metallschrank und fingerte ein Schlüsselbund von seinem Gürtel. Knirschend öffnete sich der Schließmechanismus.

Amadeo konnte noch nicht erkennen, was sich in dem Schrank befand – die Tür war im Weg.

»Für Sie habe ich etwas anderes«, wiederholte der alte Mann. Er drehte sich um, und seine hellen Augen fixierten Amadeo. »Dass diese Bücher hier sind, weiß nur eine Handvoll Menschen. Und jeder von ihnen hat einen lateinischen Titel, der eine halbe Seite lang ist. Ich muss Ihnen kaum sagen, was mit Ihnen passiert, wenn auch nur ein Wort davon nach außen dringt. Diese Bücher ...« Er griff in das Schrankfach, beförderte einen voluminösen Pappkarton auf den Schreibtisch und seufzte leise. »Eine Schande, Bücher von solchem Wert, verpackt wie Altpapier. Vermutlich wegen der Geheimhaltung.«

Mit einem Nicken forderte er Amadeo auf, näher zu treten, dann hob er den Deckel ab. Papierfetzen stoben auf, und der Gestank nach Rauch und Asche stieg dem jungen Restaurator entgegen.

»Zweifellos gibt es in anderen Werkstätten noch mehr davon. Es ist nicht viel übrig von den Büchern. Die Einbände haben etwas besser durchgehalten als das Pergament, die Seiten allerdings sind wild durcheinander.« Er hielt unvermittelt inne. Wieder ein Blick in die Tasse. Amadeo dachte schon, der capo wäre am Ende. Dann, übergangslos, sprach di Tomasi weiter: »Um das auf die Reihe zu bekommen, brauche ich jemanden, der den Text lesen kann. Und der ihn auch versteht.«

Amadeo nickte. »Ja«, sagte er leise. »Das ist wohl sinnvoll. Was sind das für Bücher?«

Der capo hob die Schultern. »Was weiß ich. Alte Folianten, aus dem Vatikan.« Seine Stimme wurde zusehends undeutlicher. »Hab sie mir nicht im Einzelnen angesehen, sind heute Morgen erst gekommen. Pergamenthandschriften, quer durch die Jahrhunderte. Was eben beschädigt wurde. Ihnen ist nicht neu, was der Heilige Stuhl für ein Geheimnis um seine Archive macht. Delikate Sache, gerade jetzt. Wussten Sie, dass der neue pontifice als Kenner der Materie gilt? Etwas modern für meinen Geschmack, der Mann.« Eine Kunstpause. Der capo wiegte nachdenklich den Kopf. »Aber gut. Gut, gut, dass jemand am Ruder ist, der unsere Arbeit zu würdigen weiß. Welche Bücher es sind, geht jedenfalls niemanden was an. Ein Wunder, dass sie die Schriften überhaupt aus der Hand geben.«

»Warum tun sie es dann?«

Der alte Mann seufzte. »Können Sie sich das nicht denken? Es bleibt ihnen kaum was anderes übrig. Dasselbe Problem, das sie damals in Weimar hatten. Die obersten«, mit einer wedelnden Handbewegung wies er vage in Richtung Karton, »sind nur ein bisschen zerfleddert, aber einige der anderen haben Wasser gezogen. Das bekommen sie ohne unsere Hilfe nicht wieder hin.«

Wortlos stimmte Amadeo zu. Wenn erst einmal Wasser in einen Buchblock eingedrungen war, musste man sofort handeln, sonst setzte sich der Verfall unaufhaltsam fort. Wasser, dachte er, oder caffè.

»Sie machen sich sofort an die Arbeit«, beschloss Giorgio di Tomasi. »Ach ja, Sie arbeiten von nun an im Sekretum. Dort haben Sie mehr Ruhe, auch gibt es weniger neugierige Augen. Und wenn was nach außen dringt, weiß ich, wem ich den Kopf abreißen muss.«

Er sah den Restaurator an, als wollte er noch etwas sagen, doch dann wies er nur noch einmal auf den Karton. »Den nehmen Sie gleich mit.« Der capo schloss den Deckel und reichte Amadeo das Paket.

Er war überraschend schwer. Vielleicht lag es am Löschwasser, oder es waren Bücher mit metallbeschlagenen Einbänden dabei. Die Anzahl der Bände konnte der Restaurator so nicht abschätzen. »Wie viel Zeit habe ich?«

»Gar keine«, sagte der Alte. »Was sollen wir machen? Sie wollen ihre Bücher am liebsten sofort zurück. Sie kennen die Monsignori doch, misstrauisch wie sie sind – selbst bei einem Traditionsunternehmen wie der officina!«

»Nun, sie waren klug genug, sie hierherzuschicken.«

Di Tomasi lächelte. »Allerdings. Traditionen – entschuldigen Sie das Wortspiel – sind dem Vatikan eben heilig.«

»Gut für uns«, erwiderte Amadeo grinsend. »Und gut für die Bücher.«

Kapitel III

Ein Buch aufzuschlagen, das kam Amadeo jedes Mal vor, als betrete er eine andere Welt. Dieses Gefühl war umso stärker, wenn er kein gedrucktes Buch auf den Arbeitstisch bekam, sondern eine alte Handschrift. Der heilige Antonius etwa war ein solches Werk. Es gab Sammler und Museen, die ein kleines Vermögen für so etwas hinblätterten. Kein Wunder, dass der capo Niccolosi angestarrt hatte, als hätte der Kahlkopf einen Mord begangen.

Amadeo hatte sich ins Sekretum begeben, einen abgeschlossenen Bereich der officina, der besonders aufwendigen und, wie der Name schon sagte, besonders geheimen Projekten vorbehalten war. Nur Giorgio di Tomasi selbst besaß einen Schlüssel zu diesen Räumen – und der Restaurator, der mit dem jeweiligen Fall betraut war. Erst auf Aufforderung des capo hatte Niccolosi seinen Schlüssel grummelnd rausgerückt.

Amadeo trat von der Arbeitsfläche zurück. Wenn ein Laie an die Tätigkeit eines Restaurators, insbesondere an die eines Bücherrestaurators dachte, machte er sich mit Sicherheit falsche Vorstellungen. Er würde sich enge, staubige Bibliothekskorridore vorstellen, den Geruch nach Staub und Alter, dazu flackerndes, gedämpftes Licht. Gewiss, das alles spielte zuweilen eine Rolle – schon aufgrund der Tatsache, dass altes Papier und Pergament sehr empfindlich auf Licht reagierten –, der Alltag in der officina di Tomasi sah allerdings anders aus.

Bei seinem ersten Besuch im Sekretum hatte Amadeo sofort an einen Operationssaal denken müssen, oder eher noch an einen Seziersaal. Mit der Arbeit eines Pathologen hatte seine Tätigkeit sogar eine gewisse Ähnlichkeit: Er sezierte Bücher, versuchte herauszufinden, wie sie gebunden waren, wie schwer die Beschädigung war und wie dieser am besten beizukommen war. Gleichzeitig versuchte er so viel wie möglich von der Originalsubstanz zu erhalten. Die Einbände als solche, die hölzernen oder metallverstärkten Buchdeckel und die handgefertigten Buchrücken waren keine geringeren Kunstwerke als die mit kostbaren Malereien geschmückten Manuskripte selbst.

Was sich in dem Karton befand, den der capo ihm anvertraut hatte, war in einem beklagenswerten Zustand. Zum Glück waren die meisten Fälle jedoch nicht hoffnungslos. Die Buchblöcke waren noch intakt, und wie Giorgio di Tomasi schon angedeutet hatte, hatten die Exemplare kein Wasser gezogen. Er würde die Bindung erneuern müssen, konnte aber das Originalmaterial wiederverwenden.

Und dann war da noch der Hortulus. Ehrfürchtig blätterte Amadeo in den losen Seiten. Der Buchblock hatte sich beinahe komplett aus dem Einband gelöst, die Bindung war an mehreren Stellen gebrochen und im Begriff, sich in Wohlgefallen aufzulösen. Das geschulte Auge des Restaurators entdeckte Schäden, die einem Laien verborgen geblieben wären. Ja, es gab auch Wasserschäden, allerdings waren sie schon älter. Mit einer Gänsehaut studierte er die Manuskriptseiten.

Der Hortulus war eines der großen mittelalterlichen Werke der Gartenbaukunst. Sein Autor Walahfrid Strabo, der große Abt des Klosters auf der Insel Reichenau im Bodensee, war ein bedeutender Mann gewesen – in mehrfacher Hinsicht. So hatte er Karl dem Kahlen, dem Enkel Karls des Großen, als Lehrer, Erzieher und Berater gedient. Vor allem aber hatte er dieses Werk hier verfasst, das mehr war als nur eine Anleitung zum Gartenbau und zur Landwirtschaft. Der hymnische Ton, in dem die lateinischen Verse verfasst waren, war ein Lobpreis der Pflanzenwelt und zugleich ein Lobpreis Gottes. Dieses Werk suchte seinesgleichen in der Welt des Mittelalters, und es war in unzähligen Abschriften überliefert.

Amadeo war sich sicher, dass dieses Exemplar in der Literatur unbekannt war. Das war mehr als erstaunlich, denn ... Nein, nein, das war undenkbar. Dieser Text konnte nicht Walahfrids Original sein! Wenn er jedoch den Charakter der Schriftzeichen betrachtete, die prachtvollen, sorgfältig gerundeten Großbuchstaben: das Musterbeispiel einer frühmittelalterlichen Unzialschrift. Ja, das war mit ziemlicher Sicherheit eine Arbeit des neunten Jahrhunderts, eine direkte Abschrift des Originals vielleicht. Nichts, was der Forschung heute bekannt war, stand Walahfrids Handschrift so nahe wie dieses zerfledderte Manuskript.

Warum in Gottes Namen versteckt der Vatikan ein Gartenbuch?, dachte er und massierte seine Schläfen. Ob man sich dort überhaupt im Klaren war, was allein dieser Fund bedeutete? Etliche der anderen Bücher waren gewiss ähnlich alt. Wer weiß, worauf er noch stoßen würde.

Vorsichtig lehnte er den Hortulus gegen den Stapel der bereits geprüften Manuskripte, aber die Walahfrid-Handschrift wollte nicht richtig stehen. Der Einband war verzogen und schief. Es war besser, wenn er das Buch auf den Deckel legte. Seufzend betrachtete Amadeo den Rücken des Werkes. Eine wundervolle Arbeit. Rindsleder, soweit sich das sagen ließ, früher einmal mit Silber beschlagen, das dem Buch – vermutlich aufgrund des Materialwertes – geraubt worden war.

Unter dieser äußersten Pergamentschicht war der Rücken mit zusätzlichen Lagen von Pergament verstärkt worden. Solange der Einband intakt war, blieben sie unsichtbar, jetzt lugte indes ein Fetzen hervor. Deshalb wollte das Buch nicht richtig stehen.

Amadeo versuchte ihn in die Bindung zurückzuschieben. Es wollte ihm nicht gelingen. Er presste fester, aber das einzige Ergebnis bestand darin, dass sich an der Innenseite des Buches ein Riss in der Bindung auftat. Sofort hielt der Restaurator inne. So kam er nicht weiter. Der Einband war nicht zu retten. Er würde einen Weg finden müssen, ihn zu rekonstruieren – wenn irgend möglich aus den Originalbestandteilen.

Vorsichtig zog er den Pergamentstreifen hervor und stutzte. Seine Finger strichen über die faserige Oberfläche.

Das war kein Pergament. Er pfiff durch die Zähne. Papyrus. Das war äußerst ungewöhnlich. Der antike Beschreibstoff war im frühen Mittelalter durch das Pergament verdrängt worden. Papyrus hatte zwar entscheidende Vorteile gegenüber dem aus Tierhäuten hergestellten Pergament, seitdem jedoch im siebten Jahrhundert die Muslime in Ägypten eingedrungen waren, war immer weniger davon nach Europa gekommen. Im neunten Jahrhundert, als Walahfrid Abt der Reichenau war, hatte Papyrus im Frankenreich schon keine Rolle mehr gespielt. Stammte das Buch etwa gar nicht aus dem Frankenreich?

Amadeo seufzte tief. Nein, die Schriftzeichen sprachen eine deutliche Sprache. Dieses Manuskript war mit Sicherheit auf der Reichenau angefertigt worden, oder zumindest ganz in der Nähe. Wo genau, ließ sich nicht so ohne weiteres sagen, aber mit Sicherheit nicht südlich der Alpen, wo der Papyrus länger in Gebrauch geblieben war.

Andererseits ... was er hier in der Hand hielt, war ja nicht Teil des Manuskripts. Vermutlich war es ein Streifen eines älteren Werkes, den man zur Verstärkung eingesetzt hatte. Dieses zusätzliche Pergament ...

Amadeo runzelte die Stirn.

Es war gar kein Pergament! Es war Papyrus! Wer im Himmel verstärkte einen Buchrücken mit Papyrus? Das war völliger Unsinn. Die Pflanzenfaser war viel zu empfindlich.

Dennoch hielt er einen Streifen Papyrus in der Hand, auf dem sich bräunlich und blass Schriftzeichen abhoben.

»En arche en ho logos.«

Das war griechisch! Das war der Beginn des Johannesevangeliums!

Streifen eines griechischen Johannesevangeliums – Papyrusstreifen! – im Rücken eines Hortulus aus dem neunten Jahrhundert. Amadeo hob die Achseln. Er konnte sich nicht erinnern, von so etwas schon einmal gelesen zu haben.

Auf seinem Arbeitsstuhl drehte er sich zu einem hohen Schubladenschrank um. Er war ganz vorsichtig, allerdings konnte hier nicht viel passieren. Es fiel ihm nicht leicht, ohne caffè zu arbeiten, doch wenn der capo ihn im Sekretum bei einem Tässchen ertappte, würde ihn auch sein akademischer Ruf nicht mehr retten. Dann konnte er gleich eine Bewerbung bei den römischen Stadtwerken tippen. Amadeo öffnete eine flache Schublade, in der Pinzetten, kleine Messer und Scheren und eine Reihe anderer Instrumente versammelt waren. Er wählte eine Pinzette und beugte sich wieder über den Tisch. Stirnrunzelnd zog er eine Tischlupe heran, die an einem Teleskoparm in der Arbeitsfläche verankert war. Amadeo drückte einen Knopf, und helles Halogenlicht flammte auf. Vorsichtig schob er das Papyrusfragment unter die Lupe, strich es glatt und las weiter.

In der zweiten Zeile zogen sich seine Augenbrauen zusammen.

In der dritten kroch ihm eine Gänsehaut über den Rücken.

Dann brach der Text ab.

Amadeo starrte auf den beschriebenen Fetzen, vielleicht zwölf mal fünf Zentimeter groß, der vor ihm auf dem Tisch lag. Mit den Fingerspitzen massierte er seine Schläfen, las noch einmal.

»Was ist das?«, murmelte er. »Maledetto, was ist das?«

Er griff noch einmal nach dem Hortulus, schob ihn in den Händen hin und her. Aus der Schublade wählte er eine lange Pinzette und führte sie unter den Buchrücken, ganz vorsichtig, Zoll um Zoll. Tatsächlich, da war noch mehr.

Millimeterweise zog er seinen Fund hervor – und fluchte. Das Pergament war gerissen, ohne dass er es gemerkt hatte. Der Streifen, den er zum Vorschein gebracht hatte, war genauso breit wie jener, der bereits auf dem Tisch lag, nur das letzte Stück war abgerissen.

Was auch immer sich noch im Rücken des Hortulus verbarg – so würde er nicht herankommen.

Amadeo sah sich über die Schulter um. Das Sekretum besaß keine Fenster, sondern wurde nur von künstlichem Licht erhellt. Er hatte die Tür hinter sich abgeschlossen, und den einzigen anderen Schlüssel besaß der capo. Entschlossen nahm er ein Messer mit dünner Lanzettspitze zur Hand und schlitzte den Einband im Falz der Länge nach auf.

Fünf Minuten später lagen insgesamt elf Papyrusstreifen untereinander auf seinem Arbeitstisch. Alle waren sie mit bräunlichen Schriftzeichen bedeckt, griechischen Schriftzeichen, und sie waren nicht byzantinisch oder auch nur annähernd zeitgenössisch zu Walahfrids Arbeit.

Sie waren älter. Sehr viel älter.

Amadeo mochte sich nicht ausmalen, wie viel älter.

Er las den Text und konnte sich nicht rühren. Er konnte nicht erfassen, nicht begreifen, was er hier vor sich hatte.

Die letzte Offenbarung

Am Anfang war das Wort.

Doch das ist nicht die Wahrheit.

Am Anfang war sein Blick, an jenem Tag in Kana. Sein Blick, der niemanden wahrzunehmen schien von den Feiernden, die unter den Zelten versammelt waren, um die Hochzeit zu begehen.

Am Anfang war sein Blick, der weit fort war, Zwiesprache hielt mit dem, der ihn gesandt hatte. Seine Hände, die langen, kräftigen Finger des Zimmermanns, der er so viele Jahre gewesen war, bis er den Ruf vernahm: Es ist an der Zeit.

Und es war an der Zeit an jenem Tag in Kana. Wie oft habe ich mir die Frage gestellt, wann er selbst erkannt hat, wohin der Weg ihn am Ende führen würde. Ob er es immer schon gewusst hat, seine Bestimmung kannte vom Tage seiner Geburt an. Doch darüber kann ich nichts sagen, denn er hat niemals zu mir darüber gesprochen.

Andere haben davon geschrieben, berichtet von dem, was sich vorher zugetragen hat – denn natürlich gab es in späterer Zeit viele Geschichten darüber. Vielleicht hatte er den anderen mehr erzählt, jenen, die bereits bei ihm waren, seit er auf den Täufer getroffen war. Andreas war damals schon bei ihm und sein Bruder natürlich, Simon Petrus. Philippus zudem und Nathanael, den wir Bartholomäus nannten. Vielleicht haben sie ihr Wissen weitergegeben, an jene, die von seinem Leben berichtet haben, wie auch ich von seinem Leben berichtet habe.

Doch noch einmal: Das ist nicht die Wahrheit.

Sie haben ihn gekannt, und doch kannten sie ihn nicht, wie ich ihn kannte. Sie haben ihn nicht geliebt, wie ich ihn geliebt habe – und wie er mich geliebt hat. Sie wussten niemals, wie sein Leib sich anfühlte. Das Wort wurde Fleisch. Und keiner von ihnen hätte sagen können, was das wirklich bedeutete.

Ich hätte es sagen können, und doch habe ich es nicht getan. Bis zu diesem Tage habe ich geschwiegen.

Nun aber will ich berichten, von jenem Augenblick an, an dem ich vor den Tischen stand und seine Mutter mich fragte, ob sie noch etwas von dem Wein haben könne.

Ich hörte ihre Worte kaum, denn seit ich ihn gesehen hatte, seitdem ich diesen Blick gesehen hatte, der niemanden im Raum wahrzunehmen schien, konnte ich an nichts anderes mehr denken als an ihn.

Doch dann besann ich mich. Schließlich war mir wie den anderen Jungen aufgetragen, den Festgästen aufzuwarten. Der Vater des Bräutigams hatte jedem von uns eine Münze versprochen, von jenen mit dem Bild des Kaisers darauf.

»Verzeiht, Mütterchen«, sagte ich. »Wir haben keinen Wein mehr.«

Sie lächelte verzeihend. Wie ähnlich ihr Lächeln dem seinen war. Viel später, als er lange schon fort war, versetzte es mir jedes Mal einen Stich, wenn sie mich in dieser Weise ansah.

Sie stieß ihm leicht in die Seite. »Sie haben keinen Wein mehr«, sagte sie. Nicht mehr.

In diesem Augenblick muss er es erkannt haben. In diesem Augenblick muss er erkannt haben, dass es kein Zurück mehr geben würde, wenn er tat, was sie von ihm erwartete. Sie – und das, was vor ihm lag.

Doch er ist immer ein gehorsamer Sohn gewesen, seiner Mutter nicht weniger als dem, der ihn gesandt hatte. Er war immer in Sorge um Maria.

Weib, siehe, dies ist dein Sohn. Das sprach er Jahre später, als er am Kreuz hing und sie in meine Hände gab. Doch er muss es in jenem Augenblick erkannt haben. Erkannt haben, dass der Weg ihn dorthin führen würde. Alle diese Dinge: Dass er Petrus seine Kirche anvertrauen würde, mir aber seine Mutter. Wenn man es recht bedenkt: Haben wir nicht beide das gegeben, was er erwarten konnte?

Wenn er es erkannte – ich konnte damals nichts davon ahnen. Ich erschrak, als sein Blick sich plötzlich veränderte, als er sie heftig anfuhr: »Was soll das, Weib? Meine Stunde ist noch nicht gekommen!«

Natürlich konnte ich das damals nicht begreifen. Die Angst nicht begreifen, die von ihm Besitz ergriffen hatte, als er erkannte. Die heftige Gegenwehr, die verzweifelte Hoffnung, die Stunde hinausschieben zu können, auf die von diesem Augenblick alles hinauslaufen würde.

Doch er wusste sehr genau, dass das nicht möglich war.

Und so war er ein gehorsamer Sohn, und er trat zu den Krügen, in denen sie das Wasser für die Reinigung vor dem Mahle verwahrten, und es wurde Wein daraus.

Damit hat es begonnen. Und von diesem Tag an werde ich berichten. Ich, der ich ein Fleisch war mit ihm. Fleisch vom Fleische Gottes.

Vergesst nicht, was ich und andere zuvor berichtet haben. Denn auch jenes ist Wahrheit – auf seine Weise. Ich habe nicht gelogen.

Doch ich habe Dinge verschwiegen. Bis heute.

Bei einer der Gelegenheiten, als er nach der Kreuzigung zu uns zurückkehrte, sprach er zu Petrus: »Wenn ich will, dass er am Leben bleibt, bis ich zurückkehre: Was geht dich das an?«

Wie hätte ich das anders verstehen sollen, als dass er sagen wollte: Ich komme wieder, noch zu deinen Lebzeiten, Johannes, werden wir uns wiedersehen.

So glaubte ich, die Wahrheit in meinem Herzen verschließen zu können, die außer ihm und mir nur wenige kannten. Denn wir würden uns wiedersehen.

Heute aber, da ich in meinem Heim hier in Ephesus sitze – zittrig die Hand, die die Feder führt, und übersät von den Flecken des Alters –, heute glaube ich, dass es anders kommen wird. Ich werde sterben, und dann wird niemand mehr da sein, der Zeugnis ablegen kann.

Es ist an der Zeit.

Dies ist meine letzte Offenbarung.

Kapitel IV

Verging Zeit? Wie viel? War sie messbar? Wenn draußen in der Via Oddone die Schatten schon länger wurden und die Straßencafés sich zu beleben begannen, konnte Amadeo das hier im Sekretum nicht sehen. Hätte er es sehen können, so wäre er kaum in der Lage gewesen, es zur Kenntnis zu nehmen.

Seine Augen glitten über die schmalen Papyri. Er hatte die elf Streifen von etwa derselben Länge der inhaltlichen Reihenfolge nach sortiert und dann mit einer Glasplatte fixiert Nun las er sie. Las sie ein um das andere Mal. Selbst als er aufgehört hatte zu lesen, da er die Worte längst auswendig kannte, glitten seine Augen noch immer über den Text. Selbsttätig, mechanisch. Ohne dass eine neue Erkenntnis zu ihm durchdrang.

»Maledetto!« Es war ein raues Krächzen.

Amadeo zuckte zusammen, wollte sich umblicken. Wer hatte da gesprochen? Auf einmal begriff er, dass es seine eigene Stimme gewesen war. »Was zur Hölle ist das?«, flüsterte er.

Seine Finger kribbelten, sie waren eiskalt. Amadeo stellte fest, dass sie schneeweiß waren, abgestorben bis zum Handrücken. Er zwang sich, die Hände zu öffnen und zu schließen, rhythmisch. Wie lange saß er schon hier und starrte auf elf zerschlissene Papyrusstreifen? Versuchsweise bewegte er die Arme in den Schultergelenken, um die verspannte Nackenmuskulatur zu lockern. Es tat höllisch weh. Du hast Schmerzen, dachte er. Du musst dich nicht kneifen, es kann kein Traum sein. Doch es fühlte sich an wie ein Traum. Das konnte nicht echt sein. Diese Handschrift konnte nicht echt sein. Zu viel sprach dafür, dass der Papyrus eine Fälschung war. In dieser Wortwahl schrieb man nicht vor zweitausend Jahren. Das war ... Amadeo fiel es schwer, es in seinem Kopf in die richtigen Worte zu kleiden. Es war zu tief empfunden. Es war nicht das Denken, nicht das Fühlen eines Menschen der Antike. Es klang nicht wie ein historischer Text. Niemand hätte vor zweitausend Jahren solche Worte zu Papier – zu Papyrus – gebracht.

Wer immer dieses Manuskript zerschnippelt hatte, um damit einen Buchrücken zu verstärken, musste das bereits erkannt haben. So, nur so ergab es einen Sinn.

Das ist blanker Unsinn, erinnerte er sich. Man kann mit Papyrus keinen Codex verstärken. Außerdem waren da noch die griechischen Buchstaben. Ihrer Form nach waren sie uralt, ohne dass Amadeo sie auf das Jahrzehnt genau oder auf eine bestimmte Region hätte einordnen können. Der gesamte Orient war damals, in den Jahrhunderten der Zeitenwende, hellenistisch geprägt gewesen. Seit Alexander dem Großen sprach – und schrieb – man die Sprache und die Buchstaben der Griechen. Selbst als die Römer Provinz um Provinz annektierten, war Latein zwar die Sprache der offiziellen Verwaltung, die Sprache der Gebildeten blieb hingegen das Griechische.

Wenn er diese Papyri betrachtete, hätte er sie jederzeit für eine zeitgenössische Handschrift des Plutarch, des Plotin oder von sonstwem gehalten, der in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung in griechischer Sprache geschrieben hatte. Oder eben für eine frühe Evangelienhandschrift. Auch der Papyrus selbst und die saubere Verarbeitung der Fasern – das alles war zwar nicht Amadeos Spezialgebiet, aber so exakt hatten die Papyruswerkstätten im Mittelalter ganz sicher nicht mehr gearbeitet. Alles sprach für einen Text, der vor dem dritten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung entstanden war. Alles, bis auf den Inhalt. Es klopfte.

Amadeo fuhr zusammen. Ein schmerzhafter Krampf schoss durch seinen Nacken, als jemand seinen Namen rief. Die brandgesicherte Tür zum Sekretum besaß an der Außenseite keine Klinke und ließ sich nur mit dem Schlüssel öffnen.

»Amadeo? Eingeschlafen?«

Der Restaurator sprang auf. Für einen Moment wollten seine Beine unter ihm nachgeben. Maledetto, wie lange habe ich da bloß gesessen? Er war schon auf halbem Weg zur Tür, da hielt er inne. Ein Blick über die Schulter, und ...

»Un momento!«

Amadeo hob den Karton mit den Handschriften an und stellte ihn vorsichtig auf der Glasplatte ab. Ein Stückchen mit den obersten beiden Papyri schaute hervor, doch von der Tür aus war das nicht zu sehen. Das musste genügen.

Er wandte sich um, stieß mit der Hüfte gegen die Lehne des Arbeitsstuhls und fluchte unterdrückt. Schließlich drückte er die Klinke und öffnete.

»Amadeo?«

Niccolosi blinzelte. Eine verirrte Reflexion des Halogenlichts fiel über Amadeos Schulter hinweg auf seine kahle Stirn.

»Volle Festbeleuchtung«, murmelte der Glatzkopf.

Amadeo war gar nicht bewusst gewesen, dass er das Sekretum tatsächlich ausgeleuchtet hatte wie einen Seziersaal. Draußen im Flur brannte an der Decke eine Neonröhre, doch für ihn sah es im ersten Augenblick aus wie Dämmerlicht.

»Taddeo«, stellte Amadeo fest. »Du bist es.«

»Che bello«, nickte Niccolosi. »Schön, dass du mich erkennst. Ich wollte dir nur sagen, dass wir jetzt Feierabend machen. Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

Er kniff die Augen zusammen. Amadeo glaubte nicht, dass er viel mehr von ihm sehen konnte als die Umrisse. Niccolosi verrenkte sich den Hals und versuchte um ihn herumzuspähen. »Schon mitten in der Arbeit?«, fragte er. »Also, wenn du Hilfe brauchst ...«

Amadeo schüttelte den Kopf und lehnte sich wie zufällig in den Türrahmen, so dass er dem Kollegen den Blick versperrte.

»Ich sehe«, meinte Niccolosi.

Du siehst, dass du nichts mehr siehst, dachte Amadeo und hatte gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Taddeo Niccolosi war manchmal ein Trampel, an sich jedoch kein übler Kerl.

»Und?«, fragte Amadeo. »Was macht der heilige Antonius?«

»Auf dem Wege der Besserung«, sagte der Glatzkopf. »In ein paar Tagen ist er wieder so trocken wie das Zeug, das drinsteht. Das Pergament wird vielleicht im Ganzen etwas dunkler sein als vorher, aber das merkt der Kunde nicht, wetten?

Damit wäre ich dann so weit fertig. Ich weiß ja nicht, was du da drin tust.« Er machte eine flatternde Handbewegung auf den für ihn jetzt unsichtbaren Schreibtisch hin. »Falls was Interessantes dabei ist ...«

Was Interessantes. Amadeo war sich nicht sicher, ob er seine Gesichtszüge unter Kontrolle hatte. Er konnte nur hoffen, dass Niccolosi nichts erkennen konnte.

»Ach ja«, der Glatzkopf wich seinem Blick aus, »übrigens, da wär noch was: Wenn Carla mal wieder anruft, nach Feierabend meine ich«, er schien nichts bemerkt zu haben, »dann stecke ich bis über beide Ohren in Arbeit – und zwar auch für den Fall, dass ich nicht mehr da sein sollte. Wir verstehen uns?«

Amadeo nickte. Sein Kollege als Aufreißer. Ihm fehlte die Fantasie, sich das vorzustellen. Oder er wollte es sich einfach nicht vorstellen. Er mochte Carla Niccolosi.

»Kein Thema«, sagte er und nickte.

»Bene.« Der Glatzkopf sah ihn noch einen Augenblick an. »Dann wünsche ich dir einen schönen Feierabend. Nachher. Mach nicht mehr zu lang mit ... dem da.«

»Ich geb mir Mühe«, sagte Amadeo.

Er schloss die Tür und ließ sich schwer dagegensinken. Verdammt. Er brauchte einen caffè.

Kapitel V

Eine Viertelstunde verharrte er lauschend an der Tür, ohne den Karton aus dem Vatikan aus den Augen zu lassen. Den Karton, unter dem sich ein Geheimnis verbarg, so monströs, so weitreichend, dass Amadeo es noch nicht erfassen mochte, erfassen konnte. Er starrte den Pappbehälter an, als müsste jeden Augenblick eine Klauenhand daraus auftauchen oder ein Tentakel wie in einem der billigen Streifen aus Cinecittà. Er lauschte. Die Brandschutztür war massiv. Zum Flur hin war sie mit Eichenfurnier verkleidet, doch hier, an der Innenseite, schimmerte mattes, kühles Metall, das sich nach und nach erwärmte, wo Amadeos Wange dagegen drückte.

Er hörte – nichts. Hatte Niccolosi es sich etwa anders überlegt und war noch geblieben? Amadeo wollte ihm heute Abend nicht noch einmal begegnen. Er wollte seinen caffè – und er wollte nachdenken. Ein leichtes Ploppen war zu hören, als er das Ohr endlich vom Türblatt löste. Er legte die Hand auf das Ohr – es war kochend heiß. Dann befühlte er das andere: eiskalt. Sein Nacken fühlte sich an, als hätte jemand eines der Restauratorenwerkzeuge präzise zwischen dem zweiten und dritten Halswirbel versenkt.

Ein caffè würde sicher helfen. Gegen den bösen Nacken und beim Denken. Nur dass er beim Denken noch gar nicht angekommen war. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spaltbreit und spähte in den Flur hinaus. Die Neonröhre leuchtete, und alles andere hätte ihn auch überrascht. Noch einmal lauschte er. Nichts. Amadeo trat auf den Flur und ging den langen Gang hinab, von dem Türen zu den einzelnen Büro- und Lagerräumen abzweigten. Die letzte zur Linken führte zu den WCs. Er zögerte. Nein, zuerst der caffè. Ein Mann musste Entscheidungen treffen.

Entschlossen trat er in den großen, offenen Raum, um den sich die Arbeitsplätze der Restauratoren reihten. Niccolosis Platz war leer und peinlich aufgeräumt. Der heilige Antonius war in eine Presse gespannt, um zu fixieren, was immer der Kahlkopf mit dem Codex angestellt hatte. Auch an allen übrigen Tischen waren die Lampen erloschen. Das Licht aus den Deckenflutern war bereits eine Spur stärker als die Abenddämmerung, in die sich draußen in Richtung der Viale Aventino die Beleuchtung der Straßencafés mischte. Amadeo warf nur einen Seitenblick auf den Widerschein der Lichter über dem centro storico, der historischen Altstadt Roms, die der Brand zum Glück verschont hatte. Sie würden vor zwei oder drei Uhr nachts nicht erlöschen.

Gleich rechts neben der Tür zum Büro des capo grüßte ihn die Espressomaschine mit dem freundlichen Grün der Bereitschaftslampe. Amadeo bückte sich nach einer der im Regal bereitstehenden Tassen, schob sie unter die Maschine und drehte den Wahlschalter ganz nach rechts. Caffè ristretto. Kein Italiener würde den um diese Uhrzeit trinken, jedenfalls nicht, wenn er vorhatte, noch zu schlafen. Der Gedanke an Schlaf erschien ihm jedoch geradezu bizarr. Andere menschliche Bedürfnisse waren da anders gelagert. Während mit beruhigendem Brummen das Mahlwerk der Maschine ansprang, eilte Amadeo raschen Schrittes zu den Toiletten. Das Geräusch musste einen Schlüsselreiz ausgelöst haben: Es ging um Sekunden.

Erleichtert beugte er sich hinterher über das Handwaschbecken und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Es war lauwarm, wie es zu dieser Jahreszeit immer lauwarm war, wenn es in der officina di Tomasi im fünften Stock des Geschäftshauses in der Via Oddone ankam.

Amadeo betrachtete das Gesicht, das ihm aus dem nicht ganz sauberen Spiegel entgegenblickte. Die Haut wirkte eher gräulich als oliv, aber das lag an der Funzel im Waschraum. Der Mund war voll, fast sinnlich, die Nase gerade, vielleicht eine Spur zu scharf, und die dunklen Augen gefielen den Frauen – und ihm gefiel, dass sie den Frauen gefielen. Die Schatten darunter waren sonst nicht da. Nun, die Sache mit dem heiligen Antonius, ganz zu schweigen von den Papyri. Das war eine Erklärung. Amadeo fühlte sich im Moment sogar noch viel übler, als er aussah. Sein Haar war hell für einen Mann aus dem Mezzogiorno – ein Umstand, den er den fernen normannischen Vorfahren seiner Mutter zuschob. In Weimar hatten ihn viele Kollegen auf den ersten Blick für einen Deutschen gehalten und waren überrascht gewesen über seinen Akzent. Er selbst war auch überrascht gewesen – und ein wenig enttäuscht, dass man ihn so deutlich hörte, den Akzent. Trotzdem hatte er sich wohlgefühlt, fast heimisch, in Weimar, auch wenn die tedeschi nie so recht in die Gänge kamen. Ein seltsames Volk, da in Deutschland. Rom war anders. Rom war eben – Rom.

Am schlimmsten war das gewesen, was sie in Deutschland »Kaffee« nannten. Als sein Zug auf der Rückreise am Brenner Aufenthalt hatte und der erste dampfende caffè vor ihm stand, war Amadeo kurz davor gewesen, den Boden zu küssen, wie der Pole es immer gemacht hatte, wenn er irgendwo unterwegs war. Giovanni Paolo war für die Römer rasch zu einem der ihren geworden. Bei dem Deutschen war das anders gewesen. Benedetto hätte sich Amadeo dagegen gut in Weimar vorstellen können. Der neue, papa Pio, Kardinal de la Rosa, von dem vorher nie ein Mensch gehört hatte – Amadeo hatte noch keine rechte Meinung zu ihm, und den meisten Römern ging es ähnlich.

Dieser Papyrus ... Amadeo hatte die Toilettentür nur angelehnt und hörte das verhaltene Klicken, mit dem die Maschine sich abschaltete. Fast ehrfürchtig griff er nach seiner Tasse. Dieser Duft. Das war sein Weihrauch, seine Myrrhe. Weihrauch und Myrrhe. Doch darüber kann ich nichts sagen, denn er hat niemals zu mir darüber gesprochen.

Der Schwindel war ganz plötzlich da. Es war ein Gefühl, als wollten jeden Augenblick seine Beine unter ihm nachgeben. Auf einmal kam eine Ahnung von der Tragweite dessen, was er da gelesen hatte, über ihn. Giovanni Paolo, Benedetto, Pio. Und zweihundertfünfzig oder wie viele vor ihnen.

Doch er muss es in jenem Augenblick erkannt haben. Dass er Petrus seine Kirche anvertrauen würde, mir aber seine Mutter. Das hatte jemand geschrieben, der diese Menschen gekannt hatte! Diese Menschen! Das hatte jemand ... Johannes, der Apostel! Seit Jahrhunderten redeten sich die Theologen die Köpfe heiß, ob der Apostel und der Verfasser des Evangeliums identisch waren. Dabei war das nicht einmal eine Fußnote, wenn das, was Amadeo da gefunden hatte, ja, wenn es ...

Der Restaurator spürte, wie sein Herz unvermittelt zu jagen begann. Hatte er bisher unter Schock gestanden? Seine Hand zitterte so sehr, dass er beinahe den ristretto verschüttet hätte. Mit Mühe brachte er die Tasse an die Lippen und kippte das dampfende Gebräu in zwei Schlucken herunter, so dass er sich die Zunge verbrannte. Ob das eine gute Idee war? Oder gerade das Richtige, wenn die Ohnmacht nach ihm tappste auf leisen Sohlen von Fendi.

Vielleicht war es tatsächlich der brennende Schmerz in seinem Mund, der dafür sorgte, dass er bei Bewusstsein blieb. Amadeo sank auf Niccolosis Bürostuhl. Es war ein Drehstuhl. Darauf konnte er verzichten: Das erledigte sein Kopf auch ganz alleine. Amadeo schloss die Augen, was es nicht besser machte. Im Gegenteil. Er heftete die Augen auf den heiligen Antonius, auf den schlichten ledernen Einband. Ja, es war ein schlichter Einband, wenn man ihn mit dem Hortulus verglich, der auch ohne seinen einzigartigen geheimen Inhalt ein wunderschönes Stück war.

Ganz allmählich beruhigte sich der Schwindel in Amadeos Kopf. Ein metallischer Geschmack war in seinem Mund. Er musste sich auf die Zunge gebissen haben. Es war ein klebriges Gefühl, als er sich über die Lippen fuhr. Wahrscheinlich sah er jetzt aus wie ein Vampir – die Gesichtsfarbe kam sicher auch gut hin.

Die Papyri. Er musste zurück zu den Papyri. Wie konnte er einen caffè trinken, wenn ein paar Schritte entfernt die gewaltigste Entdeckung lag, die jemals ein ... ein was auch immer ... ein Theologe, ein Historiker, ein Archivar, irgendjemand, der mit Büchern zu tun hatte, gemacht hatte. Diese Offenbarung würde seinen Namen auf ewig ins Buch der Geschichte schreiben.

»Unsterblich«, flüsterte Amadeo. Die ganze Welt würde seinen Namen erfahren. Und sie würde ihn nie wieder vergessen, denn das hier war – es war unglaublich.

Er stemmte sich in die Höhe. Der Schwindel war noch immer da. Sein Mund war trocken, die Nase eiskalt, die Hände spürte er erst gar nicht. Sein Herz rappelte. Wie hatte Schliemann sich gefühlt, als er auf die Ruinen von Troja gestoßen war? Oder Einstein, als ihm die Relativitätstheorie zu Bewusstsein gekommen war? Wenn Atlantis wirklich existiert hatte, wie würde sich sein Entdecker fühlen?

Nichts davon besaß auch nur ansatzweise eine solche Tragweite wie die Papyrusfragmente, die im Sekretum unter einer Glasplatte ruhten, versteckt unter einem zerfransten Karton mit der Aufschrift Attenzione! Vetro! Fragile!

Als Amadeo den Flur entlangtaumelte, schien die Neonröhre zu flackern. Vielleicht war es auch sein Bewusstsein, das sich nicht recht entscheiden konnte, ob es sich nun doch noch verabschieden sollte. Der Flur war noch nie so lang gewesen, es mussten mehr Türen sein als sonst.

Sein Magen rumorte. Auf einmal verspürte er das dringende Bedürfnis, sich über die Toilette zu beugen. Was hatte er zu Mittag gehabt? Wie lange war das her? Essen. Essen? Nein, unvorstellbar. Er schob sich durch die Tür ins Sekretum und drückte sie hinter sich zu. Es war unnötig. Die nächsten sieben oder acht Stunden würde sich niemand in der officina sehen lassen. Trotzdem hatte Amadeo auf einmal das Gefühl, als würden ihm tausend unsichtbare Augen in den Rücken stechen.

Der capo war ein misstrauischer Mensch, und das Sekretum war sein Allerheiligstes. Außer Amadeo und Niccolosi gab es höchstens zwei oder drei Kollegen, denen er die Schlüssel aushändigen würde. Doch musste das bedeuten, dass er ihnen ohne jede Einschränkung vertraute?

Die Blicke des Restaurators rasten über die Wände. Auf einmal war es undenkbar, dass es nicht irgendwo eine versteckte Kamera gab, die jede seiner Bewegungen verfolgte und aufzeichnete. Eine? Ein halbes Dutzend! Stunden von Filmmaterial ließen sich heute auf einem Mikrochip sichern, kleiner als sein Fingernagel!

Keuchend atmete er ein und aus und kämpfte gegen die Paranoia an. »Wir restaurieren Bücher«, flüsterte er, »wir sind keine Atomphysiker. Wir reichern kein Uran an.«

Es würde auch eine Menge Uran brauchen, um es mit der Sprengkraft von dem aufzunehmen, was er da entdeckt hatte – wenn die Handschrift echt war.

Was, wenn sie eine Fälschung war? Dann war es die bizarrste Fälschung, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte.

Mit steifen Beinen stakste er hinüber zum Arbeitstisch und sank auf seinen Stuhl. Vorsichtig hob er den Karton beiseite und starrte auf die Glasplatte. Die Papyri waren noch da. Was hatte er auch erwartet? Die blassbraunen griechischen Buchstaben hoben sich deutlich ab, ein wenig zittrig, dennoch sorgfältig geschrieben, streng und diszipliniert. Papyri von dieser Qualität waren teuer gewesen damals, und der Schreiber musste über jeden einzelnen Satz seines Vermächtnisses genau nachgesonnen haben, bevor er ihn niederschrieb.

Johannes, der Apostel des Herrn. Der Heilige von Patmos. Der Jünger, der bei Tische im Schoße des Herrn ruhte. Oder der Fälscher.

Für einen Augenblick wurde die Übelkeit unerträglich, und ein säuerlicher Geschmack trat in seinen Mund. Ein unappetitliches Wortspiel über secrezio – Sekret – und Sekretum fuhr ihm durch den Kopf.

Ich bin nicht ganz bei Verstand, dachte er. Ich bin nicht ansatzweise in der Lage, die Echtheit dieser Fragmente zu prüfen. Ich bin ...

Er brauchte eine zweite Meinung. Eine unvoreingenommene Meinung. Nur, wie sollte irgendein Mensch der Welt unvoreingenommen bleiben, wenn er das hier zu lesen bekam? Was, wenn er nur einen Ausschnitt, einen harmlosen Satz weitergab? Den ersten vielleicht? Das war schließlich der Beginn des Johannesevangeliums.

Bloß an wen sollte er sich wenden?

Ein Gesicht blitzte vor seinem geistigen Auge auf. Schütteres Haar über einem Gesicht, das ständig übermüdet wirkte und aus dem eine tiefrote Nase hervorstach, die von einer besonders leidenschaftlichen Zuneigung zum Rosso Piceno sprach: Professor Ingolf Helmbrecht vom Institut für Paläographie in Weimar – vielleicht der bedeutendste lebende Experte für historische Handschriften überhaupt. Während seiner Studienzeit in Rom hatte Amadeo niemals einen Mentor gehabt, das hatte sich erst in Weimar geändert. Die Restaurierung alter Bücher und die Arbeiten in der Anna Amalia Bibliothek hatten eine neue Welt für ihn geöffnet. Eine neue Berufung. So war er am Ende wieder in Rom gelandet, in der officina di Tomasi. Er schätzte Helmbrecht sehr, so sehr, dass er bereit war, dem alten Mann manchen Spleen durchgehen zu lassen. Helmbrecht dagegen schätzte den Wein der Marken – Amadeo inbegriffen, der auf einem Weingut in den Marken aufgewachsen war. Der Restaurator wusste nicht genau, wann seine Eltern endgültig die Hoffnung aufgegeben hatten, dass er eines Tages in das uralte Familienunternehmen einsteigen würde. Seine Schwester und ihr Mann machten dort jedenfalls eine hervorragende Arbeit. Er hatte also gute Kontakte – und das tat dem Kontakt zu Professor Helmbrecht gut.

»Helmbrecht«, murmelte er und tastete schon nach seinem telefonino.

Kapitel VI

Amadeo hätte auch das Festnetztelefon an seinem Arbeitstisch benutzen können, doch er wusste, mit welcher Akribie Giorgio di Tomasi jeden Monat die Einzelverbindungsnachweise studierte. Das war schon nicht mehr gesund. Die officina hatte zwar eine Flatrate ins italienische Festnetz angemeldet, doch die war nicht für Privatgespräche gedacht, wie der capo fast täglich betonte. Schon gar nicht während der Arbeitszeit. Allerdings konnte selbst ein Giorgio di Tomasi Carla Niccolosi nicht daran hindern, fünf Mal am Tag unter irgendeinem Vorwand bei ihrem Mann anzurufen. Wenn der Kahlkopf wirklich nebenbei etwas laufen hatte, musste er das sehr geschickt anstellen.

Er muss ein Handy haben, von dem sie nichts weiß, dachte Amadeo, während er bereits in seinem eigenen Mobiltelefon nach Helmbrechts Nummer suchte.

Er selbst hatte ganz eigene Gründe, aus denen er darauf verzichtete, einen der Apparate zu benutzen, die auf die officina liefen. Es war unnötig, dass der Inhaber der Werkstatt jetzt schon erfuhr, was Amadeo entdeckt hatte – und ein Anruf in Weimar würde di Tomasi ganz sicher misstrauisch machen. Außerdem war dem capo ohne weiteres zuzutrauen, dass er nachprüfte, was das für ein Anschluss war, und Helmbrecht hatte eine Geheimnummer.

Der Rufton ging raus. Es klingelte. Zwei Mal, drei Mal – sieben Mal. War Helmbrecht nicht zu Hause? Auf einer Tagung? Stand etwas an? Hatte Amadeo selbst eine Einladung erhalten?

»Was ... Helmbrecht!«, krächzte es anderthalbtausend Kilometer entfernt.

»Guten Abend, Professor! Hier ist Amadeo Fanelli!« Schweigen. Dann ein Husten, das sich nicht gesund anhörte. »Und hier ist es kurz vor Mitternacht!«

Der Restaurator schluckte. Wo war nur die Zeit geblieben? Ihm kam es vor, als sei Niccolosi erst vor einer halben Stunde gegangen. »Verzeihen Sie, Professor. Das muss ... die Zeitverschiebung ...«

»Zwischen Weimar und Rom?« Das Krächzen klang jetzt eindeutig ungehalten. »Sie reden Blech, junger Mann!«

»Tut mir leid«, murmelte Amadeo. »Ich weiß, es ist ziemlich spät, aber ich habe hier ... äh ... soll ich in zwei Stunden noch einmal anrufen?«

»Und mich wieder aus dem Schlaf holen? Haben Sie was getrunken, Amadeo?«

»Caffè ristretto«, sagte er schwach.

»Kein Wunder, dass Sie nicht schlafen können.« Ein Knirschen und Quietschen, dann ein gemurmelter Dialog, den Amadeo nicht genau mitbekam. Helmbrechts Ehefrau kannte er nicht, doch die Frau, die über eine solche Störung erfreut war, musste noch geboren werden. »Was ist denn überhaupt los?«, fragte der Professor. »Ich gehe rüber ins Büro. Ist etwas passiert?«

Wenn Sie wüssten, dachte der Restaurator.

»Amadeo?« Er musste etwas verpasst haben. »Amadeo? Hören Sie mich?«

»Ja. Ich war abgelenkt.«

»Was beim Schutzheiligen der gesegneten Nachtruhe ist los mit Ihnen?« Helmbrecht klang ehrlich besorgt. »Da stimmt doch was nicht!«

Amadeo schluckte. »Ich habe da etwas, das ich Ihnen zeigen möchte. Fragmente eines Papyrus. Sie waren zur Verstärkung im Rücken eines Hortulus eingebunden.«

»Sie meinen Pergamente«, verbesserte der Professor.

»Ich meine Papyri«, entgegnete Amadeo. Er erschrak über den ungehaltenen Ton in seiner eigenen Stimme. »Fragmente von Papyri. Sehr alte Papyri. Ich möchte Sie bitten, einen Blick darauf zu werfen.«

»Mitten in der Nacht?« Doch Helmbrechts Interesse war geweckt. »Etwas schwierig durchs Telefon, was?«

»Mein telefonino hat eine Kamera«, sagte er. »Ich könnte Ihnen ...«

»Ich besitze kein Handy und weigere mich, jemals eins zu besitzen. Das verleitet nur noch mehr Menschen, einen zu nachtschlafender Zeit zu belästigen.«

»Ich verstehe«, entgegnete Amadeo. »Aber eine Mailadresse haben Sie?«