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Das Schicksal der Welt liegt in ihren Händen … Dem Stammesfürsten Morwa ist es nach Jahren des Kriegs gelungen, den Norden unter seinem Banner zu vereinen. Doch schon bald wird der neue Frieden bedroht, denn die Raunacht ist gekommen – und mit ihr die Dunkelheit. Schon bald findet sich Morwas Bastardtochter Sölva zwischen den Fronten wieder, als sie sich mit der geheimnisvollen Sklavin Ildris anfreundet … Könnte sie die Rettung vor der alles vernichtenden Magie bringen, die den Norden bedroht? Die Südländerin Leyken findet sich unterdessen in der berüchtigten Rabenstadt in einem goldenen Käfig wieder – bis sich ihr eine Gelegenheit zur Flucht bietet. Doch liegt ihre wahre Bestimmung womöglich genau hier? Als sich ihre Feinde unter einem blutroten Banner vereinen, sind Sölva und Leyken bald die letzte Hoffnung des Kaiserreichs der Esche … Der zweite Band von Stephan M. Rothers epischer Fantasy-Trilogie »Die Königschroniken« – für alle Fans von George R.R. Martin und Robert Jordan. Im großen Finale der Trilogie, »Ein Reif von Silber und Gold« müssen Sölva und Leyken sich ihrer Bestimmung stellen, um das Kaiserreich aus der Dunkelheit zu führen. »Wer die Königschroniken noch nicht kennt, sollte das schleunigst nachholen ... ansonsten verpasst man eine wirklich grandiose Reihe!« Lovelybooks-Leserin
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Seitenzahl: 429
Über dieses Buch:
Dem Stammesfürsten Morwa ist es nach Jahren des Kriegs gelungen, den Norden unter seinem Banner zu vereinen. Doch schon bald wird der neue Frieden bedroht, denn die Raunacht ist gekommen – und mit ihr die Dunkelheit. Schon bald findet sich Morwas Bastardtochter Sölva zwischen den Fronten wieder, als sie sich mit der geheimnisvollen Sklavin Ildris anfreundet … Könnte sie die Rettung vor der alles vernichtenden Magie bringen, die den Norden bedroht? Die Südländerin Leyken findet sich unterdessen in der berüchtigten Rabenstadt in einem goldenen Käfig wieder – bis sich ihr eine Gelegenheit zur Flucht bietet. Doch liegt ihre wahre Bestimmung womöglich genau hier? Als sich ihre Feinde unter einem blutroten Banner vereinen, sind Sölva und Leyken bald die letzte Hoffnung des Kaiserreichs der Esche …
Über den Autor:
Stephan M. Rother wurde 1968 im niedersächsischen Wittingen geboren, ist studierter Historiker und war fünfzehn Jahre lang als Kabarettist auf der Bühne unterwegs. Seit dem Jahr 2000 veröffentlicht er u. a. unter seinem Pseudonym Benjamin Monferat erfolgreich Romane für Erwachsene und Jugendliche. Der Autor lebt in einem verwinkelten Haus mit vielen Büchern und Katzen am Rande der Lüneburger Heide.
Stephan M. Rother veröffentlicht bei dotbooks:»Im dunklen Holz«»Sturmwelle«»Die letzte Offenbarung«»Das Babylon-Virus«
»Die Königschroniken: Ein Reif von Eisen – Band 1«
»Die Königschroniken: Ein Reif von Bronze – Band 2«
»Die Königschroniken: Ein Reif von Silber und Gold – Band 3«
Die Website des Autors: www.magister-rother.de/
Der Autor im Internet: www.facebook.com/stephan.m.rother/
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eBook-Neuausgabe Dezember 2024
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ISBN 978-3-98952-585-6
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Stephan M. Rother
Die Königschroniken:Ein Reif von Eisen
Roman
dotbooks.
Für Tante Urmel
Ursel Schimker geb. Rother (1927–2017)
Ik gihorta dat seggen,
ðat sih urhettun aenon muotin,
Hiltibrant enti Haðubrant untar heriun tuem.
sunufatarungo iro saro rihtun.
garutun se iro gudhamun, gurtun sih iro suert ana,
helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun.
Ich hörte davon erzählen,
dass sich als Herausforderer allein begegneten
Hildebrand und Hadubrand zwischen zwei Heeren.
Sohn und Vater richteten ihre Rüstung,
strafften ihre Gewänder, gürteten sich ihre Schwerter um,
die Helden, über die Panzerringe, als sie zum Gefechte ritten.
(Hildebrandslied)
DAS KAISERREICH DER ESCHE:SALINUNT EINIGE JAHRE ZUVOR
Drückende Schwüle lagerte über der Küste des Südlichen Meeres. Der heisere Ruf eines Graureihers scholl über die brackigen Wasser. Winzige leuchtende Käfer schwirrten in taumelndem Flug über den Lagunen dahin, die zu Füßen der Mauern von Salinunt das Ufer säumten.
Irgendwo am nächtlichen Himmel stand der fingernagelschmale Mond der Athane, doch voller Umsicht hatte die Göttin einen Wolkenschleier vor ihr Gestirn gezogen, sodass kaum ein Schimmer des silbernen Lichtes einen Weg auf den Spiegel der Wasserfläche fand. Auf eine Viertelmeile war die Ra’qissa an die Wälle der Stadt herangekommen, geschickt gegen die Nachtbrise kreuzend. Keiner der Wächter, die hinter den Zinnen patrouillierten, hatte sein Signalhorn ertönen lassen. Die Bürger schliefen, während sich ein Schiff unter den blutroten Segeln der Korsaren ihrem Hafen näherte.
Voller Anspannung beobachtete Teriq, wie der Ra’is des Seglers mit dem Feuerstahl Funken schlug. Atemzüge nur, und die Glut biss sich im Zunderpäckchen fest. Mit einer geübten Bewegung brachte der Kommandant das Flämmchen an den Docht der Öllampe, und schon breitete sich Licht aus, ließ zunächst seinen hennagefärbten Kriegsbart aus der Dunkelheit treten, dann immer größere Abschnitte an Deck des Seglers. Licht, das den Wächtern auf den Wehrgängen nicht entgehen konnte, wenn sie in diesem Moment hinaus auf das Wasser blickten. Das aber würde nun nur noch eine geringe Rolle spielen.
Nicht für sie nämlich war das Zeichen bestimmt. Teriq glaubte vor sich zu sehen, was sich in diesen Augenblicken in den Schatten außerhalb der Landmauern zutrug, dreihundert Fuß vielleicht von der Stelle, an der die Bollwerke aus dem Boden strebten, unbezwungen seit den Tagen des Propheten selbst.
Das Blasrohr würde kaum dicker sein als der Zeigefinger des Kriegers, der es an die Lippen führte. Noch einmal schmaler die glitzernde Phiole, die er bedächtig in den Schilfhalm hatte gleiten lassen. Jetzt wartete er. Wartete, bis auch die geringste Brise sich gelegt hatte, bevor er Luft holte, sich aufrichtete, den Atem mit aller Kraft in das Rohr stieß, um sich auf der Stelle zurück in die Deckung fallen zu lassen.
Im selben Augenblick zerschellte die Phiole an den Quadern des Mauerwerks. Donner hallte über das Wasser, als sich die flüssige Flamme aus ihrem Gefängnis befreite, mit einer Gewalt, der die Fundamente aus den Tagen der alten Kaiser nichts entgegenzusetzen hatten. Ein Wogenkamm bäumte sich unter dem Druck der Entladung in den Ufergewässern auf, pflanzte sich fort in die Bucht hinein. Teriq schrie auf, als die Woge nach der Ra’qissa packte, der Segler für Atemzüge zum Spiel der Dünung wurde. Als wollte das Schiff seinem Namen Ehre machen: Ra’qissa – Tänzerin.
Doch der Tanz, den es auf dem Wasser vollführte, währte nur kurz. Kaum dass der Segler wieder sicher im Wasser lag, wandten sich sämtliche Augen dem Ufer zu, wo eine Wand von Flammen emporgeschossen war, über die Mauerkrone hinweg in den nächtlichen Himmel hinein. Unaufhaltsam griff die Lohe nach den Straßenzügen jenseits der Wälle von Salinunt. Rauch legte sich über das Firmament, Schreie ertönten aus der Dunkelheit und trieben auf das Meer hinaus.
Es sollten nicht die letzten bleiben in dieser Nacht.
Es war das sechste Jahr des Krieges. Teriq war noch ein Kind gewesen, als das Ringen begonnen hatte. Das Ringen um die Macht und den rechten Glauben. So weit seine Erinnerung zurückreichte, waren die Heiligen Männer durch die Städte und Dörfer gezogen und hatten die Söhne Mardoks unter das blutrote Banner des Propheten gerufen zum Kampf gegen die Fremdlinge aus dem Kaiserreich, die den fruchtbaren Küstensaum des südlichen Kontinents besetzt hielten, jenen Landstrich, in dem Mardoks Füße gewandelt waren. Und wie siegreich waren sie in den ersten Jahren jenes Krieges gewesen, hatten den Kaiserlichen die gesamte Küste des Festlandes entrissen. Mit Ausnahme von Cynaikos. Die gesamte Insel Atabas. Mit Ausnahme von Escalon. Das gesamte mächtige Mauricia. Mit Ausnahme jener der Meerenge vorgelagerten Lande. Zu viele Ausnahmen, auch im sechsten Jahr des Krieges noch.
Teriqs Vater hatte niemals ein Geheimnis daraus gemacht, was er vom Krieg und den Heiligen Männern hielt. Krieg war schlecht für das Geschäft, und was schlecht für das Geschäft war, konnte weder nach dem Willen Mardoks des Propheten sein noch nach dem Willen der Silbernen Göttin selbst, möge ihr Licht die Sterblichen erleuchten. Taouane war eine Stadt, die sich zum Glauben an die Göttin bekannte, ihre Priester aber gehorchten dem Wort von Teriqs Vater, der der reichste Gönner ihres Tempels war. Sie hatten keinen Protest erhoben, als er die frommen Wanderer hatte aus der Stadt treiben lassen. Was er vermutlich noch immer tat, mit nur noch größerem Eifer, nur noch größerer Wut, nachdem sein Sohn sich einem von ihnen angeschlossen hatte.
Das war im letzten Monat des Winters gewesen. Nun war der Sommer angebrochen, und der Krieg war in sein sechstes Jahr getreten. Die trockenste Zeit des Jahres stand bevor und Teriq seine erste Schlacht.
Am Anfang war er enttäuscht gewesen. Im Gefolge jenes Heiligen Mannes waren sie an die Küste gelangt, er selbst und alle übrigen, die sich bereiterklärt hatten, dem Ruf der Göttin zu folgen und sich zu den Scharen des Vizirs zu gesellen, den der Rat der Ra'is für dieses Jahr zum Befehlshaber des Aufgebots bestellt hatte, um den Feldzug vorzubereiten. Und der Augenblick schien günstig, hatte der Vizir doch einen bisher unerhörten Plan ersonnen, wie man dem Kaiserreich die hartnäckig verteidigten Bastionen auf dem südlichen Kontinent doch noch entreißen könnte. Mit der größten Flotte, die der Süden je gesehen hatte, würden die Söhne des Mardok über die Enge von Pharos setzen und das Reich auf der anderen Seite des Meeres angreifen, auf dem Boden seiner friedlichsten Provinzen. Damit würde es dem kaiserlichen Seneschall unmöglich werden, Cynaikos und Escalon Hilfe zu senden. Wie ein reifer Apfel mussten sie den Söhnen des Mardok in die Hände fallen.
Jene Flotte war das Entscheidende. Mit ihr würden die Pläne stehen oder fallen – und das war zugleich die Schwäche jenes Vorhabens.
Denn natürlich besaßen auch die Städte des Kaiserreichs ihre Flotten, das mächtige Carcosa zumal, das über die Küsten jenseits der Meerenge gebot. Mitsamt den kleineren Städten dort, Städten wie Salinunt. Carcosas Macht war in diesen Tagen im Schwinden begriffen. Vendosa, der lästige Konkurrent mit seinen dem Südlichen Meer zugewandten Häfen, drohte der Stadt den Rang abzulaufen – wenn das nicht bereits geschehen war. Die Vendozianer waren schließlich klug gewesen und hatten eben erst den Handelsvertrag mit dem Vizir erneuert, der ihnen sämtliche Privilegien entlang der Küsten des Südlichen Kontinents bestätigt hatte, die nun nicht länger zum Kaiserreich gehörten. Niemals würden sie diesen Vertrag aufs Spiel setzen, um dem verhassten Carcosa zu Hilfe zu kommen.
Der Vizir hatte jede nur denkbare Vorsorge getroffen. Und dennoch würden die gewaltigen Segler Carcosas noch immer eine tödliche Gefahr darstellen, sobald sich die Linie ihres Geschwaders am Horizont abzeichnete. Schwimmende Festungen, die die kleineren Wasserfahrzeuge der Söhne Mardoks überragen würden, die mächtigen Segel wie ferne, eisblitzende Gletscher. Jeder einzelne Mann, der sich dem Aufgebot der Athane anschloss, würde über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Und doch war der Re’is der Ra’qissa der einzige Kommandant gewesen, der sich bereitgefunden hatte, Teriq an Bord zu nehmen, den Kaufmannssohn, der ungeübt war im Kampf mit der gekrümmten Klinge des Scimitar. Erst sein Geschick mit dem Bogen, an dem er sich seit Jahren auf der Jagd hatte üben können, hatte am Ende den Ausschlag gegeben.
Und selbst da war er sogleich aufs Neue enttäuscht worden, als man die Ra’qissa nicht etwa der mächtigen Flotte zugeteilt hatte, die sich in der Meeresenge sammelte, um das Geschwader aus Carcosa zu erwarten. Bis ihm klargeworden war, dass die Mannschaft seines Seglers eine ganz eigene, bedeutsame Aufgabe zu erfüllen hatte: dafür zu sorgen, dass ihre Gefährten nicht Durstes und Hungers starben, während sie der Ankunft der feindlichen Flotte harrten.
Die Küstensiedlungen waren mit nur geringen Besatzungen versehen. Sie mochten ihr Vertrauen auf die gewaltigen Befestigungen setzen, aus einer Zeit, in der nichts auf der Welt der Macht des Kaiserreiches gleichgekommen war. In dieser Nacht würden sie erkennen, wie einfältig dieses Vertrauen gewesen war.
Salinunt brannte, und der Re’is zögerte keinen Augenblick. Er gab Befehl, Kurs auf den Hafen zu setzen, und unter Deck traten die Gefangenen in Aktion, an ihre Bänke gekettet, tauchten die Ruderblätter ins Wasser, alle in einer einzigen Bewegung, lautlos. Wo der hünenhafte Avrem sonst die Trommel im Takt schlug, hob und senkte er nun die Fackel, um den Rhythmus der Ruder vorzugeben. Die Flamme legte einen Schimmer auf seine ebenholzfarbene, schweißglänzende Haut, während die Ra’qissa lautlos den Hafenbefestigungen entgegenglitt.
Doch diese Vorsicht wäre überhaupt nicht nötig gewesen. Eine Handvoll Fischerboote war im Schutz der Molen vertäut, der gepflasterte Platz hinter der hüfthohen Kaimauer war leer. Zwei Hafenwächter fielen, von Pfeilen durchbohrt, noch bevor der Segler an den aufgemauerten Anlagen festmachte. Einem von ihnen war es noch gelungen, sein Horn an die Lippen zu führen und das Signal zu blasen: Feuer! Feinde! Gefahr!
Das aber würde keinen Unterschied bedeuten. Denn überall in der Stadt dröhnten nun die Hörner durch die Nacht – und jeden verfügbaren Mann riefen sie in jenes Viertel, das in Flammen stand. Dorthin, wo man einen Angriff der Korsaren erwartete.
In späterer Zeit sollte sich Teriq an diese Nacht wie an einen Traum erinnern. An eine Abfolge von Bildern, grell und schmerzhaft aus dem Dunkel gerissen. Der Re’is hatte ihnen Salinunt versprochen mit all seinen Menschen, all seinen Reichtümern. Einzig die mächtigen Speicher voller Korn und Wein waren ausgenommen, denn sie sollten der Versorgung der Flotte dienen. Alles andere gehörte ihnen.
Die Worte der Heiligen Männer klangen Teriq noch immer in den Ohren. Wer sich unter dem Banner des Propheten einfand und in Mardoks Namen die gekrümmte Klinge hob, der war beinahe selbst ein Heiliger Mann. Gebete würden seine Tage füllen, weder Speisen würde er zu sich nehmen noch Wasser, geschweige denn Wein, solange die Sonne am Himmel stand. Falls er feststellte, dass sich seine Gedanken auf etwas anderes richteten als auf seine heilige Aufgabe, auf Frauen gar, jene Schöpfung des Widersachers, ersonnen, um die Gläubigen zu versuchen … In diesem Fall waren sämtliche Vorschriften auch auf jenen Zeitraum auszudehnen, da der Mond der Göttin am Himmel stand.
Teriq hatte sich auf all dies vorbereitet. Ihm war bewusst gewesen, dass er sich keine Schwäche würde erlauben dürfen, wenn ihm der Lohn zuteilwerden sollte, den die Lehren des Mardok in Aussicht stellten: Sollte er fallen, würde die Göttin ihn in ihren schneeweißen Armen aufnehmen. Sollten die Söhne Mardoks indes den Sieg davontragen, so würden die Bewohner jener Städte, denen sie das Licht der Göttin brachten, sie unter Gesängen in ihren mit Girlanden geschmückten Straßen willkommen heißen.
Dies war unendlich weit entfernt davon.
Sie hatten gut zu essen bekommen an Bord der Ra'qissa und zu trinken, zumal unter der sengenden Sonne des Südlichen Meeres. Als Teriq sich vorsichtig beim Ra'is erkundigt hatte, ob dies nicht den Geboten des Propheten widerspräche, hatte dieser ihn voller Strenge angesehen und darauf hingewiesen, dass sie auf dieser Mission eine einzige Aufgabe hätten: die Eroberung Salinunts zum Lobe der Göttin. Wollten sie diesen Kampf bestehen, durften die Kräfte der Männer unter keinen Umständen geschwächt sein. Die Vorräte, die sie in Salinunt erwarteten, konnten sich als entscheidend erweisen für den Ausgang des Krieges und die Rückeroberung des Heiligen Escalon. Schwächliche Krieger brachten die Rückeroberung Escalons in Gefahr, und was die Rückeroberung Escalons in Gefahr brachte, konnte weder nach dem Willen Mardoks des Propheten sein, noch nach dem Willen der Silbernen Göttin selbst. Möge ihr Licht die Sterblichen erleuchten.
Teriq war übel geworden. Wie sehr erinnerten jene Worte an die Einwände seines Vaters.
Zumindest den Wein hatte der Re’is rationieren lassen. Auch er konnte die Kräfte der Krieger schließlich in Mitleidenschaft ziehen. Die Männer aber hatten von nichts anderem gesprochen als von den Frauen, die ihnen preisgegeben wären, wenn Salinunt in ihre Hände fiel. Teriq bezweifelte gar, ob sie allesamt ihre rituellen Gebete verrichtet hatten, dem aufgehenden Mond zugewandt. Er selbst hatte das getan, hatte sich all die Tage hindurch an sämtliche Vorschriften gehalten. Ein einziges Mal, als er geglaubt hatte, die Sinne müssten ihm schwinden in Durst und Hitze, hatte er einen Schluck Wasser zu sich genommen, obwohl es noch nicht Abend war. Und an dieser Schuld trug er schwer.
Und doch war all das noch nicht das Schlimmste gewesen. Das Schlimmste hatte eben erst begonnen.
Teriq rang nach Luft. Sie waren von Bord des Seglers an Land gestürmt. Im Hafen hatte sich ihnen keinerlei Widerstand entgegengestellt, doch von irgendwo ertönten die Laute eines Gefechts: Flüche, Schreie, das Klirren von Stahl auf Stahl. Eingekeilt zwischen Lehmmauern stolperte er in der Schar seiner Gefährten eine gewundene Treppe empor. Die Söhne des Mardok führten Fackeln mit, und für einen Augenblick fiel ihr Licht auf den Körper eines Jungen, jünger als Teriq selbst, auf den Stufen dahingestreckt. Der Leib war von der Kehle bis zum Unterleib aufgeschlitzt, dass die Gedärme ins Freie quollen wie schillernde Würmer.
Die Treppe endete, mündete in ein Gewirr von Gassen, gesäumt von ärmlichen Behausungen. Eine Gruppe von Männern versuchte sich Zugang zu einem der Häuser zu verschaffen, warf sich mit den Schultern gegen das Holz der roh gezimmerten Tür, das binnen Atemzügen nachgab. Eine Gestalt wurde sichtbar: ein hagerer Alter, noch im Schlafrock, eine altertümliche Klinge in den gichtgekrümmten Fingern, die er nur mit Mühe heben konnte. Im selben Moment aber fuhr ein Scimitar auf ihn nieder, drang tief in seine Schulter, ließ ihn schreiend zurücktaumeln. Schreie. Schreie, die sich mit anderen Stimmen, anderen Schreien mischten.
Teriq wurde weitergetragen im Strom seiner Gefährten, ohne Willen, Übelkeit im Bauch. Immer wieder hielten einzelne Männer inne, machten sich an Türen zu schaffen, gaben aber rasch wieder auf. Lohnendere Beute erwartete sie in dieser Nacht, reichere Häuser, berückendere Frauenzimmer als die Fischweiber mit ihren schwieligen Fingern in den Verschlägen des Hafenviertels. Weiter oben an der Anhöhe, auf der Salinunt thronte. Und am höchsten Punkt dieser Anhöhe …
Der Tempel, dachte Teriq. Das war zu dieser Stunde der einzig richtige Ort für einen Sohn des Mardok auf heiliger Mission. Die frömmste Verpflichtung, die den Gläubigen der Athane auferlegt war, wenn eine Stadt in ihre Hände fiel: das Licht der Göttin im großen Tempel zu entzünden. Es war eine bloße Vermutung, kein Wissen, dass er den Tempel am höchsten Punkt der Stadt finden würde.
Mit einem Mal war er allein auf der Gasse. Eine letzte Gruppe seiner Gefährten war in ein Gebäude mit hoher, verzierter Fassade eingedrungen. Ein Haus voller Dienerschaft, dachte er. Hier würden sie die Frauen finden, nach denen sie auf der Suche waren.
Er brauchte keine Fackel. Das Licht der Brände in den tiefergelegenen Stadtvierteln gab Helligkeit genug. Hin und wieder stieß er auf leblose Körper; einmal glaubte er zu sehen, wie etwas eilig davonhuschte, als er sich näherte. Er war sich nicht einmal sicher, ob es ein Mensch war. Niemand stellte sich ihm entgegen.
Schließlich lag ein freier Platz vor ihm, inmitten der Fläche eine Skulptur auf steinernem Sockel. Er glaubte eine Frauengestalt zu erkennen, wusste aber nicht, welche Gottheit die Menschen in Salinunt verehrten. Welche es auch war: Sie hatte ihre Gläubigen in dieser Nacht nicht beschützen können.
Breite Stufen führten zum Tempel empor, einem Kuppelbau mit vorgelagertem, von Säulen gestütztem Giebel. Wie Blut lag der Widerschein der Brände auf dem Marmor. Für Atemzüge hielt Teriq inne. An seinem Gürtel war eine kleine lederne Tasche befestigt, in der er Feuerstahl und Zunder mit sich führte. Mit Sicherheit würde sich etwas Brennbares im Tempel finden lassen zur Ehre der Silbernen Göttin.
»Möge ihr Licht die Sterblichen erleuchten«, flüsterte er. Die Worte schienen in der Weite des menschenleeren Platzes zu verhallen.
Mit langsamen Schritten stieg er die Treppe empor. War es möglich, dass er wahrhaftig der Erste war? Hätte sich nicht der Re’is an diesen Ort begeben müssen, um seine vornehmste Aufgabe zu vollziehen? Die Tempelpforte lag im Dunkel unter dem Portikus, dem auslandenden Vordach des marmornen Baues, doch er spürte keine Angst. Tempel waren heilige Orte, ganz gleich, welcher Gottheit sie geweiht waren. Er hatte keinen hinterlistigen Angriff zu fürchten.
Das Holz des Zugangs war zertrümmert. Ein unsicherer Lichtschimmer fiel in die Schatten unter dem Portikus, und er erfasste einen Umriss, wenige Schritte vom Türdurchgang entfernt: die dahingestreckte Gestalt eines Priesters, dessen blutbesudelte Robe bis über die Knie hochgerutscht war.
Teriq stand reglos. Aus dem Innern der Tempelanlage war undeutlich etwas zu vernehmen. Keine Schreie. Ein Wimmern.
Er musste sich zum Eintreten zwingen, Grauen im Herzen. Ein hoher Kuppelraum, eine doppelte Säulenreihe, die dem Allerheiligsten entgegenführte.
Sie hatten bereits Lichter entzündet, Fackeln, die die Szene unter der Kuppel beleuchteten, während er wie im Traum mit langsamen Schritten nähertrat.
Das Mädchen war jünger als er, die Haut von hellerer Farbe, als er sie jemals bei einem lebenden Menschen gesehen hatte. Mehrere Männer von der Ra’qissa umstanden das Opfer, zwei von ihnen pressten es auf den Altarblock nieder, hielten es fest, was kaum noch notwendig schien, denn die junge Frau regte sich nur noch schwach. Eben ließ derjenige, der zuletzt seinen Willen mit ihr gehabt hatte, von ihr ab, gab den Platz frei – für Avrem. Die ungeschlachte Gestalt war auch von hinten von jedem anderen Mann auf dem Segler zu unterscheiden. Mit einem grunzenden Laut machte sich der Aufseher der Rudersklaven an seinem Leibrock zu schaffen.
»Was …«
Teriqs Stimme war kaum ein Flüstern. Er hatte nicht sprechen wollen, hatte sich umwenden, den Tempel verlassen, die Bilder vergessen wollen, die er doch niemals würde vergessen können.
Avrem wandte sich zu ihm um. Alle wandten sich um. Monströs stand das Gemächt des Aufsehers von seinem Körper ab.
Avrems Augen zogen sich zusammen. Teriq hatte diesen Blick bereits gesehen, Momente, bevor der Aufseher die Knotenschnüre seiner Peitsche auf den Rücken eines Ruderers niederfahren ließ. Dann veränderte sich der Blick, und Teriq wusste, dass der Mann ihn erkannt hatte.
»Das Kaufmannsbübchen! Der Welpe aus Taouane!« Es war etwas in seinem Tonfall, das die Worte klingen ließ wie einen Schlag der Peitsche.
Der Welpe. Teriq war der Jüngste an Bord, und die Männer hatten ihn das spüren lassen. Mehrfach war es ihm nur mit Mühe gelungen, sich dem zu entziehen, was sie taten, wenn sie über Wochen keine Frauen hatten.
Avrem packte ihn bei der Schulter. Es fühlte sich an, als wäre ein Holzbalken auf ihn niedergefahren. Roh stieß ihn der Hüne auf das Mädchen zu, das auf dem Altarblock lag, die Scham entblößt, besudelt von der Lust der Peiniger.
Die Krieger johlten. Konnten sie wissen, dass er noch keine Frau gehabt hatte? Er hatte nicht mit ihnen gezecht. Er hatte sich geweigert, an ihrer Seite die Schiffsverpflegung in sich hineinzustopfen. Und er hatte sich nicht an ihrem Gerede beteiligt, Gerede, wie sie den Frauen von Salinunt Gewalt antun würden.
Es hatte ihn angewidert, und mehr als alles andere widerte dies hier ihn an. Da lag dieses Mädchen vor ihm, ein hübsches Mädchen mit heller Haut, hellem Haar, wie die Frauen von Taouane es mit allen Schönheitsmitteln nicht hätten erlangen können, und es machte keine Anstalten, sich zu widersetzen, wenn es auch unübersehbar war, dass all dies gegen seinen Willen geschah. Die Augen waren geschlossen, die Lippen schienen sich leicht zu bewegen. Ein Gebet, dachte er. Das Gebet einer Tempeljungfrau an ihren Gott oder ihre Göttin, doch nein, sie war jetzt keine Jungfrau mehr. Die Frauen von Salinunt waren in die Hände der Männer von der Ra’qissa gegeben wie alles andere in der Stadt, und auch er selbst war ein Mann von der Ra’qissa.
Er riss sich los, mit brennenden Wangen, brennenden Augen, Ekel im Bauch, Ekel vor sich selbst. Das Lachen der Männer folgte ihm, irgendetwas, das Avrem ihm nachrief, bevor ein Schrei ertönte und von der Kuppel widerhallte. Und Teriq wusste, dass er sich dem Mädchen zugewandt hatte.
Würden sie dieses Mädchen am Leben lassen, wenn sie fertig waren mit dem, was sie ihm antaten? Er glaubte es nicht. Seit sechs Jahren herrschte Krieg, und ein Mädchen, das keine Jungfrau mehr war, besaß nur geringen Wert auf den Märkten von Menône. Und alles, was er tun konnte, jeder Versuch, sich für die Gefangene einzusetzen, würde sie nur endgültig zum Tode verurteilen.
Er taumelte davon, hatte Mühe, nicht über die eigenen Füße zu stolpern, von Ekel, Scham und Grauen erfüllt, schaffte kaum die Hälfte der Strecke, die zur Tempelpforte und ins Freie führte. Schwer musste er sich abstützen, unter seinen Fingern, seiner Schulter der Marmor einer der Säulen, die den Kuppelbau trugen. Kühle, die wie Eis brannte auf seiner fiebrig heißen Haut. Schwer rang er um Atem, bemüht, den Boden dieses Ortes, der den Menschen von Salinunt heilig gewesen war, nicht mit seinem Auswurf zu beflecken. Seine Augen suchten einen Halt gegen den Schwindel in seinem Kopf, fanden ein Lumpenbündel in den Schatten am Boden, ein Lumpenbündel, das …
Das Bündel regte sich. Von irgendwo kam ein diffuser Schimmer von Licht, von den Fackeln der Krieger, die unter grobem Gelächter fortfuhren in ihrem Tun. Und in diesem Licht wurde eine Hand sichtbar, die den zerlumpten Stoff beiseitestrich. Es war nicht die Hand eines jungen Mädchens. Sie wirkte alterslos, und für einen Moment sah er an einem der Finger einen Ring aufblitzen, einen Ring mit einem Stein von blassvioletter Farbe, einem Korund aus den Minen im fernen Shand.
»Du bist nicht bei deinen Gefährten?« Es war auch nicht die Stimme eines jungen Mädchens. Genauso wenig aber war es der brüchige Tonfall einer alten Frau. Sie sprach nicht laut, doch im Klang ihrer Worte war eine Fülle, die er nicht hätte beschreiben können. Und er spürte eine absolute Sicherheit; dass keiner der Männer von der Ra’qissa eines der Worte hätte verstehen können. Und wenn sie noch so aufmerksam gelauscht hätten.
»Warum bist du nicht bei deinen Gefährten?«, wollte sie wissen. »Bist du einer, der lieber bei Männern liegt?« Die Worte hätten neckend klingen können, gar herausfordernd unter anderen Umständen.
»Das …«
Er war im Begriff, sich zu ihr hinabzubeugen wie zu einem Kind, doch im selben Moment richtete sie sich auf. Tatsächlich war sie kaum größer als ein Kind. Deutlich aber hatte sie die Formen einer erwachsenen Frau, so wenig von ihr zu erkennen war. Ein Tuch von derselben dunklen Farbe wie ihr schnittloser Mantel war tief in die Stirn gezogen.
»Das spielt keine Rolle, was ich bin«, sagte er und war überrascht, wie ruhig seine Stimme klang. »Es gibt Dinge, die Männer tun, und Dinge, die Männer nicht tun. Ein Sohn des Mardok, der die Klinge für die Silberne Göttin führt, sollte sie noch weniger tun als alle anderen.«
»Eure Göttin gestattet es nicht.« Der Satz war keine Frage. Eher etwas, an das sie sich aus weiter Ferne zu erinnern schien. »Euer Prophet hat es in seinen Schriften so verzeichnet, und das war wohl getan. – Wobei er selbst sich nicht daran gehalten hat. Wenn er sie auch nicht mit der Gewalt von Waffen nahm. Seine Macht war von anderer Art. – Doch nein, du warst nicht dabei. Das kannst du nicht wissen.«
Aus irgendeinem Grund klang auch diese letzte Anmerkung wie etwas, auf das sie sich eben erst besinnen musste. Eine Priesterin, dachte er. Sie musste eine Priesterin jener Gottheit sein, der der Tempel von Salinunt geweiht war. Er spürte die Macht, die von ihr ausging. Doch von den Nöten ihrer Dienerin, mit der die Männer ihren Willen hatten, schien sie keine Notiz zu nehmen.
»Es ist verbunden.« Der Satz kam auf merkwürdige Weise ohne Anlass. »Alles ist mit allem verbunden. Doch du solltest dich nicht täuschen. Zuweilen ist es auf eine Weise miteinander verbunden, die sterbliche Augen nicht sehen können. Sie aber wacht über ihre Kinder, unermüdlich. Selbst dann noch, wenn sie herangewachsen sind, wird ihre Mutter sie nicht aus dem Blick verlieren.«
»Ihre Mutter?« Seine Brauen zogen sich zusammen. »Eure Gottheit? Oder … Die Athane?«
»Es spielt keine Rolle, was sie ist.« In einem merkwürdigen Tonfall. Eine Anspielung auf seine Antwort, als sie ihn gefragt hatte, ob er lieber bei Männern läge? Es war beinahe derselbe Satz. Er konnte ihr Gesicht noch immer nicht sehen, konnte nicht ausmachen, ob Scherz in ihrer Stimme lag. »Keine Rolle, wer sie ist«, murmelte die Fremde. »Die Dinge sind auf eine bestimmte Weise verbunden. Ereignisse treten ein. Sterblichen widerfahren Schicksale, damit wiederum andere Ereignisse eintreten können. Und es liegt kein Jammer darin, weil all das bestimmt wurde vor so langer – Zeit.«
Teriq hatte sich von der Säule gelöst. Die verwirrende Begegnung hatte ihn von seinem Schwindel abgelenkt. Bezog sich ihre Bemerkung über die Schicksale, die Menschen widerfuhren, auf das junge Mädchen, das am heiligen Ort seiner Gottheit Qualen erlitt?
Es war ein sonderbares Gefühl. Alles war sonderbar. Sie waren noch immer im selben Raum mit der Gepeinigten, dreißig oder vierzig Schritte entfernt. Doch wenn alles miteinander verbunden war, verbunden durch eine Abfolge von Ereignissen: Was, wenn das überhaupt keine Rolle spielte? Ebenso hätten sie an jedem anderen Ort sein können oder an jedem anderen Punkt in der – Zeit.
»Es ist ein Netz«, murmelte er und war sich nicht sicher, woher nun dieser Gedanke kam. »Eine Spinne kann sich in ihrem Netz in jede Richtung bewegen.«
»Der Weg ist kurz vom Zentrum dieses Netzes zu jeder seiner Begrenzungen.« Ihr Gesicht blieb unsichtbar, doch überdeutlich spürte er ihre Augen auf sich. »Doch von unendlicher Länge für den, der dem Webfaden folgt und nicht erkennt, wie nahe die Dinge beieinanderliegen, immer und immer wieder aufs Neue. Wenn man es denn nur zu sehen vermag.«
»Wer seid Ihr?«, flüsterte er. »Dass Ihr es sehen könnt?«
»Die Sagen sämtlicher Völker der Welt berichten von der Dunkelheit, die kommen wird«, sagte sie. War das die Antwort auf seine Frage? »Und sie ist nicht mehr fern. Aber wie könnte sie auch jemals fern sein, so dicht wie die Webfäden beieinanderliegen? – Von keinem Vater gezeugt«, murmelte sie. »Von keiner Mutter geboren.«
Er spürte Verwirrung. Sah sie ihn dabei an?
»Meine Mutter starb vor zwei Jahren. Mein Vater ist …«
»Dein Vater war in Sorge um dich. In Sorge, dass geschehen würde, was am Ende tatsächlich geschehen ist. Dass du den Wanderern folgen könntest, die die jungen Männer unter das Banner des Propheten rufen. Aus diesem Grund ließ er sie aus der Stadt treiben, wann immer sie ihre Stimme erhoben. Was dich aber nur ermunterte, mit noch größerer Wissbegierde ihren Worten zu lauschen. Nun, da du fort bist, wird ihn die Sorge nie wieder verlassen. – Die Dinge, die geschehen müssen, werden geschehen. Sterbliche Menschen spüren zuweilen ihre Nähe. Und rufen sie doch nur herbei, wenn sie versuchen, sich gegen sie zu wehren. – Nein, du bist nicht der Gesandte.«
»Der Gesandte.«Der Klang des Wortes ließ einen Hauch von Kälte auf seinen Nacken treten. Natürlich hatte er Geschichten über den Gesandten gehört, der am Ende der Zeit erscheinen würde, um die Söhne des Mardok aus ihren Nöten zu befreien. Und ebenso wusste er, dass die Gläubigen anderer Gottheiten ganz ähnliche Geschichten kannten.
»Ich aber will ihm einen an die Seite geben, spricht der Prophet«, sagte sie. »Ihm ein Zeichen zu geben und ihn ein Stück des Weges zu geleiten. Dieser aber soll das Ende nicht schauen.«
»Ein Zeichen«, wisperte er. Die Kälte schien sich zu verstärken.
Sie hob die Hand und streckte ihm etwas entgegen: eine Silbermünze. – Er kniff die Augen zusammen. Nein, es war keine Silbermünze. Eine silberne Scheibe von den Maßen einer großen Münze, und … Seine Hand streckte sich aus, ohne dass er sich bewusst dazu entschlossen hatte, und dann lag das Silberstück in seinen Fingern.
Es zeigte einen Baum, die Äste ineinander verschlungen, auf eine Weise, dass er das Bild auf der Stelle erkannte. Das Bild, das Zeichen, das auf den Bannern ihrer Gegner wehte, Seite an Seite mit dem kaiserlichen Raben. Die Heilige Esche des Kaiserreichs, in deren Ästen die Rabenstadt thronte. Das Zeichen lag sonderbar schwer in seinen Fingern, und auf eine bestimmte Weise war es das Schönste, was er in seinem Leben gesehen hatte.
»Das habe ich nicht verdient«, murmelte er. »Ich habe am hellen Tag Wasser getrunken. Und das Mädchen …« Er stellte fest, dass die Schreie verstummt waren, und was auch immer das bedeutete: Es war gut, dass sie schwiegen, so oder so. Es war gut, dass es vorüber war. »Ich bin nicht besser als die anderen. Einen Moment lang habe ich überlegt, ob ich …«
»Es spielt keine Rolle, was du bist«, sagte sie, und zum ersten Mal war er sich sicher, dass echte Wärme aus ihrer Stimme klang. »Du bist jetzt nicht bei ihnen, und es spielt keine Rolle, ob du diese Wahl getroffen hast und deshalb bestimmt wurdest. Oder ob du sie treffen musstest, weil es dir bestimmt war, sie auf diese Weise zu treffen. Du bist der, auf den ihre Wahl gefallen ist, und sie wacht über ihre Kinder. Was auch geschehen mag: Nun wird sie dich niemals verlassen.«
Sie. Wer war sie? Die Athane? Die Gottheit dieses Tempels? Eine andere Göttin, eine Göttin, deren Namen er nicht kannte? Spielte das eine Rolle? Wie einen Schatz ließ er das Silberstück in die kleine Tasche an seinem Gürtel gleiten. Er hatte bereits bemerkt, dass eine kleine Öse am Rand der silbernen Scheibe befestigt war, durch die er ein dünnes ledernes Band führen würde. Schon jetzt wusste er, dass er dieses Stück bis zum Tag seines Todes um den Hals tragen würde.
Er sah auf. »Ihr …«
Doch sie war schon fort. Was unmöglich war. Es waren mehr als dreißig Schritte, die zur Pforte ins Freie führten. Eine Strecke, die kein Mensch so rasch hätte zurücklegen können. Kein sterblicher Mensch.
Teriq stellte fest, dass er keinerlei Überraschung verspürte.
DAS KAISERREICH DER ESCHE:DIE RABENSTADT
Feuer.
Es war überall, versengte ihr Haar und ihre Brauen, loderte auf ihrer Haut und füllte ihre Lungen. Sie sah Feuer, sie atmete Feuer. Sie war umhüllt von Feuer, und sie war unfähig, sich zu rühren und die Flammen zu ersticken. Ihre Zunge war gelähmt, ihre Lippen nicht in der Lage, sich zu einem Schrei zu öffnen. Da war ein verschwommener Eindruck, als ob sie auf dem Rücken lag, und beinahe war es …
»Sybaris!«
Unvermittelt reagierte ihr Körper. Hektische Bewegung fuhr in ihre Glieder, ohne dass Leyken ihnen den Befehl gegeben hatte. Ihre Füße stießen die Decken beiseite, ihre Finger rissen an ihrem Nachtgewand, zerrten es von der Brust, wo die Haut zu kochen schien wie von Flammen verzehrt, einem Schwelbrand gleich die rechte Schulter hinauf. Doch als sie hinsah …
Da war nichts. Weder Schrunden noch Schorf noch schwärende Blasen. Eine Ahnung von Licht erhellte das Schlafgemach. Auf Leykens Brust und Schulter war nichts als unversehrte, tiefdunkle Haut, die feucht von Schweiß war, aber nicht einmal warm, als sie sie berührte. Und Schmerzen – Leyken hielt inne. Da waren keine Schmerzen. Da waren niemals Flammen oder Schmerzen gewesen.
»Sybaris?«
Nala stand vor ihrem Lager, die jüngste von Leykens Zofen. Das Mädchen streckte die Hand aus, verharrte dann aber mitten in der Bewegung. Und Leyken war dankbar dafür. Sie war sich nicht sicher, ob sie es ertragen hätte, wenn jemand sie in diesem Moment berührt hätte.
»Ein Traum«, flüsterte sie. Noch leiser: »Schon wieder ein Traum. Aber anders diesmal, kürzer und …«
Erschreckender, vollendete sie den Gedanken. Unter Anstrengung versuchte sie ins Hier und Jetzt zu finden, in die Schlafkammer mit den weichen Polstern, dem verschwenderischen Zierrat der silbernen Spiegel, den verzauberten Düften, die den Schweiß der Panik überdeckten, der mit plötzlicher Kühle auf ihrer Haut lag. Leyken fröstelte, schlang die Arme um den Leib.
»Djalidon?«Vorsicht klang aus Nalas Stimme, und mit derselben Vorsicht kam sie jetzt näher. Djalidon – Eis oder auch einfach Kälte. Keine der Zofen beherrschte irgendeine Sprache, in der sich Leyken verständlich machen konnte. Also hatte sie Nala einige Worte in jenem Dialekt gelehrt, dessen man sich daheim in der Oase bediente, in der verzweifelten Sehnsucht, zumindest vertraute Laute zu hören, wo alles andere fremd war. Und doch war es immer wieder ein seltsames Gefühl, diese Laute von den Lippen des Mädchens zu hören, das den Menschen ihres Volkes so unähnlich war, wie es nur möglich schien: kupferrotes Haar, das um ein blasses Gesicht fiel, Stirn und Wangen übersät von einem Heer sonderbarer winziger Tupfer, wie Leyken sie noch nie an einem Menschen gesehen hatte. Nein, weiter konnte man von den Stämmen ihrer Heimat nicht entfernt sein, deren Hautfarbe dunkler Bronze glich.
Von neuem überkam sie ein Schauer, und Nala griff nach den weichen Decken des Nachtlagers, legte eine von ihnen sachte um die Schultern ihrer Herrin. Es machte kaum einen Unterschied; Leyken wusste, dass die Kälte aus ihrem Innern kam. Doch die Geste hatte etwas Tröstliches, und das half ihr.
Sie beobachtete, wie die Zofe sich mit einer angedeuteten Verneigung aus dem Raum entfernte und binnen Augenblicken wieder zurück war, nicht ohne Stolz ein hauchdünnes, bauchiges Glas in der Hand balancierend: eine dampfende Flüssigkeit, ein stark gesüßter Aufguss aromatischer Blätter. Leyken hatte sie in der Zubereitung unterwiesen, und Nala war so aufmerksam, wie sie wissbegierig war. Rasch hatte sie sich die Kenntnis um die unterschiedliche Zusammenstellung der Kräuter angeeignet. Der metallische Duft des Helmkrauts stieg Leyken in die Nase. Es würde einen Teil der Anspannung von ihr nehmen. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, was hingegen fehlte: die nussige Note des Schlafmohns, der sie in einen dämmerigen Zustand der Schwäche versetzt hätte.
Dankbar nahm sie das Glas entgegen und wartete, dass das Aroma der Blätter in das Wasser überging. Nala verharrte schweigend an ihrer Seite. Sie unternahm keinen Versuch, die Sybaris in irgendeiner Weise zu bedrängen, und war doch so überdeutlich in jedem Augenblick bereit, auf die geringste Regung hin alles zu veranlassen, was ihrer Bequemlichkeit dienen konnte – all das mit einer so freundlichen, aufmunternden Miene, dass Leyken spürte, wie ihr unvermittelt Tränen in die Augen traten. Rasch schloss sie die Lider, wissend, dass die Zofe das verräterische Glitzern schon bemerkt haben musste. Und doch konnte sie nicht anders. Mit einem Mal war sie nicht länger in der Lage, mit noch mehr Mitleid umzugehen, mit neuen schüchternen Versuchen, sie zu trösten. Wie hatte es so weit kommen können? Wie nur war es möglich, dass die Freundlichkeit des Mädchens alles noch einmal schlimmer machte?
Leykens Familie war tot. Kaiserliche Söldner waren über das Dorf ihrer Familie hereingebrochen, hatten die Lehmmauern der Befestigung überwunden, die ihnen so wenig Widerstand hatten entgegensetzen können wie einem Wüstensturm. Alle, alle, die Leyken geliebt hatte, waren unter ihren Klingen gestorben, ihre Schwester Ildris als Einzige ausgenommen, die die Krieger in ihrem Heereszug davongeschleppt hatten, dem Kaiserreich und der Rabenstadt entgegen.
Auch Leyken selbst hatte überlebt, verborgen in einem Versteck im Schilf der Oase, zitternd und atemlos, voller Scham angesichts ihrer Feigheit. Die Schmach wurde kaum gemildert durch das Wissen, dass sie nichts hätte tun können. Nichts, als an der Seite der anderen ebenfalls den Tod zu erleiden – und Schlimmeres dazu. Sie wusste, was die Söldner mit den Frauen ihrer Familie getan hatten. Die fernen Schreie suchten sie bis heute in ihren Träumen heim. Doch die Männer aus dem Kaiserreich hatten sie nicht gefunden. Im bleichen Licht des Morgens waren sie fort gewesen, hatten Tod und Zerstörung zurückgelassen – und Leykens sterbenden Vater. Mit seinen letzten Worten hatte er sie darauf eingeschworen, den Entführern zu folgen, Ildris zu finden und sie zu töten, wie das Gesetz der Oase es verlangte. Denn mussten sie nicht annehmen, dass Ildris entehrt worden war? Und Leyken hatte gehorcht und war aufgebrochen. Nicht aber um ihre Schwester zu töten. Sondern um sie zu retten.
Um sie zu retten! Welche Anmaßung! Welche Vermessenheit! Es drehte ihr den Magen um, und sie spürte, wie Nala besorgt auf sie niedersah. Retten! Nicht einmal mich selbst kann ich retten!
Ja, sie hatte die Rabenstadt erreicht, das Herz des Kaiserreichs. Und sie war nicht allein gewesen. Ihr Verwandter hatte die Mission zur Heiligen Esche angeführt, Saif, der Shereef der Banu Huasin. Am Ziel aber waren sie in einen Hinterhalt geraten, und ihre Begleiter, wie Leyken hatte vermuten müssen, waren tot. Doch in diesem Augenblick hatte der Albtraum erst begonnen.
Wie viele Wochen hatte sie in Gefangenschaft zugebracht? Von den Fetzen ihrer Gewänder eher entblößt als verhüllt, gequält vom Hohn ihrer Wärter, angekettet wie Vieh in einer Höhlung der Heiligen Esche, in deren Krone die Rabenstadt thronte. Sie war nicht die Einzige, die dieses Schicksal hatte erleiden müssen. Dutzende anderer Frauen waren mit ihr dort gewesen, Frauen aus fremden und fernen Winkeln der Welt, gefesselt wie sie selbst. Frauen, die eine um die andere gestorben waren im Schmutz und in der Dunkelheit, denn für kein anderes Schicksal schienen die Gefangenen ausersehen als für ein langsames Dahinsiechen in Fieber, in Fäulnis und Finsternis. Leyken würde sterben. Längst hatte sie sich mit dem Gedanken abgefunden – als er erschienen war.
Dunkle Locken, eine ausgeprägte Nase, ein hochmütiges Lächeln um die sinnlichen Lippen: Zenon der Sebastos, ein Höfling in kostbarer Robe. Zenon, der unter all jenen Frauen auf Leyken aufmerksam geworden war, aus welchen Gründen auch immer. Sie hatte einen Versuch unternommen, ihn zu fragen, doch ihr Lohn waren Schläge gewesen, und ihre nächste Erinnerung waren diese Gemächer, ihr neuer, prachtvoller Kerker, wo er sie behandelte wie sein Eigentum, einen wertvollen neuen Besitz, den er in verschwenderische Kleider und erlesene Düfte hüllte. Ein verwirrender Mann, von dem dennoch eine Anziehung, eine Faszination ausging, die sie zu leugnen suchte, die sie kaum vor sich selbst eingestehen mochte. Und die dennoch da war.
Zenon war es gewesen, der sie mit der wahren Macht der Heiligen Esche vertraut gemacht hatte. Und so unerklärlich es auch schien, waren es die Kräfte des Baumes, mit deren Hilfe sie Ildris am Ende tatsächlich gefunden hatte. Die Wurzeln der Heiligen Esche reichten in alle Reiche der Welt, und das, was zum selben Ast gehörte, war auf besondere Weise miteinander verbunden. So wie Leyken und ihre Schwester. Es ließ sich mit keinem anderen Wort beschreiben als mit dem Wort Magie.
Denn Ildris befand sich nicht in der Rabenstadt. Sie war weit fort, in einem Land Wochen um Wochen noch jenseits der kaiserlichen Residenz. Einem Land im äußersten Norden der Welt, das den Namen Ord trug. Leyken hatte sie sehen können in den Bildern, die die Esche ihr wie in Träumen sandte, wusste nun, dass sie lebte und wo sie sich aufhielt. Und Zenon, was immer er damit anfangen wollte, wusste es ebenso.
Damit war alles anders. Und doch machte nichts einen Unterschied. Ildris war in Gefahr, Leyken spürte es so deutlich, wie sie den Schlag ihres eigenen Herzens spürte, und sie konnte nicht zu ihr gelangen. Denn der Höfling hielt sie fest in den Gemächern, in ihrem Kerker aus Gold, mit Zofen, die ihr jeden Wunsch von den Augen ablasen – ablesen mussten. Und auf dem Korridor hatten Zenons Wächter Stellung bezogen, Variags, Nordmänner mit abweisenden Mienen. Söldner aus dem Lande Ord womöglich, als wollte der Höfling Leyken zusätzlich verhöhnen.
Ich bin gefangen, dachte sie. Ich bin allein. In ihrem lichtlosen Kerker hätte sie sterben können. Sie wusste, dass der Augenblick nicht mehr fern gewesen war. Sie hätte losgelassen und wäre davongetrieben, davongedämmert in einen endlosen, nicht einmal unangenehmen Traum. Hier aber würde sie leben. Denn wie konnte sie aufgeben, nun, da sie wusste, dass Ildris am Leben war? Sie würde weiterleben und sich an eine Hoffnung klammern, die es doch nicht gab. Der Sebastos der Rabenstadt hatte sie zu seinem Spielzeug erwählt. Niemals, niemals würde er sie gehen lassen.
Erst jetzt öffnete sie von neuem die Augen. Nala hatte ein Licht auf den Boden gesetzt, die Flamme gedämpft durch einen schützenden Schirm, als wären Leuchtkäfer im Innern gefangen. Vielleicht war das ja der Fall, dachte Leyken. Was war unmöglich auf der Heiligen Esche?
Schwäche überkam sie, als die Erinnerungen sich allmählich in den Hintergrund ihres Bewusstseins zurückzogen. Nala wirkte aufmerksam, voller Mitgefühl nach wie vor, nicht aber voller Mitleid. Das war ein Unterschied. Als ob sie auf eine unerklärliche Weise wusste, was in Leykens Kopf vorging, ganz gleich, ob ihre Herrin überhaupt davon sprach, in Worten, die sie ohnehin kaum hätte verstehen können. Als ob sie auch das Ungesagte verstand, bloße Gedanken, ohnmächtige Sehnsucht und Verzweiflung. Erinnerungen, die Leykens Seele beschwerten.
Da war eine Verbindung, dachte Leyken. Noch ging sie nicht so weit, dass sie dem Mädchen auf diese Weise hätte Anweisungen erteilen können: Ich möchte ein Bad nehmen. Bring mir vom duftenden Öl aus Cherson. Aber das wollte sie auch nicht. Sie wollte keine Dienerin. In Wahrheit wollte sie ebendas, wogegen sie sich beständig wehrte. Und dieses Etwas war nicht Mitleid, dieses Etwas war nicht Trost. Dieses Etwas war eine Freundin, dachte sie. Hier im Herzen der kaiserlichen Esche wünschte sie, die alles verloren hatte, sich nichts mehr als einen einzigen Menschen, dem sie vertrauen konnte. Sie wünschte sich, dass Nala nicht allein deswegen um sie war, weil es ihre Pflicht und ihr Auftrag war. Doch wie sollte das jemals möglich sein.
Was, wenn es tatsächlich möglich war?
War da nicht etwas? Etwas, über das sie den gesamten vergangenen Tag gegrübelt hatte, bis sie am Ende in wirre Träume gesunken war, Träume von Feuer.
Es war ein so merkwürdiger Morgen gewesen, der erste überhaupt, an dem ihr erlaubt worden war, ihre Gemächer zu verlassen, um sich in Begleitung der jungen Zofe in der Morgensonne zu ergehen, draußen, hoch in den Zweigen der Esche, wo sich auf einer Terrasse die kaiserlichen Gärten ausdehnten. Dort aber hatte Nala sich unvermittelt entfernt, und stirnrunzelnd hatte Leyken ihren Weg allein fortgesetzt – von Zenons barbarischen Wächtern einmal abgesehen, die ihr auf Schritt und Tritt gefolgt waren.
Sie war in ein kleines Waldstück getreten, einen Hain von Silberpappeln, der rechte Ort, um allein zu sein und nachzudenken. Dort aber waren mit einem Mal kaiserliche Gardisten auf den Weg gestürmt, mit gezogener Klinge wie auf wilder Jagd. Ein kleiner Mann in einem abgetragenen Kittel hatte sie begleitet.
»Ari«, murmelte Leyken, musste unwillkürlich lächeln. »Ein Gärtner.«
Nala sah sie an. Leyken war nicht sicher: Hatte sich einen Moment lang etwas geregt auf dem Gesicht der Zofe? In dem Moment, in dem sie Ari erwähnt hatte? Nein, sie musste sich getäuscht haben.
»Ari war freundlich zu mir«, sagte sie leise. »Freundlich wie niemand sonst auf der Esche. Außer dir.« Mit einem Blick zu Nala. »Aber was dann geschehen ist, war nicht freundlich. Denn die Gardisten waren tatsächlich auf der Jagd, und ich habe gesehen, wie sie ihre Beute gestellt haben, und es war …« Mit einem Mal kam das Frösteln zurück. »Es war schrecklich«, flüsterte sie. »Es war ein Schädling. Ein blinder, sich windender Wurm, der sich in eine Silberpappel gefressen hatte. Dick wie mein Oberschenkel. – Ari hat ihn getötet, doch der Schädling hat geschrien, auf grauenhafte Weise geschrien …« Sie verstummte, schüttelte den Kopf, noch einmal.
Ari hatte ihr erklärt, welche Gefahr die Schädlinge darstellten in einer Welt, in der alles mit allem verbunden war. Dabei hatte der Krieg noch gar nicht begonnen, wie er gemurmelt hatte. Mit Unterstützung des Heiligen Baumes aber hatten die Menschen der Rabenstadt Düchse und Fachse geschaffen, pelzbedeckte Verbündete im Kampf gegen die Schädlingskreaturen. Der Mensch ist der Gärtner, hatte Ari ihr anvertraut. Sie konnte nur beten, dass der Gärtner sich behaupten würde, wenn jener Krieg begann. Wenn die Schädlinge auch auf der Heiligen Esche zur Gefahr werden würden.
Sie hielt inne. Ihre Stirn legte sich in Falten. »Doch warum sollte ich darum beten?«, murmelte sie. »Die Rabenstadt ist der Feind. Die Esche ist der Feind, ich bin im Herzen des Feindes.«
Nala rührte sich nicht, sah sie weiter mit undurchschaubarer Miene an, und Leyken schüttelte den Kopf. Ari war jedenfalls ein freundlicher Mann. Ein Netz von Lachfältchen umgab seine Augen, und es waren kluge Augen, auch wenn er den Herren der Esche im schäbigen Kittel eines Gärtners diente. Wenn er den Kampf gegen die Schädlinge kämpfte, dann musste es ein guter Kampf sein. Ein harter Kampf, in dem der Mensch am Ende nur eine Waffe besaß: das Feuer. Feuer, das die Gardisten an die benachbarten Bäume gelegt hatten.
– Feuer.
Die Kälte war wieder da. Und doch war dies nicht der Augenblick, sich der Schwäche hinzugeben, dem inneren Frösteln.
Ihr Blick wandte sich dem Mädchen zu. »Und dann bin ich zurückgekommen in den belebteren Bereich des Gartens und habe nach dir Ausschau gehalten. Denn ich hätte schwören können, dass dort, wo du verschwunden warst, unter einer Gruppe von Bäumen, dass da jemand …« Sie zögerte. Konnte das Mädchen ihr überhaupt folgen? »Ich hätte schwören können, dass da jemand auf dich gewartet hat. Ein Mann. Ein Mann im goldenen Panzer der Gardisten, der sich nur dir hatte zeigen wollen. – Und dann kamst du zurück, völlig aufgelöst.« Leyken holte Luft. »Fahd-tschar. Das hast du gesagt: Es hat gesucht. Du kamst eilig von den Bäumen, und ich dachte, du hättest mit deinem Liebsten getändelt und mich so aus dem Blick verloren. Ich dachte, du wolltest mir sagen, dass du nach mir gesucht hättest. Doch das hast du nicht. Du wolltest mir etwas anderes sagen.«
Nala regte sich. Mit angehaltenem Atem verfolgte Leyken, wie sie sich vorbeugte, ihre Herrin dabei im Blick behielt. Die Zofe streckte die Hand aus. Mit dem Zeigefinger berührte sie die Decken des Lagers, deutete eine bogenförmige Figur an, setzte neu an, am selben Ausgangspunkt, und zeichnete einen zweiten, engeren Bogen: eine Mondsichel. Schließlich fügte sie drei kurze Striche hinzu, die sich in der offenen Mondsichel kreuzten: einen Stern.
»Der Stern in der Mondsichel«, wisperte Leyken. »Das Zeichen der Banu Huasin. Das Zeichen von Saif, dem Shereefen.« Es war dasselbe Zeichen, das Nala auch an diesem Morgen gezeichnet hatte, in den feinen Sand, nur um es eilig wieder zu verwischen, kaum dass Leyken es gesehen hatte.
Sie sah der Zofe in die Augen und richtete ein stilles Gebet an die Silberne Göttin, die die Herrin der fingernagelschmalen Mondsichel war. Bitte. Auf welche Weise auch immer: Bitte gib, dass dieses Mädchen mich genau jetzt verstehen kann. »Ebendieses Zeichen hast du heute morgen gesehen«, sagte sie eindringlich, suchte nach einer Reaktion im Gesicht des Mädchens. »Das Zeichen der Banu Huasin. Der Scimitar des Shereefen wird von Generation zu Generation weitergegeben, und in das Heft der Waffe sind die Mondsichel und der Stern graviert. Diese Gravur muss er dir gezeigt haben. Und irgendwie hat er dir verständlich gemacht, dass du mir erzählen sollst, was du gesehen hast. Wen du gesehen hast. Dass er nach mir auf der Suche ist.« Ihre Stimme wurde leiser. »Und das hast du getan, obwohl du wissen musstest, dass das mit Sicherheit gegen deine Anweisungen war. Gegen Zenons Befehle. Und du hast es dennoch getan.« Ihre Kehle wurde eng, doch diesmal zwang sie die Tränen zurück. »Du hast es für mich getan«, sagte sie. »Eine Freundin für die andere.«
Einen Moment lang musste sie innehalten, bevor sie ihrer Stimme wieder traute. Dann setzte sie von neuem an, jedes Wort überdeutlich betonend. »Dieser Mann war kein kaiserlicher Gardist.« Langsam, die Worte unterstreichend, schüttelte sie den Kopf. »Dieser Mann hat nach mir gesucht, weil er mein Verwandter ist: Saif, der Shereef der Banu Huasin. Wenn du ihn gesehen hast, wenn du mit ihm …« Sie zögerte. »Wenn du mit ihm gesprochen hast …« Schwer holte sie Atem. »Ich muss ihn sehen. Ich muss mit ihm reden. Es … Alles hängt davon ab.«
Sie sprach die Worte aus, und im selben Moment wusste sie, dass sie die Wahrheit waren. Alles hing davon ab, dass das Mädchen eine Rolle als Bindeglied einnahm zwischen Saif und ihr. Dass Nala ihm eine Botschaft übermittelte, sie gemeinsam vielleicht einen Weg fanden, die Heilige Esche zu verlassen. Nicht nur Ildris’ Leben hing davon ab und nicht nur Leykens eigenes Leben. Da war noch mehr. Etwas, das erklärte, warum