Sturmwelle - Stephan M. Rother - E-Book
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Sturmwelle E-Book

Stephan M. Rother

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Beschreibung

In den Tiefen lauert der Tod: Der fesselnde Thriller »Sturmwelle« von Bestseller-Autor Stephan M. Rother jetzt als eBook bei dotbooks. Wenn die Vergangenheit tödliche Geheimnisse birgt … Laras Vater starb unter mysteriösen Umständen. Nun will sie sein Vermächtnis fortführen und das Geheimnis um die sagenumwobene Stadt Rungholt lüften, die einst im Meer versank. Auf der Suche nach der Wahrheit reist sie selbst auf die Nordseeinsel Hallig Horn … und stößt unter den Inselbewohnern auf eine Mauer des Schweigens! Nur der junge dänische Polizist Bergstrœm bietet ihr seine Hilfe an – oder hat er womöglich noch ein ganz anderes Interesse an Lara? Bald mehren sich die unheilvollen Anzeichen, dass die finstere Vergangenheit noch heute die Bewohner der Insel heimsucht … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Mystery-Triller »Sturmwelle« von Bestseller-Autor Stephan M. Rother verwebt historisch belegte Fakten über die Stadt Rungholt, das Atlantis der Nordsee, mit packender Fiktion – so spannend wie die Romane von Markus Heitz. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 644

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Über dieses Buch:

Wenn die Vergangenheit tödliche Geheimnisse birgt … Laras Vater starb unter mysteriösen Umständen. Nun will sie sein Vermächtnis fortführen und das Geheimnis um die sagenumwobene Stadt Rungholt lüften, die einst im Meer versank. Auf der Suche nach der Wahrheit reist sie selbst auf die Nordseeinsel Hallig Horn … und stößt unter den Inselbewohnern auf eine Mauer des Schweigens! Nur der junge dänische Polizist Bergstrœm bietet ihr seine Hilfe an – oder hat er womöglich noch ein ganz anderes Interesse an Lara? Bald mehren sich die unheilvollen Anzeichen, dass die finstere Vergangenheit noch heute die Bewohner der Insel heimsucht …

Über den Autor:

Stephan M. Rother wurde 1968 im niedersächsischen Wittingen geboren, ist studierter Historiker und war fünfzehn Jahre lang als Kabarettist auf der Bühne unterwegs. Seit dem Jahr 2000 veröffentlicht er u. a. unter seinem Pseudonym Benjamin Monferat erfolgreich Romane für Erwachsene und Jugendliche. Der Autor ist verheiratet und lebt in einem verwinkelten Haus mit vielen Büchern und Katzen am Rande der Lüneburger Heide.

Stephan M. Rother veröffentlicht bei dotbooks ebenfalls:

»Das Babylon-Virus«

»Im dunklen Holz«

»Die letzte Offenbarung«

Die Website des Autors: www.magister-rother.de/

Der Autor im Internet: www.facebook.com/stephan.m.rother/

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eBook-Neuausgabe November 2018

Copyright © der Originalausgabe 2012 Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Zacarias Pereira de Mata

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (aks)

ISBN 978-3-96148-397-6

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Stephan M. Rother

Sturmwelle

Mystery-Thriller

dotbooks.

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde und gab ihnen Gesetze. Das Licht vom Dunkel schied er am ersten Tag und den Himmel von der Erde am zweiten. Am dritten Tag aber schied er das feste Land vom weiten Meer. Und dann schuf er den Menschen. Der Mensch aber war blind gegen Gottes Gesetze. Der Mensch schuf die Hallig.

Vorzeichen

Sonnabend, 16. Juni, 10:28 Ablaufendes Wasser, 3 h 18 min bis Niedrigwasser Pegel Hallig Horn: 1,18 m über Seekartennull

Ein Nebel lag über dem Wasser.

Jenssen hatte es sich eben bequem gemacht und sein Frühstück ausgepackt. Mit dem Rücken lehnte er gegen einen Stahlträger, der sich vom Wattboden nach oben hin verjüngte. Hier, auf der Arbeitsplattform, zwölf Meter über dem Boden, war er gerade noch breit genug, um den Rücken des Monteurs vor dem böigen Wind zu schützen. Der Sturm pustete heute aus Richtung Festland – in Sturmstärke, wie immer so weit oben.

Doch der Wind machte Jenssen wenig aus, die Höhe noch weniger. Er hätte sich den falschen Job gesucht, wäre das anders gewesen. Und er mochte den Job und die kleinen Fluchten, die er mit sich brachte, die Aussicht und die Einsamkeit. Die Möglichkeit, seine Pause hier oben zu verbringen anstatt unten in der mobilen Kantine, in der es keine Spur ruhiger zuging als zu Hause bei Tine – und Tjark, Meli und Søren, vier bis sieben Jahre alt. Mit dem Unterschied, dass ihm beim Kantinenlärm nicht das Herz aufging.

Tief sog Jenssen die Luft ein, entschlossen, jede Minute der Ruhepause auszukosten. Der Auftraggeber machte Druck. Jeder auf der Baustelle wusste, dass er Druck machte. Die Schichten wurden von Woche zu Woche länger, die Pausen immer kürzer. Das widersprach dem Arbeitsvertrag, doch was interessierte Jenssen der Arbeitsvertrag, wenn die Überstunden so gut bezahlt wurden, dass er die Chance bekam, im Winter zwei Monate am Stück bei Tine zu Hause zu bleiben. Und bei Tjark, Meli und Søren.

Er biss in sein Frühstücksbrot.

Raue Möwenschreie. Jenssen blickte auf. Der Schwarm war gewaltig. Er konnte sich nicht erinnern, schon mal so viele der Vögel auf einem Haufen gesehen zu haben. Und sie hatten es eilig, stemmten sich gegen den Wind und flogen hoch über die Baustelle hinweg Richtung Küste.

Jenssen verstand sie gut. Heute Morgen wurde es immer ungemütlicher hier draußen.

Er ließ den Blick über die Wattfläche schweifen. Links die Umrisse von Hallig Horn mit der halbmondförmigen Linie der Dünen als natürlichem Wellenbrecher zum offenen Meer hin. Rechts, nur noch aus dem Augenwinkel erkennbar, näher am Festland und schon halb in seinem Rücken, die größere Landmasse von Pellworm. Dazwischen die vollständig flache Einöde des Wattenmeers, durchzogen von geschlängelten Prielen, in die schon wieder das bräunliche Wasser der auflaufenden Flut drückte. Und mit dem Wasser, über dem Wasser, die Nebelbank.

Jenssen kaute. Flut und Nebel stiegen rasch, vorangepeitscht vom Sturm.

Jenssen kaute – und hielt plötzlich inne. Er schluckte, doch der Bissen hing ihm im Hals fest. Er musste mit einem Schluck Cola nachspülen.

Zweieinhalb Stunden. Zweieinhalb Stunden hatten die Männer vom Montagetrupp noch Zeit, bis der Wasserstand sie zwingen würde, die Arbeit für den Vormittag einzustellen. Die Tidezeiten, Ebbe und Flut, waren wie jeden Tag an der Kantine angeschlagen, auf die Minute genau.

Doch das Wasser kam jetzt. Es kam viel zu früh, zu schnell! Und der Nebel ...

Der Wind wehte vom Festland. Wie konnte Nebel gegen den Wind treiben?

Mit einem Mal spürte er eine Kälte in sich aufsteigen, die nichts, aber auch gar nichts mit dem Wind zu tun hatte, ganz gleich, aus welcher Richtung er wehte. Mit einer fahrigen Bewegung packte er das angebissene Brot zurück in die Frühstücksdose, tastete nach dem Funkgerät. Niemand auf der Baustelle hatte ein Handy dabei; eine der spinnerten Anweisungen des Auftraggebers.

Die Ruftaste. Jenssen presste das Gerät ans Ohr. Der Sturm übertönte das akustische Signal, doch eine Leuchte bestätigte, dass der Ruf rausging.

Es dauerte Sekunden, in denen seine Augen auf den Nebel gerichtet blieben. Am gewundenen, schmutzig grauen Lauf des Fallstiefs konnte er verfolgen, wie das fahle Weiß näher kam. Schnell, bedrohlich schnell, und das Weiß war kein verschwommener Fleck mehr, sondern ein länglicher, heller Schatten, heller als die graue Öde des Watts. Länglich – und quer zur Windrichtung, wie eine weit auseinandergezogene Frontlinie, über die halbe Breite des Meeresarms zwischen den beiden Inseln. Eine Frontlinie mit direktem Kurs auf die Baustelle.

»Jenssen?« Über das Knacken und Rauschen war der Chef kaum zu verstehen. »Was ... denn los? ... beim Essen ... verpasst ... Harms erzählt ... Urlaub. – In Thailand.«

Aus der Art, wie der Vorarbeiter Harms' Urlaubsziel betonte, wusste Jenssen zumindest, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, hier oben zu bleiben. »Chef?« Sein Hals fühlte sich trocken an. »Chef, hier ist was Seltsames.«

»... bist was Seltsames ... runter ...«

»Die Flut kommt«, murmelte Jenssen, schüttelte sich, wiederholte die Worte lauter: »Chef, die Flut kommt! Wir müssen die Arbeit abbrechen! Sofort!«

»... in deiner Flasche?«

Jenssen nahm die Worte kaum zur Kenntnis. Er starrte auf den Nebel. Die Frontlinie zog sich immer weiter auseinander, und gleichzeitig schien sie sich zu krümmen, an den Rändern schneller vorzurücken als zur Mitte hin. Zwei gewaltige Arme, die sich gierig voranstreckten, auf die Baustelle, die halb fertige Reihe der in den Wattboden gerammten Metallstreben zu.

Jenssen stand auf. »Chef, das ist verdammt noch mal kein Witz! Das gefällt mir nicht da draußen! Ich komme jetzt runter, und dann hau ich ab.«

»... überhaupt ... Job hast ...«

Er hörte schon nicht mehr zu, blieb aufrecht stehen. Sichernd suchte er Halt am Gerüst, als der Sturm nach ihm fasste. Bis zu den Metallsprossen waren es ganze zwei Schritte, dann zwölf Meter nach unten – und fünfzig Meter bis zu den Fahrzeugen. Doch die Schlüssel hatten Harms und Wolters, und einen von denen zu überreden ...

»Jenssen?«

»Es ist zu spät.« Seine Stimme war ein raues Flüstern, und selbst dieses Flüstern riss der Wind davon. Der Wind, der plötzlich gedreht hatte.

Wind vom Meer, der nach Salz schmeckte und Metall, verrostetem Metall. Und da war noch etwas, war mehr ... war ...

Der Nebel war jetzt eine massive Wand, meterhoch über die gesamte Breite des Horizonts, zur Rechten wie zur Linken schon fast gleichauf mit der Baustelle, bereit, seine Arme aus pulsierendem Weiß um alle Männer und alles Gerät zu schließen.

Doch Jenssen befand sich zwölf Meter über dem Boden. Er konnte über die Nebelwand hinwegsehen, auf das Meer, das zu einer einzigen schaumgekrönten, wogenden Wüste geworden war, wo sich eben noch die Wattfläche gedehnt hatte. Graues Wasser: bösartig, tödlich, alt. Er war sich nicht sicher, woher das Wort, der Gedanke kam. Alt. Uralt und allmächtig.

»Jenssen!«

»Kommt hier hoch!« Seine Stimme überschlug sich. »Sucht euch den nächsten Mast und klettert hoch!«

Er riss die Augen von dem unglaublichen Bild los, blickte gehetzt in die Tiefe. Die Feldküche, ein offener Anhänger, mit Planen bedeckt, in denen sich knatternd der Sturm fing. Jetzt Bewegung am Ausstieg, eine Gestalt. Der Chef? Ja, er hielt das Funkgerät, ließ es langsam sinken, starrte auf den Nebel.

»Kommt da raus!«, brüllte Jenssen. »Kommt hoch!«

Die Gewalt des Sturms wuchs von Sekunde zu Sekunde und mit ihr das Tosen, das wie Schreie klang, Schreie von Geistermöwen in der Luft. Und der Nebel ...

Zentimeterweise drehte Jenssen sich um. Die weit ausgebreiteten Arme aus gleißendem, wirbelndem Weiß waren an der Baustelle vorüber, wälzten sich im Rücken der Männer aufeinander zu. Die Umrisse der Küste waren nur noch wie durch eine Bresche sichtbar. Eine Bresche, die schmaler wurde – und schmaler. Die sich schloss.

Schreie.

Jenssen schüttelte sich. Die Männer vom Montagetrupp stürzten ins Freie. Einer von ihnen stolperte ... Harms? Niemand nahm Rücksicht auf ihn. Die Masten! Die Sprossenleitern! Es waren nur ein paar Meter, doch ...

Nein, der Nebel war keine massive Wand. Der Nebel bewegte sich, und etwas bewegte sich innerhalb des Nebels wie kaltes, eisig loderndes Feuer. Graues Wasser aus Tiefen alt wie die Welt, und es kam näher, aus allen Richtungen, züngelte, stürzte voran.

Wogen aus Eis, die sich am Arbeitsgerät des Montagetrupps brachen, den Fahrzeugen, dem Anhänger mit der Kantine.

Der Boden erbebte, die stählerne Plattform unter Jenssens Füßen. Er schwankte, klammerte sich an die Verstrebungen. Er betete. Zum ersten Mal seit wann?

Ja, seit der Hochzeit. Bei der Hochzeit mit Tine hatte er gebetet.

Der Nebel, die Gestalten am Boden. Jenssen hörte ihre Schreie, sah die Woge aus Weiß, die über sie hereinbrach und die Geräusche abschnitt.

Doch es wurde nicht still. Unter ihm war nichts mehr als ein tobendes, wirbelndes Meer aus Weiß, doch es war nicht still. Es war ein Tosen und Rauschen und Flüstern und Schreien und ein ... ein schmatzender Laut.

Und dann – war es vorbei.

Jenssen spürte warme Feuchtigkeit, die an seinen Hosenbeinen hinablief.

Er starrte in die Tiefe und begriff, dass er auf Meilen und Meilen der einzige lebende Mensch war.

Weiß. Ein Meer aus Weiß, aus dem die weite, gebogene Linie der Masten hervorsah, von Hallig Horn bis nahe ans Fahrwasser vor Pellworm – wie eine lächerliche Formation stählerner Zahnstocher.

Und dann sah er, dass die Zahnstocher vor seinen Augen kürzer wurden. Und kürzer.

Der Nebel stieg.

»Tine«, flüsterte er.

Dienstag, 19. Juni, 14:33 Ablaufendes Wasser, 2 h 52 min bis Niedrigwasser Pegel Hallig Horn: 1,96m über Seekartennull

Ich konnte den Juni nicht ausstehen.

Gleichgültig, ob wir selbst schon Ferien hatten: Im Juni kamen die ersten Urlauber, und die Stadt fing an, sich zu verändern.

Sie waren nicht zu übersehen. Ein stinkender Lindwurm aus Blech wälzte sich von der Autobahn auf die Stadt zu, den Strand und das Meer.

Eisbuden machten auf, zusätzliche Parkplätze wurden ausgeschildert, und die Plakatwände waren über Nacht mit Ankündigungen gepflastert: Strandkino. Stranddisco. Strandvolleyball. Von irgendwoher tauchten Straßenmusiker auf, mit Gitarre oder Quetschkommode, und übergrölten sich gegenseitig. Entnervte Eltern zogen ihre Kinder hinter sich her, um die letzten Einkäufe zu erledigen, bevor sie mit einer der Fähren auf die Inseln übersetzten.

Die Wochen des Wahnsinns hatten begonnen, wie jedes Jahr.

Dabei konnte ich noch nicht einmal ahnen, wie schlimm es wirklich werden würde in diesem Jahr, dem Jahr meiner letzten großen Ferien.

»Puh!« Tanja drängte sich zwischen den voll besetzten Tischen durch und ließ sich auf den Stuhl mir gegenüber plumpsen.

Wobei in Bezug auf Tanja natürlich von Plumpsen nicht die Rede sein konnte. Selbst bei dreißig Grad im Schatten und nach einer Tour quer durch die mit Touristen vollgestopfte Stadt sah sie noch immer aus wie aus dem Ei gepellt.

Dass sich auf ihrem Weg durchs Bistro die Leute reihenweise nach ihr umgedreht hatten, hatte sie wahrscheinlich gar nicht mitgekriegt.

Das war einfach selbstverständlich, wenn man Tanja war.

Genauso selbstverständlich, wie kein Mensch sich umdrehte, wenn ich reinkam.

Und genauso selbstverständlich, wie mir so was gleichgültig war. Zumindest an diesem Tag.

»Lara?« Fragend hob Tanja die Augenbrauen, sodass sie um ein Haar unter ihrem sorgfältig zurechtgezupften Pony verschwanden.

»Sorry«, murmelte ich. »Ich war in ...«

»Schon im Urlaub in Gedanken?«

War gute Laune nicht angeblich ansteckend? Wenn, dann schien es aber diesmal nicht zu funktionieren. Jedenfalls nicht bei mir. Aber ich würde ja auch morgen nicht samt Eltern und neuem Freund im Flieger nach Antalya sitzen.

»Hey«, sagte sie und stupste mich an, zog dann aber die Hand weg, als ihr der Kellner – ein süßer Blonder aus Hamburg, der erst seit ein paar Wochen im Bistro arbeitete – ihre Diät-Cola hinstellte.

Sie hat sie nicht mal bestellen müssen, dachte ich. Wieder ein Beweis: Die Männer lasen ihr die Wünsche von den Augen ab.

Mit einem kaum angedeuteten Lächeln bedankte sie sich, nahm einen Schluck.

»Hey!«, sagte sie noch einmal. »Mach nicht so ein Gesicht, Lara! Dafür kriegst du deinen kleinen Bruder endlich mal wieder zu sehen. Und musst dir nicht am Flughafen die Beine in den Bauch stehen.«

Du garantiert auch nicht, dachte ich. Irgendein schnuckeliger Flugbegleiter würde ihr in Windeseile einen Sitzplatz besorgen, unter Garantie.

Doch dann biss ich die Zähne zusammen.

Es gab andere Dinge, über die ich mir den Kopf zerbrechen sollte, heute, einen Tag vor meiner Fahrt nach Hallig Horn und zwei Tage vor meinem achtzehnten Geburtstag. Dinge, über die ich mit Tanja sprechen wollte, auch um für mich selbst ein paar Dinge klarzukriegen.

»Stimmt schon«, murmelte ich und holte Luft. Ich sah sie an. »Diesmal wird es anders«, sagte ich. »Ich habe was vor in den nächsten Tagen.«

Wieder wanderten ihre Augenbrauen in Richtung Pony.

Ich bückte mich nach meiner Umhängetasche und wuchtete einen dicken Aktenordner auf den Bistrotisch.

»Was ... ist das?«

»Ein Aktenordner«, stellte ich fest.

»Das sehe ich. Und was ist drin in dem Aktenordner?«

Akten, dachte ich, was sonst? Aber ich hatte mir diesen Moment seit Tagen in Gedanken ausgemalt, und seit Monaten hatte ich alles vorbereitet, um an diesen Punkt zu kommen. Tanja konnte nicht ahnen, was sich zwischen diesen grauen Aktendeckeln verbarg. Niemand konnte das.

Am allerwenigsten Ole Rasmussen.

»Aufzeichnungen«, erklärte ich. »Notizen. – Von meinem Vater«, fügte ich fast beiläufig hinzu.

»Von ...«

»Von meinem richtigen Vater«, betonte ich. »Von Marten.«

Diesmal blieb ihr der Mund offen stehen.

Tanja war seit der dritten Klasse meine beste Freundin, und natürlich kannte sie meine sonderbare Lebensgeschichte und die Geschichte meiner noch viel sonderbareren Familie fast so gut wie ich selbst:

Mein Vater Marten Feddersen, der kurz vor meiner Geburt auf einer seiner Expeditionen im Watt vor Hallig Horn ertrunken war.

Meine Mutter, die daraufhin Ole Rasmussen geheiratet hatte, den Inselherrn von Hallig Horn, und bei der Geburt von Hannes gestorben war, meinem kleinen Bruder – oder Halbbruder eigentlich.

Und natürlich meine Tante Sylke, Martens Schwester, und ihren Mann Peer, bei denen ich seit dem Tod meiner Mutter lebte.

Abgesehen von den großen Ferien, die ich einem ungeschriebenen Gesetz zufolge nach Ole Rasmussens Willen auf Hallig Horn verbringen musste. Und auf Hallig Horn war Ole Rasmussens Wille Gesetz.

»Wo hast du die her?«, flüsterte Tanja, streckte die Finger nach dem Ordner aus, zog sie aber zurück, ohne ihn zu berühren. »Seit wann hast du ... das?«

Das war der Moment, vor dem ich Angst gehabt hatte.

Ich sah ihr in die Augen. »Seit anderthalb Jahren ungefähr«, sagte ich. »Der Ordner lag auf dem Dachboden, hinter der Kiste mit Peers Pokalen vom Tischtennis.«

»Du ...« Sie schluckte. »Du hast mir nie was gesagt«, murmelte sie. »Wir kennen uns seit ... so lange wir denken können, und du hast mir nie was gesagt.«

Warum?

Sie stellte die Frage nicht laut. Aber ihr Blick war deutlich genug.

Wie oft hatten wir uns über Marten unterhalten, über meinen echten Vater. Marien Feddersen, der berühmte Archäologe, der der versunkenen Stadt Rungholt auf der Spur gewesen war und diese Suche mit seinem Leben bezahlt hatte. Was für ein Mensch er wohl gewesen war, wie mein eigenes Leben ausgesehen hätte, wenn sie noch da gewesen wären, er und meine Mutter. Nicht dass Sylke und Peer nicht absolut in Ordnung gewesen wären – aber sie waren eben nicht meine Eltern.

Ja, das waren Sachen, über die wir immer mal wieder gesprochen hatten.

Zwischendurch.

Irgendwo zwischen den tausend Katastrophen, die Tanja mit irgendwelchen Jungs und Männern erlebt hatte und aus denen ihr Leben bestand. Irgendwo zwischen der nächsten und der übernächsten großen Liebe ihres Lebens.

Da war für Marten Platz gewesen – und für mich.

Ein bisschen sogar für meine eigene kleine Katastrophe, als es mit Leo und mir vorbei gewesen war im letzten Winter.

Aber vor allem war es immer wieder um Tanja gegangen.

Und das war in Ordnung gewesen. Tanja brauchte das. Ich kannte sie nicht anders und wollte sie auch gar nicht anders haben.

Dieser Aktenordner aber ...

Das war etwas für mich, dachte ich. Für mich ganz allein. Marten und ich, sonst niemand. Tanja konnte ihren Jens und ihren Kevin und ihren Oscar gerne behalten, und den Neuen dazu – Torsten oder Torben oder wie er auch immer heißen mochte. Für mich war es einfach wichtig gewesen, diesen Ordner für mich allein zu haben.

Ich wusste nicht, wie ich das ausdrücken sollte. Ich konnte nur hoffen, dass sie das irgendwie verstehen würde.

Ich sah sie an.

Sie biss sich auf die Unterlippe.

»Okay«, murmelte sie. »Und was steht drin?«

Diesmal hob ich die Augenbrauen. »Du bist mir nicht böse?«

»Wieso sollte ich? Er war doch dein Vater, nicht meiner. – Und was steht drin? Wenn du's mir jetzt nicht verrätst, werd ich wirklich böse.«

Ich atmete auf.

»Okay«, sagte ich zögernd. So ganz traute ich mich doch noch nicht, mit der Sprache herauszurücken, aber aus ihrem Gesichtsausdruck sprach nur noch Neugier – selbst als ihr Blick mal kurz über meine Schulter in Richtung des süßen Kellners schweifte, während ich anfing zu erzählen.

»Gut«, sagte ich und senkte die Stimme. »Du weißt ja, worüber Marten geforscht hat. Rungholt, das geheimnisvolle versunkene Rungholt. – Klar, dir brauch ich davon nichts zu erzählen. Hier bei uns an der Küste kriegt man die Geschichten in der zweiten oder dritten Klasse zu hören, von der mächtigen Stadt der Friesen, die in einer einzigen Nacht vom Meer verschlungen wurde und von der heute niemand mehr sagen kann, wo sie gelegen hat.«

»Dein Vater hat behauptet, er hätte sie gefunden. Er hat dem Museum sogar Fundstücke übergeben, die ...«

»Sie waren echt.« Ich nickte ernst. »Die Museumsarchäologen haben das bestätigt. Aber er ...« Meine Kehle wurde eng. »Er starb, bevor er der Öffentlichkeit die Stelle im Watt zeigen konnte, an der er die Funde geborgen hatte. Niemand kann sagen, wo genau er an dem Tag auf der Suche war, als er auf sie gestoßen ist. – Bis heute.«

Jetzt riss sie die Augen auf. »Du willst mir sagen«, flüsterte sie, »das steht da drin?«

Ich schüttelte den Kopf und sagte leise: »Ja und nein.«

Vorsichtig schlug ich den Aktenordner auf. Das meiste, was dort zu finden war, die Tabellen und Auflistungen, die Ergebnisse von Reihenmessungen der Meeresströmungen, die Marten draußen im Watt vorgenommen hatte, kannte ich längst auswendig. Seine wirren Skizzen hätte ich aus dem Kopf nachzeichnen können.

Doch genau da gab es einen winzig kleinen Schönheitsfehler.

Ich blätterte. Es gab eine bestimmte Zeichnung: Hier, da war sie.

Ich sah noch einmal über die Schulter, aber niemand im Bistro schien von uns Notiz zu nehmen – im Moment nicht mal der Kellner, nachdem Tanja jetzt ganz gefesselt war von meiner Entdeckung.

Ich drehte den Ordner zu ihr um, ließ sie einen Blick auf Martens Skizze werfen.

Ausgeblichenes Papier, darauf ein Chaos von gestrichelten und gepunkteten Schlängellinien, kreuz und quer. Zum Teil überschnitten sie einander, zum Teil auch nicht. An bestimmten Stellen waren kleine Symbole eingezeichnet: Kreise, Quadrate, Dreiecke. Ein paar von ihnen standen richtig rum, andere auf dem Kopf.

»Sieht aus wie ein Schnittmuster aus der Burda«, murmelte Tanja. »Du weißt schon, von meiner Mutter.«

Ich schüttelte den Kopf. »Es ist eine Karte«, sagte ich. »Eine Landkarte.«

»Eine Karte?« Sie kniff die Augen zusammen.

»Hier.« Mit dem Finger zeigte ich auf einen Punkt im unteren Bereich. »Es gibt nicht nur diese seltsamen Symbole, sondern auch ein paar Buchstaben, Abkürzungen mit Sicherheit. – Hier: HH.«

»Hansestadt Hamburg«, flüsterte Tanja. »Wie das Autokennzeichen.«

Ich verzog das Gesicht. Genau davon war ich auch überzeugt gewesen, monatelang.

»Und hier«, sagte ich. »Weiter rechts. Std – das ist das Autokennzeichen von Stade.«

Tanja pfiff leise durch die Zähne. »Dann müsste man diese Karte einfach nur über eine andere Karte legen, und schon ...«

»Nein«, sagte ich knapp.

Einen Moment lang genoss ich ihre verblüffte Miene.

»Nein«, wiederholte ich. »Hab ich schon probiert, mit allen möglichen Karten. Aber Stade liegt an der Unterelbe – westlich von Hamburg. Auf Landkarten ist Norden oben, Westen also links. Die Buchstaben stehen aber rechts vom HH.«

Tanja beugte sich noch etwas tiefer.

Seltsam, dachte ich. Ich konnte das aus ganz normalem Abstand gut erkennen. Was, wenn sie demnächst eine Brille bräuchte?

Das würde dann wirklich mal eine Katastrophe werden.

»Stimmt«, sagte sie schließlich und schüttelte verständnislos den Kopf. »Aber was soll es sonst heißen? Woher weißt du überhaupt, was auf der Karte zu sehen sein soll?«

»Hier!« Mein Zeigefinger steuerte einen Punkt im oberen Bereich der Karte an: ein großes R in einem dick markierten roten Kasten. »R – wie Rungholt. Im gesamten Ordner geht es um Rungholt – und hier hat Marten die Lage der Stadt eingezeichnet.«

»So muss es wohl sein«, sagte sie, lehnte sich ernüchtert zurück. »Schließlich war er der Erste, der tatsächlich was gefunden hat, nachdem die Forscher seit sonst wann gesucht hatten.«

»Seit mehr als zweihundert Jahren«, warf ich ein und gab mir Mühe, nicht allzu großspurig zu klingen.

Was würde das erst für ein Gefühl werden, wenn ich Ole Rasmussen das hier präsentierte.

Vorausgesetzt, ich hatte recht mit dem, was ich mir in den letzten Wochen zusammengereimt hatte.

Tanja kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Da ist doch noch was!«, sagte sie. »Ich kenne dich, Lara Rasmussen. Ich weiß, was es zu bedeuten hat, wenn du so guckst.«

Fast gegen meinen Willen musste ich grinsen. Sie kannte mich tatsächlich ziemlich gut, und das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Sie schob ihr Cola-Glas beiseite, hob drohend den Zeigefinger. »Spuck's aus, Lara Rasmussen!«

»Aaaalso ...« Ich musste den Moment einfach ein bisschen genießen. »Aaaalso, das muss letztes Jahr kurz vor Weihnachten gewesen sein. Du weißt doch, als es so lange so warm war und neblig und ...«

»Übertreib's nicht!«, murmelte sie düster.

»Na ja.« Ich hob die Schultern. »Ich hab meine Weihnachtskarten geschrieben. Verwandtschaft und so. Peers Oma in München, ein paar Leute von der Insel. Ich hab mir eine Liste gemacht, mit Abkürzungen: Fam für die Familie, HH für Hallig Horn und ...«

Tanja japste. »Mann!«, flüsterte sie. »Natürlich!«

»So natürlich nun auch wieder nicht«, sagte ich möglichst würdevoll.

Ich hatte schließlich ein paar Monate gebraucht, bis ich draufgekommen war.

»Aber schon klar.« Ich nickte. »Wahrscheinlich steht das HH auf der Karte tatsächlich für Hallig Horn und nicht für Hamburg.«

»Oder für ...« Wieder kam Tanja auf Nasenlänge an die Karte heran. »Vielleicht ja für das Herrenhaus auf der Insel. Das von deinem Stiefvater.«

Ich biss mir auf die Lippen. Auf die Idee war ich noch gar nicht gekommen.

»Und jetzt?«, fragte sie. »Jetzt kannst du die Karte entziffern? Du weißt, an welcher Stelle Rungholt lag?«

Ich stieß den Atem aus.

»Kein Stück«, gab ich zu. »Noch weniger als vorher, wenn ich nicht mal sicher bin, wofür das HH steht. Hallig Horn müsste wirklich zu erkennen sein. Die Insel erkennt man doch auf jeder Karte: krumm wie eine Banane, mit der offenen Seite zum Festland, der abgerundeten Seite mit den Dünen zum Meer hin. – Nichts zu sehen.«

Tanja setzte sich wieder aufrecht hin. »Stimmt«, murmelte sie.

Ich hatte Zweifel, ob sie das beurteilen konnte.

Blind wie ein Maulwurf, dachte ich.

»Also bist du kein Stück weiter«, stellte sie fest.

Ich biss mir auf die Lippen.

»Na ja«, sagte ich zögernd. »Zumindest weiß ich jetzt, dass ich allein nicht weiterkomme. – Aber ich weiß, wen ich fragen kann.«

Erwartungsvoll sah sie mich an.

»Gorm«, sagte ich.

Tanja riss die Augen auf. Es war nicht ganz einfach, sie sprachlos zu machen.

Heute hatte ich das schon zum zweiten Mal hingekriegt.

Tanja war etliche Male dabei gewesen, wenn ich den Sommer auf Hallig Horn verbracht hatte, und natürlich wusste sie, wer Gorm war.

Der Leuchtturmwärter von Hallig Horn war so alt wie die Insel selbst. Jedenfalls behaupteten das die Inselleute. Und Hallig Horn war entstanden, als das Land auseinandergebrochen und Rungholt versunken war, bei der großen Sturmflut, der Mandränke vor sechshundertfünfzig Jahren.

Und ungefähr so sah der alte Gorm auch aus.

Er war ein Typ, mit dem die Eltern auf der Insel ihre Kinder erschreckten: Wenn du jetzt nicht aufisst, kommt der alte Gorm dich holen. Barbarisch. Ich erinnerte mich gut, dass die dicke Tilda, Ole Rasmussens Mädchen für alles, diese Tour sogar mit mir probiert hatte, bevor Sylke und Peer mich aus den Klauen meines Stiefvaters befreit hatten.

Jedenfalls war der Alte gruselig, sah aus wie eine Mumie: Keinen Zahn mehr im Mund, humpelte er auf seinen Stock gestützt durch die Gegend, in der ewig selben ausgeblichenen Friesentracht, die es seit hundert Jahren höchstens noch im Museum gab. Wie er noch die Treppen in seinem Leuchtturm hochkam, war ein ungeklärtes Rätsel.

Seine Einkäufe wurden einmal die Woche unten am Turm abgestellt, und beim nächsten Mal waren sie dann verschwunden. Nur dadurch wusste man mit Sicherheit, dass der Alte überhaupt noch lebte, denn draußen ließ er sich nur noch sehr, sehr selten blicken.

»Du willst ...« Keuchend holte Tanja Luft. »Du willst mit Gorm sprechen?«

Ich nickte entschlossen.

»Kein Mensch weiß mehr über die Insel als er, und Marten war das klar. – Hier.« Ich griff nach dem Ordner, blätterte ein paar Seiten vor. »Da«, sagte ich und deutete auf einige kaum lesbare Buchstaben, die Marten per Hand am Rande des Textes notiert hatte. »Gorm. inv. 37 b. – was immer das heißt.« Die nächste Seite. »Oder hier: Gorm chron. maj. Oder hier, da heißt es einfach: Gorm fragen.«

»Klingt wie eine Anweisung«, murmelte Tanja.

»Für sich selbst wahrscheinlich«, sagte ich. »Für Marten. Aber er ...« Wieder spürte ich, wie meine Kehle eng wurde. »Er ist nicht mehr dazu gekommen.«

»Und deshalb ...«, flüsterte Tanja, »deshalb willst du ihn jetzt fragen.« Sie schüttelte den Kopf. »Krass.«

Mir war mehr als mulmig im Magen, aber ich nickte ernst. »Er hat meinen Vater nicht gefressen. Er wird auch mich nicht fressen.«

Wie auch, dachte ich, ohne Zähne.

Tanja schüttelte den Kopf, wieder und wieder. »Und ich fliege nach Antalya. Mist.« Sie fixierte mich unter ihren frisch gezupften Augenbrauen hindurch. »Irgendwie wird mir ganz anders, wenn ich daran denke, was du da vorhast, und gleichzeitig ...«

Sie holte Luft. »Ich erwarte einen ausführlichen Bericht, Lara Rasmussen! Irgendwie hab ich das Gefühl, dass du diesmal den spannenderen Urlaub haben wirst.«

Das mulmige Gefühl in meinem Magen wurde deutlicher, aber dennoch: Keine von uns beiden konnte in diesem Moment ahnen, wie recht sie behalten sollte.

Mittwoch, 20. Juni, 09:02 Auflaufendes Wasser, 3 h 09 min bis Hochwasser Pegel Hallig Horn: 2,01 m über Seekartennull

»Lara, Schätzchen? Kommst du?«

Sylkes Stimme drang gedämpft durch meine Zimmertür. Den ganzen Morgen schon hatte ich gehört, wie sie im Erdgeschoss irgendwas umräumte.

Würden sie und Peer heute nach Hallig Horn fahren oder ich? Oder hatten die beiden vor, heimlich wegzuziehen, während ich auf der Insel war? Wobei: Heimlich wäre nicht so laut gewesen.

Ein Scheppern, gefolgt von einem unterdrückten Fluch.

»In fünf Minuten bin ich da!«, rief ich, sah kurz aufs Handy. Noch mehr als eine Stunde, bis die Fähre ablegte. Konnte ihr wohl nicht schnell genug gehen, bis ich endlich verschwand.

Ich biss mir auf die Zunge.

Das ist nicht fair, dachte ich. Die beiden kamen näher an das heran, was ich mir unter Eltern vorstellte, als alles andere, an das ich mich erinnern konnte. Ich mochte mir gar nicht ausmalen, wo ich die letzten Jahre verbracht hätte, wenn sie nicht gewesen wären. Auf Hallig Horn, keine Frage. Das ganze Jahr, das ganze Leben – anstatt immer nur für ein paar Wochen in den Ferien.

»Das letzte Mal«, murmelte ich und hob den Blick zu dem verblassten Foto, das neben dem glitzernden Mobile über meinem Schreibtisch hing: meine Eltern, Arm in Arm, im Hintergrund das Meer. Bei Marten erkannte man sofort die Verwandtschaft mit Sylke. Mama sah nur ich selbst ähnlich, und manchmal kriegte ich schon fast eine Gänsehaut, wenn ich feststellte, dass ich ihr immer ähnlicher wurde. Der einzige richtige Unterschied war das Rot, das ich mir vor ein paar Monaten für die Haare ausgesucht hatte und bei dem ich mir bis heute nicht sicher war, ob es so toll zu meinem Typ passte. Aber irgendwie war es mir plötzlich wichtig gewesen, dass ich mich überhaupt von ihr unterschied, wenn schon alles andere fast gleich war: dieselben vollen Lippen über dem leicht knubbeligen Kinn. Dieselben Augen, die mir allerdings wirklich gefielen. Vielleicht weil sie dieselbe Farbe wie das Meer hatten – und sie auch genauso schnell wechseln konnten wie das Meer, je nach Stimmung.

Und die war ganz seltsam heute.

»Es ist das letzte Mal«, sagte ich, und es klang wie ein Versprechen. »Ab morgen bestimme ich selbst, wann ich irgendwohin fahre. Und ob überhaupt.«

Mein achtzehnter Geburtstag. Ich würde ihn bei Rasmussen verbringen, das war mein letztes Zugeständnis an ihn. Volljährig. Seltsames Wort, dachte ich. Als ob danach nichts mehr käme. Dabei fing das Leben doch eigentlich erst richtig an, wenn man volljährig wurde. Wenn man selbst über sich bestimmen konnte und über das, was man mit seinem Leben anfangen wollte.

Rasch schlug ich noch mal den abgewetzten Aktenordner auf, der ganz oben in meiner Reisetasche lag, kontrollierte, ob ich alles dabeihatte. Die meisten Blätter waren vergilbt, auf einigen von ihnen befanden sich Notizen in Martens winziger krakeliger Schrift. Ab und zu gab es ein paar hellere Seiten: Fotokopien, die ich mir in der Stadtbücherei angefertigt hatte.

Alles war vorbereitet. Ein kleines, wissendes Lächeln huschte über mein Gesicht. Rasmussen dachte, ich käme nur seinetwegen – aber da hatte er sich geschnitten. Eines hatte ich mir geschworen: Wenn es so weit war, würde mein Stiefvater als Allerletzter erfahren, was ich herausgefunden hatte.

Falls ich tatsächlich etwas herausfinden sollte.

Etwas, das alles verändern würde.

Ich kniff die Augen zusammen.

Was hast du da gerade gedacht? Alles?

Ein seltsames Kribbeln in meinem Nacken. Es tat nicht eigentlich weh, fühlte sich eher an, als ob einem der Arm eingeschlafen war. – Aber der Nacken?

Irgendwie hab ich das Gefühl, dass du diesmal den spannenderen Urlaub haben wirst.

Das Kribbeln wollte gar nicht wieder aufhören.

»Ole Rasmussen war der beste Freund deines Vaters!«

Eine Dreiviertelstunde später. Sylke setzte einen strengen Blick auf und sah mich über ihre Halbbrille hinweg an. Insgeheim hatte ich den Verdacht, dass sie sich diese Brille nur aus diesem einen Grund zugelegt hatte: damit sie effektvoll über den Rand schauen konnte, wenn ich irgendwas gesagt hatte, das ihr nicht passte. Meistens über Rasmussen.

»Ole Rasmussen war Martens bester Freund. Er war der Einzige, der sich um deine Mutter und dich gekümmert hat, als ihr plötzlich allein dastandet.«

»Ich stand überhaupt noch nicht da«, brummte ich. »Ich war noch gar nicht geboren. Und ihr beide habt euch um mich gekümmert, Peer und du. Und ihr hättet euch auch um Mama gekümmert, wenn Rasmussen nicht ...«

Meine Tante sah mich gar nicht mehr an, sondern beobachtete, wie die Fähre am Landungssteg festmachte und eine schwere Metallbrücke heruntergelassen wurde, damit die Fahrzeuge der Urlauber eins nach dem anderen an Bord wechseln konnten.

»Rasmussen hat aber«, widersprach sie murmelnd. Ich musste ganz genau hinhören, denn jetzt ließen die ersten Fahrer die Motoren an. »Er hat sich immer eine eigene Familie gewünscht. Auch für ihn ist nicht alles so gekommen, wie er sich das gewünscht hat. Er hat nur dich und deinen Bruder.«

Ich biss mir auf die Lippen, schluckte die Worte hinunter, die mir schmerzhaft die Kehle hochkamen. Was mich betraf, war ich jedenfalls nicht Rasmussens Familie. Wäre mein Stiefvater nicht so versessen gewesen auf eine eigene Familie, auf eigene Kinder, dann wäre Mama das Risiko womöglich nicht eingegangen, noch einmal schwanger zu werden. Und wäre bei Hannes' Geburt nicht gestorben.

Marten war bei einem Unglück ums Leben gekommen, aber für Mamas Tod gab es einen Schuldigen, und der hieß Ole Rasmussen.

Hannes jedenfalls hieß er mit Sicherheit nicht. Das Wiedersehen mit meinem kleinen Bruder gehörte zu den Dingen, auf die ich mich freute. Meinem kleinen Bruder, der inzwischen größer war als ich selbst. Körperlich zumindest. Er lebte zwar meistens in seiner eigenen Welt, aber ich kümmerte mich um ihn, so gut ich konnte, wenn auch eher per Facebook in letzter Zeit.

»So.« Sylke nickte. Das Wort klang wie ein Stoßseufzer. Sie griff nach der Deichsel des Handwagens.

Es war tatsächlich ein Handwagen. Als ich hinter ihr durch die Haustür gekommen war, hatte ich das Gefährt angestarrt wie eine fliegende Untertasse – das Gefährt und seine Ladung, die aus mehreren Koffern und verschnürten Paketen bestand. Deine Geburtstagsgeschenke, hatte Sylke geflötet, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt gewesen.

Was sollte ich dazu sagen? Irgendwie wurde mir schon warm ums Herz darüber, dass meine Tante und mein Onkel an mich dachten, aber musste es denn gleich so dramatisch sein? Tanja hatte im Februar ganz einfach ein winziges Päckchen gekriegt, kaum größer als ein Schmuckkästchen. Da waren die Schlüssel zu dem alten Peugeot drin gewesen, den ihr Dad bis dahin gefahren hatte.

Was auch immer sich in meiner Geschenkepyramide versteckte: Ein Auto war es jedenfalls nicht. Aber damit hatte ich auch nicht gerechnet.

Sylkes Augen waren noch immer auf die metallene Rampe geheftet, über die die Autos an Bord der Fähre rollten. Ein Rumpeln, ein kurzes, dumpfes Poltern auf dem Metallblech, dann ein neues Rumpeln – und das nächste. So wahnsinnig spannend fand ich das nicht. Exakt dasselbe Spiel konnte man hier jeden Tag beobachten, stundenlang. Doch Sylke schien beinahe vergessen zu haben, dass ich neben ihr stand. Fast hatte ich das Gefühl, als ob ...

Ruckartig löste sie sich aus ihrer Erstarrung, wandte sich zu mir um.

»Lara.« Ihre Zunge fuhr über die Lippen.

Ich kniff die Augen zusammen. Irgendwie sah sie plötzlich seltsam aus; ein Gesichtsausdruck, den ich an ihr noch nie wahrgenommen hatte. Und da war noch was anderes. Lag das an der Sonne? Es war kurz nach halb eins. Direkt am Wasser entsteht eine Art Licht, bei der es nicht nur fast keine Schatten gibt, sondern irgendwie auch keine echten Farben mehr. Alles kommt einem gedämpft vor, blass. Aber Sylke hatte sich beim Rausgehen einen knallgelben Seidenschal umgewürgt, der überhaupt nicht zu ihrem petrolfarbenen Blazer passte. Und Schal und Blazer leuchteten uni die Wette, während meine Tante selbst ...

Sie sieht aus, als hätte man sie gerade aus dem Hafenbecken gefischt, dachte ich, und schlagartig war das seltsame Gefühl wieder da, das Prickeln im Nacken.

»Sylke?«, fragte ich. »Ist irgendwas nicht in Ordnung? Ich kann auch die Fähre morgen nehmen. Das ist echt kein Ding.«

Eine neue, wieder merkwürdig ruckartige Bewegung. »Nein«, sagte sie. »Nein.« Ihre Hand tastete in den Blazer, fahrig, schien etwas zu suchen. »Hier.«

Ein Briefumschlag, nein, eher eine Versandtasche aus dunklem Papier. Sylke streckte sie mir entgegen. In diesem Moment hatte ihr Gesicht nicht nur die Farbe, sondern auch die Ausdruckskraft einer Wasserleiche.

»Was ist das?« Automatisch griff ich zu, drehte den Umschlag hin und her. Er war unbeschriftet. Irgendwas befand sich da drin – nicht nur Papier, sondern ein schwerer, ungleichmäßig geformter Gegenstand, der offenbar abgepolstert war.

»Bitte mach es erst morgen auf.« Ihr Blick ging über meine Schulter. Ein letztes Rumpeln. Jetzt waren alle Fahrzeuge an Bord. Eine knisternde elektronische Durchsage wandte sich an die Passagiere, die zu Fuß unterwegs waren. Rings um uns machten sich mehrere Leute auf den Weg.

Das war das Signal auch für mich, doch so abrupt, wie Sylke dieses Kuvert gezückt hatte ... Sie musste bis zum letzten Moment gewartet haben.

»Noch ein Geschenk?« Verwirrt starrte ich auf den Umschlag.

Sylke nickte, schüttelte dann den Kopf. »Ja. Ich meine: Nein. – Nicht von uns. Von Marten.« Sie holte Luft. »Von deinem Vater.«

»Von ...«

»Machs gut, mein Schatz.« Sie drückte mich kurz an sich. Ihre Hände waren eiskalt; ich spürte es durch die Windjacke. »Einen schönen Geburtstag.«

Sylke löste sich von mir, entfernte sich mit eiligen Schritten. So eilig, dass es fast wie eine Flucht aussah. Sie sah sich nicht noch mal um.

Ich blieb stehen, wie betäubt, mit offenem Mund.

Wieder die elektronische Durchsage. Letzter Aufruf an die Fahrgäste.

Mit Gewalt riss ich meinen Blick von Sylkes Rücken los, der bereits in der Menge verschwunden war, und betrat als Letzte die Rampe.

Ich hatte den Fuß noch nicht aufs Deck gesetzt, doch unter mir schwankte der Boden wie auf hoher See.

Mittwoch, 20. Juni, 10:12 Auflaufendes Wasser, 1 h 58 min bis Hochwasser Pegel Hallig Horn: 2,88 m über Seekartennull

Es war eine Kuh.

Niels-Henning Bergstrœm, königlich dänischer Polizeiassistent ersten Grades, kannte Kühe.

Wenn in den Nachrichten über den Rinderwahnsinn berichtet wurde, über eine neue Milchverordnung der EU, schnitten sie manchmal kurze Sequenzen mit schwarz-weiß gefleckten Tieren ein. Das waren Kühe. Freundliche Wiederkäuer, die irgendwo friedlich auf einer Weide grasten.

Doch diese Kuh erlebte er live. Seit zehn Minuten fragte sich Henning, ob es tatsächlich angehen konnte, dass dies wirklich und wahrhaftig seine erste Livekuh war. Und dann gleich aus dieser kurzen Distanz – achtzig Zentimeter vor dem Kühlergrill seines Audi R8.

Was tat sie da, mitten auf dem Fahrweg? Die Strecke war befestigt, aber nicht asphaltiert. Es gab einen grünen Mittelstreifen zwischen den beiden Radspuren, und offenbar hatte das Tier sich entschlossen, dort zu weiden.

Eine Entscheidung, die Henning nicht nachvollziehen konnte. Er persönlich hätte sich als Kuh eher an das Gras links und rechts vom Weg gehalten. Das sah in seinen Augen wesentlich saftiger aus. Doch möglicherweise wusste er einfach zu wenig über die Spezies.

Und am allerwenigsten hatte er eine Ahnung, wie er sie dazu bewegen sollte, den Weg freizugeben.

Er hatte es mit der Hupe probiert, mit dem Fernlicht. Er hatte den 316-Kilowatt-Ottomotor zehn Sekunden lang bedrohlich aufröhren lassen – mit dem einzigen Ergebnis, dass das Tier kurz aufgeblickt und mit einem urtümlichen Laut in das Röhren eingestimmt hatte. Von der Stelle bewegt hatte es sich nicht.

Hennings Finger klopften einen Stakkatorhythmus auf dem Lenkrad. Zwanzig Minuten bis zum Beginn der Besprechung mit den Deutschen. Auf dem Revier. Dem Revier, das sich nach Angaben seiner Navigationssoftware nur über diesen ungepflasterten Fahrdamm erreichen ließ und das schon den ganzen Morgen unbesetzt war. Die Telefonansage riet ihm jedenfalls, es bei der Zentrale in der Stadt zu versuchen. Den Namen der Stadt zu nennen, war offenbar unnötig am Rande des deutschen Wattenmeers. Es gab nur die eine.

Henning hatte gut in der Zeit gelegen. Wirklich gut. Hatte heute Morgen sogar aufs Kickbox-Training verzichtet, damit er früher loskam. Und selbstredend hatte er den Audi genommen, seinen Privatwagen. Mit dem Dienstfahrzeug hätte er sich das schenken können, erst heute früh von Kopenhagen loszufahren. Ja, er hatte gut in der Zeit gelegen.

Und jetzt das.

»Das ist Absicht«, knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Absicht nicht etwa von der Kuh. Absicht von Nordenstjern. Sein direkter Vorgesetzter hatte in seinem Büro gesessen, als Henning den Kopf zur Tür reingesteckt hatte, um sich die schriftliche Bestätigung für den ersten Auslandseinsatz seiner Karriere bei der königlich dänischen Kriminalpolizei abzuholen. Das Schreiben an die deutschen Behörden. Und Nordenstjern hatte aufmunternd gelächelt.

Henning war sich nicht sicher, warum sein Vorgesetzter gerade ihn noch eine Spur mehr zu hassen schien als den Rest der Menschheit, aber es war nun mal eine Tatsache. Lag vielleicht an den Haaren. Vielleicht fehlte Kriminalinspektor Nordenstjern die nötige Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass man auch mit Pferdeschwanzfrisur korrekte Ermittlungsarbeit leisten konnte. Vielleicht war ihm Polizeiassistent ersten Grades Niels-Henning Bergstrœm mit seinen vierundzwanzig Jahren auch einfach zu jung für einen eigenverantwortlichen Einsatz im Ausland. Oder er mochte den Audi nicht oder den Schnitt von Hennings Sakkos oder die Tatsache, dass er nie eine Krawatte trug.

Zum Teufel, was machte das für einen Unterschied? Nordenstjern hatte gelächelt, und das hätte Henning misstrauisch machen müssen. Hatte es aber nicht.

Und jetzt stand er vor einer Kuh, Nordenstjern saß fünfhundert Kilometer Luftlinie entfernt am Schreibtisch, grinste sich ein zweites Loch in den Hintern, und Henning blieb nichts als Fluchen und Brüllen.

»Do dit fede pikfæs!« Er bereute die Worte im selben Moment. Was, wenn die Kuh sich angesprochen fühlte? Was, wenn sie tatsächlich mitten in der Fahrspur tot umfiel?

Das Tier hob den Kopf, sah ihm sekundenlang mit sehr, sehr ernstem Ausdruck in die Augen – und trottete ganz gemächlich in saftigere Weidegründe davon.

Henning zögerte keine Sekunde. Das war nicht die einzige Kuh hier. Die Wiesen waren voll mit den Viechern.

Mit einem Röhren erwachte der Motor, Sand und Grasbüschel spritzten auf, dann griffen die Rallyereifen, und der Audi schoss ruckartig voran. Henning schickte ein kurzes Dankgebet an den Gott der Integral-Aktivlenkung gen Himmel und trat das Gaspedal durch.

Die Federung war perfekt. Genauso gut hätte er über eine absolut ebene Asphaltpiste rasen können. Die Weiden waren ein Rausch von Grün mit einzelnen, schwarz-weiß verwischten Einsprengseln. Ein kantiger Umriss geradeaus, allein auf weiter Flur und nur für Sekunden noch in der Ferne, musste schon das Revier sein.

Ha! Nun war er doch noch zu früh dran, drei Minuten zu früh, und die Staubfahne, die er hinter sich herzog, hatten sie garantiert schon gesichtet. Er trat kräftig auf die Bremse, und die Räder gehorchten mit derselben Sicherheit wie im Stadtverkehr von Kopenhagen.

Doch, der 8er war ein Schätzchen. Keiner von den Poserwagen, die zwar von außen schnieke aussahen, aber in Wahrheit nichts unter der Haube hatten. Wobei natürlich auch die Form, gleichzeitig sportlich und elegant ... nun, die Blicke der Leute sprachen für sich.

Die Blicke ...

Es gab drei Parkplätze vor dem einstöckigen Reviergebäude; der mittlere war noch frei. Henning steuerte den Audi in die Lücke, aus einem Winkel, den kein Mensch der schweren Limousine zugetraut hätte.

Vor der Tür des Gebäudes wartete ein Mann in einem verknitterten Anzug. Das musste Kriminalinspektor Jan-Jakup Schmehlich sein, Hennings Verbindungsbeamter. Schmehlich konnte die Augen gar nicht losreißen von dem Wagen.

Nun, der Kriminalassistent würde sehen. Wenn der Kollege ein Braver war, würden sie den Audi nehmen, ansonsten ... Welches der beiden anderen Autos dem Deutschen auch gehörte: Zu beneiden war er nicht.

Henning schwang sich aus dem Wagen. Schmehlich hatte die vierzig schon hinter sich – Glatze mit Vorgarten –, und noch immer starrte er auf das Fahrzeug, das dänische Nummernschild. »Kriminalassistent Bergstrœm?«

»Niels-Henning Bergstrœm.« Henning streckte ihm die Hand entgegen.

Der Deutsche griff zu wie Zuckerwatte. »Schmeh... Schmehlich. Ich hatte Ihnen eine ...« Langsam drehte er den Kopf, stierte auf die unbefestigte Piste, über der sich der Staub erst allmählich wieder legte. »Inspektor Nordenstjern müsste die Anfahrtbeschreibung eigentlich bekommen haben. Die Hinweisschilder zum Revier sind zwar schon da, aber auf den Karten ... Ich fürchte, unsere Zufahrt ... die gibt's da noch nicht.«

Die Zufahrt, asphaltiert und nagelneu, mit durchgehendem Seitenstreifen. Sie kam genau aus der Gegenrichtung, zweigte von einer vierspurigen Straße ab, die offenbar direkt am Deich entlangführte.

Auf keiner Karte zu finden? Jedenfalls nicht auf dem Kartenmaterial von Hennings Navigationssystem.

»Es kommt selten vor, dass uns Kopenhagen jemanden schickt«, murmelte Inspektor Schmehlich. »Genauer gesagt kann ich mich gar nicht erinnern, dass ich das überhaupt schon mal erlebt hätte. Aber in diesem Fall natürlich ...«

Die beiden Männer waren allein.

Der Deutsche hatte Henning einen Plastikbecher mit lauwarmem Automatenkaffee in die Hand gedrückt, umrundete den Konferenztisch im Zentrum des düsteren Büros. Dort waren mehrere Aktenordner ausgebreitet.

Henning nickte, nippte vorsichtig an der wässrigen Brühe, verzog das Gesicht. Im ersten unbeobachteten Moment würde er zu recherchieren beginnen, wo sich der nächste Starbucks befand.

»Schreckliche Sache.« Schmehlich blätterte in seinen Unterlagen. »Ganz schrecklich. Neunundzwanzig Menschen. Siebzehn von ihnen Ihre Landsleute. Fragen Sie mich nicht, wie wir das hingekriegt haben, dass das noch keine großen Wellen geschlagen hat bisher.«

Große Wellen? Gewagter Ausdruck. Henning hob eine Augenbraue.

Schmehlich merkte es im selben Moment, biss sich auf die Unterlippe, murmelte etwas Unverständliches.

Doch Henning nickte verstehend. Ein Medienrummel um neunundzwanzig Leichen im Watt wäre das Letzte, was die nordfriesischen Inseln mitten in der Hochsaison gebrauchen konnten.

Allerdings war das auch so ziemlich alles, was er bisher verstand. Er hatte zugegriffen, ohne nachzudenken, als Nordenstjern wie zufällig erwähnt hatte, dass ein Einsatz in Deutschland anstand. Deutschland war ideal. Henning war quasi zweisprachig aufgewachsen. Routineeinsatz? Kein Problem. Ausland, das war der springende Punkt, wenn man nicht vorhatte, als Streifenbulle zu versauern – und dafür hatte sich Henning diesen Job nicht ausgesucht. Seine Berufswahl hatte sowieso kein Mensch in seiner Familie verstanden, aber die konnten ja nicht mal begreifen, dass er sich überhaupt einen Beruf gesucht hatte.

Jedenfalls würde er diesen Auftrag durchziehen, auch wenn wohl wirklich absehbar war, dass maximal ein Fall für die Arbeitssicherheit dabei rauskommen würde. Neunundzwanzig Menschen, die im Watt gestorben waren.

Ertrunken. Neunundzwanzig Menschen ertrunken.

Das war der eine Punkt, an dem Henning gestutzt und sich genauer bei Nordenstjern erkundigt hatte. Der einzige. Ertrunken.

Er schloss für einen Moment die Augen. Ein Drittel der Landesfläche Dänemarks bestand aus Inseln. Alles in allem war die Küste des Königreichs mehr als siebentausend Kilometer lang. Es war abzusehen gewesen, dass er es irgendwann mal mit Tod durch Ertrinken zu tun bekommen würde. Dass dieser Fall ausgerechnet mit seinem ersten Auslandseinsatz zusammenfiel, war eine seltsame Ironie.

Und das ist auch schon alles, dachte er. Nichts, wovor man Angst haben musste. Wovor er Angst haben musste. Die Leichen waren vollzählig geborgen, und die Spurensicherung vor Ort war allein Sache der Deutschen. Im schlimmsten Fall würden sie ihn mit irgendwelchen Details der Obduktionsergebnisse konfrontieren, und er war sich sicher, dass er das durchstehen würde, wenn er es schaffte, die Erinnerungen aus seinem Kopf rauszuhalten.

Es bestand keinerlei Notwendigkeit, dass er selbst auch nur einen Blick über den Deich werfen musste, das war das einzig Entscheidende. Er sah zuverlässig aus, dieser Deich. Ein festes Bollwerk gegen das, was auf der anderen Seite lag, direkt dahinter oder einige Kilometer entfernt. Henning hatte keine Ahnung, ob gerade Ebbe herrschte oder Flut. Er wollte es gar nicht wissen. Die Unruhe war schon da, wenn er sich nur in Gedanken damit beschäftigte.

»Gut«, sagte Schmehlich leise. Er schien gefunden zu haben, was er in seinen Unterlagen gesucht hatte, sah auf die Uhr. »Wenn sie Zeit für uns hat, können wir's noch schaffen.«

»Sie?«

Doch der Deutsche hatte schon einen Telefonhörer in der Hand, tippte eine Nummer ein. »Edith?«, fragte er fast sofort. Pause. »Ja, er ist jetzt hier. Wenn es kurz nach Mittag passt, schaffen wir noch ... Ja. Ja, wir sind ...« Er stutzte, sah den Hörer an, legte ihn kopfschüttelnd zurück auf die Gabel, kratzte sich am Hinterkopf. »Man kann's auch übertreiben mit der Effizienz«, brummte er. »Bloß kein Wort zu viel. – Aber sie gehört zu den Besten.«

»Ah ja?«

Schmehlich nickte. »Edith Passon ist eine Art Legende der Rechtsmedizin. Ist normalerweise in Niedersachsen tätig. Ich bin froh, dass wir sie im Moment hierhaben. Wenn Ihnen jemand sagen kann, ob ein Mensch ertrunken ist oder ob es nur so aussehen soll, als ob er ertrunken wäre, dann ist es Edith Passon. Wobei das schon ziemlich umständlich wäre bei neunundzwanzig Wasserleichen im Watt. Also ... äh ... das mit dem nur aussehen als ob.«

»Sie will uns ihre Ergebnisse vorstellen?«

Der Deutsche schüttelte den Kopf. »Edith besitzt da einen gewissen, nun, sagen wir: missionarischen Eifer. Vermutlich wird sie uns beides vorstellen – die Leichen und die Ergebnisse.«

»Wir sollen uns die Leichen ansehen?« Henning biss sich auf die Zunge, aber zu spät.

Schmehlichs Augenbrauen hoben sich.

»Ich ...« Henning schüttelte den Kopf. Was hätte er sagen sollen, ohne es noch schlimmer zu machen? Ehrlich, das ist nicht wegen der Leichen! Ich hab schon richtig viele Leichen gesehen. Macht mir überhaupt nichts aus. Nur bei Wasserleichen bin ich halt ein bisschen eigen, seit ich damals meine Mutter identifizieren musste, nachdem sie in die Schiffsschraube gekommen war. Ach ja, überhaupt mit Wasser, mit dem Meer und so ...

Nein, es war besser, wenn er gar nichts sagte. Er würde das ganz einfach durchstehen. Der beste Beweis – für Schmehlich und für ihn selbst. Ein toter Mensch war ein toter Mensch, nicht mehr. Was spielte es für eine Rolle, warum er tot war? Ein aseptisches gerichtsmedizinisches Labor mehr oder weniger – und mit Sicherheit weiter vom Meer entfernt als dieses Revier.

Es war nicht der tote Körper seiner Mutter, der im Traum zu Henning kam.

Es war das Wasser.

»Okay.« Er nickte. Er klang zu cool und damit automatisch zu jung, aber wieder war es schon zu spät.

»Nehmen wir meinen Wagen«, schlug er vor.

Schmehlich hob die Schultern, schloss den Aktenordner, zögerte dann. »Nein, besser nicht. – Ich denke, dieses Fahrzeug ist hier vor dem Revier besser aufgehoben als am

Fährhafen.«

»Gut, dann ... Fährhafen?«

»Die Leichen sind nach der Bergung nach Pellworm gebracht worden, das ist das übliche Verfahren. Passon nutzt das Labor dort. Die Fährverbindungen sind etwas chaotisch im Moment, weil wir den Bereich um die Unglücksstelle noch nicht wieder freigegeben haben.« Schmehlich sah auf seine Armbanduhr. »Das Schiff hat vor einer halben Stunde in der Stadt abgelegt. Wenn wir uns ranhalten, schaffen wir's noch zum Zwischenstopp auf Nordstrand. Dann sind wir in zwei Stunden auf der Insel.«

Henning rührte sich nicht.

Pellworm. Eine Insel.

Mitten im Meer.

Mit einer Fähre über das Wasser. Zwei Stunden lang.

Seine Finger gruben sich in die Hosentaschen. Irgendwas musste er mit ihnen anfangen. Er fand nur den Blackberry.

Und der brachte ihn auf eine Idee; die einzige Flucht.

Kickboxen, dachte er. Er würde sich das Headset in die Ohren bohren, bis zum Anschlag, und zwei volle Stunden lang sein Programm durchziehen. Bis an den Rand der Besinnungslosigkeit. Bis in seinem Kopf für nichts anderes mehr Platz war.

Schmehlich würde ihn anstarren, unter Garantie.

Scheiß auf Schmehlich!

Oder wer auch immer es wagen sollte, sich Henning in den Weg zu stellen.

Mittwoch, 20. Juni, 10:55 Auflaufendes Wasser, 1 h 16 min bis Hochwasser Pegel Hallig Horn: 3,34 m über Seekartennull

Vom Festland aus ist Hallig Horn unsichtbar.

Nordstrand und Pellworm mit ihren hohen Deichlinien sind im Weg. Sie liegen viel näher an der Küste und verdecken die Insel.

Hallig Horn befindet sich dahinter, viel weiter draußen auf dem Meer, und nur von der äußersten Spitze Nordstrands sind die Umrisse manchmal schemenhaft zu erkennen, gegen Abend, wenn die Sonne eine leuchtende Bahn auf die Wasserfläche zeichnet.

Diesen Punkt hatte die Fähre jetzt schon hinter sich. An der Landungsstelle war ein zusätzlicher Schwall von Fahrgästen an Bord gekommen, auf dem Weg nach Pellworm oder sonst wohin. Es hatte sich angefühlt, als ob das Schiff automatisch ein Stück tiefer ins Wasser sackte.

Ich tat, was ich konnte, um sie nicht zur Kenntnis zu nehmen. In meinem Kopf war kein Platz dafür. Ich stand am Bug, die Hände um die Reling, und starrte auf die Silhouette der Hallig, die langsam näher kam.

In meinem Mund schmeckte es nach Salz. An meiner Brust spürte ich bei jedem Herzschlag den Druck des Umschlags, den ich in meiner Windjacke verstaut hatte.

Von Marten. Von deinem Vater.

Wie konnte der Mann, den ich nur von Fotos kannte und von der ausgeleierten VHS-Kassette eines Fernsehberichts, auf der er von seinen Forschungen erzählte ... Wie konnte dieser Mann, der noch weniger war als die verschwommene Erinnerung, die ich an meine Mutter besaß ...

Von deinem Vater.

War das unmöglich? Marten hatte gewusst, dass Mama schwanger war. Sie hatten noch zusammen einen Kinderwagen ausgesucht, Strampler, die zu einem Jungen, aber genauso gut zu einem Mädchen gepasst hätten.

Trotzdem: Wie konnte ein Mann, der seit mehr als achtzehn Jahren tot war, mir etwas zum Geburtstag schenken? Er hätte vor seinem Tod ein Volljährigkeitsgeschenk aussuchen und in einen Umschlag packen müssen, und das bereits für ein Kind, das noch gar nicht geboren war. Nicht sehr wahrscheinlich, aber auch nicht unmöglich.

Und was sollte das sein? Vom Format her wäre es hingekommen mit dem Autoschlüssel wie bei Tanja, aber ein achtzehn Jahre alter Wagen? Oder wenn er ein Sparbuch angelegt hatte, auf das die ganze Zeit über regelmäßig etwas eingezahlt worden war? Über die Jahre hätte das bestimmt für ein Auto ...

Wütend schüttelte ich den Kopf. Was war das für ein Blödsinn!

Der Wind kam von See und war von der ekligsten Sorte. Mit stampfenden Motoren kämpfte sich die Fähre durch die Dünung und ließ die Gischt in schmutzigem Weiß aufspritzen. Wie feiner Nieselregen legte sich die salzige Feuchtigkeit auf mein Gesicht.

Ich konnte nicht denken.

Marten war tot. Mein Vater war tot, und es gab einige Dinge, die Tote ganz einfach nicht taten: Sie gratulierten ihren Hinterbliebenen nicht zum Geburtstag, und sie zahlten auch keine Beträge auf ein Konto ein, das ich selbst gerade in meinem egoistischen kleinen Hirn erfunden hatte. Ein Geschenk von meinem längst verstorbenen Vater – und das Erste, was mir in den Kopf kam, war ein Autoschlüssel? Klar, das wäre nicht übel gewesen, wenn man gerade anfangen wollte, über sein eigenes Leben zu bestimmen, aber das ergab doch keinen Sinn!

Nicht wenn dieses Geschenk von Papa kam, von Marten Feddersen, den ich niemals kennengelernt hatte und doch zu kennen glaubte, aus seinen Aufzeichnungen und Notizen. Seine Art zu denken, seine Träume und Visionen.

Marten Feddersen verschenkte keine Autoschlüssel. Dieser Umschlag musste mit dem zusammenhängen, was ich gelesen hatte, wieder und wieder. Mit seinen Forschungen. Das war sein Leben gewesen. Und aus irgendeinem Grund hatte er gewollt, dass ich ihn erst jetzt bekam, zu meinem achtzehnten Geburtstag. Meine Tante musste ihn die ganzen Jahre vor mir versteckt haben, um ihn mir im allerletzten Moment zwischen Tür und Angel in die Hand zu drücken. Konnte mein Vater das gewollt haben? So? Im Leben nicht! Oder doch? Zur Hölle, ich wusste es nicht!

Ich war sauer. Stinkend sauer. Auf Marten, auf Sylke, am meisten auf mich selbst, weil ich nicht anders konnte und das Kuvert jetzt zum zehnten Mal aus der Jacke fingerte, es hin und her schüttelte wie ein verflixtes, achtzehn Jahre altes Überraschungsei.

Ein neuer Brecher donnerte gegen den Kiel der Fähre. Ein paar Schritte neben mir juchzte eine Dame jenseits der fünfzig wie eine Hyäne im Stimmbruch.

Es war zu viel. Das Donnern und Zischen der Wellen, das Gequassel der Fahrgäste, das jeden klaren Gedanken in meinem Kopf zerhackte. Alle drängelten sich ausgerechnet hier vorne. Die Aussicht. Klar.

»Verdammt!«, knurrte ich, stopfte den Umschlag zurück in die Jacke und schnappte mir die Reisetasche. Der Handwagen befand sich samt seiner Ladung im Gepäckraum. Ich beneidete ihn um die Ruhe, die er da unten hatte. Ich konnte mir nur mit Zähnen und Klauen den Weg durch die Leute freikämpfen. Irgendwo auf diesem verfluchten Kahn musste es doch einen Platz geben, wo ich wenigstens atmen ...

Eine Kanonenkugel. So fühlte es sich an. Sie erwischte mich direkt vor der Brust, knapp unterhalb, auf den kurzen Rippen. Wo es am meisten wehtat.

Ich klappte zusammen wie ein Taschenmesser.

Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung, einen dunklen Umriss, der sich wild hin und her zuckend um die eigene Achse drehte, sich ein Stück entfernte.

Und dabei knurrende, keuchende Laute von sich gab.

Meine Augen tränten. Mit einem gurgelnden Geräusch bekam ich wieder Luft. Der Schmerz in den Rippen war gar nicht so schlimm. Es war vor allem die Überraschung gewesen, der Schreck, der mich zu Boden geschickt hatte.

Und der jetzt verging, weil er etwas anderem Platz machen musste.

Wut. Finsternachtschwarze, lavablutrote Wut.

Ich war kein Mensch, der schnell aus der Ruhe zu bringen war. Wäre das der Fall gewesen, hätte ich allein Tanja jeden Tag ein halbes Dutzend Mal um die Ecke bringen müssen, wenn sie sich mal wieder den denkbar unpassendsten Moment ausgesucht hatte, um mich mit einer ihrer zwischenmenschlichen Katastrophen zuzuschwallen. Aber wenn ich wütend wurde, dann konnte ich richtig wütend werden.

Und jetzt war ich wütend. Marten war tot, Sylke außer Reichweite. Ich hätte höchstens mir selbst eine verpassen können, wozu ich fast Lust gehabt hätte, aber dieses Wesen ...

Es hatte Richtung Backbord abgedreht, wo im Moment nur die Küstenlinie von Eiderstedt zu sehen war: nicht so aufregend und entsprechend nicht so viele Leute, die es mit seinen Zuckungen in Gefahr bringen konnte. Die meisten hielten schon von sich aus Abstand. Noch zehn Meter entfernt legte eine Mutter schützend die Arme um ihr kleines Mädchen.

Ich stützte die Hände in die Hüften, visierte die Gestalt böse an. Ein männliches Exemplar, nur ein paar Jahre älter als ich und auch nicht viel größer. Höchstens so groß wie Leo, mein noch immer nicht vergessener Exfreund. Nur dass Leo ein eher schmaler Typ war, ein bisschen wie Edward aus den Biss-Romanen. Wirkt irgendwie ein wenig hinfällig, der Junge, hatte Peer mal gemurmelt, als er dachte, ich würde es nicht mitkriegen.

Von hinfällig konnte bei dem Exemplar hier an Deck jedenfalls nicht die Rede sein. Zumindest jetzt noch nicht. Aber ich war ja auch noch nicht fertig mit ihm.

Schwarze Anzughose, schwarze Schuhe, die teuer aussahen und wie frisch gewienert. Schwarzes Hemd, offen bis zum dritten Knopf. Die Ärmel hatte er hochgekrempelt, fast bis zu den Schultern, und wie seine Arme aussahen, gehörten Krafttraining und diese Rumspringerei zu seiner täglichen Gewohnheit.

Und er hatte einen Pferdeschwanz.

Ein Kerl mit Pferdeschwanz im zweiten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Eindeutig, der ganze Typ musste aus einer anderen Zeit stammen: Die Frisur passte sogar irgendwie zu ihm.

Dreitagebart, die Zähne zusammengebissen, dass die Wangenknochen hervortraten, und die Augen kaum mehr als schmale Schlitze, aus denen ein Ausdruck sprach ... Irrsinn? Irgendwie kriegte ich eine Gänsehaut.

Du drehst dich jetzt ganz langsam um und schlenderst gemütlich ans entgegengesetzte Ende der Fähre. Das Flüstern in meinem Kopf musste wohl die Stimme der Vernunft sein. Sie hatte keine Chance. Die Stimme meiner Sturheit war stärker.

Ich stapfte auf ihn zu. Offenbar sah ich einigermaßen gefährlich aus. Die Passagiere wichen mir jedenfalls aus.

Nur er nahm mich nicht zur Kenntnis.