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Manta, Marken, Mobile – eine kluge Kulturgeschichte des Autos. Die heutige selbstverständliche Automobilität wird durch die Klimakrise und die sich abzeichnende Verkehrswende ebenso infrage gestellt wie durch die Digitalisierung. Ausgehend von diesem kulturgeschichtlichen Wendepunkt suchen die Autorinnen und Autoren kulturelle Imaginationen des Autos zwischen nostalgischer Glorifizierung und auratisiertem Zukunftsversprechen. Im Zentrum stehen verschiedene Formen von Automobilität und ihre Grenzen, die in literarischen und filmischen Inszenierungen von Unfällen besonders drastisch sichtbar werden. Am Beispiel verschiedener Fahrzeugtypen lassen sich die Wege des Autos in die Moderne und aus ihr heraus verfolgen. Im Vergleich zwischen Deutschland und den USA werden kulturelle und nationale Unterschiede im Umgang mit dem Auto erkennbar. Anhand literarischer und filmischer Beispiele wird dargestellt, wie der Innenraum des Autos zu einem Ort der sozialen Bedeutungsstiftung und der medialen und technischen Reflexion werden kann. Aus dem Inhalt: Stephan Kraft: Franz Werfels Jacobowsky und der Oberst; Franziska Thun-Hohenstein: Mit Komfort über die russische Wegelosigkeit; Moritz Baßler: Frau am Steuer in den 1950er Jahren; Hans Ulrich Gumbrecht: Autos in der deutschen und amerikanischen Kultur; Rüdiger Campe: Der Held und sein Auto in The Big Sleep; Jürgen Fohrmann: Ein Essay zu Fargo, zweite Staffel; Barbara Vinken/Anselm Haverkamp: Un Homme et une femme
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Seitenzahl: 601
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Für Eva Geulen
Im Fuhrpark der Literatur
Kulturelle Imaginationendes Autos
Herausgegeben von Gwendolin Engels, Claude Haas, Dirk Naguschewski und Elisa Ronzheimer
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2022
www.wallstein-verlag.de
Lektorat: Gwendolin Engels, Dirk Naguschewski
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf,
unter Verwendung von Fotos eines Auto-Quartetts (1970er Jahre);
Privat; Fotos: Nicola Chodan
ISBN (Print) 978-3-8353-5227-8
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4961-2
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4962-9
GWENDOLIN ENGELS / CLAUDE HAAS / DIRK NAGUSCHEWSKI / ELISA RONZHEIMEREinleitung
Automobilität
GEORG TOEPFERDas Auto und das Leben
HELMUT MÜLLER-SIEVERSKurbeln und Anlassen
HANS JÜRGEN SCHEUERMann ohne Führerschein. Die Rückkehr des höfischen Ritters in Robert Musils Der Riese Agoag
LARS FRIEDRICHWinken, Blinken, Ausweichen. Heideggers Semiotik des Fahrtrichtungsanzeigers
HENNING TRÜPERIkonologisches zum Verkehrsunfall
ROSS SHIELDSMotivating Accidents. Car Crashes in Literature and Film
MATTHIAS SCHWARTZKraftwagen im Weltraum, oder: Wie die Menschheit doch nicht verlernte, das Auto zu lieben
Marken und Modelle
MORITZ NEUFFERThe Horseless Age. Die Epochenwende in Automobilzeitschriften um 1900
STEPHAN KRAFTFranz Werfels Jacobowsky und der Oberst … und ihr Auto
FRANZISKA THUN-HOHENSTEINMit Komfort über die russische Wegelosigkeit
ZAAL ANDRONIKASHVILISujet-Fahrzeuge: Nabokovs Automobile
MORITZ BAßLERUtopische Fahrt. Frau am Steuer in den 1950er Jahren
STEFFEN MARTUSDie ›Klassengrenzen‹ der ›Generation Golf‹
PATRICK EIDEN-OFFEDas teuerste Auto der Welt
HANNA HAMEL»We go back?« Zur auto-ästhetischen Wende in Mad Max: Fury Road
On the road
HANS ULRICH GUMBRECHTAutos in der deutschen und amerikanischen Kultur. Bemerkungen aus anthropologischer Perspektive
ERICA WEITZMANA(uto)nomie in Amerika
RÜDIGER CAMPEIm Heimatlosen unterwegs. Der Held und sein Auto in The Big Sleep
EVA AXERTiefenzeit erfahren. Roadtrips und andere Arten des Reisens in John McPhees Annals of the Former World
JÜRGEN FOHRMANNDeutsche in Amerika. Der Kopf in der Windschutzscheibe. Ein Essay zu Fargo, zweite Staffel
PAUL FLEMINGThe End of the Road. New Nomads After the American Dream
Zu zweit im Wagen
STEFAN WILLERPaare in Autos
BARBARA VINKEN / ANSELM HAVERKAMPElle et lui: Un homme et une femme
KIRK WETTERSFahrvergnügen: The Limits of Autonomy in Societies of Control
KYOUNG-JIN LEEDialog im Auto. Die Erfindung eines filmischen Sujets
POLA GROßZwischen Auto- und Internetlogik. Enis Macis Theatertext Autos
MARIA KUBERGAuto-Fiktion. Taxifahren mit Muttern in Christian Krachts Eurotrash
Bildnachweis
Anmerkungen
Ich glaube, daß das Automobil heute die ziemlich genaue Entsprechung der großen gotischen Kathedralen ist. Soll heißen: eine epochale Schöpfung, die mit Leidenschaft von unbekannten Künstlern entworfen wurde und von deren Bild, wenn nicht von deren Gebrauch ein ganzes Volk zehrt, das sie sich als ein vollkommen magisches Objekt aneignet.[1]
Mit diesen Sätzen eröffnete Roland Barthes seinen legendären Text über die Citroën DS. Barthes glaubte, die DS markiere einen »Wendepunkt in der Mythologie des Automobils«.[2] Zunächst einmal dürfte es sich allerdings so verhalten haben, dass Barthes’ eigene Untersuchung mit einem Wendepunkt zusammenfiel: Mitte der 1950er Jahre kündigte sich die massenhafte Verbreitung des Autos bereits an. Bezeichnenderweise besticht Barthes’ Essay denn auch nicht dadurch, dass er eine tiefschürfende Analyse der Auratisierungsstrategie eines bestimmten Automodells zu bieten hätte. Im Gegenteil betreibt er eine solche Auratisierung oder Mythologisierung ganz ungeniert selbst, etwa wenn er die »fehlenden Schweißnähte« der DS mit dem »ungenähten« Heiligen Rock Christi vergleicht.[3] Wie ernst Barthes solche Assoziationen im Einzelnen gemeint haben mag, steht dahin. Der Reiz seines Textes liegt jedenfalls nicht in der Kritik eines industriellen Produkts, sondern in dem Versuch einer Wiederverzauberung des Gewöhnlichen.
Es ist dieser Impetus, der seiner kleinen Eloge der DS heute ungeahnte Aktualität verleiht. Denn wir stehen seit einigen Jahren erneut an einem Wendepunkt in der Geschichte des Automobils, vielleicht sogar am Ende der von Barthes ausgerufenen »epochalen Schöpfung« als solcher: Klimakrise und Digitalisierung setzen dem Auto gleichermaßen zu. Wie immer die Umstellung von Verbrennungsmotoren auf sogenannte E-Autos sich in nächster Zeit ausnehmen mag: sie werde dem Auto womöglich seine Seele nehmen, wie der Journalist Ulf Poschardt vor einiger Zeit Klimaaktivist*innen vorhielt. Der Shitstorm in den sozialen Netzwerken folgte gewohnt zuverlässig. Es sind aber weniger die dort leidenschaftlich geführten Debatten, die das Auto in Bedrängnis bringen, als die medialen Möglichkeiten des Internets selbst. Während ein Helmut Kohl in den 1990er Jahren die ›Datenautobahnen‹ noch mit der A1 verwechseln durfte, gilt es längst als ausgemacht, dass die Digitalisierung zu einem tiefgreifenden Wandel traditioneller und vor allem massentauglicher Formen der Mobilität führen wird. Die Datenautobahnen haben die asphaltierten Autobahnen längst abgehängt. Die Möglichkeit raumtranszendierender Begegnungen in Echtzeit entziehen (auch) dem Auto einen wesentlichen Teil seiner Existenzgrundlage. Während für Roland Barthes »Bild« und »Gebrauch« des Autos alles in allem noch eine Einheit gebildet hatten – greifbar auch in dem Umstand, dass der Gebrauch ihm offenbar so banal anmutete, dass er über das Fahren einer DS kein Wort verlor –, dürfte es heute der entweder überflüssige oder geradezu inkriminierte Gebrauch des Autos sein, der dessen Bild vor entscheidende Herausforderungen stellt.
Die beinahe naturwüchsigen Versprechen von Individualität und Freiheit, die sich einst im Auto verdichtet hatten, werden heute jedenfalls zusehends infrage gestellt. So hat die Kommunikationsberaterin Katja Diehl jüngst ein Traktat mit dem Titel Autokorrektur. Mobilität für eine lebenswerte Welt vorgelegt.[4] Als »erste Regel der Verkehrswende« betrachtet Diehl die Frage: »Muss ich diesen Weg wirklich antreten?«[5] Ursprünglich dürften sich die Erfindung und die massenhafte Verbreitung des Autos in eine kulturhistorische Entwicklung der ›Geschwindigkeit‹ und der ›Beschleunigung‹ einfügen,[6] die das Raumempfinden seit dem 19. Jahrhundert stark modifizierte, indem sie den Raum mehr und mehr zu einer Funktion der Zeit verkommen ließ. Wenn Katja Diehl meint, das »Autoland Deutschland« müsse insbesondere in Ballungsgebieten und Städten lernen, in jedem »Parkplatz ein mögliches Kinderzimmer« zu sehen,[7] dann könnten systematische Rückeroberungsversuche des Raums zu den paradoxesten Konsequenzen einer ultimativen durch Digitalisierung bewirkten Beschleunigung gehören, die nunmehr auf Kosten des Automobils geht. Die Verkehrswende wäre damit weit mehr als ein umweltpolitisches Projekt. Sie würde nicht allein anzeigen, dass alte Formen der Akzeleration durch neue digitale ersetzt oder verdrängt werden. Die Kollateralschäden alter Beschleunigungsträger scheinen dank neuer, wesentlich rasanterer Medien und Techniken auf einmal restaurierbar.
Dass dies eine recht rezente Tendenz bildet, mag ein Blick in das dem Auto gewidmete Konkursbuch aus dem Jahr 2004 verraten. Hier stand etwa über den Parkplatz noch etwas ganz anderes zu lesen. Das mehr am Raunen als an analytischer Schärfe interessierte Vorwort hob an mit den Sätzen: »Weil Auto und Selbst zu verwechseln sind, gibt es keinen Halt. Die Geschichte und ihre Geschichten sind automobil, sie fahren über uns hinweg und in uns hinein. Das Unbewusste ist ein Parkplatz, und das Imaginäre eine Himmelfahrt.«[8] Das Auto erscheint in diesen Sätzen als passgenaue Entsprechung (und Erfindung) eines hektischen, haltlosen und nie bei sich selbst ankommenden Subjekts. Wenn der Parkplatz damals mit dem Unbewussten gleichgesetzt wurde, ist das ein schönes Emblem dafür, dass das Auto vor knapp zwanzig Jahren noch als ein Phänomen durchgehen konnte, das historisch nie zu bremsen sein würde. Das Unbewusste zeichnet sich schließlich dadurch aus, dass es nicht zum Stillstand kommen, mithin weder eine Entwicklung noch eine Geschichte kennen kann. Wenn der Parkplatz das Unbewusste ist, ist er keine Endstation, sondern ewiger Statthalter des Mobilen und Transitorischen. Den Parkplatz radikal umfunktionieren und das Auto zum Verschwinden bringen zu können, lag 2004 offenkundig noch jenseits der Vorstellungskraft einer ›kritischen‹ kulturgeschichtlichen Reflexion des Automobils. Es schien weder realisierbar noch wünschenswert.
Was aus dem Auto in den nächsten Jahren noch alles werden oder nicht werden kann, lässt sich derzeit schwer abschätzen. Zeitgenössische Angriffe auf die Automobilität könnten nicht zuletzt ganz neuen Strategien einer kulturellen Glorifizierung des Autos Vorschub leisten. Möglicherweise hat sich eine Dialektik von Tempo und Unbeweglichkeit längst sogar im Auto(-Design) selbst versinnbildlicht. Stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch die gerade Linie symbolisch für Geschwindigkeit ein und verband sie die Karosserie mit dem Straßenbau,[9] so beherrschen mit den SUVs seit einigen Jahren Autos die Straßen (und die Parkplätze), die immer noch größer und noch dicker werden. Fast hat es den Anschein, als würde ihre enorme technische Leistungskraft mit einer Ikonographie der Immobilität von ihren eigenen Produzenten immer schon durchkreuzt. Parallel bringt die Entwicklung selbstfahrender Autos deren ursprüngliches Versprechen – eben ohne fremdes Zutun fahren zu können – schon wortgeschichtlich im Augenblick überhaupt erst zu sich selbst. Vollendung, Selbstkasteiung und Diskreditierung des Autos gehen derzeit vielfältige Formen der Liaison ein.
Der vorliegende Band verfolgt keine prognostischen Absichten. Nicht die Zukunft des Autos wollen wir eruieren, sondern Schlaglichter auf einige aufschlussreiche Stationen und Konstellationen seiner kulturellen, philosophischen, literarischen und filmischen Geschichte werfen. Mittels dieser lassen sich Gemengelagen seiner gegenwärtigen Situation zweifellos genauer verstehen als anhand nostalgischer Beschwörungs- oder entrüsteter Verabschiedungsversuche. Dabei haben sich vier Schwerpunkte ergeben: das Phänomen der Automobilität vor und unabhängig vom modernen Automobil, die kulturelle Faszinationskraft von Automarken und -modellen, die nationalkulturellen Unterschiede in Autobesitz und Fahrgewohnheiten in Deutschland und den USA sowie das Autoinnere als sozialer Raum.
Anders als vielfach angenommen, wurde das Automobil nicht erst Ende des 19. Jahrhunderts von Carl Benz oder Gottlieb Daimler erfunden. Seine Geschichte lässt sich bis in die antike Philosophie zurückverfolgen. Automobilität wurde dabei zunächst als Spezifikum der Tierwelt verstanden. Erst seit der kantischen Philosophie erscheint Automobilität als technisches oder mechanisches Phänomen (Georg Toepfer). Dabei begegnet die Kurbel, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein unerlässliches Werkzeug zum Starten des Motors war, bereits in mittelalterlichen Darstellungen von Engeln. Die Engel kurbeln dabei freilich keine Autos an, sondern die Welt (Helmut Müller-Sievers). Auch mittelalterliche Ritter und Kampftechniken beherrschen die Imagination des Autos bis weit in die moderne Literatur hinein, wie sich bei Robert Musil zeigen lässt (Hans Jürgen Scheuer). Dass das Auto das menschliche Raum- und Körperempfinden am Beginn seiner Erfolgsgeschichte zutiefst irritieren musste, lässt sich bis in die Tabuisierung des Blinkers in der Heidegger’schen Philosophie hinein verfolgen, schien der Blinker doch eine »Enteignung der Hand« zu indizieren (Lars Friedrich). Spezifisch modern ist das Interesse am Autounfall und seiner Inszenierung. So erweist sich zum einen, dass die Ikonographie des Verkehrsunfalls auf historische Vorbilder wie den Schiffbruch zurückgreift (Henning Trüper), und zum anderen, wie sich in der Moderne das Problem einer narrativen Motivierung der unwiderlegbaren Kontingenz des Verkehrsunfalls auf eine neue Weise stellt (Ross Shields). Vermutlich sind es gerade das Risikopotential und die Fehleranfälligkeit des Autos, die den Menschen dazu bewogen haben, angesichts überlegener moderner Verkehrsmittel wie der Raumfahrt an der Automobilität festzuhalten (Matthias Schwartz).
Die Geschichte des Autos und seiner technologischen Entwicklung lädt dazu ein, gängige Narrative der Moderne neu zu denken. Dabei überraschen etwa Parallelen zwischen der aktuellen Situation und der Epochenwende um 1900. Denn bereits am Ende des ›Pferdezeitalters‹ und vor dem Siegeszug des Verbrennungsmotors wurde mit batteriebetriebenen Fahrzeugen experimentiert (Moritz Neuffer). Auf den Spuren verschiedener Marken, Modelle oder gänzlich singulärer Fahrzeuge lassen sich die Wege des Autos in die Moderne und aus ihr heraus verfolgen. Ihre jeweilige Bedeutung erschließt sich vor zeit- und sozialgeschichtlichem Hintergrund.
So treten Automarken und -modelle in der Literatur des 20. Jahrhunderts oft als Vehikel von Flucht und Zwangsmigration in Erscheinung. In Franz Werfels Theaterkomödie Jacobowsky und der Oberst (1944) ist es eine immer wieder personalisierte Limousine, in der ein Jude und ein polnischer Oberst vor der in Frankreich einmarschierenden deutschen Wehrmacht fliehen (Stephan Kraft). Im Roman Das Goldene Kalb oder Die Jagd nach der Million (1931) von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow bewegen sich die Protagonisten in einer ›Antilope Gnu‹ über die unzureichend ausgebauten sowjetischen Straßen, wobei deutlich wird, dass es auch in der automobilisierten Moderne Räume gibt, die sich der Erschließung durch das Auto verweigern (Franziska Thun-Hohenstein). Ad absurdum geführt wird die soziokulturelle Bedeutungsaufladung bestimmter Marken im Werk von Vladimir Nabokov, der sich mit dem von ihm erfundenen Melmoth mehr an der sujetgenerierenden Funktion des Autos als an ›realen‹ Fahrzeugen interessiert zeigt (Zaal Andronikashvili).
Oft ist es aber die Inszenierung handfester Marken und Modelle, die in Literatur oder Film ein solides Stück Mentalitätsgeschichte transportiert. In der unmittelbaren Nachkriegszeit tauchten im deutschen Film verstärkt Frauen hinter dem Steuer eines Ford Taunus de Luxe oder eines ultramarinblauen Cadillacs auf. Erst das Wirtschaftswunder bereitete diesen weiblichen Formen von Stilsicherheit und Eleganz ein Ende (Moritz Baßler). Mit den Männern übernahmen in der Regel Angeber das Steuer. Während die Automarke jahrzehntelang ein robuster Indikator der Klassenzugehörigkeit gewesen war, machte ein neues Verständnis der Generation im Rahmen einer umfassenden Kulturalisierung des Sozialen dieser Tendenz im Jahr 2000 den Garaus: ablesbar an dem Umstand, dass der VW Golf zum Namengeber einer ganzen Generation werden konnte (Steffen Martus). In der Gegenwartsliteratur behaupten demgegenüber wieder Visionen autofreier Räume ihr Recht, so etwa in Johanna Volkmanns Roman Auwald (2020), in dem ›das teuerste Auto der Welt‹ ein schwer zu definierendes Messfahrzeug ist (Patrick Eiden-Offe). Wie sich aus den unterschiedlichsten ikonischen Automodellen – Fords aus den 1930er und 1970er Jahren, einem alten VW-Käfer oder einem Mini Cooper aus den 1960er Jahren – neue hybride Fahrzeuge bilden lassen, zeigt die »retrofuturistische Ästhetik« des Blockbusters Mad Max: Fury Road aus dem Jahr 2015 (Hanna Hamel). Dass diese von Männern gelenkten Modelle in der Zukunft des Films nicht gegen das von einer Frau geführte War Rig ankommen, darf hier nicht verschwiegen werden.
Jenseits der sozialen Bedeutungsstiftung von Marken und Modellen lassen sich einschneidende kulturelle und nationale Unterschiede im Umgang mit dem Auto wahrnehmen. Dass das Auto in Deutschland und in den USA einen sehr unterschiedlichen Stellenwert besitzt, wird jede*r bestätigen, der einmal auf nordamerikanischen Straßen unterwegs war und diese mit hiesigen Autobahnen vergleicht. In Amerika, so ließe sich aus anthropologischer Perspektive zuspitzen, ist das Fahren wichtig, in Deutschland das Auto (Hans Ulrich Gumbrecht). Zentral für die US-amerikanische Mythologisierung des Autos ist eine ausgeprägte Kultur des Liberalismus, deren Autonomiestreben ihr Sinnbild im Auto findet, das Emanzipation und Abhängigkeit gleichermaßen generiert (Erica Weitzman). Wie das Auto zur Heimat wird, lässt sich an Philipp Marlowe, dem Protagonisten von Raymond Chandlers Detektivroman The Big Sleep (1939) zeigen, dessen Warten und Fahren im Auto zum narratologischen Prinzip avanciert (Rüdiger Campe). Und wie die Heimat der USA aufgrund der für die Highways notwendigen Veränderungen der Landschaft, der sogenannten Roadcuts, zu einem geologisch lesbaren Buch wird, analysiert der Sachbuchautor John McPhee in seiner Buchreihe Annals of the Former World (1978-1998). Seine Roadtrips bilden den Rahmen für Zeitreisen mit dem Auto, die für die Narrativierung von Tiefenzeit auf kulturell vertraute Erzählmuster zurückgreifen (Eva Axer). Der Umgang mit dem Auto ist also stets ein Schlüsselindikator für den gesellschaftlichen Strukturwandel im 20. Jahrhundert. Das ist in der zweiten Staffel der Fernsehserie Fargo (2015), die das Publikum in den Mittleren Westen der 1970er Jahre mitnimmt (Jürgen Fohrmann), ebenso unzweifelhaft wie bei Jessica Bruder, deren Buch Nomadland (2017) das Zwangsnomadentum von Menschen beschreibt, die kein Haus, sondern nur noch ein Auto oder ein Wohnmobil ihr Zuhause nennen können, und so mit romantischen Klischees von Mobilität und Flexibilität aufräumt (Paul Fleming).
Wie der intime Innenraum des Autos zu einem Ort der sozialen Bedeutungsstiftung und der medialen Reflexion werden kann, zeigen die Beiträge des vierten Kapitels. In Literatur und Film dient das Auto seit jeher als Setting für Versuchsanordnungen, die die Dynamiken von menschlichen Beziehungen ausloten. Die Paarkonstellationen können aus Mann und Frau, aus Geschwistern, aus Mutter und Sohn oder Taxifahrer und Passagier bestehen – stets fungiert das Auto als »Katalysator der Affekte« (Stefan Willer). So können Beziehungen im Auto beginnen, wie in Claude Lelouches Film Un homme et une femme (1966), der die raffiniert medialisierte Liebesgeschichte zwischen einem Rennfahrer und einer jungen Witwe erzählt (Barbara Vinken / Anselm Haverkamp); oder aber böse enden, wie in J. G. Ballards postmodernem Roman Crash (1973), in dem der Autounfall zum Objekt des sexuellen Fetischismus wird und so die abgründige Seite des ›Fahrvergnügens‹ offenlegt (Kirk Wetters). Am Beispiel von Filmen des Weltkinos (Roberto Rossellini, Im Kwon-taek, Abbas Kiarostami) wird deutlich, wie das Auto selbst zu einem Autor des filmischen Dialogs aufsteigt (Kyoung-Jin Lee). Enis Macis Theatertext Autos (2019) stellt die sequenzielle, diachrone Logik der Autofahrt der hyptertextuellen, synchronen Logik des Internets gegenüber, so dass Autofahrt und Internetsuche als konkurrierende textgenerierende Prinzipien in Erscheinung treten (Pola Groß). Und wie in Macis Autos dient auch in Christian Krachts Eurotrash (2021) eine Autofahrt dem Nachvollzug familiengenealogischer Verwicklungen. Die gemeinsame Taxifahrt von Mutter und Sohn ist hier Anlass zur Aufarbeitung einer ganzen Familiengeschichte, die von Kracht poetologisch zugeschnitten und so zu einer ›Auto-Fiktion‹ im doppelten Wortsinn wird (Maria Kuberg).
* * *
Unter dem Decknamen »Operation Ferdinand« wurde dieser Band in den letzten anderthalb Jahren am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung zusammengestellt, denn an seinem Ursprung stand das gemeinsame Nachsinnen über den Nimbus eines dunkelblauen Porsche Boxster. Dass sich der thematische und analytische Radius entschieden erweitern würde – von einem einzelnen Auto und seiner Fahrerin hin zu den kulturellen Imaginationen des Autos allgemein –, war von Anfang an klar. Welche Wege sich aber im Ausgang dieser Überlegungen eröffnen sollten, hat uns mitunter überrascht. Ihre Vielfältigkeit dürfte vor allem auf die intellektuelle Neugierde und Großzügigkeit der Beitragenden zurückzuführen sein. Ihnen allen sei dafür gedankt, dass sie sich mit uns auf diesen gemeinsamen Ausflug begeben haben. Ebenso herzlich ist einigen Beifahrer*innen zu danken, ohne die wir nicht am Ziel angekommen wären, namentlich Niki Fischer-Khonsari, Max Kappelt und Georgia Lummert. Den Porsche Boxster haben wir dabei aus den Augen verloren, seine Fahrerin hingegen nicht.
Berlin, im Februar 2022
Automobilität
Die Automobilität war lange Zeit ein Privileg der Tiere. Sie allein waren es, die sich ›von selbst‹ bewegen konnten. Begrifflich wurde die Beziehung auf »sich selbst« spätestens mit Kant zur Demarkationslinie zwischen den natürlichen Organismen und künstlichen Maschinen.[1] Im Kern dieser fundamentalen ontologischen Differenz anzusetzen und die Maschine als das zu benennen, was lange Zeit ihr Gegenteil meinte, als Automobil, war eine Verheißung, die eine nicht nur lokomotorische, sondern auch ontologische Revolution versprach.
Allerdings funktionierte das mit der Begriffsprägung einhergehende Versprechen zunächst lediglich als großer Marketingerfolg. Denn eine der bemerkenswertesten Eigenschaften des Autos ist, dass es nicht ›von selbst‹ fährt. Es bedarf eines Fahrers, der es startet und lenkt, mit Kraftstoff tankt und gelegentlich das Öl wechselt (oder tanken und wechseln lässt). Die ersten sogenannten Automobile enthielten nicht einmal eigene Motoren, in denen chemische Energie (durch Verbrennung) in kinetische umgewandelt wird, sondern bestanden aus Hebeleinrichtungen, die vorhandene Bewegungen oder Kräfte in eine bestimmte gewünschte Richtung umlenkten. So beziehen sich die ersten Verwendungen des Ausdrucks im Französischen (als Adjektiv) seit den 1850er Jahren auf Einrichtungen zur Regulierung von Schleusen oder Bewässerungsanlagen in Gärten (»un appareil automobile à élever de l’eau«[2]). Erst seit 1875 gibt es ein voiture automobile, das zunächst eine Straßenbahn auf Schienen bezeichnete.[3] Auch sprachlich ist es mit dem ›Automobil‹ nicht ganz so einfach, wie man denken könnte. Denn der Ausdruck heißt übersetzt nicht ›sich selbst bewegend‹ (das wäre automovens), sondern ›von selbst bewegt werdend‹ (von lat. mobilis, ›was bewegt wird‹) – und ist mit dieser Aktivität im Passiven eine »unlogische Bildung«.[4]
Ob überhaupt und wie sich etwas ›von selbst‹ bewegen kann, ist seit der Antike grundsätzlich umstritten. Aristoteles ist diesbezüglich skeptisch: Der älteren Tradition folgend kontrastiert er anfangs zwar die Lebewesen hinsichtlich ihrer Fähigkeit zur Selbstbewegung mit den unbelebten Gegenständen. Für diese gelte: »[E]s setzt sie je ein von ihnen verschiedenes Äußeres in Bewegung; von Lebewesen dagegen sagen wir: Es bewegt sich selbst« (heauto kinein), die Bewegung »entsteht aus ihm selbst«.[5] Dieser Schein einer Selbstbewegung trügt nach Aristoteles aber. Denn bedingt sei die Bewegung auch der Lebewesen durch eine andere, vorhergehende Bewegung, die zunächst in der »kleinen Ordnung« ihres Körpers verursacht ist – Aristoteles beobachtet, dass sich im »Mikrokosmos« des lebendigen Körpers immer irgendetwas bewegt,[6] dieses habe aber wiederum in etwas anderem unbewegt Bewegendem seinen Ursprung, so dass die Lebewesen für Aristoteles letztlich keine Selbstbeweger sind.[7]
Allerdings blieb es doch auch in der Antike ein schlagender phänomenaler Befund, dass sich die Lebewesen im Gegensatz zu den anorganischen Dingen in irgendeinem Sinne von selbst bewegen. Mit den Lebenskraftmodellen des späten 17. Jahrhunderts und der Philosophie autonomer Subjekte des späten 18. Jahrhunderts wurde es dann zur festen Überzeugung, dass die Fähigkeit zur Selbstbewegung dem Leben eigen ist oder sogar dessen zentrales Bestimmungsstück bildet: »Selbstbewegungsprozeß ist mit Lebensprozeß identisch«, behauptet der romantische Naturphilosoph Lorenz Oken 1810: »Die Selbstbewegung ist der einzige aber wesentliche und erschöpfende Unterschied zwischen dem Organischen und Unorganischen«.[8]
Vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses ist das technische Automobil eine Provokation. Der innere Bewegungsursprung ist jedoch nur eine, und isoliert gesehen nicht einmal die wichtigste Form der Selbstbezüglichkeit von Lebewesen. Was den Autos und den anderen ›selbstbeweglichen‹ Maschinen fehlt, ist die für alles Lebendige fundamentale Selbstnützlichkeit. Für die Tiere ist ihre Selbstbewegungsfähigkeit nicht nur ein bequemes Feature, vielmehr beruht ihre gesamte Lebensform auf ihr: Sie müssen, anders als Pflanzen, die alles an ihrem Platz haben, immer von einem Ort zum anderen, um das zu finden, von dem sie leben – nur um die Energie zu erhalten, die notwendig ist, um weiter suchen zu können. Diese ontologische Zirkularität geht dem Auto ab. Es kann auch monatelang stehen, ohne dass es ihm schadet (und tatsächlich steht es die meiste Zeit: das durchschnittliche private Auto mehr als 23 von 24 Stunden am Tag[9]). Darin liegt sein Hauptunterschied zum Lebewesen: Es fehlt ihm die »Autophelie«, die Selbstnützlichkeit der eigenen Aktivität, die alles Lebendige auszeichnet.[10] Das (individuelle) Auto ist ein Werkzeug für andere Zwecke als seine eigenen; die von ihm ausgehenden Mittel-Zweck-Reihen sind nicht auf es selbst zurückbezogen und auf diese Weise geschlossen. Daher ist das auto im Auto ein anderes als das der Lebewesen.
Trotzdem fungiert auch das Auto, wie im 17. Jahrhundert die mechanischen Automaten und hydraulischen Apparaturen, als ein fruchtbares Modell zur Beschreibung von Lebensvorgängen. Die Deutung des Lebens sub specie automobilis zeigt sich besonders deutlich in der biologischen ›Auto‹-Terminologie: Diese kommt erst richtig in Schwung, nachdem die Auto-Rede von der Technik übernommen (oder usurpiert) wurde. Zwar finden sich auch schon vor dem Auto auf der Straße einzelne Auto-Begriffe in der Sprache der Biologie – wie etwa ›Autonomie‹ (Virchow 1856), ›Autogonie‹ (Haeckel 1866) oder ›Automorphose‹ (von Hanstein 1882)[11] –, zu einem wahren begrifflichen Wettrennen wird die biologische Auto-Sprache aber erst in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Bei dem diesbezüglich besonders verdienten Entwicklungsbiologen Wilhelm Roux erfolgt dies erst, nachdem er 1908 in seinen Schriften auf die Autos der Technik verwiesen hatte.[12] Danach wurde bei Roux auf einmal jedes organische Vermögen zu einem Auto-Vermögen: 1914 unterscheidet er zehn Selbstverhältnisse aller Lebewesen, darunter die »Autoergasie« (Selbsttätigkeit), »Autodissimilatio« (Selbstveränderung), »Autocrescentia« (Selbstwachstum), »Autokinesis« (Selbstbewegung), »Autoproliferatio« (Selbstvermehrung), »Autophaenesis« (Selbstentwicklung) und »Autosustentation« (Selbsterhaltung).[13] In Roux’ Terminologie der Entwicklungsmechanik sind es 32 Einträge zu Begriffen, die mit ›Auto-‹ beginnen.[14] Offensichtlich vollzieht sich über die Schaltstelle des ›Auto‹ zugleich die Mechanisierung des Lebens wie die Animierung der Materie.
In einem Auto ein Fortbewegungsmittel zu sehen, gilt manchen als ein verbreitetes Missverständnis, weil es aus ihrer Sicht doch primär anderem dient, etwa sozialem Prestige, sexueller Werbung oder einfach der persönlichen Lust und dem Lifestyle. Aufgrund seiner extremen »symbolischen Aufladungsfähigkeit« seien diese Sekundärfunktionen des Autos daher sein Primäres.[15] Jeder Versuch, das Auto allein als Transportmittel zu verstehen, habe daher als naiv und verfehlt zu gelten. Allerdings steht dieser Deutung entgegen, dass die Erscheinungsform von Autos –im Verlauf des 20. Jahrhunderts in wachsendem Maße – von ihrer Bewegungsfunktion geprägt ist. So wie die Tiere verkörpern Autos einen bestimmten Symmetrietypus, entsprechend einer »dreiseitigen Pyramide, deren Basis ein gleichschenkeliges Dreieck ist«, der Eudipleura, wie Ernst Haeckel sie 1866 getauft hat.[16] Die Eudipleuren-Form entspricht der Bilateralsymmetrie und hat nur eine Symmetrieebene, die Sagittalebene, die in der Richtung der Kraftlinien des Gravitationsfeldes und in der Fortbewegungsrichtung verläuft. Die Bilateralsymmetrie kann damit gedeutet werden als eine Anpassung an die schnelle Fortbewegung in dem asymmetrischen Kraftraum des Gravitationsfeldes der Erde. Die Gerichtetheit der Fortbewegung bedingt außerdem die Asymmetrie von Vorder- und Hinterpol des Körpers und die funktional unterschiedliche Anforderung an die Ober- und Unterseite deren ungleiche Gestalt. Allein die Symmetrie der beiden Körperseiten ist bei Auto und Tier im Hinblick auf die Fortbewegung zweckmäßig.
Erstaunlich ist allerdings, dass sich die Formen heutiger Autos meist noch immer dem Diktat des Fortbewegungsfunktionalismus beugen. Darin sind sie deutlich von den Tierformen unterschieden. Denn (männliche) Tiere weisen doch manche Merkmale auf, die sich als extrem dysfunktional im Hinblick auf das schnelle räumliche Fortkommen erweisen: riesige Schwanzfedern, mächtige Geweihe, voluminöse Mähnen sind dafür nur lästiger Ballast. Zu erklären sind sie durch ›sexuelle Selektion‹: Ihre Funktion liegt darin, die weiblichen Tiere zu beeindrucken, bei denen die Macht der Wahl liegt (female choice). Dazu erwies sich in der Tier-Evolution gerade das Hinderliche als nützlicher Indikator der eigenen Fitness (gemäß der ›Handicap-Hypothese‹): Es demonstriert, was sich der starke Mann an Einschränkungen leisten kann, ohne sein individuelles Fortkommen zu gefährden. Die Auto-Evolution zeigt solche Phänomene kaum. Autos mit Geweihen an der Front oder Pfauenschwänzen am Heck sind doch allein etwas für Umzüge – kleine Kühlerfiguren in Form von strahlenden Himmelskörpern oder wilden Dschungeltieren sind das Maximum, das die Ingenieure an Störungen der Stromlinienform durchgehen lassen (zudem befinden sich diese Dinge dort nicht, wie es bei den Tieren wäre, wegen, sondern trotz ihrer aerodynamischen Dysfunktionalität). Dies gilt, obwohl Autos erwiesenermaßen eine wichtige Rolle in der sexuellen Selektion des Menschen spielen: Studien belegen, dass Frauen (statistisch gesehen) solche Männer als kurzfristige Sexualpartner (nicht unbedingt als Lebenspartner) bevorzugen, die ein auffälliges Luxusauto fahren.[17] Bisher sind es also vornehmlich die teuren, schnellen Autos, die kurzfristige Paarungsinteressen signalisieren und erfüllen, nicht die schlecht fahrenden, die man sich auch leisten können muss. Vielleicht aus Gründen der kulturellen Konsistenz ist im Bereich technologischer Konsumgüter das technisch Optimierte und damit finanziell Kostspielige der alles dominierende Attraktivitätsmarker.
Bisher jedenfalls haben die Ingenieure mit ihren Optimierungsprogrammen die Gestaltung des Autos noch fest im Griff. Seit den frühen 1930er Jahren wird das immer wieder »neue Auto« beworben mit technologischer Effizienzsteigerung, etwa durch die »aerodynamische Fahrzeugveredelung«, die »halbierte Stromlinienform« mit einer »wagrechten Schneide« hinten als die »Zweckmäßigkeitsform«, die bei sich schnell bewegenden Körpern vom Aerodynamiker zu bestimmen sei.[18] Vier Kriterien leiten die Evolution des Autos seit dieser Zeit: Die Rede ist von der »Einheit des schnellen, bequemen, sicheren und sparsamen neuen Autos«.[19] Diese vier Eigenschaften finden sich allerdings in der Folge oft nicht in gleichem Maße in einem Autotyp verwirklicht; sie liefern vielmehr die Grundlage für eine Differenzierung von Autotypen: Die neuen Autos wurden schnell wie ein Jaguar, bequem wie eine Ente, sicher wie ein gepanzerter Käfer oder sparsam wie ein über allem schwebender Adler. Die divergierenden Designziele finden sich in den Tiernamen beliebter Automodelle wieder, wobei nicht die Sparsamkeit in den erhabenen Bewegungen des Adlers diejenige Eigenschaft gewesen sein mag, die dieses Tier zum Emblem eines der ersten deutschen Automobilhersteller gemacht hat. Bemerkenswert ist daran auch, dass die Evolution des Autos zu einer hierarchischen Gliederung in Typen führte, die der der Lebewesen entspricht: Es gibt nicht nur Autoindividuen, sondern Arten, Gattungen und Familien.
Eine wesentliche Differenz von Auto und Tier liegt in der Art ihres Stoffwechsels: Während das Tier die zu seiner Lebenszeit von anderen Organismen gebundene organische Materie konsumiert und nach seinem Leben wieder anderen zur Verfügung stellt, greift das Auto (mit Verbrennungsmotor) auf fossile Energieträger zurück und macht mit diesen die Zufuhr und Entsorgung der Stoffwechselprodukte zu einem ökologischen Problem. Tiere ernähren sich von anderen Lebewesen, auch ihr »Leben lebt immer auf Unkosten andern Lebens«,[20] dabei handelt es sich aber um zeitgenössisches Leben. Dagegen besteht die metabole Grundstruktur des Autos darin, vor langer Zeit vergangenes Leben in Bewegung zu transformieren, und durch die damit verbundenen Umweltprobleme geschieht dies auf Kosten zukünftigen Lebens. Für seine große Fortbewegungskraft ist das Auto angewiesen auf brennbare Stoffe mit einer so hohen Energiedichte, wie sie das gegenwärtige Leben nicht zu erzeugen vermag (die Energiedichte von Benzin ist mit 40 MJ/kg mehr als doppelt so hoch wie die von Holz). Der Antrieb des Autos muss auf die über viele Jahrmillionen akkumulierte Lebensenergie der fossilisierten organischen Stoffe ehemals lebender Tiere und Pflanzen zurückgreifen. Das Auto transformiert also die in den fossilen Lagerstätten extrem verdichtete Zeit, die Tiefenzeit der Fossilien, in Bewegung mit hoher Geschwindigkeit durch den Raum.
In dieser Eigenschaft wurde es zum »Raumfresser«[21] und fand sein ideales Biotop in Ländern mit weiten Räumen, wie Amerika. Es fügte sich so sehr in die Rast- und Wurzellosigkeit eines von Pionieren geprägten Lebensgefühls, dass ihm gegenüber alles andere zurücktrat. Selbst die Häuser wurden zu Autos oder von ihnen so sehr an den Rand gedrängt, dass C. G. Jung bei einer Amerikareise Vorgärten und Gartenzäune zu vermissen begann und konstatierte: »Alles scheint Straße zu sein …«.[22]
Autos betreiben auf diese Weise – wie viele Lebewesen – ›Nischenkonstruktion‹: Sie verändern die Umwelt nach ihren Bedürfnissen.[23] Wohl von bisher keinem anderen Industrieprodukt der Moderne ging ein so massiver Eingriff in die Umwelt aus wie vom Auto.[24] Der Bedarf des Autos nach langen, glatten Oberflächen, die sich miteinander vernetzen, hat die Landschaft wie nichts anderes verändert. Was im 20. Jahrhundert den größten Landschaftswandel bewirkte, begann nach der glücklichen Erfahrung der ersten wohlhabenden Pendler als Verheißung für viele: »Mit dem Automobil läßt es sich ermöglichen, ein paar Bahnstunden von der Stadt entfernt zu wohnen und doch in der Stadt seiner Beschäftigung nachzugehen. […] Auch die eigentlichen Landbewohner würden kulturell davon Nutzen haben« – so wird 1906 die »Kraft Automobilia« gepriesen.[25]
Von Anfang an lautete das zentrale Motiv des Auto-Marketings: Freiheit. Im Auto gilt, wie es in einem der frühen Auto-Journale verkündet wird: »[F]rei waltet der Mensch über Raum und Zeit«. Und weil das noch nicht genug an Freiheit ist, wird das Auto gleich noch mit zum Akteur und Willensträger erklärt: »[D]as Automobil […] will dem Menschen die Herrschaft über Raum und Zeit erobern«.[26] Anders als in der Bahn, die ein nur »passives Reisen« ermögliche, stehe das Auto für das aktive: »Wir werden nicht mehr gereist […] – wir reisen wieder selbst.«[27] Zu ihrer größten Entfaltung kam die Verbindung von Auto, Individualismus und Freiheit in Amerika: Freedom as Motion lautet die hobbesianische Kraft hinter der Popularisierung des Autos, nach der derjenige die größere Freiheit hat, der sich auf mehr Weisen bewegen kann (»hic quoque, quo quis pluribus viis movere se potest, eo majorem habet libertatem«).[28] Weil Individualismus und dieses Verständnis von Freiheit in nichts so gut zusammenfinden wie im Auto, galt es schon 1907 als glücksnotwendig (»essential to comfort and happiness«[29]), so dass es in den 1920er Jahren in den USA angeblich mehr Autos als Badewannen gab.[30]
Auch im wanderfreudigen späten deutschen Kaiserreich konstruierte das Auto seine soziale Nische: Eine »Auto-Wanderung zwecks Erholung und Zerstreuung« durch den Schwarzwald[31] wurde schon vor dem ersten Weltkrieg organisiert. Im Zuge dieser »Autowanderbewegung«[32] wurde das Auto sogar zu einem Mittel und Weg der Naturbegegnung, nachdem man feststellte: »[A]uch auf Feld- und Waldwegen kann man fahren. – Während das Kraftfahrzeug uns früher eigentlich von der Natur entfernte, bringt es uns heute der Erde wieder näher.«[33] Dementsprechend wurde der deutsche Straßenbau auf Natur- und Landschaftserfahrung ausgelegt (zumindest rhetorisch): Das Fachjournal Die Straße weiß 1936, »die Formen der Landschaft liegen klar zutage«, wenn man auf der Straße fährt, es werde dann und nur dann möglich, »das Landschaftsbild in seinen wesentlichen Kennzeichen zu erfassen, in seinem Aufbau zu begreifen«.[34] In einer metaphernreichen Sprache beschreiben nationalsozialistische Landschaftsplaner die auf ihren Straßentrassen mögliche ganzkörperliche Landschaftserfahrung: Die »schwingende Straße« versetze den ganzen Menschen in Resonanz mit der Landschaft und ermuntere ihn zum Singen am Steuer.[35] Die Straße wurde auf diese Weise als »Bestandteil der Landschaft«[36] begriffen; Straßen seien ihrem Wesen nach »naturgemäß«, »mit der Natur oft schon völlig eins«, »in die Natur […] eingewachsen«,[37] also insgesamt »[n]icht Zerstörung der Natur […], sondern der Landschaft höchste Krönung«.[38]
An diesen Erfahrungen und Erwartungen zeigt sich, wie das Auto nicht nur ein »Vehikel der Individualisierung«[39] war und einen »Individualisierungsschub«[40] bewirkte, indem es von der Gebundenheit an einen Ort befreite, sondern immer auch räumliche wie soziale Durchmischung nach sich zog, als Medium der Verschränkung fungierte, geradezu als ein Immersions- und Fusionsvehikel zur Verbindung von Mensch und Landschaft, Technik und Natur, Stadt und Land, von Familie, Volk und Welt. Für die USA und Deutschland ist im Detail belegt, wie die Automobilität in der Zeit zwischen den Weltkriegen eine mächtige Kraft zur Gemeinschaftsstiftung und Volksverbindung wurde.[41] Aber keine Verbindung ohne Trennung: In der Landschaft manifestierte sich die Autokraft der Verschränkung – mit ausgebauten Straßen, die Stadtkerne »sprengen« und die Grenze von Stadt und Land »verwischen«, wie sich schon 1926 abzeichnete[42] – als Aufbau von Barrieren für die Tier- und Pflanzenwelt, seit Mitte der 1950er Jahre beklagt als »Zerschneidung« und »Zersiedelung« der Landschaft.[43]
Die Herstellung vielfältigster Verknüpfungen zwischen heterogenen Bereichen macht das Auto zu einem »großen technischen System«.[44] Funktionale Interdependenzen schafft es beispielsweise zwischen verkehrstechnischen Wegen, sozialem Austausch, Siedlungsstruktur, Arbeitsorganisation und individuellen Bedürfnissen. Diese Bereiche werden so eng verwoben, dass es zu einer selbstbezüglichen, sich aufschaukelnden Dynamik kommt, einer Eigendynamik, die weit über den Eigenantrieb der bloßen Selbstbewegung hinausgeht. Das Auto wurde zum Element seiner eigenen Verursachung: »Verkehr schafft Verkehr«.[45]
Dass so etwas überhaupt möglich ist, dass sich anfängliche Werkzeuge aus ihrem instrumentellen Status befreien und ihren eigenen Lebensraum schaffen können, »ein Auswachsen eines Mittels zum Zweck«,[46] gehört offenbar zum Signum des kulturellen Systems des Menschen. Bei Tieren sind die Zweckreihen zu kurz, um eine kulturelle Eigendynamik dieses Ausmaßes zu erreichen, sie sind zu schnell immer wieder bei dem einen: der Fortpflanzung.
Die Autonomisierung der menschlichen Kulturbereiche kann sich allerdings gegen die Interessen des Menschen richten, bis zur »Zerstörung seiner Lebensqualität«,[47] und einige von uns vielleicht sogar zu »Gefangenen und Sklaven des Automobils« machen.[48] Trotzdem kann doch nur wenig Hoffnung bestehen, dass Appelle an die ökologische Vernunft, Plädoyers für eine »Politik der Gemächlichkeit«[49] oder eine wiedergewonnene »Wertschätzung der Nähe«[50] letztlich Erfolg haben werden. Dafür hat sich die Logik des Autos zu sehr verselbständigt, zu weitgehend ihre eigene Nische geschaffen, so dass sie zentrales Element eines Lebensentwurfs geworden ist, »der sich über Jahrzehnte in die Gemüter der Menschen eingesenkt hatte«.[51] Daher dürfte noch immer und vielleicht sogar verstärkt gelten, was Kurt Möser vor zwanzig Jahren konstatierte: »Alle gesellschaftlichen Megatrends laufen auf ein Mehr an Privatheit, an Komfort und an Distinktion hinaus, die alle das Auto begünstigen«.[52]
Hoffnung besteht vielleicht nur insofern, als dass dieses System transformiert werden kann, dass es von dem Fossilenergiesystem zu entkoppeln ist, das ihm allererst die enorme Wucht verliehen hatte, mit der nicht nur menschliche Lebenswelten, sondern die gesamte großflächige Raumordnung umgestaltet wurde. Jetzt, wo diese Umgestaltung volzogen ist, die universale Vernetzung alle menschlichen Orte immer ähnlicher werden lässt, die Unterschiede in den virtuellen Welten größer werden als die in den realen, könnte Lokomotion immer weniger als der primäre Weg erscheinen, Individualität und Freiheit zu erleben. Die Entwicklung würde dann zurückführen zum großen Antihelden der Lokomotion, zu Immanuel Kant in Königsberg, der es vorzog, dort zu bleiben, wo er war, bei seinen Freunden und seinem Werk, auch wenn ihn Rufe und Aufstiegsangebote von fernen Orten ereilten. Aber er wollte seine Freiheit vor Ort erleben und bedenken, von anderen Regionen nur aus Reiseberichten und Erzählungen erfahren, und musste dabei ebenso wie seine Freunde nur innerhalb Königsbergs mehrmals umziehen, auf der Flucht vor dem »Straßenlärm«, insbesondere dem Krach fahrender »Wagen«.[53]
Eigentlich hat Kleist ja vom Auto geträumt. Marionetten, die sind wie Pferdewagen, durch Zügel und Riemen immer um ein weniges zeit- und raumversetzt, mit ihrem oft eigensinnigen, manchmal gezierten Antrieb verbunden. Im Automobil dagegen ist alles mehr oder weniger starr verbunden, damit die Bewegungsübertragung bruchlos und instantan erfolgt. Ermöglicht wird diese direkte Bewegungsübertragung durch ein Maschinenelement, das in der Klassifizierung sogenannter primitiver Maschinen bislang keine oder nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat: die Kurbel. Als der begriffsstutzige Erzähler in Kleists Über das Marionettentheater das Drehen einer Kurbel als »etwas ziemlich Geistloses« und damit der Grazie des Tanzes Abträgliches abtut, weist ihn der Tänzer C. deswegen ziemlich deutlich zurecht. Zwar helfen die Drähte und Fäden, das Grundübel alles menschlichen Tanzens, die Ziererei, zu unterdrücken; jedoch sei die vollendete Grazie im Tanz nur zu erreichen, wenn »der letzte Bruch des Geistes« aus den Bewegungen getilgt und »ihr Tanz gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte hinübergespielt, und vermittelst einer Kurbel, so wie ich es mir gedacht, hervorgebracht werden könne«.[1]
An diesem Lob der Kurbel zeigt sich das Ausmaß der Provokationslust des C. Denn die Kurbel war zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum verbreiteten Sinnbild geist- und sinnloser Wiederholung geworden. Der barfuß auf dem Eis seinen Kasten drehende Leiermann im letzten Lied von Schuberts Winterreise ist nur eines der vielen grotesken Bilder, die sich mit der Kurbel und ihrer ausweglosen Bewegung verbinden. Die Angst vor dem heraufziehenden Zeitalter der mechanischen Arbeitsbewegungen ist diesen Darstellungen deutlich anzumerken. Maschinell betriebene Kurbeln und Walzen werden bald alle Verarbeitungsprozesse revolutionieren und in einer sich selbst bewegenden Kurbel kulminieren: dem Automobil.
Nicht erst in der Spekulation über das Weltenende, wenn »in dem Gliedermann, oder in dem Gott« die Grazie wieder in die Welt kommen wird, sondern schon in der Frage des Tänzers, ob er, der Erzähler, von den »englischen Künstlern«[2] gehört habe, die an der Mechanisierung des menschlichen Körpers durch Prothesen mitarbeiten, gibt Kleists Text einen kurzen Blick frei auf eine andere, siderische Geschichte der Kurbel. Denn Engel als Künstler und Mechaniker, ja als Kurbler im göttlichen Gefüge und Gedrehe der Welt, haben im späten Mittelalter in der Tat eine bedeutsame Funktion ausgeübt. Wie wäre anders die Drehung in die Welt gekommen?
Hier ist zunächst an einen zünftigen Streit unter Mediävist*innen zu erinnern, der in den frühen 1960er Jahren um das Buch Medieval Technology and Social Change von Lynn White entbrannte.[3] White ist auch über den Kreis seines Faches hinaus bekannt geworden durch die Hypothese, das mittelalterliche Vasallensystem sei auf die Erfindung bzw. die weitgehende Übernahme des Steigbügels zurückzuführen. In dem Kapitel »Stirrup, Mounted Shock Combat, Feudalism, and Chivalry« behauptet er, dass es Karl Martell, dem Großvater Karls des Großen, nach dem Sieg bei Poitiers gegen die Araber gedämmert habe, Reiterschlachten seien zuverlässig nur zu gewinnen, wenn die Reiter sich mit ihren Stoßwaffen in den Steigbügeln abstützen können, sie dies mit ihren Pferden durchgehend trainierten und auf Abruf bereitstünden. Um diese Truppe aufzustellen, konfiszierte Martell Kirchengüter und verteilte sie an die Mitglieder des nun entstehenden Ritterstandes.
Eine ähnliche, wenn auch weniger auffällige Behauptung stützt das letzte Kapitel »The Medieval Exploration of Mechanical Power«. Hier fragt sich White, warum es bis in das frühe Mittelalter eigentlich keine Funde und Beschreibungen von Kurbeln gibt. Obwohl in der Antike die Kurbel als Maschinenelement zur Verfügung gestanden hatte, zeigten sich erste Darstellungen der Kurbel im Westen erst im 9. Jahrhundert, die erste theoretische Analyse gar erst Mitte des 16. Jahrhunderts. Diese bemerkenswerte Achronie führte White zu Folgerungen, die von der Fachwelt oft erstaunt zurückgewiesen oder als Wunderlichkeiten eines verdienten älteren Forschers abgetan wurden, die das Desiderat einer Geistesgeschichte der Technik, wie sie Hans Blumenberg gefordert hat, aber nahezu ideal erfüllen.
Einführend in die Problemgeschichte begegnet im Zitat ein erstaunlicher Vergleich – »James H. Breasted insisted that the crank, like conscience, was born in early Egypt«[4] –, der aber nicht ausgeführt wird. Stattdessen folgt erst einmal eine weitgreifende Diskussion chinesischer wie auch europäischer Quellen, die zur Aufnahme der These von Lewis Mumford führt, »that the technical advance which characterizes specifically the modern age is that from reciprocating motions to rotary motions, and the crank is the presupposition of that change«.[5] Daraus folgt eine der kühnsten Spekulationen der Technikgeschichte:
Continuous rotary motion is typical of inorganic matter, whereas reciprocating motion is the sole form of movement found in living things. The crank connects these two kinds of motion; therefore we who are organic find that crank motion does not come easily to us. The great physicist and philosopher Ernst Mach noticed that infants find crank motion hard to learn … To use a crank, our tendons and muscles must relate themselves to the motion of galaxies and electrons. From this inhuman adventure our race long recoiled.[6]
Dieses anthropologische Tabu der Kurbel, das White hier im großen Stil entwirft, hat allerdings eine theologische Seite, die er merkwürdigerweise nicht erwähnt. Die Kurbel wurde nämlich noch vor ihrer technischen Analyse in mittelalterlichen Darstellungen des Kosmos abgebildet, dann allerdings von Engeln bedient (Abb. 1).[7]
Diese ihre Aufgabe als Ankurbler und Anlasser des Weltsystems kommt den Engeln als Künstlern aufgrund eines theologischen Problems zu, das mit der Aufnahme der aristotelischen Physik und Metaphysik in die christliche Theologie dringend wurde. Gott würde nämlich in seiner Freiheit und Freizeit beeinträchtigt, wenn er sich selbst um die Drehbewegung seiner Welt kümmern müsste. Da Drehbewegung immer Zwangsbewegung ist und darum ständig justiert werden muss, ließ sich die Kosmosrotation aber auch nicht durch einen einmaligen Anstoß, etwa im Schöpfungsakt, erklären, etwa als das Herausrollen der Welt aus der Hand des Schöpfers. Aristoteles kannte dieses Problem nicht, da seine erste Ursache kein Schöpfergott war und er darum die Drehbewegung der supralunearen Materie direkt eingeben konnte.[8]
Abb. 1: Matfre Emengaud: Breviari d’Amor, frühes 14. Jh.
An dieser anderen Genealogie der Kurbel zeigt sich, dass Maschinen, sobald man sie nicht vornehmlich aus der Perspektive ihres Antriebs, sondern der ihres Getriebes betrachtet, auf die Himmel als Ort ihrer Herkunft verweisen. Auch die Vision der Grazie als subjektlose Bewegung, die Kleists Tänzer vorschwebt, ist nicht nur eine Provokation des natürlichen Bewegungsideals Schillers, sondern ebenso sehr Nostalgie nach der Sternenheimat der intentionslosen Bewegung.
Für den Großteil der Maschinen des 19. Jahrhunderts war die Drehbewegung Quelle der vielfachen Druck-, Stoß- und Hubbewegungen; sie bedurften also der Kurbel nur in einigen, dann aber entscheidenden Versionen: in den lokomotiven Maschinen, bei denen die Drehung der Räder Ziel, nicht Ausgangspunkt des maschinellen Prozesses ist. Bei den schienengebundenen Bewegungsmaschinen sieht man, wie sich die Triebkurbeln exzentrisch von den Triebrädern abstoßen und so die Vorwärtsbewegung erzeugen; Fahrräder haben eine Tretkurbel, die direkt an der Kurbelwelle angebracht sind.
Für das sogenannte Automobil aber verdichtet sich das Problem, denn im Prinzip ist es ja eine Kurbelwelle, an die ein Chassis und vier Räder montiert sind. Wie aber würde es sich selbst in Gang setzen und gänzlich ein Auto werden können? Die elektrisch betriebenen Wagen zu Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnten per Knopfdruck gestartet werden, doch litten sie unter ihrer mangelnden Reichweite. Um einen Verbrennungsmotor in Schwung zu bringen, sind jedoch erhebliche Widerstände zu überwinden. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts war das nur durch eine weitere Kurbel zu bewerkstelligen: die Andrehkurbel, die durch die Karosserie in das Getriebe gesteckt wurde und mit der man per Hand über ein Hilfsgetriebe auf die Kurbelwelle zugreifen und so den Verbrennungsprozess in den Zylindern in Gang setzen konnte. Noch in den ersten Nachkriegsjahrgängen des VW Käfers wurden diese Kurbeln mitgeliefert. Sie waren aber nur sehr schwer zu drehen und Ursache oft gefährlicher Verletzungen. Nicht nur Frauen wurden so vom Selbstfahren abgehalten.
Wie der Kosmos die Engel als erste Beweger so brauchte auch der Verbrennungsmotor, wenn er ein Automobil antreiben sollte, einen Anlasser. Er wurde 1911 in Detroit von Charles Kettering vorgestellt und 1912 in den Cadillac Model 30 verbaut und als self-starter vermarktet. Erst der Anlasser, gespeist aus einer Batterie, internalisiert, versteckt die Kurbelbewegungen »like conscience« und vollendet so das Kleist’sche Projekt der sich selbst drehenden mechanischen Puppe, die als Automobil das 20. Jahrhundert dominieren wird.
Wie die Seele ist das Auto ein Selbstläufer. Beide mobilisieren aus eigenem Vermögen immobile Körper. Daher ist es nicht verwunderlich, dass schon die antike, erst recht aber die mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur, deren mimetisches Bestreben entschieden auf die Dynamik der Psyche zielt, voller Imaginationen von autómata ist: Nach Art beseelter Lebewesen bewegen sich jene Automaten durch die zivilisierte Welt und durch deren unzivilisierte natürliche oder magisch-artifiziell gesteigerte Gegenwelt. Angetrieben werden sie entweder von äußeren Zugkräften, die sich in monströsen Drachen-, Greifen-, Pferde- oder Delphin-Gespannen materialisieren und die Vehikel der Fantasie im Nu durch Zeit und Raum transportieren.[1] Oder sie fahren dank einverleibter oder verborgener animalischer, hydraulischer und pneumatischer Mechanismen,[2] sodass, wer ihnen begegnet, sie beobachtet oder sich mit ihrer Hilfe fortbewegt, nicht zu sagen wüsste, wo genau ihre Kräfte herkommen: ob sie auf einen göttlichen Schöpfer zurückzuführen sind, auf magisch-diabolischen Trug oder auf ein Werk der Ingenieurskunst, deren List ihnen den Schein eines Eigenlebens verleiht. Jörg Jochen Berns hat vor diesem Hintergrund in seiner Studie Die Herkunft des Automobils aus Himmelstrionfo und Höllenmaschine nachgewiesen, dass lange vor der Erfindung des Verbrennungsmotors das Auto fester Bestandteil der gedachten und dargestellten Wirklichkeit der Vormoderne war.[3] Jedem literarischen Auftritt von Kraftfahrzeugen in der modernen Literatur und Kunst haftet daher neben der Konnotation technologisch avancierter Bewältigung räumlicher und zeitlicher Distanzen durch Tempo und Beschleunigung zugleich ein Ruch des Urtümlichen an: einer naturgeschichtlich rekonstruierbaren, in der Psyche verankerten Entelechie, die im Auto Gestalt annimmt.[4] Direkt unter der dünnen Schicht der Innovation stößt man auf ein uraltes Substrat, als würde die Rationalität der automobilen Lebensform unmittelbar einer rational nicht steuerbaren Anderswelt seelischer Antriebe aufsitzen. Auf dem Feld literarischer Imagination zeichnen sich so Möglichkeiten der Simultaneisierung von techné und psyché ab, die dadurch, dass beide Sphären sich miteinander analogisieren lassen, aufeinander hin durchlässig gemacht werden können.
Die Unterscheidung zwischen dem ›Ratioïden‹ und dem ›Nicht-Ratioïden‹ ist die entsprechende Signatur der Poetik Robert Musils.[5] Im Modus des Gleichnisses[6] lässt er Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn sprachlich und bildlich in höchst irritierenden Austausch miteinander treten. Dazu koppelt er das Ethos des Mathematikers, Ingenieurs und Naturwissenschaftlers mit einer davon unberührten vorempirischen Weltwahrnehmung. Ihre Darstellungsweise basiert auf dem Denken in Exempeln.[7] Sie bedient sich mit Vorliebe einfacher Formen: der Legende, der Mythe, des Märchens.[8] Damit öffnet sich inmitten kalkulabler, vermessener, technisch optimierter und primär urbaner Lebenswelt eine Zone des Inkommensurablen, die sich, ähnlich den Gleichnissen Kafkas, wenn auch weitaus weniger skeptisch gegenüber der enérgeia von Bild und Metapher, an Erfahrung und Sprache der Religion, der Vision und des Traums anlehnt: an die Möglichkeit und Wirklichkeit dessen, was Fritz Mauthner in der Einleitung seines vierbändigen Werks Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande programmatisch auf die Formel der »gottlose[n] Mystik«[9] brachte. Entfaltet als »anderer Zustand« im Roman-Monument Der Mann ohneEigenschaften, facettenreich modelliert in der Erzählsammlung Drei Frauen und in einigen Prosaskizzen aus dem Nachlass zu Lebzeiten (wie der Kindergeschichte) führt sie die großstädtischen Protagonisten immer wieder in ländliche, geradezu zivilisationsferne Umgebungen und vollzieht damit die Aggregation von Seele und Technik gleichsam topographisch nach. Das heißt freilich nicht, dass Musils Verständnis von Mystik (vor allem derjenigen Meister Eckharts) den historischen Umstand außer Acht ließe, dass auch sie ein eminentes Produkt der Urbanität ist. Die Armutsbewegung, ihre heterodoxen und orthodoxen Ausfaltungen in Laienfrömmigkeit (Katharertum, Beginen /Begarden) und Ordensgründungen (Franziskaner, Dominikaner), in neuen Heiligkeitstypen (wie Elisabeth von Thüringen) und Sprechweisen weiblicher Vision (Mechthild von Magdeburg, Frauenmystik) sind ohne die Urbanisierungsprozesse des 13. Jahrhunderts nicht vorstellbar, zumal wenn man urbanitas als erkenntniskritische, sprachlich-intellektuelle Qualität versteht, die sich auch abseits des städtischen Lebensraums in Netzen spiritueller Kommunikation artikuliert. Entsprechend sind die vielfältigen Ausdrucksformen der Mystik literarisch eng mit der urbanitas der kurialen Kultur verbunden: Ritter und Eremit sind habituell verwandte Typen.[10] Deshalb möchte ich in meinen folgenden Überlegungen die gut erforschte und bestens belegte Sicht auf den urbanen Modernismus Robert Musils gerade am Beispiel einer seiner Automobil-Fantasien einmal probeweise in Richtung vormoderner urbanitas umkehren.
Der Riese Agoag, 1936 unter der Rubrik ›Geschichten, die keine sind‹ im Nachlass zu Lebzeiten erschienen, in einer Vorstufe jedoch schon 1927 greifbar,[11] erlaubt einen Wechsel der Seitenverhältnisse innerhalb des konstruierten Gleichnisses. Einerseits steht der öffentliche Nahverkehr beispielhaft für das moderne System planvoll angelegter, auf umfassende Mobilisierung abgestellter metropolitaner Lebensverhältnisse.[12] Andererseits bedient sich die »kleine[ ] Erzählung« konsequent und emphatisch eines Vokabulars, das der feudalen Kultur des Mittelalters entstammt. So spricht Musil von seinem »Held[en] – und wahrhaftig, er war einer!«. Denn er huldige dem Ideal eines athletischen Körpers, als demonstriere ein solcher das Inbild ritterlichen Tugendadels: einen »Triumph der Moral und des Geistes«. Der Erzähler lehnt sich außerdem an die ars venandi cum avibus, die fürstliche Beizjagd, an, wenn er den Protagonisten in seinem Muskelbett liegen sieht »wie ein Stückchen Fleisch in den Fängen eines Raubvogels«. Er weiß vom »schimpflichen Kampf« (mhd.: der schumpfentiure) zu berichten, dem sein Held zunächst unterliegt, um sich dann in verwandelter Gestalt von Neuem zu bewähren. Von jenem Wendepunkt an geht die Rede vom Riesen und von Zwergen, von der Vereinbarkeit »ritterliche[r] Heldenschaft mit einem schützenden Panzer«, von »Edelleuten«, »Königen«, »Höflingen« und »Truchsessen«, die zwar im übertragenen Sinn der modernen Welt des Sports zugeschrieben werden, aber letztlich im rückübertragbaren Sinn »geistiger Männerschönheit« von adliger Kalokagathie zeugen,[13] die sich vormodern in »ungeheuerliche[r] Kraft«, gepaart mit »Klugheit« und starken Affekten (wie Schrecken und Wut), zeigt. Vor allem aber operiert Musil mit einer grundlegenden Denkfigur mittelalterlicher Feudalität: dem Konzept körperschaftlicher Inklusion. Solch korporatives Denken, das möchte ich im Folgenden ausführen, macht allererst den technischen Apparat auf den mentalen Zustand des Fahrgastes hin transparent. Es erlaubt, die Relation, die das Gleichnis zwischen Auto und Seele etabliert, umzustülpen, so dass es nicht dabei bleibt, dass die höfische Metaphorik mit ihrer Auratisierung des agonalen ritterlichen Ethos die Maschine mit einem nostalgisch-kunsthandwerklichen Ornat bloß überdeckt. Vielmehr nutzt sie umgekehrt das Auto als Vehikel für die Wünsche des vorerst gescheiterten, unglücklichen Helden. Insofern bilden seine Fantasien den eigentlichen Motor und das treibende Motiv eines Märchens, in dem das Fahrzeug der Allgemeinen Berliner Omnibus Aktiengesellschaft (ABOAG)[14] zum Leib des Riesen Agoag mutiert. Zurückgeführt auf das Phantasie-Akronym einer »Allgemein-geschätzte[n]-Omnibus-Athleten-Gesellschaft«, implantiert sein Name das plötzliche Auftreten einer wunderbar eingreifenden oder einer euphemistisch umschriebenen dämonisch-zerstörenden Kraft in die Betriebsamkeit des modernen Großstadtverkehrs.
Wie genau setzt Robert Musil jene paradoxe Spannung zwischen Märchen und Automobilität ins Werk seiner Erzählung? Im Sinne einer ›Geschichte, die keine ist‹, enthält Der Riese Agoag in gedrängter Form das Phantasma eines mittelalterlichen Romans, zusammengesetzt aus verschiedenen, sich überlagernden Erzählschemata:[15] Wie in der ritterlichen âventiure zieht ein Jüngling aus, um êre und minne zu erfahren, deren glückende Balance ihm Rang und Ansehen unter seinen Standesgenossen in Aussicht stellt. Dazu fehlen dem Bel Inconnu, dem Schönen Unbekannten, jedoch die notwendigen Eigenschaften: ein Name, ein Wappen – beides verbindliche Zeichen einer edlen Abstammung – sowie eine Dame an seiner Seite, die (nach der Logik der Brautwerbungserzählung[16]) als Schönste ihren Partner als den Besten ausweisen könnte (während dessen heroische Aura wiederum ihre Schönheit in den Augen der anderen zum Höchstmaß zu steigern vermöchte). Der Weg zu jenen Qualitäten führt durch Demütigung und Ehrverlust zu Rehabilitation und anerkanntem gesellschaftlichem Status, nachdem das Mängelwesen ›Ritter‹ in einer Art Passageritus Krise und Tod durchlaufen hat. Die Analogien zu Robert Musils Agoag-Exempel fallen sogleich ins Auge: Seinem namenlosen Helden gehen die körperlichen Merkmale ab, die ihn in den Augen der Frauen nicht nur erotisch, sondern auch sozial attraktiv erscheinen ließen. Die einzige Ausnahme, eine »ansehnliche Schöne«, die ihn »zu aller Überraschung tieferer Teilnahme« würdigt, agiert wie die Fee im Zaubermärchen. Sie überbringt dem Isolierten eine anderweltliche Gabe, die allein die Funktion erfüllen soll, seine Reaktion zu erzwingen: eine Art Botschaft oder Auftrag in Form eines provisorischen nom de guerre, hier: eines wenig schmeichelhaften Kosenamens, der das Problem des Protagonisten genau artikuliert: »Mein Eichhörnchen!« Das Attribut erklärt den wahrhaftigen Heros einerseits ironisch-satirisch zum Schwächling; vor dem Hintergrund der Feerie bleibt die magische Dimension des Präsents andererseits aber deutlich vernehmbar: Der verliehene Name und der dadurch evozierte Körper – einer von zweien, die an dem Protagonisten haften bleiben – machen ihn zunächst zu einem jener Pelztierchen, die auf mittelalterlichen Tapisserien die Minnetableaus bevölkern: als Metaphern weiblicher Sexualität.
Die Gegenmaßnahmen, die der so markierte Jüngling ergreift, zielen folgerichtig auf Ermannung durch körperliche Ertüchtigung. Doch treiben sie seinen Mangel nun vollends in die Krise: Zum einen erweist er sich nicht nur als schlecht ausgestattet, sondern auch als erbe- und mittellos. Er kann sich die Mitgliedschaft in einem Kraftsportverein nicht leisten und kasteit seinen Körper daher mit versponnenen, selbst ausgedachten Übungen. Sie rufen erstmals die Allegorie des Zweikampfes als den einer inneren Mechanik muskulärer Antagonismen auf:
Das An- und Auskleiden beschäftigte seinen Geist als die Aufgabe, es auf die weitaus anstrengendste Weise zu tun. Und weil der menschliche Körper zu jedem Muskel einen Gegenmuskel hat, so daß der eine streckt, wenn der andere beugt, oder beugt, wenn jener streckt, gelang es ihm, sich bei jeder Bewegung die unsagbarsten Schwierigkeiten zu schaffen. Man kann wohl behaupten, daß er an guten Tagen aus zwei völlig fremden Menschen bestand, die einander unaufhörlich bekämpften.
Zum anderen gelingt ihm dadurch zwar auf der allegorischen Gegenseite des höfischen Traums der Wechsel vom Eichhörnchen zum Falken (dem Minnesymbol männlicher Sexualität), der das hochfliegende Luder fängt. Allerdings verkehrt sich das dynamische Bild durch Musils verquere Formulierung unversehens ins Gegenteil, als sei der Leib des Helden nicht Agens, sondern Patiens der Szene: nicht zupackender Raubvogel, sondern der Köder in dessen Griff, aus dem das schwache Fleisch sich nur löst, um am Ende der Sportübung ermattet aus dem muskulären Tonus »senkrecht in den Schlaf zu fallen«. Anstelle einer Ermächtigung beendet ein Absturz den heroischen Falkentraum. Außerhalb jener Traumwelt, in der die imaginierte Männlichkeit zum Greifen nahe scheint, fällt der junge Mann denn auch bei nächster Gelegenheit einem tätlichen Übergriff zum Opfer: »Aber ehe das geschah, bekam er Streit auf der Straße und wurde von einem dicken Schwamm von Menschen verprügelt.«
Jede Karriere eines klassischen Artusritters setzt mit einem Verlust an êre und minne ein.[17] Er bewirkt, dass der Unglückliche ehrlos und ungeliebt vom Hof auszieht, um die erlittene Schmach durch Qualifikationskämpfe aufzuwiegen und in der Bewältigung eigens für ihn präparierter âventiuren eine Aura der Unüberwindlichkeit um sich aufzubauen. Das besagt im höfischen Roman konkret, dass sich um den Leib des Ritters ein anderer, symbolischer Körper legt,[18] bestehend aus einem mit êre aufgeladenen Namen, einem entsprechenden heraldischen Emblem ständisch-genealogischer Zugehörigkeit und eben jener Dame – meistens einer Witwe[19] –, die nicht nur minne, sondern für den unbehausten fahrenden Ritter auch die einzige Möglichkeit anzeigt, liute unde lant als Grundlage einer eigenen territorialen Herrschaft zu gewinnen. Jener Kompositkörper ist der eigentliche Träger adliger Identität: Er bildet die persona, durch die hindurch sich Ansprüche auf proprietates – Eigentum und Eigenschaften – allererst erheben lassen.[20] Ein solcher Zweitkörper schafft zudem die Voraussetzung dafür, dem höfischen Publikum vor Augen zu führen, dass es sich bei den Defiziten des ritterlichen Initianden nicht um dessen individuelle Schuld handelt, sondern um das Wesensmerkmal der eigenen höfischen Lebenswelt. Ihre kollektive Defizienz wird am Protagonisten exemplifiziert, modellhaft durchgespielt, sozial kalibriert und als maere dem Konsensus des Hofes und seines neuen Mitglieds eingeschrieben und gemeinschaftsbildend integriert.
Musils Held greift nach dem schmählichen Scheitern seiner gymnastischen Exerzitien die literarische Option eben jenes Auszugs des höfischen Ritters[21] auf. Sie bietet sich ihm als klug zu nutzende Gelegenheit einerseits im Modus der Kontingenz durch einen Unfall, andererseits im Modus einer höheren Notwendigkeit wie durch ein Wunder oder eine Schickung:
Da rettete ihn ein großer Omnibus. Er wurde zufällig Zeuge, wie ein riesenhafter Omnibus einen athletisch gebauten jungen Mann überfuhr und dieser Unfall, so tragisch für das Opfer, gestaltete sich für ihn zum Ausgangspunkt eines neuen Lebens. Der Athlet wurde sozusagen vom Dasein abgeschält wie ein Span oder eine Apfelschale, wogegen der Omnibus bloß peinlich berührt zur Seite wich, stehenblieb und aus vielen Augen zurückglotzte. Es war ein trauriger Anblick, aber unser Mann nahm rasch seine Chance wahr und kletterte in den Sieger hinein.
Den Übergang von der einen zur anderen Seite vermittelt der Einbruch des sich querstellenden Automobils. Sein stillgelegter Körper bildet das exemplarische corpus delicti eines Zusammenstoßes, der entweder auf ein technisches oder auf ein menschliches Versagen zurückzuführen ist – worauf genau, bleibt unerwähnt, weil es am Punkt jener Peripetie nicht um kausale Klärungen geht. Zugleich repräsentiert der aus dem Verkehrsfluss gehobene Omnibus die stärkere Seite eines erneuten, nun nach außen getragenen, ungleichen und in seiner Asymmetrie ins Gigantische gesteigerten Zweikampfs. Er kostet den »athletisch gebauten jungen Mann« das Leben wie in einem Turnier,[22] das eigentlich dazu dient, die Wucht der Waffengewalt durch reguliertes Kräftemessen zu limitieren, nun aber durch den jähen Tod eines Mitstreiters gestört worden ist. Entsprechend »peinlich berührt« weicht der Omnibus zur Seite, wo er reglos verharrt, während jene vermenschlichende Formulierung ihn als mitfühlenden Gegenspieler reanimiert. In den Augen des »Held[en] dieser kleinen Erzählung« wird er dadurch gar zum »Sieger« in einem Duell erhoben, von dem sich erst durch das Verhalten des Beobachters erschließen lässt, um welchen Preis es gehen könnte. Denn »unser Mann« betrachtet das Ereignis als »seine Chance«: Er kürt das übermächtige Automobil zu seinem technischen Zweitkörper. Indem er ihn unverzüglich bezieht, baut er ihn in seine Lebenswelt ein. Das Aggregat aus Technik und Seele, das dadurch entsteht, inkludiert das »Eichhörnchen« in den »Riesen Agoag«, erzeugt also aus dem kleinen, schwachen Tierkörper und dem riesigen, überkräftigen Maschinenkörper eine märchenhafte Chimäre: satirisch, indem die Aufschrift des Firmennamens in ein reduplizierendes Echo des Rabelais’schen ›Gargantua‹ verwandelt wird; unheimlich, indem der Gigant eine bisher unbekannte, ungehemmte »Zerstörungskraft« ins Spiel bringt, die unter die in seiner Gegenwart verzwergenden Passanten und Fahrzeuge fährt, »wie ein Mensch, mit einem Messer in der Hand, auf die lieben Hühner in einem Geflügelhof« zusteuert.
Fortan durchdringt der Blick des Märchens die gesamte Wahrnehmung und Darstellung des passierten urbanen Raumes. Seine Realität geht fast vollständig in der imaginären Welt des jungen Helden auf. Als lebendiger Teil des Riesen verwandelt jener sich zum gepanzerten Ritter. Ja mehr noch: Im Inneren des Omnibusses scheint er auf einmal über eine »ungeheuerliche Kraft« zu verfügen und fühlt sich »unüberwindlich durch den Apparat der Macht«. Damit erfüllt sich im Märchenschema die eine Bedingung für eine erfolgreiche Brautwerbung: Bester sein. Auch die Erfüllung der anderen Bedingung – die Schönste besitzen – scheint auf gutem Weg: Um einer Freundin die Kraftquelle »geistige[r] Männerschönheit« vor Augen zu stellen, nimmt er sie auf eine seiner Fahrten mit.[23] Doch nun entgleist statt der stabilisierend ins Märchen hineingezogenen Technik das Schema selbst, indem es im Inneren des Automobils noch einmal en miniature die Zweikampfkonfiguration spiegelt. Im »Riesenleib« regt sich nämlich »ein winziger Parasit« in Gestalt eines Rivalen »mit dicken Schnurrbartspitzen« – außerhalb des Kraftsystems eine quantité négligeable, innerhalb der Apparatur aber »so groß und breit« auftrumpfend, dass jeder physische Vergleich die Kräfteverhältnisse zum Kippen brächte. Der passagere Flirt des Fahrgastes mit der Dame erübrigt jede detailliertere Schilderung eines Brautraubs oder einer tätlichen Auseinandersetzung. Die Schönste im Vorbeigehen streifend und ihr etwas zuflüsternd ergreift der Nebenbuhler seine Chance, sich »vor allen ritterlich« zu entschuldigen. Der implizite höfische Roman hat von diesem Moment an einen anderen Protagonisten, einen eleganten Galan; dem Helden der kleinen Erzählung aber bleibt nur die Klage über »den geistigen Verrat, der auf die geringere Verstandeskühnheit der Frau zurückzuführen« sei, und der Rückzug in eine andere, »vergeistigte« Lebensform der Auserwähltheit.
Freilich geht jene dramatische Wendung auf engstem Raum nicht schlicht in einer romantisch-ironischen Desillusionierung der zitierten mittelalterlichen Erzählmuster des Romans auf. Musils Satire verlässt nicht einfach mit dem Überlegenheitsgestus einer gezündeten Pointe das Feld der Literatur und ihrer metaphora continuata. Denn der letzte Abschnitt des Riesen Agoag wählt eine Lösung, die bei aller Ironie dem korporativen Modell des Zwei-Körper-Theorems (mit Seitenwechsel) verbunden bleibt. Einerseits zieht »unser Held« die lebenspraktische Konsequenz, seine Fahrten in reduzierter Frequenz und »ohne weibliche Begleitung« fortzusetzen. Andererseits formuliert er – wie vormoderne Kurzformen es zu tun pflegen – eine moralisatio in Form eines durchs Sprichwort affirmierten Konsensus: »Ihm ahnte ein wenig von der männlichen Schicksalswahrheit, die in dem Ausspruch liegt: Der Starke ist am mächtigsten allein!« Jener Spruch aus Schillers Wilhelm Tell [24]