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Aristella ist jung, unabhängig und könnte eigentlich glücklich sein – wenn das Leben sie nicht zu einer Zynikerin gemacht hätte. Zurückgezogen verbringt sie ihre Tage vor dem Computer, lebt von Junk-Food und betrachtet das Weltgeschehen aus sicherer Distanz. Um der Realität auch nachts zu entkommen, flüchtet sie sich in luzide Träume. Fasziniert von allem, was ihr Verstand dort für sie bereithält, mischen sich bald schon düstere Mächte in ihre Traumwelt. Bis nicht einmal mehr ihr Alltag vor den Gefahren ihrer Alpträume sicher ist. Ein Urban Fantasy Roman inspiriert von Lovecrafts Traumlanden, einer Überdosis Kaffee und dicken Katzen.
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Seitenzahl: 425
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Im Glanz der Nachtschwäürmer
JULIET MAY
Copyright © 2023 by
WunderZeilen Verlag GbR (Vinachia Burke & Sebastian Hauer) Kanadaweg 10 22145 Hamburghttps://[email protected]
Im Glanz der NachtschwärmerText © Juliet May, 2023 Story Edit: Vinachia Burke (www.vinachiaburke.com) Lektorat: Lektoratsservice Frei & fantastisch (www.steffifrei.de) Korrektorat: Monika Schulze (www.suechtignachbuechern.de) Cover: Vinachia Burke
Karte & Illustrationen: Juliet May (www.julietmay.at) Satz & Layout: Juliet May ISBN: 978-3-98867-011-3 Alle Rechte vorbehalten.
Im Glanz der Nachtschwärmer ist ein Buch für Erwachsene und Teenager ab 16 aus dem Genre Urban Fantasy. Die Geschichte behandelt Themen, die mitunter Auslöser schwieriger Gefühle, Erinnerungen oder Flashbacks sein können. Bei manchen Menschen können sie negative Reaktionen auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.
Auf der letzten Seite dieses Buchs findest du eine Übersicht möglicher triggernder Inhalte.
Allen Kindern, die vergeblich um
Akzeptanz kämpfen mussten.
Die zu laut, zu verträumt, zu anders waren.
Die mit dem Gefühl aufwuchsen, falsch zu sein.
Und allen Erwachsenen, die sie geworden sind:
Uns ist diese Geschichte gewidmet.
In liebevoller Erinnerung an meine Katze Celia
Ein großer Teil dieser Geschichte spielt in Wien, der Haupt-stadt von Österreich. Da die Charaktere in ihren Gesprächen bestimmte Ausdrucksweisen und Begriffe verwenden, die in anderen deutschsprachigen Ländern nicht geläufig sind, findet ihr nachfolgend ein kleines Glossar.
Im Fließtext werden die hochdeutschen Bezeichnungen ver-wendet, doch die Dialoge sollen natürlich authentisch sein.
Bim, die (N.), umgangssprachliche Bezeichnung für die Straßenbahn. Nicht zu verwechseln mit der S-Bahn (Züge) oder U-Bahn.
Gemeindebau, der (N.), als Gemeindebau wird ein Wohnblock des sozialen Wohnungsbaus bezeichnet. Die ersten entstanden in den 1920er Jahren und waren in vielen Bezirken als günstige Wohnungen für Gastarbeitende konzipiert. Vergleichbar ist diese Art von Wohnbau mit den deutschen Plattenbauten.
Honorarnote, die (N.), ein Beleg über die Kosten einer frei-beruflichen Leistung, wie sie Ärzt:innen ausstellen.
Kalbspariser, die (N.), feine Wurstsorte, in Deutschland unter der Bezeichnung »Lyoner« bekannt.
Obers, das (N.), Schlagobers. Bezeichnung für Sahne.
Parte, die (N.), schriftliche Mitteilung eines Familienereig-nisses u.a. über Geburt, Taufe oder Tod einer Person.
Steiermark, die (N.), eines der neun Bundesländer Österreichs. Die Steiermark grenzt an Slowenien.
Tatzen, (V.), Bezeichnung dafür, dass Tiere (v.a. Katzen) mit ihrer Pfote nach etwas schlagen.
Topfen, der (N.), Bezeichnung für Quark.
Topfencreme, die (N.), süße Zubereitungsart von Topfen, der im Supermarkt neben Joghurts verkauft wird.
Trafik, die (N.), Verkaufsstelle für Tabakwaren, Zeitungen, Magazine, Schreibwaren, Ansichtskarten und andere Kleinwaren. Vergleichbar mit dem deutschen Kiosk.
Volksschule, die (N.), vierjährige Grundschule, die Kinder ab dem sechsten Lebensjahr besuchen.
… dass Menschen im Durchschnitt 1.460 Träume pro Jahr haben? Etwa fünfmal pro Nacht verarbeitet das Gehirn bewusste und unbewusste Erfahrungen des Tages und gleicht sie mit der Vergangenheit und Gedanken an die Zukunft ab. Träume sind das, was die Menschen während dieses Prozesses sehen. Sie träumen in jeder Schlafphase, obwohl sie sich nur selten daran erinnern. Am häufigsten klappt das beim REM-Schlaf. Die längsten Träume finden morgens statt.
Wenn Menschen in der Kindheit häufig Schwarz-Weiß-Fernsehen gesehen haben, träumen sie laut Statistiken seltener in Farbe. Man sagt, dass selbst Embryonen träumen, während sie im Mutterleib sind. Aufgrund der fehlenden visuellen Reize handelt es sich dabei meist um Gefühle und Geräusche.
Die antiken Griechen glaubten, Träume seien Botschaften der Götter, einschüchternder Geister sowie Incubi und Succubi
Die zehn häufigsten Träume der Menschen handeln vom Fallen, Fliegen, Gejagt werden, Zahnverlust, Eingesperrt- oder Gefangensein, von sexuellen Handlungen, einer Rückkehr zur Schule, davon, ein Verkehrsmittel oder Event zu verpassen oder vom Partner betrogen zu werden.
Forschungen in diesem Bereich lassen vermuten, dass auch Tiere träumen. Die Inhalte werden uns wahrscheinlich auf ewig ein Geheimnis bleiben.
Über die Funktion der Träume gibt es unterschiedliche Auf-fassungen. Manche sagen, sie dienen der Reifung des Gehirns oder dem Lösen von Problemen aus dem Wachleben. Andere sind wiederum der Ansicht, dass es sich dabei um einen Entspannungszustand des Geistes handele, um angstbesetzte Inhalte oder einfach nur die Eindrücke des Tages zu verar-beiten. Vielleicht sind sie auch bloß ein Überbleibsel der Evolution, wie die Weisheitszähne oder die Nickhaut.
Doch was auch immer hinter ihnen steckt: Träume sind faszinierend. Zahlreiche Mysterien ranken sich um das Erleben im Schlaf, es bietet Stoff für unendlich viele Geschichten.
Eine davon ist diese.
Teil 1
Die Liebe zur Dunkelheit.
Das Finden von Ruhe, Harmonie und Wohlbehagen in der Nacht.
Wien, Herbst 2019
»Ich war schon immer ein Kind der Nacht. Seit ich mich erinnern konnte, lag meine Mutter mir damit in den Ohren, nicht erst schlafen zu gehen, wenn normale Menschen sich für die Arbeit fertig machten. Und seit jeher fragte ich mich, warum mich diese Vorliebe für Stille und Dunkelheit so sehr von diesen normalen Menschen unterschied, von denen sie sprach.
›Hallo. Mein Name ist Aristella. Und ich bin nicht normal.‹
Könnt ihr euch den Blick meiner Lehrerin ausmalen, als ich mich an meinem ersten Schultag mit diesen Worten vorstellte? Ein sechsjähriges Mädchen, das ihre Zahnlücke stolz vor einem Raum Gleichaltriger zur Schau stellte. Ein Mädchen, in dem irgendetwas zerbrach, als alle begannen, es für diese Worte auszulachen; selbst die Lehrerin. Dieser kleine Fauxpas war der Anfang vier langer und schmerzhafter Jahre, die mich jegliches Interesse am Lernen vergessen ließen.
Zwei Freunde standen mir zur Seite, die meine Mutter mir aber oft verbot, zu sehen. Außerdem hatten sie ihre eigenen Päckchen zu tragen. Also galt es, unsichtbar zu werden, um mich dem Spott der anderen zu entziehen.
Unsichtbar für meine Mitschüler, die fortan immer etwas fanden, aus dem sie mir einen Strick drehen konnten.
Unsichtbar für meine Lehrerin, der ich für eine Volks-schülerin zu aufgeweckt war und zu viel wusste.
Ich war zu unruhig, zu mitteilungsbedürftig, sang zu energisch, tobte beim Fangenspielen in der Pause zu viel herum und war immer zu schnell mit meinen Aufgaben fertig. Für sie bestätigten sich die Worte, mit denen ich diese Tortur von Volksschule begonnen hatte: Nichts machte ich wie die anderen, also war ich eben nicht normal.
Rückblickend fragte ich mich oft, warum solche Menschen eine pädagogische Laufbahn wählten. Und vor allem, ob es da nie jemanden gab, der ihnen deutlich sagte: ›Es tut mir leid, aber Sie sind definitiv nicht dazu geeignet, mit Kindern zu arbeiten.‹ Doch was zählen diese kleinen Menschen schon?
›Hallo. Mein Name ist Aristella.‹
Ob ich denn nicht mehr über mich erzählen wollte, fragte mein Klassenlehrer am Gymnasium. Ich schüttelte den Kopf und setzte mich. Noch einmal würde ich ihnen keine Angriffsfläche bieten. Doch als die Schulleiterin meiner Mutter bei der ersten Konferenz darlegte, dass ich für mein Alter außerordentlich schüchtern wäre, mich außerdem nicht an Klassenaktivitäten beteiligte und kein Interesse am Schulstoff zeigte, hatte ich auch ihre Erwartungen abermals erfüllt:
›Warum nur kannst du dich nicht verhalten wie ein normales Kind?‹
Weil ich nicht weiß, wie das geht, dachte ich still und wandte doch nur meinen Blick ab.
›Würdest du mehr schlafen, wärst du auch aufmerksamer. Kein Wunder, dass du tagsüber nicht den Mund aufkriegst.‹
Doch daran lag es nicht. Diese Welt war laut. So unerträglich laut für jemanden, der einfach nur seine Ruhe haben wollte. Und irgendwann, als ich mitten in der Pubertät steckte und meine Mutter mir aus Resignation endlich einen Computer ins Zimmer stellte, da wurde mir eine Sache bewusst:
Da draußen gab es sehr wohl noch weitere Menschen wie mich. Wer war schon meine Mutter, dass sie die anderen als normal betitelte und uns aufs Abstellgleis schob? Immerhin taten wir niemandem etwas. Wir triezten nicht, wir gaben niemandem abfällige Spitznamen und schlugen auch keine Augen blau oder Nasen blutig. Nein, wir Nachtschwärmer wollten einfach nur unseren Frieden in einer Gesellschaft, in der jeder sich krampfhaft zu allem äußern musste. Lauter, schneller, skrupelloser, forscher. Mehr Aufmerksamkeit, mehr Raum zur Selbstdarstellung.
Als meine Mutter starb, war ich vierzehn. Es fällt mir immer noch schwer, diese Worte auszusprechen, denn trotz all unserer Differenzen war sie die einzige Familie, die ich gehabt hatte. Natürlich gab es da noch meinen Vater, doch sein Gesicht sah ich zum ersten Mal, als das Jugendamt entschied, dass ich nicht allein wohnen könnte. Da tauchte er auf, mein Held und Retter, mit den gleichen graublauen Augen und asymmetrischen Lippen wie ich. Und ich hasste ihn für diese Gemeinsamkeiten, die mir im wahrsten Sinne des Wortes entgegenstrahlten. Hätte er sich jemals um meine Mutter oder mich gekümmert, wäre sie nicht vor lauter Erschöpfung krank geworden. Ein reicher Schnösel, wie ich fand, mehr steckte nicht in ihm. Er war Geschäftsleiter eines IT-Unternehmens und verfolgte das Ziel aggressiver Expansion; in etwa so, wie er mich plötzlich einfach in sein Leben gezerrt und damit seinen Einflussbereich erweitert hatte. Der Schulwechsel und Umzug in das Nachbarbundesland waren für mich weniger schlimm gewesen: Dort war ich immer noch der ruhige Teenager, von dem man gern mal vergaß, dass er überhaupt existierte. Doch in meinem Kopf war es alles andere als still. Da mein Vater ständig arbeitete, störte es ihn wenig, dass ich mich hinter meinem Computer versteckte. Stattdessen versuchte er, mich mit teuren Geschenken aus der Reserve zu locken, kaufte mir einen Laptop und erwartete daraufhin, dass ich jeden Tag pünktlich zu den Mahlzeiten erschien sowie keinen Ärger machte.
Zwei Jahre lebte ich mit meinem Vater, seiner Frau Petra und ihrem ach so entzückenden kleinen Sohn Nils, bevor er mir eines Tages eröffnete, dass er beruflich nach Frankreich ziehen würde. Es war der Zeitpunkt in unserer Beziehung, an dem ich ihm das erste Mal vollauf dankbar war: Statt mich mitnehmen zu wollen, fragte er, ob ich mich bereit fühlte, mit sechzehn schon allein zu wohnen. Er hatte schließlich auch gemerkt, dass ich mich nicht in die Familie eingliederte, und bot an, mir eine kleine Wohnung in meiner Heimatstadt zu bezahlen. Das war das letzte Gespräch, das wir geführt hatten, bevor er sich und seine Liebsten in den Firmenjet hievte und mir ein Bahnticket zurück nach Wien hinterlegte.
Umringt von Möbelpackern fand ich es am nächsten Morgen auf dem Frühstückstisch vor, ehe sie auch den nach draußen in den Umzugswagen trugen. In dem Brief, den er mir hinterlassen hatte, stand eine Adresse, die unweit meines alten Viertels lag. Außerdem teilte er mir darin mit, dass er mich fürs nächste Schuljahr an meinem damaligen Gymnasium angemeldet hatte. Zwei Jahre lagen noch vor mir, er war sich sicher, dass ich das schaffen würde. Und ich? Nun, angesichts meiner neuen Lebensumstände, befand sich die Schule auf meiner Prio-ritätenliste noch weiter unten als zuvor.
Meine Möbel wurden von den Packern abtransportiert, sobald ich den Inhalt meiner Schränke in Kartons gestopft und zwei Scheiben Toast vertilgt hatte. In einem ruhigen Moment schnappte ich mir die teure Kaffeemaschine aus der Küche, bevor die Männer sie noch davontrugen, und beschriftete den zugehörigen Karton mit einem krakeligen ›ARISTELLA‹, damit ich zumindest einen Freund mit in mein neues Leben nehmen konnte, der mir stets gute Dienste geleistet hatte.
Und dann war ich endlich wieder in der Stadt. Zurück in Wien, in einem hoch gelegenen kleinen Apartment mit Ausblick auf die Donau. Ich genoss ihn hauptsächlich nachts, mit einer Tasse Kaffee aus der gestohlenen Maschine. Die Lichter der Häuser und Straßen funkelten wie die Augen lebendiger Wesen. Alles glitzerte im Schwarz der Nacht, ein Patchwork brenn-ender Lichter der Wolkenkratzer drüben in Kaisermühlen zur Linken und des Riesenrads im Prater zur Rechten.
Hier fühlte ich mich wohl. Umgeben von Zimmerpflanzen, Kaffeeduft und dem Surren meines Computers. Dass ich die Schule abgebrochen hatte, erzählte ich meinem Vater erst drei Jahre später, woraufhin er mir die Mietkosten streichen wollte. Doch da ich mich in eine Abendschule einschrieb und trotz all seiner vierzehntägigen Fürsorge in Form einer E-Mail immer noch Halbwaise war, konnte er sich nicht so einfach aus der Verantwortung stehlen.
Ich versprach, meinen Abschluss abends nachzuholen, jobbe seitdem tagsüber in einem Café und genieße die Freiheit, die mir dieses Leben bietet. Ich brauche keine Familie, keine riesige Wohnung und niemanden, der mich nach einem langen Tag mit einem selbstgemachten Essen erwartet und meine Sorgen auffängt. Ich bin unabhängig, solange ich mich hie und da ein kleinwenig an die Regeln halte.
›Friedlich, aber gespenstisch. Ruhig und dennoch voller Leben. Dunkel, doch mit umso herrlicheren Akzenten. Die Nacht hat viele Facetten. Die einen schlafen tief und fest, die anderen drehen erst so richtig auf, wenn die Sonne am Horizont ver-schwunden ist. Zur letzteren Sorte gehöre auch ich: Aristella. Ich bin zwanzig und finde, die Nacht ist der bessere Tag.‹
Meine Vorstellung in der Abendschule vorletztes Jahr, die wir literarisch mit einem Fakt über uns verbinden sollten, war on point. Und zum ersten Mal machte es mir nichts aus, nicht normal zu sein.
Das ist meine Geschichte, ungeschönt und ohne mich in ein gutes Licht rücken zu wollen. Denn ich bin voreingenommen, urteile schnell und bin alles andere als ein Sonnenschein. Viel mehr gleiche ich einer dunklen Gewitterwolke, die still und leise über den Himmel zieht, bis sie an der richtigen Stelle ist, um sich in einem gewaltigen Knall zu entladen.«
Stille.
Die geweiteten Augen ihrer Therapeutin sprachen Bände; oder sah sie nach Aristellas Monolog womöglich davon ab, sie als Klientin anzunehmen? Ihr Assistent stand auf, schob sich kaum merkbar aus dem Raum. Vermutlich würde er seine Berufswahl nach dieser Sitzung noch einmal überdenken.
Die Lippen der Therapeutin zuckten. Sie setzte mehrfach zu sprechen an, um doch nur wieder auf ihre Notizen zu blicken. Und dann, als das bedrückende Schweigen unerträglich zu werden drohte, räusperte sie sich.
»Eine Gewitterwolke, sagst du?« Sie faltete ihre Hände. »Das ist ein interessantes Bild.« Aristellas anfängliche Euphorie über diese anerkennenden Worte verebbte jedoch, als sie nachsetzte: »Magst du Gewitter denn gern?«
Aristellas Finger krallten sich in das Kissen, das sie auf ihren Beinen abgelegt hatte. »Nein«, erwiderte sie lakonisch. »Das hat nichts mit Vorlieben zu tun. Mir schien der Vergleich gerade bloß passend.«
»Weil es in der Schule stets hieß, du wärst teilnahmslos und schweigsam, du unter den richtigen Menschen jedoch auftaust und deinen Redebedarf nachholst?«
Aristella hob einen Mundwinkel. Das traf es schon eher. »Oder in Situationen wie diesen.«
Ein Lächeln stahl sich auf das faltige Gesicht der Dame. »Ich finde es gut, dass du dich in diesem Setting bereits wohlfühlst.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
Sie sah Aristella verständnislos an; beinahe verletzt. Weshalb sie wie so oft die Professionalität der Therapeutin in Frage stellte. »Eine Gewitterwolke entlädt sich dann, wenn ihre Spannung unerträglich wird«, erwiderte die.
Diesmal wich Aristella ihrem Blick aus. »Und wenn wir einen Moment lang davon ausgehen, dass diese Gewitterwolke Gefühle hat und über Verstand verfügt, dann wäre es doch möglich, dass sie auch einfach nur etwas zerstören möchte.«
»Hier gibt es doch gar nichts, was sich zerstören lässt.« Aristella entging nicht, dass die Therapeutin seufzte, obwohl sie jegliche Anzeichen dafür zu unterdrücken versuchte. Sie legte Block und Stift zur Seite; vermutlich hatte sie endlich aufgegeben und Aristella konnte hier weg. »Aber du hast auch kein Interesse daran, irgendetwas entstehen zu lassen. Liege ich da richtig?«
»Wozu auch?« Das hier war sinnlos, mitunter sogar gefähr-lich. Es würde zumindest zu nichts Gutem führen.
»Warum bist du hier, Aristella?«
Sie schnaubte höhnisch. »Weil mein Vater mich neuerdings für verrückt hält.«Wozu stellte sie ihr diese Frage? Aller Welt war doch hinlänglich bekannt, was man sich über sie erzählte.
»Was ist in diesem Sommer passiert?«
Aristella zählte die Sekunden. Direkt vor ihrem geistigen Auge erschien er, ihr Geduldsfaden; und er war zum Zerreißen gespannt.
»Aristella?« Die Frau rückte nach vorn. »Ich kann dir nur helfen, wenn du mich lässt.«
Oh, wie falsch sie lag. Denn Aristella war nicht diejenige, der diese Macht oblag; sie hatte die Kontrolle über ihr Leben längst verloren. Da vernahm sie es wieder: das unruhige Rascheln in ihrer Tasche. Und sie betete, dass es der Therapeutin verborgen blieb, bis sie sie endlich als hoffnungslosen Fall abgestempelt und vor die Tür gesetzt hatte.
Mit einem bedrückenden Gefühl der Angst verbundener Traum.
Feuer. Erst weit entfernt, dann so nah, dass ihr die Hitze den Schweiß auf die Stirn trieb. Ein Schritt zurück und Aristella schrie vor Schmerz auf.
Wach ich oder träum ich?
Verzweifelt versuchte sie, sich einen Weg aus dem Flammenmeer zu bahnen. Sie erkannte nicht, was in Brand geraten war oder wo genau sie sich befand.
Wach ich oder träum ich?
Das Adrenalin ließ sie laufen, ohne sich weiter mit ihren Fragen zu beschäftigen. Sie musste hier raus.
Wenn du träumst, kann dir nichts passieren.
Aristella hielt inne. Sie widerstand der Panik, die ihr den Nacken hinaufkroch und schärfte ihren Blick. Das Lodern der Flammen wurde dumpfer, je eindringlicher sie darauf starrte.
Ich träume, nicht wahr?
Das Feuer zog sich zurück, fürchtete sich vor ihrem Verstand, der mit einem Mal begriff, wie mächtig er in dieser Welt war.
Ich träume. Mir obliegt die Kontrolle.
Ein Kribbeln zog durch ihre Magengrube. Wie auch immer sie in diesen Brand geraten war, seine Bedrohlichkeit war auf die Größe einer spärlich leuchtenden Glut verkommen.
Euphorisch warf Aristella den Kopf in den Nacken und sah sich um. Der Himmel war so blau, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Um einiges schöner wäre es aber, wenn das Wetter ihr einen intensiven Regenguss bescheren würde.
Wenn du träumst, beginnt es jetzt zu regnen.
Sie schloss die Lider und stellte sich die Tropfen vor, die bei einem kühlen Schauer über ihr Gesicht laufen würden. Von ihrer Nasenspitze hinab über Wangen, Stirn, Hals und Haar, solange sie hier stand und den Kopf emporreckte. Doch die ersehnte Erfrischung blieb aus.
Stattdessen drang ohrenbetäubender Lärm an Aristellas Ohren, der ihre Konzentration in tausend Stücke zerschellen ließ. Und als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie einer entsetzlich hellen Fensterfront entgegen, die es nicht schaffte, die Sommersonne draußen zu halten.
»Oh, verdammt«, hauchte Aristella mit heiserer Stimme. Der Schweiß an ihrer Stirn war mit aus der Traumwelt gekommen und ließ sie nach einem herumliegenden T-Shirt greifen. Seufzend tupfte sie sich das Gesicht damit ab und setzte sich auf. Es musste Mittag sein, den Großteil der Sommerhitze hatte sie also nicht verschlafen.
Aristella zog die Gardinen an ihrem Fenster zu und schlurfte schlaftrunken ins Badezimmer, wo sie das T-Shirt samt ihrer Kleidung in den Wäschekorb schmiss und sich unter die kalte Dusche stellte. Gedanklich ließ sie den Traum Revue passieren. In dem Podcast über luzide Träume, den sie vor dem Schlafen gehört hatte, war es zuletzt um Mantras gegangen. Sie sollten helfen, das eigene Bewusstsein in Träumen zu aktivieren – eine Brücke zwischen Schlaf und Realität zu bauen. Wach ich oder träum ich hatte abermals als Mantra versagt. Den Ärger darüber brachte Aristella in einer Nachricht an ihren Freund Leon zum Ausdruck und mühte sich anschließend aus dem Bett. Nach einer ausgiebigen Haarwäsche wrang sie ihre störrische, kupferblonde Mähne aus. Während sie sich in ein Handtuch wickelte, warf sie beiläufig einen Blick auf die Uhr und merkte, dass sie wieder einmal viel zu spät dran war. Das Gute an dieser sengenden Hitze war, dass man zumindest mit noch nassem Haar hinausgehen konnte – bis Aristella im Café ankam, würde die Sonne es bereits getrocknet haben.
Sie putzte sich die Zähne, zog ein kurzes Kleid und Sandalen an, ehe sie ihre Augenringe ein wenig kaschierte und so viel Deo auf ihren Körper sprühte, dass sie es hoffentlich möglichst schweißfrei durch den Tag schaffte. Mit Sonnenbrille im Gesicht sowie Tasche und Smartphone in der Hand trat sie in den Hausflur und schloss ab. Ihre Sohlen quietschten auf dem gefliesten Boden und sie genoss die angenehm kühle Luft, ehe sie der Aufzug vierundzwanzig Stockwerke tiefer in der Lobby ausspuckte und die glühende Sommerhitze abermals die Arme nach ihr ausstreckte.
Mit der Straßenbahn fuhr Aristella etwa zehn Minuten Richtung Stadtmitte und bereitete sich mental auf den regen Ansturm an Studierenden vor, die das Café um die Mittagszeit regelmäßig belagerten. Obwohl sie oft einen anderen Eindruck vermittelte, machte es ihr in Wahrheit nicht viel aus, unter Menschen zu sein. Solange die sie nicht zu Smalltalk oder irgendwelchen Aktivitäten zwangen, beobachtete Aristella sie durchaus gern. Deren soziales Miteinander, oberflächliche Gespräche oder gegenseitiges Übertrumpfen mit Errungen-schaften, um sich in ein möglichst gutes Licht zu rücken, ließen Aristella während er Arbeit immer wieder interessiert lauschen. So auch heute, als sie nach dem ersten großen Ansturm endlich Zeit für eine eigene Tasse Kaffee fand. Aristella lehnte am Tresen und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Mit nur zehn runden Tischen war das Café überschaubar. Es war stilvoll eingerichtet, mit von der Decke hängenden Girlanden und Möbeln aus dunklem Holz, die sich zwischen Backsteinmauern und grau-grün gestrichenen Wänden hervorragend ins Gesamt-bild einfügten. Die kleine überdachte Terrasse vor dem Laden wurde von schwarzen Pflanzkübeln begrenzt und war besonders im Sommer stetig besetzt.
»Na du.«
Aristella nahm einen Schluck frisch gerösteten Kaffee und neigte den Kopf.
»Erde an Stella!«
Sie hob einen Mundwinkel. »Du bist nicht die Erde.«
Taya lachte auf und tippte mit ihren frisch lackierten Nägeln an die Tasse. »Machst du mir davon auch einen?« Sie setzte sich an den Tresen und legte ihren Rucksack ab, ehe sie einige ihrer tiefbraunen Strähnen hinters Ohr strich. Erst da fiel Aristella auf, dass sie außerdem zwei große Papiertaschen bei sich trug.
»Was verschlägt dich denn hierher?« Während sie Kaffee-pulver mit ein wenig Zimt in den Aufsatz strich, plauderte ihre Freundin munter drauf los:
»Bücherflohmarkt.« Ihre eisblauen Augen strahlten vor Begeisterung. »Ganz in der Nähe deiner Wohnung.«
»Und lass mich raten …« Aristella füllte den frisch gebrühten Kaffee in eine Tasse und schäumte Hafermilch auf. »… du musst gleich weiter zur Arbeit und hast so viel gekauft, dass ich all deine Schätze hier zwischenlagern soll?«
Zur Antwort grinste Taya ihr entgegen. »Ich hol sie heute Abend ab, versprochen!«
Ungläubig rollte Aristella mit den Augen. »So wie die riesige Palme, die letzten Monat im Lagerraum verrottet ist?«
Auf Tayas brauner Haut zeichnete sich ein Anflug von Röte ab. »Eine Pflanze kann ich vergessen, Bücher nicht!«
Ihre Worte trugen einen wahren Kern in sich: Taya liebte Bücher. Wäre sie nicht ständig damit beschäftigt, sich um ihre Geschwister und Aristella zu kümmern, würde sie bestimmt selbst welche schreiben. Sie war die einzige Freundin hier in der Stadt, auf die Aristella zählen konnte; ein Mensch, der auf die ein oder andere Art stets bei ihr geblieben war, seit sie am ersten Schultag nebeneinandergesetzt worden waren. Taya verurteilte ihre Freundin nicht, obwohl sie manchmal streng war – sie blieb und half einem dabei, die Scherben wieder aufzufegen, wenn das Leben vor einem in die Brüche ging.
»Stell sie nach hinten«, antwortete Aristella und deutete mit ihrem Kopf über die Schulter. »Meine Schicht endet um acht, wenn du bis dahin nicht zurück bist …«
»Ich weiß.« Taya und verengte die Augen zu Schlitzen, »dann findet sie Laura und tapeziert damit die Wände.«
»Bingo.« Aristella lachte und schritt hinüber zur Kuchen-theke, um an der nächsten Bestellung zu arbeiten.
Der Duft von Kaffee und Kakao begleitete sie durch den Tag. Es war ein ruhiges Leben, das sie hier führte, unauffällig und belanglos. Dass niemand ihrer ehemaligen Schulkollegen sie wiedererkannte, war der größte Vorteil ihrer Unscheinbarkeit:
Sie gingen im Café ein und aus, planten riesige Events und Reisen miteinander. Und Aristella? Nun, sie setzte gedanklich bereits die Unterhaltung über Klarträume fort, die Leon und sie vergangene Nacht geführt hatten. Seit sie von diesen speziellen Träumen wusste, die man durch viel Übung selbst herbeiführen konnte, befasste sie sich quasi mit nichts anderem mehr. Aristella witterte darin eine Chance, denn sie hatte es satt, dieses Vakuum: Die Frage, ob sie irgendwann einmal richtige Freude empfinden und nicht bloß gleichgültig durchs Leben rauschen würde wie eine Taube in der Großstadt: die Außenwelt wahrnehmend, ohne jedoch ihren zahlreichen Verlockungen nachgeben zu können. Denn Aristella verstand ihren Reiz nicht, obwohl sie merkte, wie glücklich diese andere Menschen machten. Wann würde Aristella also wahrlich glück-lich sein, wenn nicht in ihren Träumen?
Tatsächlich hielt Taya ihr Versprechen. Nach ihrer Schicht in der Stadtbibliothek rauschte sie gerade so zur Tür herein, ehe Aristella abschloss und ihre Chefin Laura die Abrechnung in Angriff nahm.
»Brauchst du Hilfe?«
»Schon gut, du hast ohnehin genügend Überstunden.« Laura nickte in Richtung des Lieferantenausgangs. »Macht euch einen schönen Abend und genieß deinen freien Tag, Stella!«
»Gute Nacht«, sagte sie und schlenderte an Tayas Seite aus dem Café, jede mit einer Tasche voll Büchern in den Händen. »Meine Güte, was hast du denn da für Wälzer gekauft?«
Doch ihre Freundin grinste bloß. »Schau auf dem Heimweg unbedingt bei dem Flohmarkt vorbei. Vielleicht findest du irgendetwas Spannendes übers Programmieren. Oder deine geliebten Träume.«
»Aus dem Jahre 1970?« Aristella unterdrückte ein Lachen. Der laue Sommerabend war drückend und wurde zunehmend stickiger, während die beiden zur Straßenbahnhaltestelle liefen.
»Es bleibt morgen bei unserem Date?«, fragte Taya, die ihre Büchertasche mit beiden Händen vor sich hertrug.
»Klar.« Die Aussicht auf etwas frisch Gekochtes und ein wenig Zeit mit ihrer Freundin abseits des städtischen Trubels würde Aristella sich nicht entgehen lassen. Und doch war sie froh, die heutige Nacht noch für sich zu haben. Runterzufahren, sich um niemand anderen als sich selbst kümmern zu müssen. So sehr sie Taya auch liebte: Ihre Sozialkontakte hielt Aristella wohldosiert, um sie genießen zu können.
»Da kommt meine Bim«, sagte sie und drückte ihrer Freundin die Tasche in die Hand, ehe sie ihr einen Kuss auf die Wange gab. »Komm gut heim, wir sehen uns morgen!«
»Bleib nicht zu lange wach!« Taya kicherte, als sie Aristellas Augenrollen bemerkte. »Ich kann’s ja mal versuchen.«
Die Türen schlossen sich unter dem lauten Signalton hinter Aristella. Sie suchte sich einen Platz am Fenster und ließ sich darauf nieder. Sie hatte Glück gehabt und eine klimatisierte Straßenbahn erwischt, die sodann stadtauswärts an Fahrt aufnahm. Bürogebäude und Geschäfte rauschten an ihr vorbei, über denen sich Wohnungen bis zu zehn Stockwerke auf-türmten. Ihr eigenes Haus war selbst aus einigen Haltestellen Entfernung gut erkennbar: der einzige Wohnturm weit und breit. Ihr Vater hätte es mit der Lage der kleinen Einzimmerwohnung nicht besser treffen können.
An jeder Station stiegen Leute zu, doch für Aristella waren sie nicht mehr als Silhouetten in ihren Augenwinkeln. Seufzend zog sie das Smartphone aus der Tasche. Eine Benachrichtigung darauf ließ ihre Mundwinkel nach oben huschen.
»Wach ich oder träum ich?« war dein Mantra? Kein Wunder, dass du in Flammen aufgegangen bist :D
Aristella wartete ab, ob eine Antwort kam, ehe sie aussteigen musste, doch Leon schien gerade nicht online zu sein.
Nach diesem belanglosen Tag besorgte Aristella sich eine Portion Cup-Nudeln und einen Schokoriegel in dem kleinen Supermarkt um die Ecke. Er war der Einzige, der bis spät nachts offen hatte. Denn obwohl Wien eine beachtlich moderne Weltstadt war, schlossen die Läden hier immer noch spätestens um zwanzig Uhr. Trotzdem hing sie an dieser Stadt. Nirgendwo sonst, dachte sie, würde sie sich je so zuhause fühlen.
Vor dem Wohnhaus gingen die Lichter an, als Aristella an die gläserne Eingangstüre trat. Sie stellte ihren Einkauf ab, um nach dem Schlüssel zu suchen, als ihr einige Tische im Innenhof ins Auge fielen. Während sie weiter in ihrer Tasche kramte, wanderte ihr Blick über all die Kisten und Bücher, die ringsum aufgestellt waren.
Und aus einem Anflug von Neugierde heraus zog sie den Reißverschluss ihrer Tasche wieder zu und trat hinüber an die Tische. Taya hatte erwähnt, dass es in der Nähe einen Bücher-flohmarkt gab, aber direkt vor ihrem Haus? War heute etwa sowas wie Wiener Tag der Bücher? Aristella grinste, weil in dieser Stadt tatsächlich so viele Dinge passierten, von denen sie kaum Notiz nahm.
Zu dieser späten Stunde herrschte bereits Aufbruch-stimmung, doch Aristella schlenderte vor den Boxen und aufgetürmten Büchern herum, entdeckte Rezeptsammlungen, alte Groschenromane, Atlanten und Comics, denen sie jedoch nur flüchtig Aufmerksamkeit schenkte. Diese Flohmärkte waren ohnehin nur ein Sammelsurium irgendwelcher Hinter-lassenschaften. Die Chance, hier etwas Interessantes zu finden, hatten nur Menschen wie Taya, die etwas von Antiquitäten ver-standen oder gern in Nostalgie verfielen.
»Suchen’s was Bestimmtes, junge Dame?« Ein betagter Mann lächelte Aristella entgegen, das Gesicht unter einer ausgeleierten Kappe versteckt.
»Nein, nein, ich bin nur am Schauen.«
Er nickte, murmelte ein »Jo, jo« vor sich hin und hievte eine Kiste vom Tisch, unter der weitere Bücher zum Vorschein kamen. Eines davon stach Aristella sofort ins Auge: Es war schwarz und mit silbernen Ornamenten verziert. Ganz unten prangte in alter Schrift der Titel »Reise in die Traumwelt«. Sie legte die Stirn in Falten und griff nach dem Band, der zwischen all dem Schund erstaunlich modern anmutete.
Sie legte Tasche und Einkauf auf den Boden und fächerte das Buch auf. Die Kapitel klangen vielversprechend, kündigten Informationen über die Entstehung und Bedeutung von Träumen, Möglichkeiten, Klarträume herbeizuführen sowie Hypothesen zu ganzen Traumwelten an. Aristella hatte sich in den vergangenen Wochen immer wieder nach Literatur zu diesem Thema umgesehen, doch die meisten Werke streiften luzides Träumen höchstens an der Oberfläche oder taten es als gefährlich ab.
»Sind Sie eine Nachteule?« Die Frage des Verkäufers riss Aristella aus ihren Gedanken.
Sie klappte das Buch zu und runzelte die Stirn. »Wie kommen Sie darauf?«
Er zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Ist schon spät und Sie schauen noch recht wach aus.« Anschließend deutete er auf den Band. »Und Menschen, die sich mit Träumen beschäftigen, sind das nicht immer Nachteulen?« Da lag ein Grinsen auf seinem Gesicht, das zu breit war, um echt zu sein. Einen Moment lang stand der Mann einfach nur da, mit leeren, ausdruckslosen Augen, als ob er sich in einer anderen Welt befände. Doch dann kehrte plötzlich wieder Leben in seinen Blick. »Interessiert Sie das Buch denn?«
Aristella merkte, dass sie es immer noch nicht zurückgelegt hatte. Abermals fächerte sie die Seiten auf und überflog das Impressum. Die Ausgabe war brandneu, erst in diesem Jahr erschienen. Wie zur Hölle war es bereits auf einem Flohmarkt gelandet? Sprach das nicht dafür, dass irgendjemand es für schlecht befunden und sofort wieder weggegeben hatte?
»Wie viel?«, fragte sie, ohne weiter darüber nachzudenken. So teuer konnte es schließlich nicht sein.
Der Mann griff in seine Hosentasche und zog eine Packung Zigaretten hervor. »Nun, ich bin niemand, der lügt«, sagte er, während er mit dem Feuerzeug herumhantierte, »und für ein paar Euro sowieso nicht.«
Aristella stutzte.
»Ich hab das Buch eben selbst zum ersten Mal gesehen.« Er schnaubte und machte sich wieder daran, seinen Tisch leer-zuräumen. »Ist nicht meins, das Ding. Du kannst es also gern mitnehmen.«
»Einfach so?« Der Windhauch, der mit dem Sonnenunter-gang kam, verwehte Aristellas helle Strähnen und die versperrten ihr einen Moment lang die Sicht.
»Klar.« Ein weiteres Schulterzucken. »Es gehört mir nicht, Geld dafür zu nehmen, wäre unehrenhaft. Und du hast es nun mal gefunden.«
Ein wahrlich seltsamer Kauz, dachte Aristella und griff in ihre Einkaufstasche. »Hier.« Auffordernd hielt sie dem Mann den Schokoriegel hin. »Dann bezahle ich nicht mit Geld, sondern lasse Ihnen eine Kleinigkeit fürs Abendessen da.«
Strahlend nahm der Verkäufer das Geschenk an und ließ Aristella ihres Weges ziehen. Während sie im Aufzug stand und den Wechsel der Stockwerke auf der Anzeige verfolgte, verlor sie sich in ihren Gedanken. Hatte sie vielleicht falsch verstanden, wie so ein Klartraum-Mantra funktionierte? Falls ja, würde Leon ihr hoffentlich mehr darüber verraten. Vermutlich stolzierte er gerade wieder durch eine seiner Traumwelten – damit, wie leicht es ihm fiel, das Geschehen während seines Schlafs zu beeinflussen, prahlte er nur allzu gern. Aristella konnte es ihm daher nicht verdenken, wenn er tatsächlich wieder einmal schlummerte.
Zurück in ihrer Wohnung band sie sich ihre kupferblonden Haare zu einem hohen Knoten, gönnte sich eine weitere kalte Dusche und schlüpfte anschließend in ihr Lieblingsoutfit für lange Sommernächte: ein luftiges T-Shirt und kurze Hosen. Während ihr Abendessen zugedeckt durchgarte, holte Aristella einen Energydrink aus dem Kühlschrank, kochte ein Ei und garnierte ihre Nudelsuppe damit. Vor dem Ventilator kühlte sie sowohl sich als auch ihr Essen ein wenig ab und setzte sich im Schneidersitz vor den Computer an den gewaltigen Eck-schreibtisch, der einen Großteil des Raumes einnahm. Ihr Chat mit Leon war das Erste, was sie öffnete; und seine mittlerweile eingegangene Nachricht war gewohnt triezend:
Sorry, dein Level ist noch nicht hoch genug. Frag mich wieder, wenn du bei Folge acht des Podcasts angekommen bist.
Aristella schmunzelte und teilte das gekochte Ei mit ihren Stäbchen, während sie an einer Antwort feilte.
Die Nudeln waren scharf, der süße Energydrink kam kaum gegen das Brennen in ihrem Mund an. Doch Aristella spürte, wie ihr beides wieder Leben einhauchte.
Angenehme 19°C hier, kann mich nicht beklagen :)
Ein wenig Musik machte den Abend perfekt. Es war erst knapp 21 Uhr, die Sonne verschwand gerade am Horizont und tauchte die Stadt in einen herrlichen Rotton. Aristella stützte den Kopf in ihrer Hand ab; sie beneidete Leon zwar um die milden Sommer in seiner Heimat, doch Bremerhaven konnte mit den Vorzügen der Großstadt einfach nicht mithalten. Sie beide kannten einander seit Kindertagen, waren zusammen aufge-wachsen und drei Jahre zur Schule gegangen, ehe Leons Familie entschieden hatte, nach Deutschland zu ziehen.
Deutschland. Das hatte für die neunjährige Aristella unendlich weit geklungen. Sie und Leon hatten einen Plan ausgeheckt, um zu verhindern, dass er aus Wien fortzog, doch wie so oft waren die Erwachsenen ihnen zuvorgekommen.
In den ersten Jahren hatten sie einander noch Briefe geschrieben, die jedoch immer seltener kamen. Aufregende Neuigkeiten waren Oberflächlichkeiten gewichen und irgend-wann war ihre Freundschaft im Sand verlaufen. Bis vor zwei Jahren, als sie einander online zufällig wiedertrafen: in einem Forum für Okkultes und Urban Legends. Es hatte gedauert, bis ihnen klar geworden war, dass sie sich kannten. Zunächst war da einfach nur das Gefühl gewesen, nachts weniger allein zu sein. Immer, wenn Aristella an etwas herumprogrammierte und zwischendurch Zerstreuung suchte, fiel ihr auf, dass sie nicht die einzige Person war, die zu später Stunde noch im Forum herumgeisterte.
Ihre Gemeinsamkeiten waren verblüffend: Leon war als Freelancer tätig, er programmierte Websites und Datenbanken, lebte mit seinem Bruder an der Nordsee und genoss es, nachts in Ruhe arbeiten zu können. Ihrer beider Leidenschaft für Videospiele und die Mysterien dieser Welt ließen sie bis früh morgens in Theorien schwelgen und schnell wieder Vertrauen zueinander fassen. Aristella hatte in Taya zweifellos ihre beste Freundin gefunden, doch wo es ihr an Verständnis mangelte, fing Leon sie auf. Unnahbar, wie er sich selbst bezeichnete, war er manchmal wirklich, doch Aristella schaffte es immerzu, ihn aus der Reserve zu locken. Ihre gemeinsame Vergangenheit hatte es ihr immens erleichtert, nach all den Jahren offen auf ihn zuzugehen.
Taya fragte sie oft, warum sie Leon nicht einmal zusammen besuchen fuhren – immerhin kannten die beiden einander ebenfalls aus der Grundschule –, doch Aristella wusste nicht, wozu. Solange sie all ihre Hobbys und Gespräche auf diese Weise miteinander teilen konnten, gab es keinen Grund, etwas an ihrer Freundschaft zu ändern.
Sie schob die leere Schüssel beiseite und nippte an ihrem Getränk. Ihre Augen blieben an dem Buch haften.
Sie zog es näher und tippte Titel und Autor ab:
Unschlüssig schmökerte Aristella ein wenig darin und hielt nach dem Wort »Mantra« Ausschau.
Ne. Schon reingelesen? Und ich hab für heute genug geschlafen. Jetzt ist Zeit für anregende Gespräche, um meinen Horizont zu erweitern!
Eine Frage ist nun mal ein schlechtes Mantra, Stella :P
Du brauchst was Knackiges!
Grinsend setzte Aristella zu einer Antwort an:
Salat wird überbewertet.
Wahre Worte. Dennoch hoffte Aristella, dass Leon allmählich mit hilfreicheren Antworten rausrückte, als prompt eine weitere Nachricht erschien:
Aber im Ernst: Das Mantra sollte auffordernden Charakter haben. »Nächstes Mal, wenn ich träume, werde ich mich daran erinnern, dass ich träume« z.B.
Nein :) Aber damit hab ich begonnen. Mittlerweile läuft es bei mir etwas anders.
Eine Weile blieb es still zwischen den beiden. Aristella stöberte durch einige Foren, blätterte durch ihr Traumtagebuch und nahm einen dicken Filzstift zur Hand, mit dem sie einen Satz schrieb, der eine ganze Seite füllte:
Nächstes Mal, wenn ich träume, werde ich mich daran erinnern, dass ich träume.
Leon hatte recht. Das fühlte sich viel eher nach einem Mantra an, das funktionieren konnte.
Nervös kaute sie an ihrer Unterlippe herum und starrte auf ihre Finger, die sich wie von selbst in Bewegung setzten.
So sehr sie die Nacht auch liebte, war sie im Schlaf mit Schrecken verbunden. Sie waren es, denen Aristella in Wahrheit entkommen wollte:
Monster, Flammen, das Ertrinken auf hoher See. Züge, die niemals anhielten oder in Unfälle verwickelt wurden. Immer und immer wieder. Woher ihre Albträume kamen, wusste sie nicht, doch die Schönheit der Nacht, durfte nicht durch bedrohliche Bilder ihres Unterbewusstseins geschmälert werden, die ihr die wenigen Stunden der Erholung versauten.
Nein, Aristella musste ihr Glück endlich selbst in die Hand nehmen und das Klarträumen meistern.
Träume sind mächtig, Stella. Diese Gabe wurde uns Menschen nicht umsonst geschenkt. Sie sind wie eine Leiter, die wir emporklettern. Immer weiter und höher, um frei zu sein. Bis wir den Sonnenschein mit bloßen Händen zu fassen kriegen. Und unsere Sorgen bleiben hier, in dieser kalten, harten Welt. Unsere Seele soll entspannen, spielen und genießen.
Ein Schauder erfasste Aristella. Leons Worte übten eine unglaubliche Faszination auf sie aus. Er fuhr fort:
Das hat sie doch verdient, nicht wahr? Unsere Seele. Freiheit und Entspannung,
weil sie sich tagsüber den Erfordernissen des Alltags beugen muss.
So könnte man das sagen.
… dann rufst du nach mir.
Traum, der reale Ereignisse behandelt. Ein Teil des Geträumten geht per Definition irgendwann in Erfüllung.
Dann rufst du nach mir.
Aristella lag auf dem Bett, das Fenster neben ihr stand weit offen. Vierundzwanzig Stockwerke tiefer rauschte der Nacht-verkehr entlang, der hier oben jedoch kaum zu vernehmen war. Vor sich hatte sie ihr Traumtagebuch liegen. Mit dem Filzstift zog sie Kreise um den Satz, immer und immer wieder. Wie sollte sie nach Leon rufen, wenn sie ihre Träume doch noch nicht bewusst steuern konnte?
Seufzend blätterte sie im Buch ein paar Seiten zurück. Seit einem knappen Jahr hielt sie darin alles fest, was ihr im Schlaf begegnete: von Gerüchen, Personen, Themen über Gefahren bis hin zu konkreten Handlungen. Aristella versuchte, Gemein-samkeiten aufzudecken, die ihr dabei halfen, ihr Bewusstsein während des Träumens zu aktivieren. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, war das intensive Einüben eines Mantras – die wohl häufigste Methode. Dazu sagte man es vor dem Einschlafen kontinuierlich auf, ebenso im Alltag, wenn es Situationen gab, von denen man häufig träumte. Bislang konnte Aristella an einer Hand abzählen, wie oft es ihr gelungen war, sich ihres Träumens bewusst zu werden. Mantras hatten da wenig Einfluss gehabt. Und immer, wenn ihr Verstand wachgerüttelt wurde, wachte sie Augenblicke später einfach auf.
Beim Durchsehen ihres Tagebuchs stach ihr nichts wirklich ins Auge. Bis auf eine einzige Gemeinsamkeit, die sich aber auf die letzten Wochen beschränkte: ein schwarzes, rundes Objekt. Es drängte sich nie in den Vordergrund; hätte Aristella ihre Notizen nicht gehabt, wäre ihr nicht einmal aufgefallen, dass es schon häufiger in ihren Träumen erschienen war.
Als sich weit entfernt die ersten Sonnenstrahlen nach dem Himmel ausstreckten, wurde ihr Kopf allmählich schwer.
Träume sind wie eine Leiter, die wir emporklettern. Immer weiter und höher, um frei zu sein, bis wir den Sonnenschein mit bloßen Händen zu fassen kriegen.
Wie recht Leon mit diesem Vergleich doch hatte. Aristella schloss die Augen und versuchte, sich die Metapher vorzustellen. Wie sie Sprosse für Sprosse hinauf in die Wolken stieg und der Quelle ihrer Träume näherkam, sie immer mehr beherrschte.
Und unsere Sorgen bleiben hier, in dieser kalten, harten Welt.
Wie sie unbeschwert und frei durch das Leben tanzen und es nach ihren Vorlieben gestalten konnte.
Unsere Seele soll entspannen, spielen und genießen.
Nur wenige Menschen verstanden, wie viel Erholung und Vertrauen man aus der Ruhe ziehen konnte. Nicht dem Drang nachzukommen, jeden einzelnen Gedanken auszusprechen und ständig ungefragt seine Meinung kundzutun, musste sich für die meisten wie ein Ding der Unmöglichkeit anfühlen. Jeder prahlte damit, wie perfekt sein Leben war; dabei wusste Aristella, wie viel Kraft es kostete, eine solche Fassade aufrechtzuerhalten. Sie verstand nicht, warum die Leute ihre kostbare Energie darin investierten, falsche Anerkennung zu erhaschen. Doch weiter hing sie dieser Frage nicht nach, denn die letzte Stufe zur Traumwelt war überschritten. Bei offenem Fenster schlief Aristella ein, ohne ihr Mantra noch einmal geübt zu haben.
Es war ein angenehmer Tag. Sommerlich, doch von Hitze fehlte jede Spur. Ein Regenschauer hatte die Stadt erfasst, dessen letzten Tropfen gerade im Antlitz der Abendsonne trockneten.
Aristella saß auf einer Parkbank, immer wieder warf sie einen Blick auf ihr Smartphone und genoss die Stille.
Der Spielplatz nebenan war voller Kinder, doch ihr Lachen und Rufen störte sie nicht. Es hielt sich im Rahmen, genauso wie das Bellen der Hunde und das Rattern der Fahrräder und Inlineskates, mit denen die Menschen unterwegs waren. Nichts davon ließ sie erschrocken zusammenfahren oder zunehmend in Panik verfallen.
All das war in Ordnung, nein, viel mehr perfekt.
Doch dann begann die Szene zu kippen. Die Luft schwoll bedrohlich an. Schwere Schritte brachten die Erde zum Erzittern. Niemand ringsum schien sich daran zu stören, die Leute gingen weiter ihren Beschäftigungen nach. Konnten sie denn nicht hören, was hier geschah? Die Parkbank unter Aristella hob und senkte sich.
Sie sprang auf. Da hielten sie inne: Mensch um Mensch wandte sich in ihre Richtung, ließ alles stehen und liegen. Als würden sie Aristellas Anwesenheit erst jetzt gewahr; und als handelte es sich bei ihr um einen Störenfried. Jemand, der hier nicht hingehörte. Aus einer Woge der Angst heraus lief sie los.
Dann rufst du nach mir.
Der Satz prangte vor ihrem geistigen Auge, strahlte wie eine Leuchtreklame. Rufen? Wen sollte sie denn schon rufen? Die Straßen verwandelten sich in unscharfe Gebilde. Szenerien, die sie nicht recht begreifen konnte, ganz so, als spränge sie durch Raum und Zeit. Das Einzige, was sie dabei begleitete, war dieser flauschige, schwarze Ball. Wohin sie auch ging, er wich nicht von ihrer Seite. Doch er war das Letzte, vor dem Aristella sich gerade fürchtete
Irgendwann, als ihr allmählich die Puste ausging und der Tumult sich gelegt hatte, blieb sie stehen. Ihren Atem fand sie schnell wieder, doch ein Gedanke wollte ihr nicht aus dem Kopf.
Dann rufst du nach mir.
»Hallo?« Stille. Aristella wusste nicht, wo sie sich befand, doch sie meinte, die Umrisse zweier Türme wahrzunehmen. Die Welt um sie herum lag hinter einem dichten Nebelschleier.
Zahlreiche Füße oder Pfoten trippelten. Sie machten nur kleine Schritte, dafür jedoch überall um sie herum. Ein Fauchen erklang, ließ Aristella zusammenfahren. Doch erst, als sie den dunklen Ball vor sich wieder fokussierte, merkte sie, dass der aufziehende Protest nicht ihr galt. Denn nun sprang der schwarze Schattenball im Zickzack umher, viel zu schnell, um ihn mit den Augen genauer erfassen zu können. Dicht gefolgt von unzähligen kugelförmigen Wesen, gestreift und mit buschigen Schwänzen. Sie schossen durch sämtliche Gebäude, die plötzlich vor Aristella aufragten, zerstörten Mauern mit ihren rasiermesserscharfen Klauen und Zähnen und verspritzten den Matsch, den der Regen hinterlassen hatte. Alles nur, um diesem schwarzen Ball hinterherzujagen, der eine Schleife zog – und dann direkt auf Aristella zuraste.
Sie versuchte, in Deckung zu gehen, doch ihre Beine bewegten sich nicht. Schlimmer: Sie waren im Boden versunken, kurz unterhalb ihrer Knie verschwand Aristellas Körper in Treibsand.
Dann rufst du nach mir.
»Hallo!?« Aristella wusste nicht, nach wem sie rief. »Hilfe!« Sie schrie, suchte nach irgendeinem Gegenstand, um den Ball abwehren zu können, der unaufhaltsam auf sie zuhielt. Doch da war nichts als Treibsand und sengende Hitze. Aristellas Blick ruhte auf dem schwarzen Ball, der mit jedem Atemzug schrumpfte. Weniger bedrohlich wurde. Aristella hielt den Atem an. Plötzlich waren da Öhrchen. Und ganz viel Fell. Sie streckte die Arme aus.
Dann rufst du nach mir.
Der flauschige Ball schoss auf sie zu, doch anstatt ihn abzuwehren, fing Aristella ihn auf und drückte ihn fest an ihre Brust. Ein Zittern ging von ihm aus, nein, es war ein …
»Schnurren?«
Die kugeligen Angreifer prallten gegen eine Kuppel, die Aristella und das schwarze Wesen plötzlich umgab. Es gab keinen Treibsand mehr, der sie gefangen hielt, sie spürte nichts als Wärme und Geborgenheit. Ein wohliger Duft ging von dem Fellknäuel aus. Es roch nach Zimt und …
… Kaffee? Das dunkle Gesicht einer Katze mit goldenen Augen mischte sich in dieses Traumbild und verschwamm, ehe Aristella es recht deuten konnte.
Der vermeintlich frische Geruch in ihrer Nase stammte aus der übriggebliebenen Tasse auf dem Fensterbrett, die neben ihrem Traumtagebuch lag und ihren Inhalt gerade darüber ergoss. Wer hätte denn in diesem Haushalt auch frischen Kaffee kochen und sie damit wecken sollen?
Aristella sprang auf und zog ihre gesammelten Notizen aus der Pfütze. So gut sie konnte, wischte sie das Buch an der ohnehin schon von Kaffee durchtränkten Bettdecke ab und legte es zum Trocknen in die Sonne. Zum Glück schien nur der Einband etwas abbekommen zu haben.
Aristella ließ sich zurück in ihr Bett fallen und schob die Decke zu Boden. Nicht nur die umgeworfene Tasse hatte ihren Puls beschleunigt: Dieser seltsame Traum hatte sein Übriges getan. Gedankenverloren blickte Aristella auf ihre Hände, führte die Finger aneinander und spürte beinahe den weichen Pelz des Wesens dazwischen. Ein schwarzer Ball, der sich unentwegt durch ihre Träume zu bewegen schien. Nur, um im letzten Moment als freundliches Tier in Erscheinung zu treten, das Treibsand und eine Meute aggressiver Traumwesen aufhielt? War dieses katzenartige Wesen ihr zur Hilfe gekommen?
»So ein Blödsinn«, murmelte sie und drückte sich das Kissen fest ins Gesicht. »Meine Fantasie ist echt das Letzte.« Warum lagen Albtraum und Wunsch nur so schmerzlich nah beieinander?
Es klingelte. Kurz, kurz, lang, kurz; Tayas Zeichen. Hatten sie nicht ausgemacht, einander erst am Nachmittag zu treffen? Da wurde Aristella bewusst, dass sie noch gar nicht auf die Uhr gesehen hatte.
»Meine Güte!« Taya schob sich an Aristella vorbei in die Wohnung »Bist du gerade erst aufgestanden?«
»Guten Morgen, Mama.« Grummelnd schloss sie die Tür und strich sich die wirren Strähnen aus dem Gesicht. »Wie spät ist es?«
»Fünfzehn Uhr.« Ihre Schuhe hatte Taya längst ausgezogen und huschte aufgeregt durch die Wohnung. Umgehend griff sie nach herumliegendem Geschirr, um die Spülmaschine zu befüllen. Sie verband ihr Smartphone mit den Lautsprechern und hatte die halbe Wohnung auf Vordermann gebracht, noch ehe Aristella aus dem Badezimmer kam.
»Du bist viel zu gut für mich«, sagte sie und stellte die Kaffeemaschine an.
»Süße, auf deinem Schreibtisch standen ein paar Tassen, die waren wirklich schon …«
»Ich weiß«, sagte Aristella seufzend, »ich vergesse die Teebeutel eben manchmal. Oder meinen Apfelsaft.«
Taya rümpfte die Nase. »Hast du was im Kühlschrank?«
Eigentlich hatte Aristella geplant, rechtzeitig vor dem Besuch ihrer Freundin einkaufen zu gehen. Sie war sich nicht sicher, ob sie gerade mehr als eine Packung Hafermilch und ein Sixpack Energydrinks zuhause hatte.
»Du meinst außer Licht?« Verlegen kratzte sie sich an der Nase. »Ich besorg uns etwas. Was wollen wir kochen?«
»Such dir was aus.« Taya steckte mit dem Kopf bereits unter der Spüle und kramte die Putzmittel hervor. »Hast du wenigstens Reis, den ich einstweilen aufsetzen kann?«
Zur Antwort schenkte Aristella ihrer Freundin ein gequältes Lächeln und hob die Hand zum Abschied, ehe sie samt Tasche in den Hausflur entschwand.
Einen Moment lang drückte sie sich gegen die Wand und verschnaufte. Sie hatte nicht bis nachmittags schlafen wollen. Dass Taya abermals mitbekommen hatte, in welchem Saustall Aristella lebte, missfiel ihr gewaltig. Von außen musste es oft so wirken, als hätte sie ihr Leben nicht richtig im Griff; und vielleicht, so dachte sie, während der Aufzug sie nach unten trug, lag sogar ein Funke Wahrheit darin.
Etwa fünf Minuten Fußweg entfernt lag ein kleines Einkaufszentrum, wo sich Bus- und Straßenbahnhaltestellen kreuzten. Mit gerade einmal zwanzig Läden lockte es nur jene Menschen an, die ringsum lebten und arbeiteten, was Aristella jedes Mal aufs Neue recht war, wenn sie durch den ruhigen Supermarkt schlenderte. Sie griff sich eine Packung Reis, suchte sich aus Mitleid wie immer das krummste und hässlichste Gemüse jeder Sorte aus, die ihr schmeckte, und sammelte auf dem Weg zur Kasse die restlichen Zutaten für ein Curry ein. Für die Nachbarskatze wanderte obendrauf eine Dose Thunfisch mit in den Korb, falls sie einander wieder einmal begegneten.
Mit ihrem Lieblingssong in den Ohren verließ Aristella den Supermarkt wenige Momente später wieder und schulterte den Stoffbeutel mit ihren Einkäufen. Heute waren es keine unbarmherzig heißen Sonnenstrahlen, die sie wie sonst um diese Jahreszeit draußen empfingen, sondern unerwartet kühler Wind. Der Himmel hatte sich verdunkelt, eine dichte Wolkendecke lag über der Stadt, die ebenso grau und verlassen wirkte. Aristella verschränkte die Arme, ehe sie den kurzen Heimweg antrat, da der Wetterumschwung sie frösteln ließ.
An der Kreuzung sah sie den Menschen dabei zu, wie sie aus dem Bus stiegen, während die Straßenbahn zur selben Zeit abfuhr und um die Kurve bog. Einen Moment lang verlor Aristella dabei den Blick auf die Fußgängerampel. Stattdessen beobachtete sie vorbeifahrende Autos und Radfahrer. Die Leute gingen ihren täglichen Beschäftigungen nach, zwei Männer im Anzug hasteten eilig in Richtung U-Bahn, eine Großmutter schien mit ihrer Enkelin spazieren zu gehen.
Doch dann schob sich etwas zwischen diese Idylle, das Aristellas Aufmerksamkeit magisch in den Bann zog. Lautes Geschrei drang in ihre Ohren, mischte sich mit dem Rascheln des Gebüschs auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Dabei war der Verkehr so laut, dass sie einen so weit entfernten Tumult gar nicht wahrnehmen sollte.
Als die Ampel auf Grün schaltete, hastete Aristella über den Zebrastreifen. Sie achtete nicht auf die nächste Straßenbahn, die sie beinahe erfasste und lautstark abbremste. Das Rascheln riss nicht ab, übertönte selbst das mahnende Gebimmel der Bahn und gipfelte in einem wütenden Fauchen. Eine Bande kleiner gestreifter Katzen sprang aus dem Gebüsch, erst zwei, dann drei, bis eine Gruppe von etwa zehn Tieren durch die Gassen vor Aristella fegte.
»Wartet! Halt!« Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Überall waren Autos, sie musste etwas tun. Die Katzen einfangen oder die Fahrzeuge auf der Straße irgendwie zum Stehen bringen, falls sich die Tiere auf die Fahrbahn verirrten.
Aristella rannte los, fuchtelte wild mit den Armen. Was machten die Tiere mitten in der Stadt und warum waren sie so in Aufruhr? Doch dann erkannte Aristella, dass sie hinter etwas herjagten: etwas Schwarzem, das langsam auf und ab sprang wie ein Gummiball. Unbeholfen schien es vor der Katzenmeute zu flüchten.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ohne nachzudenken, beschleunigte sie ihre Schritte. Einer entgegenkommenden Passantin gestikulierte sie, aus dem Weg zu gehen, doch sie starrte Aristella bloß entgeistert an.