Im Jahr der Flut - Lena Johannson - E-Book
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Im Jahr der Flut E-Book

Lena Johannson

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Beschreibung

Vier Frauen und ein Jahrhundertbauwerk, das ihr Leben verändert.

Der Kanal ist fertiggestellt, doch schon bald ist klar, dass er erweitert werden muss. Durch die Bautätigkeit prosperiert das Geschäft von Thams & Zimmermann, da geraten Justine und ihr Mann unter Verdacht, heimlich das britische Militär zu unterstützen. Mit schwerwiegenden Folgen. Sanne hat ihr berufliches Ziel erreicht: Sie darf offiziell an der Konstruktion der neuen Schleusen mitwirken. Allerdings muss sie erkennen, dass es sich nicht nur lohnt, für die Anerkennung in der Männerdomäne zu kämpfen, sondern auch für die Liebe. Regina setzt sich für die Rechte der Arbeiter und ihrer Frauen ein und gründet einen Wohlfahrtsverband. Sie hat ihre Berufung gefunden, und auch Mimi, die weiter an der Seite ihres Vaters steht, findet hier eine Aufgabe. Zwischen den vier Frauen entwickelt sich eine Freundschaft, die in schwierigen Zeiten zur Rettung wird ... 

Der fulminante Abschluss der großen Saga von Bestsellerautorin Lena Johannson über ein Bauwerk, das Schicksale prägt.

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Seitenzahl: 531

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Über das Buch

Nur wenige Jahre nach der Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals stellt sich heraus, dass er für die Schiffe, die immer größer gebaut werden, zu klein ist. Die Erweiterung steht an – und Sanne darf endlich offiziell an der Konstruktion der neuen Schleusen mitwirken. Ihr berufliches Ziel hat sie erreicht, doch für die Liebe muss sie kämpfen. Justine und ihr Mann sind mit ihrem Geschäft Thams & Zimmermann überaus erfolgreich. Als sie unter Spionageverdacht geraten, stehen ihnen Regina, Sanne und Mimi zur Seite. Mimi begleitet ihren Vater zu Einsätzen seines Schiffsbergungsvereins und setzt sich zusammen mit Regina im Kanal-Frauenverein für die Rechte der Arbeiter und ihrer Familien ein.

Die vier Frauen stehen stellvertretend für alle, die an den Ufern des Kanals lebten und deren Leben durch das Jahrhundertbauwerk geprägt wurde.

Über Lena Johannson

Lena Johannson, 1967 in Reinbek bei Hamburg geboren, war Buchhändlerin, bevor sie als Reisejournalistin ihre beiden Leidenschaften Schreiben und Reisen verbinden konnte. Sie lebt als freie Autorin an der Ostsee.Im Aufbau Taschenbuch sind ihre Hamburg-Saga: »Die Villa an der Elbchaussee«, »Jahre an der Elbchaussee« und »Töchter der Elbchaussee«, die Jungfernstieg-Saga: »Die Frauen vom Jungfernstieg – Gerdas Entscheidung«, »Die Frauen vom Jungfernstieg – Antonias Hoffnung« und »Die Frauen vom Jungfernstieg – Irmas Geheimnis«, die ersten beiden Bände der Nord-Ostsee-Saga: »Zwischen den Meeren« und »Nach den Gezeiten« lieferbar, die Romane »Die Malerin des Nordlichts«, »Dünenmond«, »Rügensommer«, »Himmel über der Hallig«, »Der Sommer auf Usedom«, »Die Inselbahn«, »Liebesquartett auf Usedom«, »Strandzauber«, »Die Bernsteinhexe«, »Sommernächte und Lavendelküsse« und ihre Kriminalromane »Große Fische« und »Mord auf dem Dornbusch«.Mehr zur Autorin unter www.lena-johannson.de

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Lena Johannson

Im Jahr der Flut

Vier Frauen und ein Jahrhundertbauwerk, das die Welt verändert

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Personenregister

Prolog: Mimi — am Kaiser-Wilhelm-Kanal, Frühjahr 1896

Kapitel 1: Justine — Kiel, Juni 1895

Kapitel 2: Regina — Nordhusen, Dezember 1895

Kapitel 3: Mimi — Sehestedt, Ende September 1896

Kapitel 4: Sanne — Brunsbüttel, Winter 1897

Kapitel 5: Justine — Kiel, Frühjahr 1900

Kapitel 6: Mimi — Hamburg, April 1901

Kapitel 7: Sanne — Brunsbüttel, Sommer 1902

Kapitel 8: Mimi — Hamburg, 1903–1904

Kapitel 9: Justine — Kiel, 1904–1905

Kapitel 10: Sanne — Brunsbüttel, Spätsommer 1906

Kapitel 11: Regina — Nordhusen/Kiel, Mai 1907

Kapitel 12: Sanne — Ostermoor/Brunsbüttel, August 1907

Kapitel 13: Justine — Kiel, 1907

Kapitel 14: Mimi — Hamburg, Herbst 1908

Kapitel 15: Regina — Marne, Frühjahr 1909

Kapitel 16: Mimi — Nordhusen/Kiel, Mai 1909

Kapitel 17: Sanne — Brunsbüttel, Sommer 1909

Kapitel 18: Justine — Kiel, Mitte 1909

Kapitel 19: Regina — Rendsburg, Anfang 1910

Kapitel 20: Mimi — Hamburg, April 1910

Kapitel 21: Regina — Rendsburg, Frühsommer 1911

Kapitel 22: Mimi — Kiel, Sommer 1912

Kapitel 23: Justine — Kiel, Herbst 1912

Kapitel 24: Regina — Nordhusen, Sommer 1912

Kapitel 25: Sanne — Brunsbüttelkoog, Spätsommer 1912

Kapitel 26: Regina — Brunsbüttel/Rendsburg, Winter 1912

Kapitel 27: Justine — Kiel, März 1913

Kapitel 28: Sanne — Kiel/Brunsbüttel, März 1913

Kapitel 29: Mimi — Hamburg, März 1913

Kapitel 30: Justine — Kiel, März 1913

Kapitel 31: Regina — Brunsbüttel, Frühjahr 1914

Kapitel 32: Sanne — Brunsbüttel, Sommer 1914

Kapitel 33: Mimi — Kiel, Juni 1914

Epilog

Wahrheit oder Phantasie?

Quellen

Dank

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Personenregister

Kiel

Justine Zimmermann, geb. Thams, genannt Stine: Erbin des Eisenwarenhändlers Wilfried Thams, verheiratet mit Anders Zimmermann, ebenfalls Eisenwarenhändler

Jobst Wilfried Thams: Stines Bruder, verheiratet mit Hella

Malwida von Rivenburg: Gattin des Ingenieurs und Verwaltungsbeamten Gustav von Rivenburg, Mitglied der Länderkammer

Brunsbüttel

Susanne Agathe Schmidt, genannt Sanne: Tochter des Zimmermanns Herwart Schmidt und seiner Frau Maria, Nachfahrin eines Schleusenbauers. Sie war heimlich an der Konstruktion der Brunsbütteler Schleuse beteiligt.

Michel Schmidt: Sannes Bruder, der unter Asthma leidet und eine Schwäche für Tomaten hat.

Rosario Antonio Francesco Limone: Steinmetz aus dem Trentino, der mit Sanne die Brunsbütteler Schleuse gebaut hat.

Regina Barz: Tochter des Gutsbesitzers Friedrich Hubert Barz, die einer Ehe entflohen ist und sich als Köchin in der Brunsbütteler Arbeiterbaracke einen Namen gemacht hat.

Ina Barz: Reginas uneheliche Tochter

Andreas Kolbe: ehemaliger Erdarbeiter, Freund von Sanne und Rosario, Anhänger der SPD

Marne

Jakob Hartmann: Hotel- und Restaurantbesitzer, Freund von Malwida von Rivenburg und Geschäftspartner von Regina

Familie Dahlström, Hamburg

Johanna Maria Wilhelmine Dahlström, genannt Mimi: Tochter von Heinrich Hermann Dahlström; Geschwister: Else, Hermann, Oskar und Paul, Halbgeschwister: Anita und Olga

Heinrich Hermann Dahlström: »Vater« des Nord-Ostsee-Kanals

Bertha Dahlström, geb. Lachmund: zweite Ehefrau von Heinrich Hermann Dahlström

Adolf Leopold Leinweber: Mimis Verlobter, Zahnarzt

Prolog

Mimi

am Kaiser-Wilhelm-Kanal, Frühjahr 1896

Prachtvoll, wie der Dampfer sich über den Kanal schiebt. Der Qualm aus seinem Schornstein weht fröhlich hinter ihm her wie eine Fahne. Das Wasser kräuselt sich und treibt kleine Wellen ans Ufer. Sie färben die Steine dunkel und bringen sie zum Glänzen. Mimi weiß, wie schwer die Arbeiter geschuftet haben, um die Böschung sicher zu befestigen, wie sie zuvor Millionen Wagenladungen Erde aus dem Weg geschafft haben, um sie anderenorts zu lagern. Sie hat ihren Alltag kennengelernt, hat für sie gekocht. Für knapp hundert Männer nur, drüben in Brunsbüttel am anderen Ende des Kaiser-Wilhelm-Kanals, wie er seit der Eröffnung heißt. Und nur für ein Jahr, doch dabei hat sie viel gelernt. Viel mehr als nur das Abschmecken, Tranchieren oder Einmachen. Sie hat erfahren, was harte körperliche Arbeit ist. Wo die Erdarbeiter und Baggermeister, die Steinmetze und Kohlenschipper, die Heizer und Zimmerer wohl geblieben sind? Was mag aus den vielen geworden sein, die aus allen Ecken des Kaiserreichs, aber auch aus Italien, Skandinavien und Galizien hergekommen waren, um ihren Anteil an dem Sensationsbauwerk zu leisten und vielleicht auch ihr kleines Glück zu finden? Ob sie zurück in ihrer Heimat sind?

Gleich wird der Dampfer unter der Levensauer Hochbrücke hindurch aus ihrem Blick verschwinden. Mimi atmet die klare Luft ein, betrachtet nachdenklich das Restaurant Louisenhöh, das einige Meter oberhalb liegt. Es war eine Barackenkantine wie die, in der Mimi gearbeitet und gelernt hat. Seltsam, Vaters Lebensprojekt, eine Wasserstraße, die Nord- und Ostsee verbindet, ist noch nicht einmal ein Jahr in Betrieb, doch es kommt ihr vor, als existiere sie schon ewig. Und auch der Schiffsverkehr scheint zu laufen, als wären Segelboote und Frachter bereits seit Jahren auf dieser Route unterwegs. Kapitäne kürzen den langen und gefährlichen Weg durch das Kattegat und um Skagen herum erheblich ab, wenn sie etwa von St. Petersburg, Helsinki oder Danzig an Norwegens Küste, ins Vereinigte Königreich oder gar nach Amerika gelangen wollen. Lotsen, Maschinisten und Kanalsteurer tun ihren Dienst, wo bis vor wenigen Monaten noch Wiesen oder gar Dörfer waren.

Mimi kehrt der Brücke, den Wappenschilden mit dem Kaiseradler und den vier über das schmiedeeiserne Gerüst ragenden Türmen mit ihren Torbögen den Rücken, geht ein paar Schritte. Es war viel geschehen! Die prachtvolle Eröffnungsfeier, deren Ende für Vater so bitter war. Es kommt ihr vor, als seien all der Glanz und die Harmonie nur Fassade gewesen. Hinter den Kulissen hatte sich die Fratze der Kritik an dem Jahrhundertbau schnell gezeigt, mit dem sich das Kaiserreich doch so brüstete. Die hanseatischen Reedereien hatten sich geradezu überboten und ihre schönsten Schiffe angepriesen, um darauf die zur Feier geladene vornehmlich adelige Prominenz von Hamburg die Elbe hinab und in den Kanal hinein zu transportieren. Welch eine böse Überraschung, als die Reeder erfuhren, dass ihre Vorzeige-Schiffe zu lang für die Schleusenkammern waren. Sie mussten auf kleinere Modelle ausweichen, die natürlich deutlich weniger Eindruck auf die hochwohlgeborenen Gäste machten.

Mimi lächelt traurig. Hätten die Herren Ingenieure und Planer eben auf Vater hören sollen. Er hatte die Dimensionen von Anfang an großzügiger vorgeschlagen. Aber das hätte natürlich höhere Kosten verursacht. Das nennt man wohl am falschen Ende sparen. Ihr Vater, Heinrich Hermann Dahlström, hat nicht nur einen Teil seines Lebens investiert, sondern auch ein beträchtliches Vermögen, um diese Wasserstraße, sein Lebensprojekt, wahr werden zu lassen. Er ist ein Tüftler, ein Geschäftsmann, ein kluger Kopf. Obendrein ist er Freimaurer, der das Allgemeinwohl mehr im Sinn hat als sein eigenes. Die deutsche Wirtschaft soll florieren, Ost und West sollen näher zusammenrücken, das war und ist sein Anliegen. Natürlich, auch die Marine schielt auf den Kanal, versucht, ihn für ihre Zwecke zu nutzen. Für das Militär hat ihr Vater nie etwas übriggehabt.

Es wird Zeit, wieder hinaufzugehen. Der Wind ist noch kühl, sie zieht den Mantel fester um sich. Als sie den Anleger erreicht hat, der neuerdings zum Restaurant gehört, bleibt sie stehen und blickt noch einmal über das Wasser. Kleine Boote liegen ruhig am Steg, hin und wieder tönt ein leises Glucksen von ihren Leibern zu Mimi herüber. Ausflügler legen heutzutage eine Rast ein, wo vor noch nicht langer Zeit Arbeiter versorgt wurden. Ob es auch hier eine so gute Köchin gibt? Einen Engel, wie Regina drüben am anderen Ende des Kanals ins Brunsbüttel einer gewesen war? Regina hätte aus der dortigen Kantine ebenfalls ein Restaurant machen können. Die Leute wären von nah und fern gekommen, um bei ihr zu essen, da ist Mimi sicher. Doch sie hatte andere Pläne. Krankenschwester in Marne wollte sie werden, davon hat sie Mimi erzählt. Es würde gut zu ihr passen. Regina hat nicht nur für die Arbeiter gekocht, sondern auch ihre Schürfwunden, Verbrennungen und Erkältungen behandelt. Ob sich ihr Traum erfüllt hat? Überhaupt, was mag aus den Menschen geworden sein, die am Bau von Vaters Kanal beteiligt waren? Der Italiener, der in Brunsbüttel für die Schleuse verantwortlich war, seine italienischen Freunde und der kämpferische Andreas Kolbe, der Mimi auf die Missstände hingewiesen hatte, unter denen die Männer in den Baracken zu leiden hatten? So viele Menschen, die einem begegneten und wieder verschwanden. Wie Schiffe auf dem Kanal. Die Puppenspielerin zum Beispiel, die Mimi in Preetz getroffen hatte. Ob sie den Streit mit ihrem Bruder hat beilegen können und den Eisenwarenhandel des Vaters vor dem Ruin retten? Oder ob sie weiter mit ihrem Theater durchs Land tingelt und selbst verfasste Stücke aufführt? Wahrscheinlich wird Mimi es nie erfahren. Aber wenigstens etwas kann sie herausfinden. Sie kann Regina fragen, wie es ihr geht, was sie so tut. Es ist viel zu lange her, dass sie miteinander gesprochen haben. Das soll sich ändern. Noch ehe sie nach Karlsbad aufbrechen wird, um Vater, Stiefmutter Bertha und Else von der Kur abzuholen und gemeinsam nach Italien zu reisen, wird sie Regina schreiben. Mimi atmet noch einmal tief durch. Ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen, geht sie den Weg hinauf zurück zu ihrem Verlobten Leopold, der im Louisenhöh auf sie wartet.

Kapitel 1

Justine

Kiel, Juni 1895

»Was ist während der Eröffnungsfeier des Kaiser-Wilhelm-Kanals geschehen, Stine?« Anders fixierte sie, seine grauen Augen ließen keinen Zweifel daran, dass er nicht lockerlassen würde, nicht ein weiteres Mal.

»Wie oft willst du mich das noch fragen?«, entgegnete sie. Ein schwacher Versuch, ihm erneut auszuweichen.

»Gar nicht mehr. Ich will auf der Stelle eine vernünftige Antwort haben. Du warst bester Laune, als wir den Festsaal betreten haben. Ich war ein paar Minuten weg, komme zurück und finde meine Gattin kalt und schmallippig wie die Austern, die auf Eis serviert wurden.«

Das Geschirr vom Abendessen stand noch auf dem Tisch. Stine machte Anstalten, nach Beatrix zu rufen.

»Das kann warten. Beatrix wird den Tisch später abräumen«, bestimmte Anders, der mit allen Mitteln verhindern würde, dass sie ihm erneut entwischen konnte, spätestens jetzt war ihr das klar. Nicht zum ersten Mal staunte Stine darüber, wie gut er sie inzwischen kannte. Sie hatten aus rein wirtschaftlichen Gründen geheiratet, beide hatten davon profitiert, mit Romantik hatte ihre Ehe nichts zu tun gehabt. Doch sie hatten sich ineinander verliebt. Ein kleines Wunder und Stines größtes Glück. Jedenfalls hatte sie das geglaubt.

»Was erwartest du?«, fauchte sie. »Soll ich mich darüber freuen, dass mein Mann mir die Sache mit dem Spaten eingebrockt hat?« Er zögerte eine Sekunde zu lange, so nahm sie ihm die Chance, zu reagieren. »Das habe ich vergessen, du warst noch nicht mit mir verheiratet, als du dir diese nette kleine Gemeinheit einfallen lassen hast.«

»Eingebrockt? Ich verstehe nicht. Ich habe dafür gesorgt, dass du den Auftrag bekommst.«

»Wie nett von dir!« Sie schnaubte. Im nächsten Moment spürte sie ein Rumoren im Magen. »Ich glaube, mir wird übel«, brachte sie keuchend hervor.

»Nein, so kommst du mir nicht davon«, beharrte er.

»Bestehe nicht drauf, dass ich bleibe«, warnte sie ihn und stand auf. Während sie die Stube verließ, versprach sie: »Ich bin gleich wieder da. Wenn ich’s recht bedenke, würde ich nun doch zu gern wissen, was du dir dabei gedacht hast.«

Stine hatte schon befürchtet, sie müsste sich übergeben, aber es ging ihr besser, nachdem sie ein paar Schritte gegangen war. Also trat sie vor die Haustür und folgte dem geschwungenen Sandweg zum Wasser. Der Blick auf die Förde beruhigte sie sofort. Sie streichelte mit kreisenden Bewegungen ihren Bauch, das flaue Gefühl verschwand endgültig. Stine atmete die frische Luft ein. Sie hatte die Aussprache mit Anders wahrhaftig zu lange gemieden. Höchste Zeit, reinen Tisch zu machen.

»Geht’s dir besser?«, wollte er wissen, als sie die Stube wieder betrat.

»Ja, es geht schon.« Sie würde sich nicht von ihm einwickeln lassen, Stine ging zum Angriff über: »Wundert es dich etwa, wenn mir die Galle hochkommt? Ich habe dafür gesorgt, dass du den Auftrag bekommst«, ahmte sie ihn nach. »Sehr raffiniert, das muss ich schon sagen. Der Konkurrenz ein Geschäft unterjubeln, das ihr am Ende den Ruf ruiniert.«

Seine Augen weiteten sich, Anders war tatsächlich sprachlos. Aber nur kurz.

»Wie bitte? Du behauptest doch nicht, es stand eine Absicht dahinter?« Sie sagte nichts, er verstand auch so. »Wie hätte ich denn wissen können, dass so etwas passieren würde? Oder meinst du etwa, ich hätte den Stiel manipuliert?«

Mit einem Schlag kam sie sich ungeheuer dumm vor. Vor lauter Wut hatte sie nicht ein einziges Mal vernünftig darüber nachgedacht, wie er es angestellt haben könnte.

»Was weiß ich?«, gab sie schroff zurück.

Wie hätte er wissen können, dass der Spaten brechen würde, mit dem die Arbeiten am Schürfloch begonnen worden waren und damit der Bau des Kanals? Eine gute Frage, die sie sich dummerweise nicht gestellt hatte. Sie selbst hatte das Exemplar ausgewählt, nachdem ein Herr der Kanalverwaltung bei ihr im Laden aufgetaucht war und davon geredet hatte, man wolle als Vorwegnahme der erfolgreichen Erstellung ein Werkzeug vom östlichen Ende der zukünftigen Wasserstraße verwenden, um damit am westlichen Ende den ersten Spatenstich zu tun.

»Ich sage dir mal was: Ich habe deinen Eisenwarenladen empfohlen, und es stand durchaus eine Absicht dahinter«, erklärte er ihr. »Und zwar die, dir zu helfen. Nach dem Tod deines Vaters hattest du es nicht leicht. Ich wollte, dass dein Laden in aller Munde ist.« Zerknirscht setzte er hinzu: »Aber doch bestimmt nicht auf diese Weise.« Nachdem er die ganze Zeit mit verschränkten Armen drei Schritte von ihr entfernt gestanden hatte wie ein Soldat, änderte sich seine Körperhaltung jetzt. Er entspannte sich, kam näher und setzte sich zu ihr. »Ich konnte dich von Anfang an gut leiden, ich habe deinen Kampfgeist und deinen Ideenreichtum bewundert. Ich wollte unbedingt, dass du es schaffst. Du solltest den Kielern beweisen, dass auch eine Frau erfolgreich einen Laden führen kann.« In Stines Kehle bildete sich ein Kloß, sie starrte auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte. »Ich wollte, dass du es schaffst«, wiederholte er, »mit mir oder zur Not eben ohne mich. Ich schwöre dir, Stine, es war gut gemeint, wenn es auch nach hinten losgegangen ist.«

Der zerbrochene Spaten hatte den Aberglauben der Leute ordentlich angestachelt. Viele hatten verlangt, der Kanal dürfe nicht gebaut werden. Fast alle hatten Eisenwaren Wilfried Thams von da an gemieden, weil das Geschäft angeblich verflucht war. Stine hatte kaum noch gewusst, wie sie sich über Wasser halten sollte. Sie blickte auf. Noch immer wartete Anders auf eine Antwort. Er hätte das Werkzeug wahrhaftig manipulieren oder ein beschädigtes gegen das von Thams austauschen müssen. Das war völlig ausgeschlossen, so war er nicht, das wusste sie.

»Tut mir leid«, sagte sie kleinlaut und senkte den Blick wieder. »Zwei Männer haben sich im Festzelt während der Eröffnungsfeier darüber unterhalten, wie geschickt es von dir gewesen sei, den Kanalbeamten den Tipp zu geben, woher sie das benötigte Werkzeug am besten beziehen könnten.«

»Stimmt ja auch. Ich hatte erfahren, dass sie gewissermaßen als gutes Omen einen Spaten aus Kiel für Brunsbüttelkoog besorgen wollen. Mein erster Impuls war, mich selbst dafür ins Spiel zu bringen, aber dann dachte ich an dich. Du konntest eine solche Gelegenheit besser brauchen als ich. Und ich war sicher, du würdest sie perfekt nutzen, und dir gleich wieder eine Werbekampagne einfallen lassen, die für Aufsehen sorgt und dir tüchtig Umsatz beschert.«

Stine lächelte zerknirscht. »Schön wär’s gewesen.« Sie atmete aus. »Die Männer haben es so dargestellt, als hättest du damit deine Konkurrenz ans Messer liefern wollen, also mich.«

»Das ist lächerlich!«

»Natürlich ist es das. Ich weiß auch nicht, wie ich solch einen Unfug glauben konnte. Bitte entschuldige, Anders, es war dumm von mir, an dir zu zweifeln. Aber wir haben immer wieder darüber gesprochen, wie schwer die Zeit nach dem verdammten missglückten Spatenstich für mich gewesen ist. Du hast nie erwähnt, dass du den Herrn von der Kanalverwaltung zu mir geschickt hast.«

»Stimmt. Das war nun wieder dumm von mir«, gab er zu. »Wir haben beide Fehler gemacht. Kann vorkommen.« Er sah sie erleichtert an, seine Augen glänzten. »Es wird nicht das letzte Mal sein. Für die Zukunft sollten wir uns etwas versprechen.«

»Das wäre?«

»Dass wir miteinander reden. Immer und möglichst sofort! Ich hätte dir rechtzeitig sagen müssen, dass du mir die Misere mit dem dämlichen Spaten zu verdanken hast, du hättest mir sagen müssen, was du gehört hast.« Stine nickte. »Alles wieder gut?«

»Ja!« Sie atmete auf. Da fiel ihr allerdings noch etwas ein. »Das hoffe ich wenigstens.« Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Es gibt da nämlich etwas, das ich dir noch nicht gesagt habe.« Ihr wurde mulmig. »Tja, das muss ich dann jetzt wohl nachholen.« Ihr Blick fiel auf den Tisch, wo noch immer die Reste ihrer Abendmahlzeit standen. »Aber zuerst soll Beatrix hier Ordnung schaffen und dafür sorgen, dass die Lebensmittel nicht verderben.«

Wenig später saßen sie auf der gusseisernen Bank, die sie im Garten mit Blick auf die Förde hatten aufstellen lassen. Zwei Rosenbögen sorgten dafür, dass die Böen, die hier manchmal kräftig über das Grundstück fegten, gebremst wurden. Stine hatte große Kissen aus derbem Leinen genäht, so dass sie es bequem hatten.

»Jetzt bin ich gespannt.« Anders betrachtete sie aufmerksam, der Wind spielte mit seinem dunklen Haar.

»Du denkst, dein Großvater hatte einen Laden neben meinem Großvater, aber so ist es nicht«, sagte sie frei heraus.

»Wie bitte? Sondern?« Die typischen wellenförmigen Fältchen erschienen auf seiner Stirn, die anzeigten, dass er nachdachte.

»Es gab nur das Kolonialwarengeschäft deiner Familie. Mein Großvater ist bei deinem, bei Justus Heinrich Zimmermann, in die Lehre gegangen. Er war für ihn der Sohn, den dein Vorfahr nicht hatte, und sollte darum den Betrieb übernehmen.«

»Das ist interessant. Und weiter?«

»Die Übergabe war im Grunde schon ausgemachte Sache, aber dann musste mein Opa Gregor als Soldat in den Krieg ziehen. Also hat sich Justus Heinrich in der Zeit weiter um den Laden gekümmert. Nach Gregors glücklicher Heimkehr konnte sich dein Großvater endlich zur Ruhe setzen.« Er ließ sie nicht aus den Augen. »Nur hatte der liebe Gregor natürlich noch nicht genug Geld, um deine Familie anständig zu entschädigen. Darum der Schuldschein, der bei uns auf dem Dachboden aufgetaucht ist. Du erinnerst dich?«

»Allerdings. Wenn ich es richtig im Kopf habe, hast du mir zugetraut, dass ich dir irgendwann die Pistole auf die Brust setzen und euren Laden gewissermaßen als Rückzahlung fordern würde. Du hast mich geheiratet, damit mir am Ende nicht beide Geschäfte gehören, meins und deins, und du leer ausgehst. Habe ich das korrekt zusammengefasst?« Er lächelte spöttisch.

»Mach dich nur lustig! Die Summe war das Darlehen, das dein Großvater meinem für den Kauf des Unternehmens gewährt hat. Gregor hat nur einen Bruchteil zurückgezahlt, den Rest sind seine Erben …«, sie tippte sich auf ihre Brust, »… den Erben von Justus Heinrich Zimmermann schuldig.« Jetzt deutete sie auf Anders. »Du hast mir erklärt, dass dir die Lage unseres Eisenwarenhandels mitten in Kiel ausnehmend gut gefällt. Wenn man es genau nimmt, gehörte er noch immer dir. Natürlich war es ein beruhigender Gedanke, dass uns beiden nach der Heirat alles zusammen gehören würde.« Er setzte eine Leidensmiene auf. »Also wirklich, tu bloß nicht so, als hättest du mir aus Liebe einen Antrag gemacht.«

»Genau so war es aber. Mir war allerdings sofort klar, dass du die unromantischste Person im gesamten Deutschen Reich bist.« Sie setzte zu einer Beschwerde an, doch er nahm ihre Hände und sprach auch schon weiter: »Und du bist die geschäftstüchtigste Frau des Landes. Ziemlich schlau von mir, dir einen Handel vorzuschlagen, statt dich mit Rosen und Kerzenschein um deine Hand zu bitten, was?«

»Du Heuchler! Eins ist wahr: Du bist schlau. Du hast sofort erkannt, dass ich die beste Reklame weit und breit mache. Du wolltest meine Phantasie und meinen Fleiß für dich gewinnen, ohne mir dafür einen monatlichen Lohn bezahlen zu müssen. Darum dein Angebot.« Sie sah ihn triumphierend an und konnte sich ein Grinsen kaum verkneifen. »Und warum habe ich eingewilligt? Weil ich mich in dich verliebt habe, als du zum ersten Mal unseren Laden betreten hast.«

Anders lachte laut auf. »Das ist das Komischste, was ich seit Langem gehört habe. Als ich zum ersten Mal euren Laden betreten habe, war dein Vater gerade erst gestorben. Ich bin mit den besten Absichten gekommen, um dir meine Hilfe anzubieten, habe dich gesehen, und es war um mich geschehen.« Sein Tonfall hätte jedem Schauspieler zur Ehre gereicht, auch Stine musste lachen. »Du dagegen hättest mich beinahe mit einem deiner Spaten erschlagen, so zornig warst du.«

»Traurig«, korrigierte sie ihn leise und wurde ernst. »Vaters Tod war so plötzlich gekommen. Der Verlust war wirklich noch zu frisch.«

Ein paar Sekunden saßen sie still beieinander, der Wind vertrieb die Hitze des Tages. Eine Möwe hatte auf den nassen Steinen am Ufer nach Beute gesucht und hüpfte nun durch den Garten.

»Faszinierend, wie das Schicksal manchmal so spielt«, sagte Anders plötzlich, den Blick aufs Wasser gerichtet.

»Wie meinst du das?«

»Ein Betrieb, der erst der Familie Zimmermann gehörte, dann zur Familie Thams wechselte, liegt nun in den Händen der Nachkommen von Zimmermann und Thams.«

»Umgekehrt«, erinnerte sie ihn keck. »Über unseren Eingangstüren steht Thams & Zimmermann.« Sie lächelte.

»Der Dame den Vortritt, so gehört es sich doch wohl.«

Wieder schwiegen sie eine Weile. Stine atmete tief durch. Ihr wurde bewusst, wie sehr es sie seit der Kanaleröffnung belastet hatte, dass etwas zwischen ihr und ihrem Mann gestanden hatte. Das war vorbei. Zeit für gute Nachrichten.

»Wo wir schon dabei sind, über alles zu reden«, setzte sie an.

»Was gibt es denn noch?« Gerade hatte er noch vollkommen entspannt gewirkt, jetzt war er wieder auf der Hut. »Ich hoffe, du hast nicht noch etwas aufgeschnappt, was ich angeblich getan habe, um dir zu schaden.« Er seufzte theatralisch. »Oder hast du womöglich Überraschungen anderer Art auf Lager?«

»Punkt 1: nein. Punkt 2: ja«, entgegnete sie. Sofort kehrten die kleinen Wellen zurück auf seine Stirn. »Es gibt eine Überraschung anderer Art«, sagte sie zärtlich, legte ihre Hände auf ihren Bauch und strich sanft darüber, während sie ihm in die Augen blickte.

»Du bist …? Bekommen wir etwa ein Kind?«, fragte er atemlos.

»Ich will jedenfalls hoffen, dass es nur eins ist.«

Kapitel 2

Regina

Nordhusen, Dezember 1895

Schweigend gingen Regina mit Ina und Else mit ihren sechs Kindern den hart gefrorenen Sandweg zwischen anderen Gräbern entlang, bis sie die Pforte des kleinen Friedhofs erreichten. Von dort war es nicht weit bis nach Hause. Am 30. November 1895 war Ludwig gestorben.

»Herrgottche, nee«, hätte er wahrscheinlich selbst dazu gesagt, wenn er noch gekonnt hätte. Regina sah ihn vor sich, die Pfeife im Mundwinkel, immer ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Ohne ihn wäre sie wahrscheinlich nie nach Brunsbüttel gekommen. Sie hatte sich zwar damals in diese Richtung auf den Weg gemacht, um irgendeine Stelle zu finden, mit deren Lohn sie ihr Kind durchbringen konnte. Das war allerdings noch vor Beginn der Bauarbeiten am Kanal gewesen. Weil noch keine Erdarbeiter, Maschinisten oder Heizer zu versorgen gewesen waren, es für eine Frau also noch nichts zu tun gegeben hatte, war sie bei einer Bäuerin in Kudensee geblieben, die ihr und Ina, damals noch ein Säugling, eine Schlafstelle im Stall und zu essen gegeben hatte. Dort hatte sie Ludwig kennengelernt, der weitergezogen war, als es mit dem Kanal losging. Sie war geblieben, doch irgendwann hatte er vor ihr gestanden.

»Geh’ mit mir Reginchen, wirst es nicht bereuen!«, hörte sie ihn plötzlich sagen, als würde er neben ihr über den knirschenden Pfad trotten. Sie wischte sich eine Träne weg. Er hatte recht behalten, Regina hatte es nie bereut. Er fehlte ihr schrecklich. Wie musste es erst Else ergehen und ihren Töchtern und Söhnen?

Es war eine schlichte Beerdigung gewesen, viele Trauernde waren nicht gekommen. Ludwig war auf der Baustelle bei allen beliebt gewesen, nur waren die meisten leider fort, schon wieder bei dem nächsten großen Projekt oder erst einmal in der Heimat. Wie Benedetto. Regina verscheuchte den Gedanken. Wie konnte sie jetzt an ihn denken? Sie sah Else an. Alles an ihr wirkte an diesem eiskalten Tag grau und starr. Das Schicksal hatte ihr schon früh Falten in das sanfte Gesicht gezeichnet, an diesem Morgen wirkte sie, als wäre sie auf einen Schlag um Jahre gealtert. Regina wusste, wie gern Else ihren Mann in der Heimaterde beigesetzt hätte. Nur wie hätte sie das bewerkstelligen sollen? Sie hatte so schon kaum das Nötige, um die Kosten für den schmucklosen Sarg zu begleichen und für das einfache Holzkreuz mit Ludwigs Geburts- und Sterbedatum unter seinem Namen, das an ihn erinnern würde. Regina war froh, der Witwe wenigstens in dieser Hinsicht ein wenig helfen zu können. Die Last des Schmerzes konnte ihr kein Mensch abnehmen.

Sie hatten die kleine Kate erreicht, die Ludwig für seine Familie gekauft und mit seinen zwei Händen so in Schuss gebracht hatte, dass sie überhaupt bewohnbar war. Elses Kinder gingen sofort hinein. Ina zupfte an Reginas Ärmel.

»Mir ist so kalt! Gehen wir auch nach Hause, bitte?«

»Gleich, mein Schatz, nur noch eine Minute.«

Regina griff in ihre Manteltasche und holte einen Umschlag hervor.

»Ich weiß nicht, ob es der richtige Moment ist«, begann sie und sah Else an. »Das ist für dich. Ich wünschte, ihr könnte dir mehr geben.«

Else sah sie kurz an, senkte aber sofort wieder den Blick.

»Es ist Ludwigs Rezept, Else.« Regina deutete auf den kleinen Backsteinbau am Ende des Weges, in dem sie den Schnaps brannte, nach dem Besucher des Kanals verrückt waren. Else schüttelte heftig den Kopf. »Die Zutaten, die Zusammenstellung, das ist sein Werk«, versuchte Regina es weiter, das Kuvert noch immer in der Hand. »Du bist seine Witwe, dir steht ein Teil des Gewinns zu, der mit seiner Rezeptur erwirtschaftet wird. Verstehst du?« Else sprach noch immer nur sehr wenig Deutsch. Wenn sie überhaupt mal sprach. »Ich kann dir nicht alles geben, ich möchte Jakob Hartmann das Geld so schnell wie möglich zurückzahlen, das er uns für die Einrichtung der Manufaktur vorgestreckt hat.« Weil Else noch immer keine Anstalten machte, den Umschlag anzunehmen, redete Regina leise weiter: »Sonderlich glücklich bin ich ohnehin nicht, meinen Lebensunterhalt mit Alkohol zu verdienen. Es ist ein Teufelszeug. Aber was soll ich denn tun? Ina und ich müssen auch von etwas leben. Immerhin sind in unserem Kanalgeist Kamille und andere gesunde Kräuter enthalten. Das ist doch besser, als wenn sich die Arbeiter selbst irgendein Zeug gebrannt hätten und am Ende womöglich blind geworden wären.« Else stand regungslos vor ihr, der Blick leer. »Ach, Else, wenn du mich doch nur verstehen könntest.«

»Ein bisschen«, flüsterte Else leise.

»Ich weiß, ich weiß doch.« Regina berührte behutsam ihren Arm und lächelte. Wie schon so oft, dachte sie darüber nach, wie schwer Elses Leben war. In einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht beherrschte, dessen Menschen sie nicht kannte, und die ihrerseits sie nicht kannten, sie auch nicht kennenlernen wollten. Für die Einheimischen war sie eine Fremde ohne Nutzen, die womöglich nur Geld kostete. Wie Tausende andere Männer auch, war Ludwig in das Land zwischen den Meeren gekommen, weil hier Arbeitskräfte gebraucht wurden. Seine Frau und damals drei Kinder hatte er in Ostpreußen zurückgelassen. Als er sicher sein konnte, auf längere Zeit ein Auskommen zu haben, hatte er seine Familie nachgeholt. Ludwig war äußerst willkommen gewesen, um am Kanal zu schuften, wie auch die anderen Tausenden. Niemand hatte sich Gedanken darüber gemacht, was mit den Familien war, die zu diesen Tausenden gehörten. Noch schlimmer: Was wurde aus ihnen, wenn ihre Männer und Väter fern der Heimat starben? Ina zog Regina den Umschlag aus den Fingern, steckte ihn in die Tasche von Elses Kittelschürze und tätschelte Elses Hand.

»Können wir jetzt nach Hause gehen, Mami?«

Keine Stunde später waren die beiden schon wieder unterwegs.

»Onkel Jakob sagt, er kann uns einen Wagen schicken«, quengelte Ina, nachdem sie die ersten Kilometer hinter sich gebracht hatten. »Warum gehen wir trotzdem immer zu Fuß?«

»Weil wir jede zwei gesunde Beine haben und uns darüber freuen sollten. Was denken sie, wenn wir sie nicht nutzen?«, fragte Regina munter. »Am Ende nehmen sie es uns übel, und lassen uns im Stich. Wäre das nicht furchtbar?« Sie sah ihre Tochter an, die neben ihr durch die Kälte stapfte, und zog dabei ein Gesicht, mit dem sie die Kleine immer zum Lachen bringen konnte. Aber heute war nicht immer.

»Beine können nicht denken«, gab Ina mit finsterer Miene zurück. Es war nicht ihre Art, sich zu beklagen, doch die Temperaturen waren wirklich eisig. Die kurze Zeit nach der Beisetzung zu Hause hatte gerade für einen Tee gereicht, allerdings nicht, um sich gründlich aufzuwärmen. Regina wäre ja selbst liebend gern in eine bequeme Kutsche gestiegen, die wenigstens vor Wind schützte, und in der noch dazu Decken oder Felle bereitlagen.

»Du weißt sehr gut, dass ich Jakob Hartmann schon sehr viel zu verdanken habe. Ich möchte nicht noch tiefer in seiner Schuld stehen«, erklärte Regina. Nie würde sie ihm vergessen, wie gut er für ihre Tochter gesorgt hatte, als Regina aufgrund einer Intrige für fünf Tage im Gefängnis hatte sitzen müssen. Die Sorge, weil niemand ihr damals gesagt hatte, ob sich überhaupt jemand um das Mädchen kümmerte, oder es auf sich allein gestellt war, hatte ihr fast den Verstand geraubt. Die einfache Zelle und die karge Kost hatten ihr nichts ausgemacht, aber die Trennung von ihrem Kind war Folter gewesen. Jakob Hartmann hatte Ina zu sich genommen und nach Strich und Faden verwöhnt. Auch dass er Ludwig und ihr das Startkapital sowie die nötigen Genehmigungen besorgt hatte, um sich eine Existenz mit einer eigenen Brennerei aufzubauen, würde sie ihm ewig hoch anrechnen.

»Er ist ein kluger und gerissener Geschäftsmann«, sagte sie nach einer Pause und erntete einen irritierten Blick. »Du darfst nie vergessen, dass er kein barmherziger Samariter ist. Wenn er etwas gibt, will er etwas dafür haben.«

»Von mir nicht«, erklärte Ina bestimmt. »Onkel Jakob ist überhaupt nicht zerrissen, er hat mir schon ganz viel geschenkt und wollte nie etwas von mir haben.«

Der Pfad führte zwischen zumeist kahlen Feldern hindurch, auf denen sonst alle möglichen Sorten Kohl wuchsen. In dieser Jahreszeit stand nur der Grünkohl auf einigen Äckern. Kurze Grashalme, hart gefroren, brachen wie Glas unter ihren Sohlen. Es stimmte ja, musste Regina sich eingestehen, Hartmann hatte durchaus das Wohl anderer im Blick. Er war etwa der Ansicht, die deutsche Bevölkerung trüge eine gewisse Verantwortung für die Männer, die ihre Heimat hinter sich gelassen hatten, um für das Kaiserreich den prächtigen Verkehrsweg zu erschaffen, auf dem man seit ein paar Monaten von der Elbe zur Ostsee reisen konnte.

»Wir müssen ihnen dankbar sein und sind ihnen verpflichtet«, pflegte er zu sagen. »Auf wessen Schultern soll diese Verantwortung wohl ruhen, wenn nicht auf den starken Schultern der Wohlhabenden?«

Wenn nur mehr einflussreiche Menschen mit Geld so denken würden! Dann wäre gewiss auch für Else gut gesorgt. So sehr Regina Hartmanns Haltung auch schätzte, so sehr bestätigte sie ihr, dass in seinen Augen alles ein Geschäft war. Die Arbeiter hatten den Kanal gebaut, dafür musste man sich ihrer annehmen, wenn das Schicksal ihnen übel mitspielte. Hartmann hatte Ludwig und ihr das Kapital verschafft, um sich eine Existenz aufzubauen, dafür verdiente er nun an jeder Flasche mit. Wer Kanalgeist wollte, musste ihn über Hartmanns Restaurant beziehen. Es war besser, nicht länger in seiner Schuld zu stehen als nötig. Regina hatte schon einmal nach der Pfeife eines Mannes tanzen müssen, von dem sie wirtschaftlich abhängig gewesen war. Sie hatte Christoph Rademacher ihrem Vater zuliebe geheiratet, Christoph hatte in ihr nur ein hübsches Schmuckstück gesehen. Ihr Herz krampfte sich bei der Erinnerung zusammen, obwohl es Jahre zurücklag. Er hatte ihr ein komfortables Heim geboten, dafür hatte er sie als sein Eigentum betrachtet, über das er nach Belieben verfügen konnte. Nie wieder würde Regina einem Menschen diese Macht über sich geben.

Endlich kamen die ersten Häuser von Marne in Sicht. Hartmann hatte Regina mehr als einmal geraten, mit Ina hierher zu ziehen.

»Auf der Höheren Kirchspielschule ist sie besser aufgehoben als bei eurem Dorflehrer«, hatte er gesagt, ein Argument, das nicht von der Hand zu weisen war. Im August war Ina acht geworden, es war also noch Zeit, über einen Wechsel nachzudenken. Auf keinen Fall würde Regina jemals sein Angebot annehmen, in sein Haus zu ziehen, wenn dort auch noch so viel Platz vorhanden war. Wenn sie schuldenfrei war, und es aus eigener Kraft schaffen konnte, zwei Zimmer mit Küche und Waschgelegenheit zu bezahlen, konnte sie sich einen Umzug nach Marne vorstellen.

Das stattliche Gebäude der Brauerei Hintz mit seinem Schornstein hatte Regina anfangs immer als Orientierung auf dem Weg zu Hartmanns Villa gedient. Nun würde sie die Strecke vermutlich mit verbundenen Augen finden. Kaum hatten sie die Fabrik erreicht, über der stets ein malzig-würziger Duft hing, beschleunigte Ina ihre Schritte. Noch einmal rechts abbiegen, vorbei an dem schönen Vereinshaus des Skatklubs, in dem Hartmann Mitglied war, dann hatten sie ihr Ziel erreicht. Ina hatte, wie jedes Mal, bereits die Türglocke betätigt, als Regina die Stufen zur Villa erklomm. Minna, Hartmanns Haushälterin, öffnete die Tür. Die Frau, deren Alter Regina unmöglich schätzen konnte, brachte das Kunststück fertig, nahezu unsichtbar überall im Haus zu wirken und sowohl dem Hausherrn als auch seinen Gästen jeden Wunsch zu erfüllen, noch ehe dieser ihnen überhaupt bewusst war.

»Guten Tag, Minna«, rief Ina und sauste an ihr vorbei.

»Nicht so schnell, Ina«, ermahnte Regina sie, obwohl es keinen Sinn hatte. Schon hörte sie Hartmanns Stimme und die ihrer Tochter aus der guten Stube.

»Waren die Rehe wieder zu Besuch oder die Hasen?«, wollte Ina aufgeregt wissen. Als Regina das mit allerhand Antiquitäten und dicken Teppichen behaglich eingerichtete Wohnzimmer betrat, hing Ina mit der Nase an der großen Scheibe, durch die sie die Terrasse, an die sich Felder und Wiesen anschlossen, nach Tierspuren absuchte.

»Heute noch nicht. Vielleicht kommen sie nachher, wenn es dunkel wird.« Hartmann wandte sich Regina zu. »Wie schön, Sie zu sehen. Ich habe ein paar Überraschungen für Sie, Sie werden staunen.« Er nahm ihre Hand und hob sie an, als würde er einen Kuss andeuten wollen, stattdessen drückte er sie nur und ließ sie wieder los. Seine höchst eigenwillige Art der Begrüßung, nachdem Regina einen vertraulichen Kuss auf die Wange wiederholt zu verhindern gewusst hatte.

»Da bin ich gespannt«, entgegnete sie höflich und setzte sich an den gewaltigen ovalen Holztisch, das Herzstück des Raumes. In der Mitte standen bereits drei Tassen mit dampfender Schokolade, daneben ein Teller mit Gebäck. Regina hätte schwören können, der Tisch war leer gewesen, als sie die gute Stube betreten hatte. Wie hatte Minna es nur wieder angestellt, die Köstlichkeiten unbemerkt zu servieren?

Hartmann kam direkt auf den Punkt: »Ich will ein Lokal in Brunsbüttel kaufen. Dafür brauche ich jemanden, der exzellent kochen kann.« Er nahm ihr gegenüber Platz und sah sie erwartungsvoll an. »Sagen Sie nicht gleich Nein«, bat er. Offenbar konnte er ihre Miene gut lesen. »Es ist ein alter Gasthof, aber ich werde ihn von Grund auf modernisieren lassen. Die Küche bekommt die neuesten Geräte, alles elektrisch«, schwärmte er.

»Und wer kümmert sich um den Kanalgeist?«

»Ich!«, rief Ina und kicherte.

»Sehr gute Idee!« Hartmann lachte sie an, und Regina ging das Herz auf. Was auch immer hinter seiner Freundlichkeit steckte, mit Kindern konnte er wunderbar umgehen. »Aber vielleicht ist es besser, wenn du vorher noch ein paar Jahre zur Schule gehst, um Rechnen und Schreiben zu lernen«, hörte sie ihn sagen. »Bist du damit einverstanden?«

Ina überlegte kurz, ehe sie heftig nickte. »Ja, ich glaube schon.«

»Das Lokal, das zum Verkauf steht, hat ein paar Wirtschaftsgebäude, die sich für die Brennerei bestens eignen. Selbstverständlich würde ich einen Mitarbeiter für die Produktion einstellen, der Ludwig ersetzen könnte.«

»Niemand kann Ludwig ersetzen«, sagte Ina sofort und sprach Regina damit aus der Seele.

»Du hast recht, entschuldige.« Hartmann sah für eine Sekunde zerknirscht aus, ehe er sich an Regina wandte: »Wie war die Beerdigung, hat seine Witwe es einigermaßen überstanden?«

»Einigermaßen, ja«, entgegnete Regina leise.

»Darf ich Minna in der Küche helfen?« Ina hatte ihre heiße Schokolade ausgetrunken und langweilte sich, das war nicht zu übersehen.

»Wenn Herr Hartmann es dir erlaubt, habe ich nichts dagegen.« Regina lächelte.

»Minna würde mich umbringen, wenn ich es verbieten würde. Warum sollte ich auch?« Den letzten Satz hatte Ina vermutlich schon nicht mehr gehört. Mit leisem Klicken schloss sich die Tür hinter ihr.

»Überlegen Sie es sich, Regina«, forderte Hartmann sie auf. »Selbstverständlich hätten Sie Angestellte und alles, was Sie sonst noch brauchen.«

»Warum ich?« Sie sah ihm in die Augen.

»Aus zwei Gründen«, antwortete er, ohne auch nur nachzudenken. »Malwida ist nicht gerade leicht zufriedenzustellen, wenn es um Essen geht. Nachdem sie damals von Ihnen verköstigt wurde, hat sie mir derart von Ihren Kochkünsten vorgeschwärmt, dass mir allein bei der Erzählung das Wasser im Mund zusammengelaufen ist.«

»Ich habe damals nicht allein am Herd gestanden«, stellte Regina richtig.

»Das ist der zweite Grund.«

»Ich verstehe nicht.«

»Ihre Ehrlichkeit. Sie schmücken sich nicht mit fremden Federn, machen mir nichts vor. Das kann ich leiden. Ich kann Ihnen vertrauen.« Er stellte klirrend die Tasse ab. »Außerdem sind Sie nach Ludwigs Tod die Einzige, die das Rezept kennt. Ich muss Sie unbedingt an mich binden. Geschäftlich«, fügte er sofort hinzu. Regina atmete auf.

»Sie sind auch ehrlich zu mir und sehr direkt, das schätze ich.« Sie wählte die Worte mit Bedacht. »Trotzdem bin ich nicht sicher, ob ich etwas verändern möchte. Ich habe noch Schulden bei Ihnen. Vielleicht sollten die erst einmal abgetragen sein, ehe wir über eine neue Form der Zusammenarbeit nachdenken.«

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, widersprach er. »Im Gegenteil, ein zusätzliches Arbeitsverhältnis ermöglicht es Ihnen sogar, mir das Darlehen schneller zurückzuzahlen.«

Es klopfte, gleich darauf erschien Minna in der Tür.

»Frau von Rivenburg ist eingetroffen.«

»Ich wusste nicht, dass Malwida kommt. Das ist eine Freude!«

»Sagte ich nicht, ich hätte einige Überraschungen für Sie?«

Malwida von Rivenburg trug ein schwarzes Kleid, dazu schwarze Seidenhandschuhe und ein Spitzentuch über dem weißen Haar. So hatte Regina sie kennengelernt, das war ihr immer gleicher Aufzug. Malwida war die Gattin eines Kieler Ingenieurs, der als Gast von Otto Baensch zu einer Besichtigung an die Baustelle gekommen war. Baensch hatte die Leitung des gesamten Bauprojekts innegehabt und einigen Fachmännern mit ihren Frauen die Gelegenheit eines Besuchs gegeben. Das Mittagessen hatte die Gruppe aus rund zwanzig Personen in der Baracke in Brunsbüttel eingenommen, in der Regina gekocht hatte. Regina würde nie vergessen, wie Möller, der Wirt und Herr über die Barackenanlage, sie in die Gaststube geholt hatte. Malwida hatte die Köchin sehen wollen, die das Menü zubereitet hatte, um ihr von Angesicht zu Angesicht ihr Lob auszusprechen. Nicht lange nach dieser ersten Begegnung hatte sie Regina eine Brieffreundschaft angeboten. Malwida hatte nicht nach Reginas Vergangenheit oder Herkunft gefragt, aber sofort erkannt, dass sie es mit einer gebildeten Frau zu tun hatte, mit der ein Austausch über Kunst und Kultur bereichernd sein könnte. So hatte sie sich ausgedrückt.

»Vor allem wollte ich mit dir in Kontakt kommen«, hatte sie später einmal lachend verraten. »So sehr ich den Arbeitern auch ein exzellentes Essen gegönnt habe, so klar war mir auch, dass du dort nicht für immer am rechten Platz warst. Ich wollte auf keinen Fall die Chance verpassen, dich an eine andere Position zu holen, wenn es möglich ist.«

Jakob Hartmann war ein alter Freund Malwidas. Sie hatte ihn zu Regina geschickt, in der Hoffnung, auch er würde ihr Potenzial erkennen. Er hatte Regina zunächst eine Stelle als Krankenschwester in Aussicht gestellt, doch dann war alles anders gekommen.

»In einer Schleusenkammer in Brunsbüttel steckt ein Marine-Kreuzer fest«, berichtete Malwida, nachdem sie sich gesetzt hatte, und zog missbilligend eine Augenbraue hoch. »Es ist nicht das erste Mal, und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.« Sie blickte über den Tisch. »Ist Minna krank?«

»Glücklicherweise nicht«, entgegnete Hartmann. Dann verstand er und rief nach seiner Haushälterin. Die kam sofort angestürzt, die Miene schuldbewusst, eine Daune hing an ihrem Häubchen.

»Ihr Kakao! O Gott, bitte entschuldigen Sie, Frau von Rivenburg, Herr Hartmann.« Ina kam hinter ihr her.

»Wir haben Frau Holle gespielt«, erklärte die Kleine strahlend.

Hartmann griente. »Das ist nicht zu übersehen.«

»Der Kakao kommt sofort.«

»Bringen Sie mir lieber einen Tee mit Rum, Minna«, bat Malwida. »In meinem Alter muss man immer damit rechnen, dass es das letzte Getränk ist. Ich gebe Tee mit einem kräftigen Schuss eindeutig den Vorzug vor flüssigem Süßzeug.«

»Du könntest den Kakao auch ohne Zucker bekommen«, meinte Hartmann.

»Pfui Deibel, das bittere Gebräu kriegt doch niemand herunter. Würdest du mich dazu zwingen, wäre es sicher das Letzte, was ich zu mir nehme.«

Minna und Ina verschwanden wieder.

»Dann ist es also wahr«, kam Regina auf das zurück, was Malwida erzählt hatte, »die Schleuse ist zu klein?«

»Wenn Sie mich fragen, ist es der gesamte Kanal.« Hartmann verschränkte die Arme vor der Brust.

»Sagen die Herren vom Militär«, warf Malwida sofort ein. »Aus der Handelsschifffahrt höre ich dergleichen bisher nicht.«

»Dafür sind die Stimmen der Marine umso lauter«, konterte er. »Ich bin beileibe nicht der Einzige, der das so sieht. Die wenigsten trauen sich allerdings, eine Erweiterung zu fordern, jetzt, wo der Kanal gerade erst fertig und in Betrieb genommen worden ist.« Minna trat ein und stellte eine dampfende Tasse vor Malwida auf den Tisch. Schon der scharfe Geruch sorgte dafür, dass einem schummerig wurde, fand Regina. »Früher oder später wird die Zurückhaltung weichen, die Forderung wird offen ausgesprochen werden, und ein Ausbau der gesamten Strecke wird kommen. Und damit zwingend auch eine Vergrößerung der Schleusenanlagen«, beendete Hartmann seine Einschätzung.

Reginas Gedanken machten sich selbstständig, wanderten zurück in die Baracke zu den Männern, die ihr zuerst schrecklich viel Respekt eingeflößt hatten. Sie hatte schnell gemerkt, dass die meisten von ihnen anständig waren. Seit sie jeden Tag einen recht weiten Weg auf sich genommen hatte, um die Arbeiter, die draußen auf dem Nassbagger im Einsatz waren, mit Essen zu versorgen, hatte sie ihre Sympathie gewonnen. Als sie sich dann auch noch um kleine Verletzungen gekümmert hatte, war ihr ein Platz in den Herzen der Lagerbewohner sicher gewesen. Wenn es wahrhaftig zu einer Erweiterung käme, würden einige vielleicht nach Brunsbüttel zurückkehren, ging ihr durch den Kopf. Womöglich auch Benedetto, flüsterte eine Stimme in ihr. Dabei war das eher unwahrscheinlich. Und selbst wenn er hier wieder auftauchen würde, was hätte sie davon? Er hatte ihr erklärt, er würde sich nicht von seiner Frau trennen. Besser, sie sahen sich nie wieder. Steinmetze würden am Kanal vermutlich erst in vielen Jahren erneut gebraucht werden, wenn er überhaupt vergrößert werden sollte. Dann war Benedetto älter und gewiss noch mehr darauf bedacht, eine Arbeitsstelle in seiner Heimat zu bekommen. Bei seiner Frau. Regina wollte es ihm von Herzen gönnen, so sehr es auch schmerzte. Er war ihr Freund gewesen. Für eine wunderschöne, kurze Weile hatte sie geglaubt, es könne mehr daraus werden. Sie hatte vorübergehend vergessen, nicht für die Liebe geschaffen zu sein. Möglicherweise war es auch umgekehrt, die Liebe war nicht für Regina gemacht. Sie hatte nur für wenige Monate eine Rolle in ihrem Leben gespielt, in der Zeit mit Broder. Selbst mit ihm war es nicht der Himmel gewesen, von dem sie als junges Mädchen so viel gelesen hatte, voller Rosen und Geigen, zärtlichem Geflüster und ewigen, tiefen Gefühlen. Broder hatte sie belogen und für seine Zwecke benutzt. Manchmal dachte sie, es hatte ihm zum Schluss leidgetan, doch das hatte keine Bedeutung mehr. Er war tot. Das Kapitel war endgültig abgeschlossen. Regina spürte eine Hand, die sanft ihren Arm berührte, und erschrak.

»Schon wieder in Gedanken, meine Liebe?« Hartmann sah sie besorgt an. »Sie sollten nicht so viel grübeln. Davon bekommen Sie nur Falten.« Er zwinkerte, ein leicht durchschaubares Manöver, um sie aufzuheitern. »Nicht, dass die Ihrer Schönheit etwas anhaben könnten.«

»Charmant, das muss ich schon sagen«, beschwerte sich Malwida. Ihr Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen, wie die Schale eines Apfels, der seit Wochen in einer Obstschale vor sich hin schrumpelte.

»Es ist kein Grübeln, wenn ich Überlegungen anstelle.« Regina schämte sich ein wenig, denn er hatte sie tatsächlich ertappt. »Lässt du uns daran teilhaben?«, wollte Malwida wissen.

»Sehr gern. Du hast bei unserer letzten Begegnung vom Vaterländischen Frauenverein gesprochen und wolltest mir bei Gelegenheit mehr darüber erzählen. Nun, die Gelegenheit gab es noch nicht. Bis jetzt.« Regina lächelte.

»Im Grunde gibt es da nicht viel zu erzählen«, begann Malwida. In dem Moment tauchte Minna auf und stellte eine frische Tasse vor ihr ab. »Danke, meine Liebe, diese Mischung weckt wahrlich meine Lebensgeister.« Sie lachte die Haushälterin an, die sich auch schon wieder zurückzog. »Männer kämpfen seit jeher mit der Waffe für unser Vaterland«, fuhr Malwida fort. »Frauen verbinden ihre Wunden, wenn sie verletzt zurückkehren. Wir sind nicht fürs Kämpfen gemacht, höchstens mit Worten.« Sie schmunzelte. »Frauen sind soziale Wesen, wir verteilen Brot an Bedürftige, trösten bei Kummer, das entspricht unserem Naturell. Kaiserin Augusta wusste das und hat diese weiblichen Eigenschaften mit der Gründung des Vaterländischen Frauenvereins in Bahnen gelenkt.« Sie nahm einen kräftigen Schluck.

»Was tut der Verein in Friedenszeiten?«, hakte Regina nach.

»Meine Liebe, es herrscht immer Krieg«, gab Malwida zurück und seufzte. »Hier oder da, auf die eine oder andere Weise.«

»Eine typische Antwort der rätselhaften Malwida von Rivenburg«, kommentierte Hartmann.

Regina ließ sich nicht beirren. »Was ist mit den Menschen, die ihre Heimat verlassen haben, um in unserem Land zu arbeiten? Falls es zu einem Ausbau des Kanals kommt, werden es wieder Tausende sein. Helfen die wohltätigen Damen auch ihnen, wenn sie in Not sind und Trost brauchen?«

Malwida warf ihr einen langen Blick zu, der schwer zu deuten war.

»Du weißt, dass ich dem Verein beigetreten bin, nicht wahr?« Regina nickte. »Wir helfen jedem, der beispielsweise durch Krankheit oder eine andere Katastrophe in Not gerät. Ich betone: Jedem! Wenn ein Haus abbrennt, suchen wir für die Betroffenen nach einem neuen Dach über dem Kopf. Wenn das Geld nicht reicht, spenden wir Lebensmittel und Kleider. Braucht jemand eine medizinische Behandlung, die er sich nicht leisten kann, übernehmen wir die Kosten. Solche Dinge.«

»Wie viele Frauen gibt es, die ihren Männern an die Kanalbaustelle gefolgt sind?«, fragte Regina.

Malwida lachte auf. »Herr des Himmels, woher soll ich das wissen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass dir darauf irgendjemand eine vernünftige Antwort geben kann.«

»Worauf wollen Sie denn nur hinaus?« Hartmann runzelte die Stirn.

Ehe Regina es ihm erklären konnte, sagte Malwida: »Ich glaube, ich ahne es.« Sie nickte langsam und lächelte ihr hintergründiges gütiges Lächeln.

Da sprudelte es nur so aus Regina heraus, sie erzählte von Ludwigs Beerdigung, von Else und ihren Kindern, die nun allein waren in der Fremde. Ohne die Sprache, ohne ein regelmäßiges Einkommen.

»Es gibt bestimmt viele mit einem ähnlichen Schicksal«, erklärte sie zum Schluss. »Sie haben ein Dach über dem Kopf und sind gesund. Sie brauchen keine Almosen, sondern Unterstützung dabei, hier eine Heimat zu finden, sich selbst versorgen zu können. Sollte der Verein sich nicht auch darum kümmern?«

Kapitel 3

Mimi

Sehestedt, Ende September 1896

Mimi versuchte, alle zehn Boote im Blick zu behalten, die dicht an dicht direkt neben dem mächtigen Wrack auf dem Kaiser-Wilhelm-Kanal schaukelten. In jeder Nussschale stand ein Mann, die Signalleine und den Luftschlauch sicher in den Händen und den Blick mindestens ebenso fest auf die Wasseroberfläche gerichtet. Als ihr Vater sie gefragt hatte, ob sie ihn zur Einsatzstelle begleiten wolle, hatte sie keine Sekunde gezögert.

»Aber natürlich, Leopold und ich fahren gern mit«, hatte sie geantwortet und dafür einen verkniffenen Blick geerntet. Sie würde nie verstehen, was Vater an ihrem Verlobten auszusetzen hatte. Was immer es war, er würde sich damit arrangieren müssen, dass sie zusammengehörten. Es hatte nichts genützt, dass ihr Vater ihrem Verehrer die Chance vermittelt hatte, für eine Weile nach Amerika zu gehen. Und auch sonst würde nichts verhindern, dass Mimi und Leopold einmal heiraten würden, daran bestand kein Zweifel. Nun waren sie also hier zwischen Sehestedt und Königsförde, wo der dänische Dampfer Johann Siem auf einen Stein aufgefahren und gesunken war. Auch ihre Schwester Else hatte es sich nicht nehmen lassen, den Fortschritt der Bergungsaktion mit eigenen Augen zu verfolgen. Stiefmutter Bertha war ebenfalls mit von der Partie. Noch immer bekam Mimi ein schlechtes Gewissen, wenn sie daran dachte, wie schwer ihre Geschwister und sie es der Frau an Vaters Seite gemacht hatten. Sie waren einfach zu rasch nach Mutters Tod ein Paar geworden. Nie hätte Bertha die geliebte Mutter ersetzen können. Niemand hätte dieses Kunststück fertiggebracht. Heute war Mimi nicht nur ein paar Jahre älter und reifer, der Schmerz des Verlustes war außerdem kleiner geworden. Das gab ihr die Chance, genauer hinzusehen und zu verstehen, dass ihre Stiefmutter ein riesengroßes Herz hatte, das zudem noch am rechten Fleck saß.

Gemeinsam standen sie auf einem Kahn in der Nähe, von wo aus sie hautnah den Rettungsversuch beobachten konnten. Sie waren beileibe nicht die einzigen Zuschauer, die Boote der Schaulustigen lagen so dicht beieinander, dass man trockenen Fußes von einem Ufer zum anderen hätte gelangen können. Als Mimi den Blick schweifen ließ, entdeckte sie auf dem Schiff zu ihrer Linken den Staatssekretär des Inneren, Dr. von Bötticher. Er richtete seine volle Aufmerksamkeit auf die Stelle, an der ein paar Aufbauten des Frachters aus dem Wasser ragten. Als hätte er Mimis Blick bemerkt, wandte er sich ihr zu, lächelte schmal und nickte zum Gruß, wobei ihm die Augengläser beinahe von der Nase gerutscht wären. Ein hastiger Griff ins Gesicht verhinderte das in letzter Sekunde. Mimi musste lachen. Ihrem Vater entging ihre plötzliche Heiterkeit nicht, er sah sich nach dem Grund dafür um und entdeckte von Bötticher.

»Der hat mir gefehlt«, knurrte er leise.

»Ich grüße Sie, Herr Dahlström«, rief von Bötticher und trat näher.

»Was treibt Sie hierher?«, wollte Vater wissen. »Wenn jemand absäuft, sind Sie wohl nie weit, was?«, gab er sich selbst die Antwort.

»Lass gut sein, mein Lieber«, sagte Bertha leise und nahm Vaters Hand. Sie hatte recht, das führte zu nichts, außer dazu, dass Vater sich fürchterlich aufregte. Doch er war nicht zu bremsen.

»Die Johann Siem wird geborgen werden«, erklärte er unbeirrt. »Allerdings dauert es noch eine Weile. Ich sorge gern dafür, dass man Ihnen rechtzeitig Bescheid gibt, damit Sie nichts verpassen. Können Sie sich vorstellen, dass ausgerechnet Sie vergessen werden?« Damit wandte er dem Staatssekretär den Rücken zu.

Wenn da nicht die Bitterkeit in Vaters Miene gewesen wäre, hätte Mimi sich amüsieren können. Er hatte exakt die Worte benutzt, die er vom damaligen Vizekanzler selbst zu hören bekommen hatte. Sie würde nie vergessen, wie sie am Ende der Grundsteinlegung am 3. Juni 1887 unfreiwillig ein Gespräch der beiden mitangehört hatte. Sieben Jahre hatte ihr Vater gezeichnet und gerechnet, war durch das Kaiserreich gereist, um einflussreiche Männer von dem Projekt zu überzeugen, für das er lebte: von einer künstlichen Wasserstraße zwischen der Nord- und der Ostsee. Sieben lange Jahre hatte er keine andere Arbeit angenommen, um sich ganz dieser einen Sache zu widmen. Mit seiner fünfköpfigen Kinderschar und deren Mutter Dorothea hatte er von den Zinsen seines Kapitals und dann sogar von dem Vermögen selbst gelebt, was natürlich dahinschmolz wie Schnee in der Sonne. Beim Fest anlässlich der Grundsteinlegung sprach er von Bötticher darauf an, dass er bereits fünfzigtausend Mark investiert habe, ohne dass seine Bezahlung mit Reichskanzler Bismarck geklärt sei. Da hatte ihm der Staatssekretär geantwortet, es seien Gelder zurückgestellt und in das Bauprojekt bereits einberechnet, die bei der Eröffnung des Kanals zur Verteilung gelangen würden.

»Können Sie sich vorstellen, dass ausgerechnet Sie dabei vergessen werden«, hatte er gefragt und freundlich gelacht. Sieben weitere Jahre sollte Vater warten, Jahre, in denen zig Millionen Kubikmeter Boden bewegt, meterdicke Betonschichten geschüttet, riesige Findlinge aus der Ostsee geborgen und zu exakt passenden Steinquadern verarbeitet wurden, bis am Ende ein fast hundert Kilometer langer Kanal mit Brücken, Schleusen und Fähren entstanden war. Alles Vaters Verdienst. Das war das falsche Wort, ging ihr durch den Kopf, verdient hatte er mit all seiner Arbeit nichts. Nicht genug, dass man bei der großen Eröffnungsfeier vergessen hatte, ihn zu ehren, auch bei der Verteilung des erwähnten Fonds hatte man ihn nicht bedacht. Man hatte ihm lediglich seine Auslagen ersetzt, darüber hinaus war er leer ausgegangen. Mimi erinnerte sich daran, dass er, von der Kanaleröffnung nach Hamburg zurückgekehrt, vor Enttäuschung und Ärger krank gewesen war. Tagelang lag er im Bett, bis Bertha voller Angst sogar den alten Hausarzt Dr. Forber gerufen hatte.

»Hausärzte sind gleichzeitig Seelsorger«, hatte er sie nach der Visite wissen lassen. »Im Grunde fehlt ihm nichts. Schuld an seinem Zustand ist sein sensibles Nervenkostüm. Ich bin zuversichtlich, dass es ihm nach unserem ausführlichen Gespräch bald wieder besser geht.«

So war es. Und trotz des bitteren Beigeschmacks zog es Vater früher oder später immer wieder an den Kanal. Mimi erging es ähnlich. Mit der prächtigen Eröffnung im Juni des vergangenen Jahres war der Bau abgeschlossen. Das war allerdings kein Grund, ihm den Rücken zu kehren, denn auch der laufende Betrieb war ungeheuer interessant. Und nun hatte Vater ja auch wieder beruflich mit dem Kanal zu tun. Gottlob hatte er den Nordischen Bergungsverein gegründet, mit dem er sich wieder ein Vermögen hatte aufbauen können. Ihm hatte die Kaiserliche Kanalverwaltung den Auftrag erteilt, den dänischen Dampfer an die Oberfläche zurückzuholen. Zu dumm, dass der stärkste Dampfer, den der Verein besaß, ausgerechnet jetzt zur Reparatur war. Es war Glück im Unglück, dass Vater dank seiner guten Zusammenarbeit mit einer Kopenhagener Bergungsfirma deren Dampfer Kattegat hatte bekommen können.

Leises Bellen riss sie aus ihren Gedanken. Eigentlich war es mehr ein wimmerndes Jaulen. Mimi blickte sich um und entdeckte auf der Kattegat ein Bündel, von dem nur eine Schnauze und zwei triefende Ohren zu erkennen waren.

»Sieh doch, Leopold! Ist das ein Hund?« Sie deutete auf das Tier, das in eine Jacke gewickelt war.

»Ja, eindeutig.« Er nickte.

In dem Augenblick befreite sich der Vierbeiner von dem Kleidungsstück. Ein junger schwarzer Pudel kam zum Vorschein. Er war vollkommen durchnässt und schüttelte sich kräftig.

»Was macht er denn hier?«, rief Mimis Vater.

»Der hat jemandem auf dem gesunkenen Dampfer gehört«, kam es sofort von einem Arbeiter zurück. »Sein Herr ist bei dem Unglück ums Leben gekommen.«

»Es gibt einen Toten?« Bertha griff sich an die Brust. Tragödien nahmen sie immer schrecklich mit.

»Nun will keiner das Tier haben«, schloss der Arbeiter seinen kurzen Bericht.

Auf einer der Nussschalen entstand plötzlich Unruhe und lenkte die Zuschauer von dem Findelhund ab. Der Mann an Bord zog Stück für Stück Signalleine und Luftschlauch zu sich heran. Im nächsten Moment schien die Wasseroberfläche vor dem Boot zu kochen, überall kleine und große Blasen. Dann erschien ein kupferfarben glänzender Helm und schließlich der ganze Taucher. Es sah mühsam aus, wie er an der Leiter hinaufkletterte und in das Boot gelangte.

»Du meine Güte«, sprach Else aus, was wahrscheinlich alle dachten, »der ist ja aufgepustet wie ein Ballon!«

Sein Helfer entfernte augenblicklich sein Visier, es ertönte ein Zischen, der Hund auf dem Bergungsschiff Kattegat bellte erschrocken und verkroch sich wieder unter der Jacke, die noch immer auf dem Boden lag. Als Mimi ihre Aufmerksamkeit zurück auf den Taucher richtete, wusste sie, wodurch das scharfe Geräusch ausgelöst worden war. Die aufgeblasene Gestalt war in sich zusammengefallen, übrig blieb nur noch ein Mann von natürlichen Maßen, aus dessen klitschnasser Kluft das Wasser lief. Er holte einige Sekunden tief Luft und machte sich dann sofort an einem Stück Holz zu schaffen.

»Was soll das werden?«, wollte Mimi wissen.

»Früher hatte man bei großen Frachtern wie diesem hier kaum Möglichkeiten«, erklärte ihr Vater. »In seltenen Fällen wurden versuchsweise Luftkissen am Wrack befestigt. Meist wurde jedoch nur die Ware geborgen, sofern wenigstens das zu bewerkstelligen und die Ware noch brauchbar war. Heutzutage stellen Taucher zunächst das Ausmaß der Leckage fest«, fuhr er nicht ohne Stolz fort. Unterdessen sägte sich der Taucher ein Brett zu, hielt es in die Höhe und begutachtete es. »Das ist längst geschehen. Sie haben entschieden, dass eine Bergung durchgeführt werden kann. Dafür bereiten sie gerade alles vor«, endete ihr Vater.

Während er das sagte, verwandelte sich der Mitarbeiter wieder in eine pralle Kugel mit Armen, Beinen und Helm. Er kletterte mit dem Holzstück die Leiter hinab und verschwand auch schon aus ihrem Blickfeld.

»Ich nehme an, er dichtet damit ein Leck ab. Sämtliche Öffnungen, wie zum Beispiel die Luken, müssen ebenfalls vollständig dicht gemacht werden.«

Leopold deutete auf den Taucher, der zu einem anderen Boot gehörte, und sich gerade mit einem Bündel Fasern auf den Weg nach unten machte.

»Meine Patienten würden sich freuen, wenn ich mit solchem Zeug das Loch in ihrem Zahn füllen wollte.« Er lachte. Mimis Vater verzog keine Miene. Bertha dagegen stimmte ein und wollte gerade etwas entgegnen, als einer der Helfer ins Straucheln geriet und aufschrie.

»Verdammt, was ist denn da los?«, rief er und holte eilig Leine und Schlauch ein. Rote Schlieren wurden sichtbar wie ein dünner Ölfilm. Im nächsten Moment die Metallrundung eines Helms. Bertha gab einen erstickten Schrei von sich und drehte sich weg, auch Else wandte sich ab. Mimi konnte nicht, sie starrte auf den Taucher, der im nächsten Moment auch schon von dem Helfer an Bord verdeckt wurde.

»Irgendetwas hat ihm das Visier zerschlagen«, sagte ihr Vater leise. »Wie es aussieht, hat er einen Finger in das Loch gepresst, sonst wäre sein Helm in null Komma nichts vollgelaufen, und der Mann wäre ertrunken. So hat er sich nur den Finger zerschnitten.«

Später erfuhren sie, dass es eine Eisenstange gewesen war, die den Taucher erwischt hatte. Tatsächlich hatte seine Geistesgegenwart ihm das Leben gerettet.

»Wie zerbrechlich alles ist«, sagte Mimi zu Leopold, als sie sich nach einer Nacht in Kiel und der gemeinsamen Heimreise am nächsten Tag in Hamburg verabschiedeten. »Wäre es ein unerfahrener Mann gewesen, wäre er jetzt womöglich tot. Schon das Temperament kann darüber entscheiden, ob ein Unfall tödlich endet oder nicht.« Er runzelte fragend die Stirn. »Wäre er einer von der nervösen Sorte und mit einer Neigung zur Panik ausgestattet, hätte er gewiss nicht so schnell und klug handeln können. Doch nur eine Sekunde des Zögerns wäre schon zu viel gewesen«, erläuterte sie.

»Im Grunde stimme ich dir zu, nur glaube ich kaum, dass ein fahriger Kerl, der leicht die Nerven verliert, überhaupt in diesem Beruf zum Einsatz käme.«

»Das ist wahr.« Mimi nickte. »Trotzdem.«