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Viele Jahre lang haben Calin und Bryna einander gesucht. Jetzt haben sie sich gefunden, aber ist ihre Liebe stark genug, den mächtigen Feind zu besiegen? Wird die zauberhafte Allena Conal aus seiner Einsamkeit befreien können? Kann die Liebe im Traum ebenso verführen wie im richtigen Leben?
Der Band enthält die Romane: Verzaubert (Spellbound), Für alle Ewigkeit (Ever After), Im Traum (In Dreams)
Meisterhaft schildert Nora Roberts die Legenden Irlands und die Leidenschaften seiner Menschen.
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Seitenzahl: 406
Im ersten Roman Verzaubert wird der amerikanische Fotograf Calin Farrell von seinen mystischen Träumen dazu bewegt, nach Irland zu reisen. Denn im Schlaf begegnet er immer wieder der schönen Hexe Bryna, die ihn um Hilfe bittet. Im Land seiner Vorfahren kommt er dem Rätsel auf die Spur: Die Vorfahren von Bryna und Calin waren vor tausend Jahren ein Paar. Doch der böse Magier Alasdir hat ihre Beziehung und ihr Leben zerstört. Jetzt entflammt erneut eine leidenschaftliche Liebe zwischen den beiden. Doch Alasdirs Macht ist ungebrochen, und noch immer steht er ihrem Glück im Wege. Wird ihre Beziehung stark genug sein, seinen Plänen auszukommen? Und kann Calin in einem letzten Kampf die Kraft des Zauberers brechen?
Auch die beiden Romane Für alle Ewigkeit und Im Traum spielen im mystisch-romantischen Irland. Hier treffen vergangene Fehden und alte Leidenschaften aufeinander und werden erneut zum Leben erweckt.
Nora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1981. Inzwischen zählt sie zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von 300 Millionen Exemplaren überschritten. Mehr als 125 Titel waren auf der New-York-Times-Bestsellerliste und ihre Bücher erobern auch in Deutschland immer wieder die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Keedsville, Maryland.
All meinen wunderbaren Freunden in diesem und all den anderen Leben.
LIEBSTER. Mein Geliebter. Gewähr mir Einlass in deine Träume. Öffne mir dein Herz und hör mich an. Calin, ich brauche dich so sehr.Wende dich jetzt nicht von mir ab, sonst ist alles verloren. Ich bin verloren. Die Liebe. Meine Liebe.
Calin bewegte sich unruhig im Schlaf, schmiegte sein Gesicht ins Kissen. Fühlte sie dort. Ihre Haut, weich und zart. Die Hände, sanft und wohltuend. Und glitt dann in Träume über, beseelt von kühlen, stillen Nebelschleiern, von feuchten tiefgrünen Hügeln, die sich unendlich weit erstreckten. Und von einem betörenden Frauenduft.
Die Burg ragte auf einer Klippe empor, ein silbern schimmernder Stein, der sich in den stürmischen Himmel bohrte, das Fundament von dunstigen, stetig wabernden Nebelschwaden umgürtet wie von einem Fluss. Er ritt auf seinem Pferd, und das Zaumzeug klirrte kampfeshell in der Luft, als er die grünen Hügel hinter sich ließ und den kahlen, hohen Fels erklomm. Donner grollte vom Westen her über das Meer. Und hallte in seinem Kriegerherzen wider.
Hatte sie auf ihn gewartet?
Seine Augen, grau wie der Stein der Burg, verengten sich spähend, suchten Fels und Nebel nach einem Schlupfloch ab, wo sich ein Feind verstecken könnte. Selbst als er sein Pferd den zerklüfteten Pfad zur Klippe hinauflenkte, war ihm bewusst, dass er den stechenden Geruch nach Krieg und Tod mit sich führte, der ebenso in seine Poren gesickert war wie die Erinnerungen daran in seinen Geist.
Weder Körper noch Geist würden jemals wieder ganz gereinigt davon sein.
Seine Schwerthand lag leicht und zum Ziehen bereit auf dem Griff seiner Waffe. An solchen Orten war ein Mann immer wachsam. Hier knisterte die Luft vor Magie, die beschützend oder bedrohlich sein konnte. Hier heckten Elfen böswillige Streiche aus oder tanzten im Reigen, und Hexen gingen ihren Zauberkünsten nach, die zum Wohle oder zum Schaden gereichten.
Auf dem Gipfel der einsamen Klippe, hoch über der rasenden See stand die Burg, verschwiegen und voller Geheimnisse. Und kein Mann ritt auf diesem Pfad, ohne das Wispern alter und neuer Geister zu hören.
Hatte sie auf ihn gewartet?
Die Pferdehufe klapperten hell über den Fels, bis sie schließlich ebenen Grund erreichten. Als er zu Füßen des Wachtturms anhielt, zerriss ein Blitz mit blendend weißem Lichtschein den schwarzen Himmel.
Und da stand sie, stand einfach da, heraufbeschworen aus sturmzerpeitschter Luft. Ihr Haar ein Flammenmeer über einem taubengrauen Umhang, die Alabasterhaut rosig angehaucht, der großzügige Mund von einem wissenden Lächeln umspielt. Und Augen so blau wie ein Leben spendendes Gestirn und mit eben solcher Macht erfüllt.
Sein Herz machte einen Sprung, sein Blut wallte auf vor Liebe, Lust, Sehnsucht.
Sie kam zu ihm, watete durch knietiefen Nebel. Ihre Schönheit war überwältigend. In ihre Augen blickend, schwang er sich aus dem Sattel, hungrig nach der Frau, die Zauberin und Geliebte war.
»Caelan vom Geschlecht der Farrell, weit bist du gereist im Dunkel der Nacht. Was ist dein Begehr?«
»Bryna, die Weise.« Seine trockenen, aufgesprungenen Lippen zeigten ein Lächeln, das Antwort auf ihr Lächeln war. »Ich begehre alles.«
»Nur alles?« Ihr Lachen war tief und vertraut. »Nun, dann begehrst du genug. Ich habe auf dich gewartet.«
Ihre Arme umschlangen ihn, ihr Mund hob sich seinem entgegen. Er zog sie näher an sich, ausgehungert nach ihrer Gestalt und brennend vor Verlangen nach allem, was sie ihm geben würde, und nach mehr.
»Ich habe auf dich gewartet«, wiederholte sie atemlos, während sie ihr Gesicht an seine Schulter schmiegte. »Diesmal währte es fast zu lang. Seine Macht wächst, während meine abnimmt. Ich kann ihn nicht allein bekämpfen. Alasdair ist zu stark, seine dunklen Kräfte sind zu gierig. Oh, Geliebter. Mein Liebster, warum hast du mich aus deinen Gedanken, aus deinem Herzen ausgeschlossen?«
Er schob sie von sich. Die Burg war verschwunden – nur Ruinen waren geblieben, verlassen und schartig vernarbt. Sie standen im Schatten vergangener Zeiten, vor einem kleinen Haus voller Blumen. Die Luft war getränkt vom Duft der Blüten, schwer und betäubend. Die Frau lag in seinen Armen. Und der Sturm holte Atem, sammelte seine Kräfte für den gewaltsamen Ausbruch.
»Die Zeit wird knapp«, mahnte sie ihn. »Du musst kommen, Calin, du musst zu mir kommen. Das Schicksal kann nicht verleugnet, ein Bann nicht gebrochen werden. Ohne dich an meiner Seite wird er siegen.«
Er schüttelte den Kopf, wollte etwas sagen, doch sie hob eine Hand an sein Gesicht. Die Hand glitt durch ihn hindurch, als wäre er ein Geist. Oder sie. »Ich habe dich während der ganzen Zeit geliebt.« Während sie sprach, wich sie langsam zurück. Nebel wallte um ihre Füße. »Ich bin für alle Zeit an dich gebunden.«
Sie hob die Arme, drehte die Handflächen gen Himmel und schloss die Augen. Der Wind brüllte auf wie ein dem Käfig entflohener Löwe, wirbelte ihre flammendes Haar in die Höhe und peitschte durch ihren Umhang.
»Mir ist nur noch wenig Macht geblieben«, rief sie ihm über den tosenden Sturm hinweg zu. »Aber ich kann noch immer den Wind heraufbeschwören. Ich kann noch immer zu deinem Herzen sprechen. Verschließ es nicht vor mir, Calin. Komm zu mir. Rasch. Finde mich. Sonst bin ich verloren.«
Dann war sie weg. Verschwunden. Die Erde bebte unter seinen Füßen, der Himmel tobte. Ein plötzliches Schweigen, tiefe Stille.
Er wachte nach Atem ringend auf. Mit ausgestreckten Händen.
»Calin Farrell, du brauchst dringend Urlaub.«
Cal zuckte mit der Achsel, nippte an seinem Kaffee und starrte weiterhin brütend aus dem Küchenfenster. Er wusste selbst nicht, warum er gekommen war, nur um sich das Genörgel und die besorgten Bemerkungen seiner Mutter anzuhören und dem Gepfeife seines Vaters zu lauschen, der am Tisch saß und penibel seine Anglerfliegen an den Haken befestigte. Doch er hatte ein tiefes, drängendes Verlangen nach dem Hort seiner Kindheit gespürt, nach ein, zwei gestohlenen Stunden in dem ordentlichen Haus in Brooklyn Heights. Nach seinen Eltern.
»Vielleicht. Ich habe auch schon daran gedacht.«
»Du arbeitest zu hart«, sagte sein Vater, während er sein Werk kritisch beäugte. »Fahr doch mit uns ein paar Wochen nach Montana. Der beste Ort der Welt für das Fliegenangeln. Die Kamera kannst du ja mitnehmen.« John Farrell blickte auf und lächelte. »Betrachte es einfach als Studienurlaub.«
Der Vorschlag war verlockend. Er war zwar nie ein begeisterter Angler wie sein Vater gewesen, aber Montana war wunderschön. Er könnte dort Atem schöpfen, sich entspannen. Und die Unruhe abstreifen. Die Träume.
»Ja, ein paar Wochen an der frischen Luft würden dir gut tun.« Mit zusammengekniffenen Augen musterte Sylvia Farrell ihren Sohn. »Du siehst blass und müde aus, Calin. Du solltest dieser Stadt eine Zeit lang den Rücken kehren.«
Obwohl Sylvia ihr Leben lang in Brooklyn gewohnt hatte, bezeichnete sie Manhattan immer noch mit leichter Geringschätzung und Verachtung als »diese Stadt«.
»Wie gesagt, ich habe auch schon an einen Urlaub gedacht.«
»Gut.« Seine Mutter schrubbte die Küchentheke. Sie wollten am nächsten Morgen in den Urlaub aufbrechen, und Sylvia Farrell würde nicht eine Krume oder ein Stäubchen zurücklassen. »Du hast zu viel gearbeitet, Calin. Obwohl wir natürlich stolz auf dich sind. Seit deiner Ausstellung im letzten Monat prahlt dein Vater so maßlos mit dir, dass die Nachbarn inzwischen in Deckung gehen, wenn sie ihn sehen.«
»Welcher Vater kommt schon in den Genuss, die Fotografien seines Sohnes im Museum zu bewundern? Besonders gut haben mir die Nackten gefallen«, fügte er augenzwinkernd hinzu.
»Alter Narr«, murmelte Sylvia, doch um ihre Mundwinkel zuckte ein Lächeln. »Tja, als wir dir, damals warst du acht Jahre alt, diese kleine Kamera zu Weihnachten geschenkt haben, wer hätte da gedacht, dass du zweiundzwanzig Jahre später reich und berühmt sein würdest? Aber Reichtum und Ruhm haben ihren Preis.«
Sie umfasste das Gesicht ihres Sohnes mit beiden Händen und betrachtete es mit dem scharfen Blick einer Mutter. Seine Augen waren umschattet, stellte sie fest, und die Wangen eingefallen. Sie sorgte sich um den Mann, den sie aufgezogen hatte, um den Jungen, der immer ein wenig … anders gewesen war als der Durchschnitt.
»Du zahlst diesen Preis bereits.«
»Mir geht es gut.« Er las die altbekannte Sorge in ihren Augen und lächelte. »Ich schlafe nur nicht sehr gut.«
Es hatte schon früher Zeiten gegeben, erinnerte sich Sylvia, in denen ihr Sohn aus Schlafmangel bleich und hohläugig gewesen war. Sie wechselte über Cals Schulter hinweg einen kurzen Blick mit ihrem Gatten.
»Bist du, ehm, beim Arzt gewesen?«
»Mom, mir fehlt nichts.« Er wusste, sein Ton war zu scharf, zu defensiv. Er bemühte sich, ihn abzumildern. »Es geht mir wirklich gut.«
»Lass den Jungen doch in Ruhe, Syl.« Aber auch John musterte seinen Sohn genau und entsann sich, wie seine Frau, unwillkürlich des kleinen Jungen, der schlafgewandelt war, mit Schatten gesprochen und von Hexen, Blut und Schlachten geträumt hatte.
»Ich meine es doch nur gut. Ich bin nun mal eine Glucke.« Sie versuchte ein Lächeln.
»Ihr braucht euch keine Gedanken um mich zu machen. Ich bin etwas überarbeitet und ausgebrannt, das ist alles.« Und mehr war es auch nicht, dachte er, entschlossen, es auf dieser Ebene zu belassen. Er war nicht anders, war nicht sonderbar. War das Bataillon von Ärzten, zu dem ihn seine Eltern seine ganze Kindheit hindurch geschleppt hatten, nicht einhellig zu der Diagnose gelangt, er habe einfach nur eine ungewöhnlich lebhafte Fantasie? Und hatte er diese Veranlagung dann nicht in kreative Bahnen umgelenkt, indem er sie in seine Fotografie einfließen ließ?
Er sah keine Dinge mehr, die es nicht gab.
Sylvia nickte, gab sich mit seiner Erklärung zufrieden. »Kein Wunder. In den letzten fünf Jahren hast du Tag und Nacht gearbeitet. Du brauchst etwas Entspannung, etwas Ruhe. Und jemanden, der dich aufpäppelt.«
»Montana«, warf John ein. »Ein paar Wochen angeln, saubere Luft und Erholung.«
»Ich werde nach Irland fahren.« Die Worte entschlüpften ihm, bevor ihm bewusst wurde, dass er sich tatsächlich mit diesem Gedanken trug.
»Nach Irland?« Sylvia schürzte die Lippen. »Aber doch nicht zum Arbeiten, Calin?«
»Nein, ich will … ich will es mir einfach mal ansehen«, sagte er gedehnt.
Sie nickte zufrieden. Urlaub war Urlaub, ob nun in Montana oder sonst wo. »Eine gute Idee. Das soll ja ein sehr beschauliches Land sein. Wir hatten immer vor, irgendwann dorthin zu reisen, nicht wahr, John?«
Er brummte zustimmend. »Willst dich wohl auf die Suche nach deinen Vorfahren machen, was, Cal?«
»Mal sehen.« Nachdem sein Entschluss feststand, wandte er sich wieder seinem Kaffee zu. Ja, er würde sich tatsächlich auf die Suche nach etwas machen, kam ihm in den Sinn. Oder nach jemandem.
Bei seiner Landung auf dem Flughafen von Shannon regnete es. Der kalte Spätfrühlingsregen passte genau zu seiner Stimmung. Er hatte fast während des gesamten transatlantischen Fluges geschlafen. Und war wieder von den Träumen verfolgt worden. Er ging durch den Zoll, mietete sich einen Wagen, wechselte Geld. All diese Schritte erfolgten mit der mechanischen Routine des erfahrenen Reisenden. Nachdem er alles erledigt hatte, versuchte er, guten Mutes zu sein und den Gedanken, er habe eine Art von Nervenzusammenbruch, zu verdrängen.
Er stieg in den Mietwagen, saß dann reglos in dem düsteren Licht und fragte sich, was er tun und wohin er fahren sollte. Er war dreißig Jahre alt, ein erfolgreicher Fotograf, der seinen Preis kannte, seinen eigenen Stil hatte. Er betrachtete es noch immer als eine kuriose Laune des Schicksals, dass er in der Lage war, sich seinen Lebensunterhalt mit einer Tätigkeit zu verdienen, die er leidenschaftlich gern machte. Alles, was er in einer Landschaft, in einem Gesicht, in Licht und Schatten und Struktur sah, nahm er in sich auf und verarbeitete es fotografisch.
Sicher, die letzten Jahre waren hektisch gewesen, und er hatte fast nonstop gearbeitet. Selbst jetzt war der Kofferraum des gemieteten Volvo mit seiner Ausrüstung beladen, und seine geliebte Nikon lag in ihrer Kameratasche neben ihm auf dem Beifahrersitz. Er kam von der Fotografie nicht los – wollte auch nicht von etwas ablassen, das er liebte.
Plötzlich durchfuhr ihn ein eigentümlicher Kälteschauer, und einen winzigen Moment lang vermeinte er, das Weinen einer Frau zu hören.
Das ist nur der Regen, sagte er sich und rieb sich mit den Händen über das Gesicht, das lang und schmal war, mit den hohen kräftigen Wangenknochen seiner keltischen Vorfahren. Seine Nase war gerade, der Mund fest und gut geformt. Es war ein Mund, der gern lächelte – zumindest war das bis vor kurzem so gewesen.
Seine Augen waren grau – von einem tiefen, reinen Grau ohne eine Spur von Grün oder Blau. Die Brauen waren markant gewölbt und stießen, wenn er sich auf etwas konzentrierte, in der Mitte zusammen. Sein Haar war dunkel und dicht und wallte bis über seinen Kragen. Es verlieh ihm ein künstlerisches Flair, das zahlreiche Frauen anzog.
Auch dies bis vor kurzem.
Eine Weile grübelte er über die Tatsache nach, dass er seit Monaten mit keiner Frau mehr zusammen gewesen war – kein Verlangen danach gehabt hatte. Eine Folge der Überarbeitung?, überlegte er. Ein Nebenprodukt von Stress? Aber warum sollte er gestresst sein, wenn seine Karriere sprungartig anstieg? Er war gesund. Erst vor wenigen Wochen hatte er ein komplettes ärztliches Check-up machen lassen.
Aber du hast dem Arzt nichts über die Träume erzählt, entsann er sich. Die Träume, an die du dich beim Erwachen nur noch vage erinnern kannst. Die Träume, die ihn, wie er sich jetzt eingestand, dreitausend Meilen über das Meer geführt hatten.
Nein, verdammt, er hatte dem Arzt nichts erzählt. Diesen Weg würde er nicht wieder einschlagen. In seiner Jugend hatte es genügend Psychiater gegeben, die in seinen Gedanken gebohrt und gestochert und ihm das Gefühl gegeben hatten, verrückt, ausgeliefert und hilflos zu sein. Jetzt war er ein erwachsener Mann und konnte allein mit seinen Träumen fertig werden.
Falls er einen Nervenzusammenbruch haben sollte, wäre das völlig normal und könnte durch Ruhe, Entspannung und einen Ortswechsel kuriert werden.
Allein deshalb war er nach Irland gereist. Einzig aus diesem Grund.
Er ließ den Wagen an und fuhr ohne jedes Ziel los.
Schon als kleiner Junge hatte er diese Träume gehabt. Sehr klare und beängstigend realistische Träume. Von Burgen und Hexen und einer Frau mit wallendem rotem Haar. Sie hatte mit diesem trällernden irischen Unterton in der Stimme zu ihm gesprochen, und manchmal auch in einer Sprache, die er nicht kannte – aber dennoch verstanden hatte.
Da war ein junges Mädchen gewesen – dieselbe Flut roter Haare, dieselben blauen Augen. Sie hatten in seinen Träumen zusammen gelacht, miteinander gespielt – unschuldige Kinderspiele. Seine Eltern waren amüsiert gewesen, als er ihnen von seiner Freundin erzählte. Hatten es als übersteigerte Vorstellungskraft eines typischen Einzelkindes abgetan.
Dafür waren sie umso besorgter gewesen, als er bestimmte Dinge zu wissen schien, Dinge sah, von Orten und Menschen redete, von denen er unmöglich Kenntnis haben konnte. Sie waren beunruhigt, als er keine Nacht mehr durchschlafen konnte – als er zu schlafwandeln begann und mit glasigen Augen im Traum redete.
Nach all den Ärzten, den Therapeuten, den endlosen Sitzungen und jenen prüfenden, besorgten Blicken, von denen Erwachsene meinen, ein Kind könne sie nicht deuten, hatte er schließlich aufgehört, von diesen Dingen zu sprechen.
Und als er älter geworden war, war auch das junge Mädchen herangewachsen. Groß und schlank und anmutig – junge Brüste, schmale Taille, lange Beine. Gefühle und Bedürfnisse, die nicht mehr so unschuldig waren, hatten sich nun in ihm geregt.
Es hatte ihn geängstigt, und es hatte ihn wütend gemacht. Bis er diese sanfte Stimme, die nachts zu ihm kam, abgewehrt hatte. Bis er sich von dem Bildnis abgewandt hatte, das seine Träume heimsuchte. Schließlich hatte es aufgehört. Die Träume hörten auf. Die blitzartigen Eingebungen versiegten, die ihm halfen, verlorene Schlüssel wiederzufinden, oder ihn dazu veranlassten, einen Augenblick, bevor das Telefon klingelte, zum Hörer zu greifen.
Er lebte gern in der Realität, sagte sich Cal. Er hatte sich dafür entschieden. Und würde sich wieder dafür entscheiden. Er war nur hier, um sich selbst zu beweisen, dass er ein ganz normaler Mann war, der an Überarbeitung litt. Er würde die Atmosphäre von Irland in sich einsaugen und die Bilder, die ihm gefielen, mit seiner Kamera einfangen. Und, falls erforderlich, würde er auch die Pillen schlucken, die ihm der Arzt gegen seine Schlaflosigkeit verschrieben hatte.
Er fuhr entlang der sturmgepeitschten Küste, wo der Wind machtvoll über das Meer fegte und den zaghaft herannahenden Sommer mit eisigem Atem unter Kontrolle hielt.
Regen prasselte gegen die Windschutzscheibe, und über den Boden krochen Nebelschwaden. Es war alles andere als ein warmer Empfang, aber dennoch fühlte er sich zu Hause. Als würde etwas, oder jemand, darauf warten, ihm Obdach vor dem Sturm zu gewähren. Der Gedanke brachte ihn zum Lachen. Ach was, sagte er sich, das war einfach nur die Freude, an einem neuen, unbekannten Ort zu sein. Die Erwartung, neue Motive zu entdecken und diese in Fotografien zu bannen.
Er verspürte das vage Verlangen nach einem Kaffee, einer Mahlzeit, konnte dieses Bedürfnis jedoch mühelos beiseite schieben, da die Landschaft seinen Sinnen reichlich Nahrung bot. Später, sagte er sich. Er würde später bei irgendeinem Pub oder Gasthaus anhalten. Jetzt musste er erst einmal mehr von dieser überwältigenden Landschaft in sich aufnehmen. Die so wild war, so schön, so zeitlos.
Sie erschien ihm seltsam vertraut, doch das mochte an einer Art von genetischem Ortsgedächtnis liegen. Immerhin hatten seine Vorfahren dieses wogende Hügelland mit den hoch aufragenden Klippen durchstreift. Sie waren Krieger gewesen. Hatten sich einst mit blauer Farbe angemalt und waren wild brüllend aus den Wäldern gestürmt, um den Feind in Schrecken zu versetzen. Hatten ihren Brustschild umgeschnallt und zu Schwert und Pike gegriffen, um ihr Land zu verteidigen und ihre Freiheit zu bewahren.
Die Szene, die ihm schlagartig in den Sinn kam, war von brutaler Klarheit. Das Aufblitzen sich kreuzender Schwerter, gellende Schlachtrufe. Sich aufbäumende Pferde mit wild rollenden Augen, hoch aufspritzendes Blut aus einem abgetrennten Arm, der qualvolle Schrei eines zu Boden stürzenden Mannes. Und der brennende Schmerz, als sich Stahl durch Fleisch bohrt.
Halb betäubt vor Schmerz blickt er nach unten und sieht das Blut, das aus seinem Oberschenkel hervorquillt.
Hoch droben am Himmel die Aaskrähen, die still und geduldig ihre Kreise ziehen. Der Gestank nach versengtem Fleisch, als ein Berg Leichen auf einem Scheiterhaufen brennt, und die unheimlichen, dünnen Schreie sterbender Männer, die auf Erlösung warten.
Cal kam zu sich, als er an der Seite der Straße anhielt, aus dem Wagen sprang und frische Luft in seine Lungen einsog, während der Regen auf ihn niederdonnerte. Hatte er einen Ohnmachtsanfall gehabt? Verlor er den Verstand? Zitternd griff er nach unten und fuhr mit der Hand über seine Jeans. Da war keine Wunde, und dennoch fühlte er den nachhallenden Schmerz einer alten Narbe, die er an dieser Stelle ganz sicher nicht hatte.
Es passierte wieder. Die Angst durchströmte ihn mit tödlicher Kälte und gefror ihm das Blut in den Adern. Er zwang sich, ruhig zu werden, seine Vernunft einzuschalten. Jetlag, redete er sich ein. Jetlag und Stress, das war alles. Wie viel Zeit war vergangen, seit er Shannon verlassen hatte? Zwei Stunden? Drei? Er musste sich nach einer Übernachtungsmöglichkeit umsehen. Er brauchte etwas zu essen. Er würde sich irgendeine ruhige, abgelegene, einfache Pension suchen, überlegte er. Irgendeinen stillen Ort, wo er sich ausruhen und wieder Frieden finden könnte. Und wenn das Unwetter vorbei wäre, würde er seine Kamera schnappen und sich auf einen langen Spaziergang begeben. Er könnte mehrere Wochen bleiben oder morgen Früh wieder aufbrechen. Er war frei, machte er sich klar. Und das war gesund, das war normal.
Er stieg wieder in den Wagen ein, atmete ein paar Mal tief durch und fuhr dann weiter entlang der gewundenen Küstenstraße.
Als er um eine Kurve bog, kam die verfallene Burg in Sicht. Der Wachtturm – zumindest nahm er an, dass es sich darum handelte – war nahezu intakt, doch die umgebenden Mauern waren weggebrochen, und der Anblick erinnerte ihn an einen alten, von vielen Schlachten vernarbten Krieger. Ungeachtet ihrer eingestürzten Mauern verströmte die hoch auf der Felsklippe thronende Burg Macht und trutzhafte Wehr.
Aus dem brodelnden Himmel brach ein gleißender Blitz hervor, explodierte mit blendendem Lichtschein und ließ in der Luft den Geruch nach Ozon zurück.
Das Herz klopfte ihm dumpf in der Brust, in seinem Unterleib breitete sich ein Ziehen aus, das eindeutig sexueller Natur war, und seine Finger verkrampften sich über dem Lenkrad. Er bog in die schmale, zerfurchte Schotterstraße ein, die nach oben führte. Er brauchte ein Foto von der Burg, sagte er sich. Mehrere Studien aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Ein kleiner Umweg – fünfzehn oder zwanzig Minuten –, bevor er sich wieder auf die Suche nach einer kleinen Pension machen würde.
Es spielte keine Rolle, dass Irland mit Ruinen und alten Burgen übersät war – er brauchte diese hier.
Nebel umwallte das Fundament wie ein Fluss. Er konzentrierte sich so sehr auf das Spiel von Licht und Schatten auf dem verfallenen Gemäuer und auf die Struktur der Gräser und Wildblumen, die sich durch die Felsspalten kämpften, dass er das kleine Haus erst entdeckte, als er fast direkt davor stand.
Unwillkürlich lächelte er. Das Häuschen neben der verfallenen Burg war so bezaubernd, so unerwartet. Es wirkte einladend, gastfreundlich und schien, wie die Blumen, die es umgaben, mitten aus dem Fels hervorzublühen, als hätte es eine liebevolle Hand dorthin gepflanzt.
Es war weiß gestrichen mit hellblauen Fensterläden. Eine dünne Rauchfahne stieg aus dem Steinkamin empor, und auf der kleinen überdachten Veranda döste eine Katze neben einem Holzschaukelstuhl.
Hier hat sich jemand ein Heim eingerichtet, dachte er, und hält es gewissenhaft in Stand.
Das Licht ist ungünstig, sagte er sich. Doch er wusste, er musste diesen Ort, dieses Gefühl einfangen. Er würde die Person, die hier lebte, fragen, ob er noch einmal vorbeikommen dürfte, um seine Aufnahmen zu machen.
Während er im Regen stand, streckte sich die Katze behaglich und setzte sich auf die Hinterbeine. Sie beobachtete ihn aus hellen Augen, die von verblüffendem Blau waren.
Dann war sie da – stand in dem peitschenden Regen, von Nebelschwaden umwirbelt. Er hatte ihr Nahen nicht gehört, und sie befand sich bereits auf halbem Weg zwischen dem kleinen Haus und den eingestürzten Mauern der alten Burg. Eine Hand hatte sie zu ihrem Herzen erhoben, und ihr Atem ging schnell, als wäre sie gerannt.
Ihr Haar war nass, hing in tiefroten Flechten über ihre Schultern und umrahmte ein Gesicht, das wie aus Elfenbein gemeißelt zu sein schien. Ihr Mund war weich und voll und zitterte leicht, als sie die Lippen zu einem einladenden Lächeln bewegte. Ihre Augen waren sternenblau und flossen über vor Gefühlen, so machtvoll wie der Sturm.
»Ich wusste, dass du kommst.« Ihr Umhang flatterte auf, als sie auf ihn zu rannte. »Ich habe auf dich gewartet«, sagte sie mit irischem Trällern in der Stimme, ehe sie ihn stürmisch küsste.
Er fühlte eine blendende, versengende Freude. Und eine dunkle, ursprüngliche Lust.
Ihr Geschmack, scharf und stark, tränkte seinen Organismus wie der Regen seine Haut. Er konnte nicht anders, als diesen Geschmack tief in sich aufzunehmen. Ihre Arme waren um seinen Hals geschlungen, ihr schlanker, wohl gerundeter Körper presste sich innig an den seinen und die daraus strömende Hitze sickerte durch sein klatschnasses Hemd hindurch bis in seine Knochen.
Ihr Mund war so wild und fiebrig wie der tobende Gewitterhimmel über ihnen.
Es war alles beängstigend vertraut.
Er legte die Hände auf ihre Schultern, schwankte einen Schwindel erregenden Moment lang, ob er sie näher an sich ziehen oder wegstoßen sollte. Schließlich wich er selbst ein Stück zurück und hielt sie in Armeslänge von sich entfernt.
Sie war schön. Sie war erregt. Und sie war, wie er sich rasch einredete, eine Fremde für ihn. Er legte den Kopf zur Seite, entschlossen, die Situation in den Griff zu bekommen.
»Ein wirklich gastfreundliches Land.«
Er sah das Flackern in ihren Augen, die dunkle Trauer, die aufflammende Enttäuschung. Doch er konnte nicht wissen, wie tief ihr diese Trauer, diese Enttäuschung ins Herz schnitt.
Er ist da, sagte sie sich. Er ist gekommen. Und das ist im Moment das Wichtigste. »Ja, stimmt.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, ließ ihre Finger noch eine Sekunde in seinem Haar verweilen, ehe sie die Hände senkte. »Willkommen in Irland und in der Burg der Geheimnisse.«
Er sah zu den Ruinen hinüber. »Ist das der Name der Burg?«
»Das ist der Name, den sie jetzt trägt.« Sie musste an sich halten, um ihn nicht mit den Augen zu verschlingen, jeden Zentimeter von ihm. Stattdessen machte sie eine einladende Handbewegung, wie man es bei einem zufällig vorbeikommenden Wanderer tun würde. »Du hast einen weiten Weg hinter dir. Tritt ein und setz dich an mein Feuer.« Sie lächelte ihn an. »Wärm dich bei einer Tasse Tee mit Whiskey auf.«
»Du kennst mich nicht.« Er ließ das wie eine Feststellung klingen, nicht wie eine Frage. Musste das tun.
Als Antwort blickte sie zum Himmel empor. »Du bist durchnässt«, sagte sie, »und es weht ein kalter Wind. Das genügt, um dir einen Platz am Feuer anzubieten.« Sie drehte sich um und trat auf die Veranda hinauf, wo die Katze ihr sofort an den Beinen entlangstrich. »Du hast eine so weite Reise auf dich genommen.« Sie sah ihm in die Augen, hielt seinen Blick fest. »Möchtest du nicht in mein Haus kommen, Calin Farrell, und dich aufwärmen?«
Er strich das tropfnasse Haar aus seinem Gesicht, spürte, wie er innerlich zitterte. »Wieso kennst du meinen Namen?«
»Auf dieselbe Weise wie du den Weg hierher kanntest.« Sie nahm die Katze hoch, strich ihr über den seidigen Kopf. Beide beobachteten ihn geduldig aus weiten blauen Augen. »Ich habe heute Morgen frisches Teegebäck gebacken. Du wirst hungrig sein.« Mit diesen Worten betrat sie das Haus, überließ es ihm, ihr zu folgen oder kehrtzumachen.
Ein Teil von ihm wollte zum Wagen zurück, wollte wegfahren und so tun, als hätte er sie oder diesen Ort nie gesehen. Aber er ging auf die Veranda und folgte ihr. Er brauchte Antworten, und darunter waren offenbar auch einige, die sie ihm geben könnte.
Kaum war er im Haus, schlug ihm eine wohlige Wärme entgegen, in der es nach frischen Backwaren duftete, nach glimmendem Torffeuer, nach frisch gepflückten Blumen.
»Fühl dich wie zu Hause.« Sie setzte die Katze auf dem Boden ab. »Ich werde den Tee aufbrühen.«
Cal betrat das winzige Wohnzimmer und stellte sich in die Nähe des Feuers. Überall waren Blumen, stellte er fest, deren Blütenblätter noch feucht waren. Sie füllten die Vasen auf dem steinernen Kaminsims, die Krüge auf dem Tisch neben dem Fenster.
Neben dem Kamin stand ein Rohrsessel, aber er setzte sich nicht. Stattdessen studierte er den Raum mit dem scharfen Auge des Künstlers.
Ruhige Farben, dachte er. Nicht blass, sondern wohltuend in ihrer Mischung aus dunklen Rosa- und moosigen Grüntönen. Webteppiche auf dem spiegelblank polierten Holzboden, der einen zarten Bienenwachsgeruch verströmte. Überall Kerzen in verschiedenen Größen, in Ständern aus Glas, Silber und Stein.
Und dort, neben dem Kamin, ein Spinnrad. Sicher eine Antiquität, überlegte er, während er näher trat, um es genauer zu betrachten. Das dunkle Holz schimmerte rötlich, und daneben stand ein Strohkorb, bis obenhin mit wunderschön gefärbter Wolle gefüllt.
Wären da nicht die Lampen und deren juwelenartiger Schein gewesen und die kleine Stereoanlage, die in einem Regal zwischen einem Stapel Bücher verstaut war, hätte er dem Gedanken verfallen können, in ein anderes Jahrhundert geraten zu sein.
Abwesend bückte er sich, um die Katze zu streicheln, die sich schmeichelnd an seinen Beinen rieb. Ihr Fell war warm und feucht. Real. Er war nicht in ein anderes Jahrhundert zurückversetzt worden. Oder in einen Traum. Er würde seiner Gastgeberin gleich einige sehr konkrete Fragen stellen, beschloss er. Und er würde sich nicht eher von der Stelle rühren, bevor er nicht befriedigende Antworten erhalten hätte.
Während sie das Teetablett durch die kleine Diele trug, machte sie sich Vorwürfe, weil sie im Sturm ihrer Gefühle die Kontrolle verloren hatte, weil sie zu schnell vorgegangen war, zu viel gesagt hatte. Zu viel erwartet hatte.
Er kannte sie nicht. Oh, das schnitt ihr mitten durch das Herz, traf sie in ihrer Seele. Aber es war töricht von ihr gewesen, etwas anderes zu erwarten, da er ihre Gedanken ausgesperrt hatte, ihr Verlangen nach ihm seit mehr als fünfzehn Jahren.
Sie hatte sich weiterhin heimlich in seine Träume gestohlen, um seine Entwicklung vom Knaben zum Mann zu beobachten, während sie in dieser Zeit selbst zur Frau erblüht war. Doch Stolz, Gekränktsein und Liebe hatten sie davon abgehalten, ihn zu rufen.
Bis ihr keine andere Wahl mehr geblieben war.
Sobald sein Fuß die Erde ihrer Heimat berührt hatte, hatte sie es gewusst. Und ihr Herz hatte vor Freude gesungen. War es so falsch gewesen, so einfältig, sich auf ihn vorzubereiten? Das Haus mit Blumen zu füllen und die Küche mit Backwaren? Sich in Ölen aus selbst gesammelten Blumen und Kräutern zu baden, ihre Haut einzusalben wie es eine Braut für ihre Hochzeitsnacht tun würde?
Nein. Auf der Schwelle zum Wohnzimmer holte sie tief Luft. Sie hatte sich für ihn vorbereiten müssen. Jetzt musste sie den richtigen Weg finden, ihn für sie vorzubereiten – und auf das, was sie sehr bald zusammen durchstehen mussten.
Er ist schön, dachte sie, als sie beobachtete, wie er die wohlig schnurrende Katze streichelte. Wie viele Nächte hatte sie sich im Schlaf unruhig hin und her geworfen, sich nach diesen langen, schmalen Fingern auf ihrer Haut gesehnt?
Oh, nur einmal seine Berührung fühlen.
Wie viele Nächte hatte sie davon geträumt, dass seine Augen, grau wie Sturmwolken, auf ihr ruhten, während er tief in sie eindrang und ihr seinen Samen schenkte?
Oh, nur einmal mit ihm vereint sein, einmal diese sanften, geheimen Laute in der Nacht hören.
Sie waren dafür bestimmt, miteinander Liebe zu machen. Und das zumindest, glaubte sie, würde er akzeptieren. Denn ein Mann hatte Bedürfnisse, das wusste sie, und dieser eine Mann war bereits körperlich mit ihr verbunden – ganz gleichgültig, wie sehr er sich auch gegen die Erinnerung wehrte.
Aber ohne Liebe während des Aktes würde es keine Freude geben. Und keine Hoffnung.
Sie wappnete sich und betrat das Wohnzimmer. »Wie ich sehe, hast du dich bereits mit Hekate angefreundet.« Er schlug die grauen Augen zu ihr auf, und ihre Hände zitterten leicht. Welche Macht sie auch nach wie vor haben mochte, sie zählte nichts, verglichen mit einem langen Blick aus seinen Augen. »Bei attraktiven Männern benimmt sich Hekate völlig schamlos.« Sie stellte das Teetablett ab. »Willst du dich nicht setzen, Calin, und eine Tasse Tee trinken?«
»Woher weißt du, wer ich bin?«
»Ich werde dir alles erklären, soweit ich es vermag.« Als sie sein Gesicht prüfend musterte, verdunkelten sich ihre Augen vor innerem Aufruhr. »Hast du denn keine Erinnerung an mich? Überhaupt keine?«
Ein Schwall roter Haare, glänzend wie nasses Holz, ein Körper, der sich in vollkommener Harmonie mit dem seinen bewegte, ein Lachen wie sinnenverwirrender Nebel. »Ich kenne dich nicht.« Er sagte es scharf, abwehrend. »Ich weiß deinen Namen nicht.«
Ihre Augen blieben dunkel, doch ihr Kinn reckte sich stolz nach vorn. »Ich bin Bryna Torrence, Nachfahrin von Bryna der Weisen und Hüterin dieses Ortes. Du bist in meinem Heim willkommen, Calin Farrell, und du magst bleiben, so lange du willst.«
Mit einer anmutigen Bewegung beugte sie sich zu dem Tablett hinunter. Sie trug ein langes Kleid in der Farbe der Nebelschwaden, die draußen vor dem Fenster durch die Luft wirbelten. Es umhüllte schmeichelnd ihren Körper, spielte um ihre Fußknöchel. An ihren Ohren tanzten silberne Ohrgehänge.
»Warum?« Er legte die Hand auf ihren Arm, als sie die erste Tasse einschenkte. »Warum bin ich in deinem Heim willkommen?«
»Vielleicht bin ich einsam.« Ihre Mundwinkel kräuselten sich wehmütig. »Ich bin allein und ich freue mich über deine Gesellschaft.« Sie nahm Platz und bedeutete ihm, es ihr gleichzutun. »Du brauchst etwas zum Aufwärmen, Calin, ein wenig Entspannung. Und das biete ich dir an.«
»Ich habe lediglich den Wunsch nach einer Erklärung.« Doch er setzte sich und trank einen Schluck des heißen, köstlich duftenden Tees. »Du sagtest, du hättest über mein Kommen Bescheid gewusst. Du kennst meinen Namen. Ich möchte wissen, wie das möglich ist.«
Es war nicht erlaubt, ihn zu belügen. Aufrichtigkeit war ein Teil des Schwurs. Aber sie konnte ausweichen. »Womöglich habe ich dein Gesicht wiedererkannt. Du bist ein erfolgreicher und berühmter Mann, Calin. Deine Kunst ist sogar bis in meinen Winkel der Welt vorgedrungen. Du hast so viel Talent«, murmelte sie. »So viel Vorstellungskraft.« Sie ordnete das Teegebäck auf einem kleinen Teller an und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich zu bedienen. »So viel innere Kraft.«
Er hob eine Braue. Es gab Frauen, die ganz verrückt danach waren, mit einem berühmten Mann ins Bett zu gehen. Er schüttelte den Kopf. »Du bist kein Groupie, Bryna. Du hast mich nicht in dein Haus eingeladen, weil du mit einem bekannten Künstler eine Nummer schieben möchtest.«
»Andere Frauen haben das getan.«
In ihrer Stimme lag brennende Eifersucht. Er verstand zwar nicht, warum sie eifersüchtig sein sollte, doch angesichts der gegebenen Umstände amüsierte es ihn. »Und deshalb weiß ich auch, dass du kein Groupie bist und hier etwas anderes abläuft. Wie auch immer, du hattest gar keine Chance, mein Gesicht aus irgendeiner Zeitschrift oder Talkshow wiederzuerkennen. Das Licht war schlecht, und es hat in Strömen gegossen.«
Er runzelte die Stirn. Vielleicht war das wieder ein Traum. Oder eine Halluzination. Er fühlte die Wärme der Teetasse in seiner Hand und den Geschmack des süßen, mit Whiskey versetzten Gebräus in seinem Mund. »Verdammt, du hast auf mich gewartet, und ich verstehe nicht, wieso.«
»Ich habe mein ganzes Leben auf dich gewartet.« Sie sagte es ruhig, setzte ihre Tasse ab. »Und ein Millennium davor.« Sie hob die Hände, legte sie auf sein Gesicht. »Dein Gesicht ist das Erste, an das ich mich erinnere. Noch vor dem Gesicht meiner Mutter. Die Erinnerung an deine Berührung hat mich jede Nacht meines Lebens heimgesucht.
»Das ist Quatsch.« Er ergriff ihr Handgelenk.
»Ich kann dich nicht belügen. Das steht nicht in meiner Macht. Was immer ich dir auch sagen werde, es ist die Wahrheit. Und was immer du in mir sehen wirst, ist wirklich.« Sie versuchte, zu dem Bereich seines Geistes oder seines Herzens durchzudringen, der ihr vielleicht noch offen stand. Doch der Zugang war verschlossen, grimmig bewacht. Mit einem tiefen Atemzug ließ sie es dabei bewenden. Vorerst. »Du bist noch nicht bereit zu wissen, zu hören, zu glauben.« Ihr Blick wurde weicher, während sie mit den Fingerspitzen über seine Schläfen strich. »Ach, Calin, du bist müde und verwirrt. Du brauchst jetzt Ruhe und Entspannung. Ich kann dir helfen.«
Die Farben in seiner Umgebung verblassten, das Zimmer verschwamm vor seinen Augen. Er konnte nur noch ihre Augen sehen, dunkelblau und tief konzentriert. Ihr Geruch überschwemmte seine Sinne wie eine Droge. »Hör auf.«
»Ruh dich jetzt aus, Liebster. Mein Geliebter.«
Er spürte, wie ihre Lippen sacht über seinen Mund glitten, ehe er in gnädige Dunkelheit hinüberglitt.
Cal erwachte inmitten völliger Stille. Seine Gedanken kreisten einen Moment umher, wie ein Schwarm Vögel auf der Suche nach einem Nistplatz. Irgendetwas war im Tee, dachte er. Gott, die Frau hatte ihn unter Drogen gesetzt. Eine jähe Panik ergriff ihn, da er sich unversehens an Stephen Kings Misery erinnert fühlte.
Besessener Fan entführt berühmten Künstler und hackt ihm Fuß ab, um ihn an der Flucht zu hindern.
Ruckartig setzte er sich auf und tastete voller Entsetzen nach seinem Fuß. Er war noch dran. Die schwarze Katze, die sich am Bettende zusammengerollt hatte, streckte sich genüsslich und sah aus, als würde sie grinsen.
»Ja, wahnsinnig komisch«, murmelte er. Er stieß einen erleichterten Seufzer aus, der in einem matten Lachen endete. Du hast dich mal wieder von deiner überbordenden Fantasie ins Bockshorn jagen lassen, Calin, schimpfte er sich. Das ist schon immer eine schlechte Angewohnheit von dir gewesen.
Er mahnte sich, Ruhe zu bewahren und eine Bestandsaufnahme der Situation zu machen. Und stellte fest, dass er völlig nackt war.
Zwischen Verblüffung und Verlegenheit schwankend, malte er sich aus, wie Bryna ihn mit diesen zierlichen Händen, die so anmutig Tee servieren konnten, ausgezogen hatte. Und ins Bett gebracht hatte. Wie, zum Teufel, hatte die Frau es nur geschafft, ihn in ein Schlafzimmer zu befördern?
Denn genau da befand er sich. Es war ein kleiner, hübscher Raum mit einem winzigen Steinkamin und einer glänzend lackierten Spiegelkommode. Auch hier Blumen und Kerzen. Und Bücher, die in eine Wandnische geschoben waren. Ein zierlicher Sessel stand neben einem Fenster mit weißer Spitzengardine. Sonnenlicht stahl sich durch die Spitze hindurch und zauberte hübsche, verschlungene Muster auf den dunklen Holzboden.
Am Fußende des Bettes befand sich eine alte Truhe mit Messingbeschlägen. Darauf lag, sauber, trocken und ordentlich zusammengefaltet, seine Kleidung. Zumindest erwartete sie nicht, dass er hier splitternackt herumrannte, dachte er bei sich und griff mit einiger Erleichterung nach seiner Jeans.
Als er den Reißverschluss der Hose zugezogen hatte, fühlte er sich augenblicklich besser. Dann merkte er, dass er sich nicht nur besser fühlte. Er fühlte sich ganz wunderbar.
Wach, ausgeruht, voller Tatendrang. Was immer sie ihm auch eingeflößt haben mochte, es hatte ihn in einen tiefen, erholsamen Schlaf gewiegt, wie er ihn seit Wochen nicht mehr erlebt hatte. Aber er würde sich dafür nicht bei ihr bedanken, beschloss er grimmig, während er sein Hemd zurechtzupfte. Die Frau war nicht nur exzentrisch – gegen ein paar kleine Marotten hatte er nichts einzuwenden. Nein, diese junge Dame litt unter Wahnvorstellungen und war womöglich sogar gefährlich.
Er würde aus ihr noch ein paar zufriedenstellende Antworten herausholen, sie dann mit ihrem niedlichen Hexenhäuschen und der verfallenen Burg allein lassen und das Weite suchen.
Er blickte in den Kommodenspiegel, halb in der Erwartung, einen struppigen Rauschebart wie bei Rip Van Winkle zu sehen, der nach dem Genuss eines Fässchen Weins in einen sechzig Jahre währenden Schlaf gefallen und gealtert und mit langem Bart wieder erwacht war. Doch der Mann, der ihm aus dem Spiegel entgegenstarrte, war nicht gealtert. Er sah verwirrt aus, genervt und, ja, tatsächlich, ausgeruht. Verrückte Geschichte, dachte Cal, während er sein Haar zurückstrich.
Er fand seine Schuhe ordentlich zusammengestellt neben der Kommode. Während er sie anzog, betrachtete er abwesend die Muster, die das Sonnenlicht auf den Fußboden malte.
Licht. Es traf ihn wie ein Peitschenhieb, ließ ihn auf der Stelle aufspringen. Der Regen hatte aufgehört. Herrgott noch mal, wie lange hatte er bloß geschlafen?
Mit zwei Schritten war er am Fenster, zerrte die zarten Gardinen zurück. Und stand dann wie gebannt da.
Der Ausblick war atemberaubend. Er sah den zerklüfteten Felsgrund, wo sich die Burgruine erhob, und die winzigen Glimmersplitter im Gestein, die im Sonnenlicht hell auffunkelten. Der Felsgrund neigte sich zur Schotterstraße hinunter, und jenseits der Straße wogte ein grünes Feld am anderen, abgeteilt durch Steinmauern, gesprenkelt mit Kühen und Schafen. In Tälern und auf Anhöhen schmiegten sich Häuser, bunte Wäsche flatterte fröhlich an Leinen. Bäume wanden sich empor, gebeugt durch ihren jahrelangen Widerstand gegen den steten Wind und strahlend grün im Frühlingskleid.
In der Ferne entdeckte er einen Jungen, der mit seinem blauen Fahrrad an einer der schmalen Straßenrinnen entlangfuhr, begleitet von einem schwarz-weiß getupften Hund, der neben ihm durch das Gestrüpp rannte.
Auf dem Weg nach Hause, dachte Cal. Zum Mittagessen. Ma sieht es nicht gern, wenn du unpünktlich bist.
Er merkte, wie er lächelte, und öffnete, ohne nachzudenken, das Fenster, um die kühle, feuchte Luft hereinzulassen.
Das Licht. Es ließ das Künstlerherz höher schlagen. Niemand hätte ihm das Licht von Irland beschreiben können. Man musste es sehen, erleben. Wie eine edle Perle, dachte er, deren Glanz die Luft erschimmern lässt, sie leuchtend und seidig macht. Die Sonne, die durch die Wolkenschichten gefiltert wurde, verfügte über eine Sanftheit, eine Majestät, wie er es noch nirgendwo sonst gesehen hatte.
Das musste er mit der Kamera einfangen. Jetzt. Sofort. Solch ein Zauber konnte nicht andauern. Er stürzte aus dem Zimmer, rannte die wenigen Treppen hinunter und stürmte,
Die Originalausgabe A LITTLE MAGIC erschien 2002 by Berkley Book
6. Auflage
Redaktion: Birgit Groll Deutsche Erstausgabe 04/2004
Copyright Collection © 2002 by Nora Roberts
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Quellenverzeichnis: siehe Anhang Umschlagfoto: © Thomas Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München Gesetzt aus der Joanna MT Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
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eISBN: 9 7 8-3-641-0918 8-0
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