Im Osten der Träume - Nastassja Martin - E-Book

Im Osten der Träume E-Book

Nastassja Martin

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Beschreibung

Nach ihrer sehr persönlichen Erzählung An das Wilde glauben führt auch Nastassja Martins neues Buch wieder nach Kamtschatka, wo die Lesenden auf alte Bekannte stoßen: die Even. Doch in Im Osten der Träume reflektiert die Anthropologin nun die ganze Geschichte ihrer Zeit mit den Even. Nach ihrer Feldforschung bei den Gwich'in in Alaska erscheint es Martin notwendig, sich auf die andere Seite der Beringstraße und des ehemaligen Eisernen Vorhangs zu begeben. In Kamtschatka lernt sie ein Even-Kollektiv kennen, das in der Sowjetunion gezwungen war, in Kolchosen sesshaft zu werden, und nach dem Zusammenbruch des Regimes beschloss, in den Wald zurückzukehren, um eine autonome Lebensweise neu zu erfinden. Diese beruht auf Fischfang, Jagd und Sammeln: ganz untypisch für die Even, die ursprünglich kleinere Rentierherden hüteten. Nastassja Martin begleitet sie und beschreibt, wie das Kollektiv den Dialog mit den Tieren und den Elementen wieder aufnimmt, wobei Träume eine essenzielle Rolle spielen. Mit ihrem neuen Alltag reagiert diese Gruppe auf die jahrzehntelangen Verheerungen, die eine koloniale Machtpolitik ihr zugefügt hat. Und zugleich versucht sie, eine Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart zu finden, während in unmittelbarer Nachbarschaft die Zeitbombe einer bevorstehenden Naturkatastrophe in Gestalt eines zügellosen Nickel-Extraktivismus längst zu ticken begonnen hat.

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Im Osten der Träume

Nastassja Martin

Im Osten der Träume

Antworten der Even auf die systemischen Krisen

Aus dem Französischen

von Claudia Kalscheuer

Für Darja, Iwan, Julia, Wassilina und Wolodja.

Ihren offenen Augen tief in den Wäldern.

Inhalt

Vorwort

Einleitung. Nach denen suchen, die gegangen sind

Geburt eines Feldes

Erster Teil

Spiegel in Beringia

Einleitung

1 In medias res

2 Russische Kultur, amerikanische Natur

Russische Kultur: kulturelle Formen als Schauspiel

Der vereinheitlichte politische Inhalt

Amerikanische Natur: nutzen und schützen

3 Leben und Tod der Assimilationspolitiken

Zweiter Teil

Auf den Ruinen leben

Einleitung

Iwan ist verstummt

Darja träumt von Twajan

Darja erinnert sich an Twajan

Darja zieht nach Twajan

Dritter Teil

Akzidentelle Kosmologien

Einleitung

4 Akzidentelle Kosmogonie I: Geburt der Körper

5 Trickster

Ulitschan

Iyip

6 Akzidentelle Kosmogonie II: Geburt der Gedanken

Mit träumen

Ohne träumen

Projektiver Traum und animischer Traum

Ohne Schamanen träumen

Vierter Teil

Mit der Ökonomisierung der Welt komponieren

Einleitung

7 Zobel

Schweigen

8 Lachse

Fünfter Teil

Sturm

Einleitung

9 Die modernen Erzählungen des Klimawandels provinzialisieren

Die Anthropologie angesichts des gestörten Klimas

Ontologische blinde Flecken – was tun mit den Elementen?

10 Die Elemente anrufen

Das Feuer nähren

Für den Fluss singen

Rentiere für den Himmel

11 Zwischen Himmel und Erde

Ivki oder das Belebtheitsprinzip

Die Erde sichern

Schluss

Ni, Metall des Teufels

Aus der Nacht zurückkommen

Die Formen sterben lassen

Was bleibt

Anmerkungen

Bibliografie

Eines Tages, im Jahr 1989, ist das Licht ausgegangen und die Geister sind wiedergekommen.

DARJA BANAKANOWA

Wenn nach dem Erlöschen der Lichter und dem Verwerfen allen unwirksamen Werkzeugs auf der morgenroten Tür eines wiedergefundenen Schicksals das Wort Ende erschiene, dann wäre das gehaltene Wort kein Verbrechen mehr und die neu gestrichenen Kähne keine versunkenen Wracks an der Landungsbrücke der Zeit.

RENÉ CHAR (Ü: CK)

Vorwort

Fort Yukon

Februar 2012

Schneeflocken wirbeln im weißen Tag, wir kämpfen uns unter dem Dach der Bäume mühsam voran. Dacho und Clint voran, ich hinterher. Auf unserer Stirn stehen Schweißperlen, der Schnee knirscht unter unseren Füßen. In der Spur bleiben, denke ich jedes Mal, wenn ich wieder bis zum Oberschenkel einsinke. Nach einstündigem Fußmarsch mit gebeugtem Rücken und eingezogenem Kopf verändert sich die Landschaft, die Schwarzfichten lichten sich. Der Wind wird schärfer, je weiter wir aus dem Schutz der Bäume heraustreten, ich vermumme mein Gesicht zwischen den Ohrenklappen meiner Schapka. Willst du mir nicht sagen, wohin wir gehen?, schreie ich Dacho zu, um die Böen zu übertönen. Wir sind bald da, antwortet er, noch etwas Geduld, dann wirst du schon sehen. Wir erreichen eine Lichtung, Dacho und Clint bleiben stehen, ich auch. Ich drehe den Kopf nach rechts, nach links, und schließlich bleibt mein Blick an einer verschwommenen Form im Nebel hängen. Etwas Großes, Weißes, etwas, das weder ein Haus noch ein Baum ist. Komm, sagt Dacho, wir sind da. Wir gehen auf das Gebilde zu, dessen Umrisse deutlicher werden, als wir näher herankommen. Es handelt sich um eine gewaltige weiße Kuppel mit Facetten, die von einem Metallgerüst hoch in der Luft gehalten wird. Die Anlage muss acht bis zehn Meter hoch sein. An ihrem Fuß steht eine Leiter, die zu einer Klappe an der Unterseite der Kuppel führt. Ich verschnaufe etwas, die Männer zünden sich eine Zigarette an, sichtlich mit sich zufrieden. Was ist das denn? Sie haben meine Frage erwartet, wir sind hierhergekommen, damit ich sie ihnen stelle. Das da, sagt Dacho, das ist Amerika, das aufpasst, dass die Russen ihnen Alaska nicht wieder wegnehmen!

Ich muss wohl ein komisches Gesicht machen, denn sie lachen laut los. Clint zieht an seiner Zigarette und entschließt sich endlich, mich aufzuklären. Ich erfahre, dass die Kuppel ein Überwachungsradar ist, direkt auf Russland gerichtet. Ich stelle bald fest, dass er noch in Gebrauch ist, oder zumindest on hold – davon zeugen die beiden zerzausten amerikanischen Angestellten, die aus der Klappe herauskommen, um uns kurz zu begrüßen. Guten Tag. Sind Sie die Französin? Willkommen am Ende der Welt! Sie lachen und klettern sofort in die Kuppel zurück, wir haben hier Arbeit, die Klappe geht wieder zu. Mit einem ironischen Lächeln meint Clint: Keine Sorge, solche Raumschiffe sind nicht nur hier bei uns gelandet. In jedem indigenen Dorf von Alaska steht so eins. Meine Neugier wächst, ich nicke ihm zu, damit er mir mehr dazu sagt. Er erklärt mir, er wisse aus sicherer Quelle, dass die Russen in Sibirien über die gleichen Anlagen verfügen, die auf Alaska gerichtet sind, und dass diese ebenfalls in den indigenen Dörfern stehen. Diese Radarstation und ihre Zwillinge sind Überbleibsel aus dem kalten Krieg. Willst du wissen, warum sie sie bei den natives aufstellen?, fragt er mich und fährt fort, ohne meine Antwort abzuwarten. Weil das diskreter ist, hier gibt es keinen Tourismus, keine fremden Augen, um zu sagen, dass es weitergeht, dass der Krieg nicht wirklich zu Ende ist, oder dass er zumindest jeden Moment wieder anfangen kann. Es ist wie mit dem Feuer in unseren kranken, ausgetrockneten Wäldern: Es braucht nur einen Funken.

Wir schweigen eine Weile, in meinem Kopf brodelt es, ich war auf alles gefasst, nur nicht darauf. Dacho steht reglos da, die Hände in den Taschen, der Dampf seines Atems steigt in Wolken über seinen Kopf auf. Ich sehe ihn den Radar ansehen und sage mir, dass auch in seinem Kopf etwas rumort. Was? Ich frage ihn brühwarm danach. Nichts, antwortet er. Ich frage mich nur jedes Mal, wenn ich herkomme, was sie drüben darüber denken, die Leute auf der anderen Seite der Meerenge. Seine Augen begegnen meinen, er wendet den Blick ab, richtet ihn erneut auf den Radar. Er spricht mit gesenkter Stimme weiter. Wenn sie auf die Jagd gehen und daran vorbeikommen. Er atmet aus, der Dampf wird dichter. Oder vielleicht stehen die Radare dort mitten in den Dörfern und nicht abseits wie hier? Vielleicht können sie sie sogar aus ihren Fenstern sehen? Er dreht sich um und wendet sich mir zu. Dachos schönes braunes Gesicht, seine mandelförmigen Augen, seine langen schwarzen Haare, umkränzt vom Weiß der Kuppel in seinem Rücken. Glaubst du, sie sind wie wir? Sie leben so wie wir? Ich kneife die Augen zusammen, um die Vision zu vertreiben. Ich weiß es nicht, Dacho. Ich weiß es nicht.

Im Lauf einer Feldforschung gibt es manchmal – selten – Momente, die wie Blitze aufscheinen. Kurz, verschwindend. Einzelne Punkte. Die jedoch aus dem Fluss der Erfahrung hervortreten. Und die ein Leben, einen Forschungsverlauf oder beides, eine entscheidende Wendung nehmen lassen. Dachos Blick auf den nach Russland schauenden amerikanischen Radar ist so ein Moment. Es war zugleich schön und schmerzlich, als komme etwas Offenkundiges, über das zu lange geschwiegen wurde, mit einem Schlag ans Licht: Die Welt, die ich zu beschreiben versucht hatte, war unendlich viel offener, sie trat einmal mehr über die armseligen Grenzen, die ich um sie herum zu skizzieren versucht hatte, um sie besser zu erfassen.

Dachos Fragen wurden für mich sehr schnell zur Obsession. Die vergleichende Arbeit, die ich über die alaskische Trias der Gwich’in gegenüber dem Westen und den Metamorphosen der Umwelt in Angriff genommen hatte, war auf dramatische Weise ungenügend. Ich würde das Spektrum erweitern müssen, weiter blicken. Über die Beringstraße hinweg. Dahin, wo es, für Dacho, vielleicht Leute gab, die wie er waren oder fast; dahin, wo es, für mich, sicher noch Spuren einer geopolitischen Geschichte gab, die sich im Territorium und in seinen Bewohnern materialisiert hatte. Dahin, wo es, für Clarence, Dachos Vater, vielleicht ein »Vorher« gab, von dem zu erzählen sich noch lohnen würde.

Wir Gwich’in, so erzählte Clarence gerne, haben vor nicht allzu langer Zeit1 am selben Tag erfahren, dass wir nicht nur amerikanische Staatsbürger waren, sondern dass wir zuvor auch Russen gewesen waren. Er sagte weiter, dass die Aleuten des Südens sich bis in ihr Fleisch daran erinnerten; dass die Tlingit im Südosten tapfer gekämpft hatten; dass die Yupik im Nordwesten sich ergeben hatten; dass die Inupiat im Norden ihre Wale verkauft hatten; dass die Russen aber nie bis zu den Gwich’in vorgedrungen waren, dass sie sich daran erinnert hätten, wenn sie gekommen wären, denn die Gwich’in sind Krieger, sie hätten sich ihr Land nicht nehmen lassen, sie hätten … Irgendwo in diesem Satz brach Clarence immer ab. Wie auch immer, fuhr er dann fort, die Russen waren nicht bis zu ihnen vorgedrungen, weil das Gwich’in-Territorium zu weit im Westen lag, zu weit in der subarktischen Taiga, und auch weil sie an der Küste zu viel zu tun hatten. Manchmal sagte ich dem alten Mann, er würde immer die gleichen Geschichten wiederkäuen. Um mich zum Schweigen zu bringen oder vielleicht auch um mich zu beeindrucken, ging er dann noch weiter zurück. Früher, ganz früher, sind wir sicher von dort drüben gekommen, über die große Eisbrücke. Wir haben die Inupiat vorgehen lassen, um das Eis der Meerenge zu prüfen. Er lachte. Wir haben gesehen, dass es hielt, dann sind wir auch hinübergegangen. Ihr habt ihnen sicher einen Vorsprung von ein paar Tausend Jahren gelassen, um ganz sicher zu sein? Ich spottete, aber er ließ sich nie aus der Ruhe bringen. Natürlich, wir sind schlau! Die Küste und der Blizzard, das sind Eskimo-Dinger, wir sind schnurstracks weitergegangen bis in den Wald. Ich musste laut lachen. Denk daran, sagte er. An die Reise, die wir vollbracht haben, um bis hierher zu kommen, an unsere Wahl, zwischen den Bäumen zu leben, und an diejenigen, die wir zurückgelassen haben. Ja, Clarence, antwortete ich, ich denke daran. Ich denke sogar an nichts anderes. Im Lauf der Zeit verwandelten sich diese Gedanken in eine fixe Idee: Ich würde die Meerenge überqueren, in der Zeit zurückgehen. Ich würde in die Fußstapfen meiner Vorläufer von 1897 treten, ich würde dem intellektuellen Weg folgen, den Boas, Jochelsen, Brodsky und die anderen mit der Jesup North Pacific Expedition2 genommen haben. Das Unterfangen mochte zwar einigermaßen hoffnungslos sein, aber auch ich würde versuchen, die beiden Seiten der Beringstraße in einen Dialog zu bringen; auch ich würde versuchen, zurückzugehen zu den Verbindungen zwischen Orten und Kollektiven, bevor die Kolonisation sie zerstörte. Wer weiß? Irgendwo zwischen Osten und Westen würden sich die Schatten vielleicht auflösen. Und später würde ich eines Tages nach Fort Yukon zurückkommen, um Dacho und seinem Vater davon zu erzählen. Wie es dort drüben war.

Dieses Buch berichtet von einem intellektuellen Wahnsinn und einer unmöglichen Reise, deren Keim an einem Wintertag wie so vielen anderen in Fort Yukon gelegt wurde. Dieses Buch ist eine Antwort. Eine Antwort auf Dacho, auf seinen Vater und auf mich selbst, auf die wilden Seelen, über die ich ein Buch geschrieben habe, das nur ein Anfang war, der Anfang von etwas anderem, das ich nicht erwartet hatte.

Einleitung

Nach denen suchen, die gegangen sind

Itscha-Gegend, Kamtschatka, Juni 2014

Endlich sind wir da. Im Wald unter dem Vulkan, am Ufer des Flusses, umgeben von Gesichtern, die anders aussehen als unsere eigenen. Seit drei Tagen warten wir in der Jurte, es regnet in Strömen. Es fällt mir schwer, die Erregung wieder in mir aufzurufen, die meinen Körper vor ein paar Tagen erst überkommen hatte, als Andrei sich endlich bereit erklärte, uns an die Tore des Itscha-Gebiets zu bringen. Nach unablässigen, als Unterhaltungen getarnten Verhandlungen morgens und abends hatte Andrei nachgegeben. Oder eingewilligt. Charles und ich hatten über eine Woche gebraucht, um zu ihm nach Ketatschan zu gelangen. Nach stundenlangen Bus- und Lastwagenfahrten und Fußmärschen hatten wir schließlich die botanische Forschungsstation des Bystrinski-Naturparks im Westen Kamtschatkas erreicht. Dort, am Fuß des Itschinski-Vulkans, wo der Fluss Itscha entspringt, hatten wir unser vorläufiges Basislager aufgeschlagen, an diesem seltsamen Ort, an dem junge »Freiwillige«, die für den Park Pflanzen inventarisieren, und Even-Rentierhalter, die sich dort mit Proviant eindecken, zusammentrafen.

Andrei, der halb Even, halb Korjak ist, verstand nicht gleich, warum wir uns nicht damit begnügten, hier in der Umgebung von Ketatschan zu arbeiten, denn Ende Juni hielten sich die Rentierhalter ganz in der Nähe auf – sie nomadisierten um den Vulkan herum und ließen ihre Herden auf den Ebenen um das Lager herum weiden. Unter Charles’ amüsierten Blicken erklärte ich Andrei jedoch bald, dass ich es war, die sich nicht mit den Rentierhaltern zufriedengab, trotz des fraglosen wissenschaftlichen Interesses, das sie aufwiesen; und trotz des intellektuellen Reizes, den die Tiere und ihre Hüter auf meinen Kollegen und Freund ausübten. Etwas trieb mich, drängte mich weiter, ich konnte nicht so nah am Ziel aufgeben. Seit jener Intuition in Alaska dachte ich an nichts anderes mehr. Und als wir in Esso, dem Dorf, in dem die meisten Even Kamtschatkas angesiedelt sind, die Bestätigung erhielten, dass sie existierten, dass es tatsächlich eine Familie gab, die nach dem Fall der Sowjetunion beschlossen hatte, in den Wald zurückzukehren und dort zu leben, glaubte ich, mein Herz würde mir in der Brust zerspringen.

Zum ersten Mal in meinem Anthropologinnenleben aktualisierte sich etwas, das von innen kam, bevor es erprobt war. Meine Arbeitshypothese erwies sich vielleicht noch nicht als richtig, aber doch als stichhaltig. Nachdem ich in Alaska schmerzliche Niederlagen hatte einstecken müssen, was meine theoretischen Vorannahmen betraf, die in sich zusammenstürzten, wenn sie auf die Realität vor Ort prallten, hatte ich kein großes Vertrauen mehr in meine Hirngespinste, und seien sie noch so sehr durch Geschichte und Konzepte informiert. Doch diesmal war es anders. Dieses unklare Bild, das sich in meinem Geist gebildet hatte, das einer alten Welt, die aus ihrer Asche wiedererstand, um einer Krise zu begegnen, existierte vielleicht. Ich sehe Dacho und mich vor mir, wie wir in Fort Yukon in Alaska abends am Feuer sitzen und die Flammen betrachten. Ich höre seine Stimme noch, die in mir widerhallte wie ein Versprechen von etwas Kommendem, das anders wäre. Wenn es zu einer wirklichen Krise käme, sagte er, dann würden wir Gwich’in in den Wald zurückkehren. Wir sind Gefangene einer wackeligen Ökonomie, eines Dorfs, das ruiniert ist, bevor es je floriert hat. Eines Dorfs, dass uns an einen Schein von »Wohlstand« glauben machen will, was auch immer dieses Wort hier in der postkolonialen Taiga bedeuten mag, meinte er amüsiert, an einen Schein von Komfort, von »Zivilisation«, fuhr er fort, aber tatsächlich ist die Zivilisation in Fort Yukon der sichtbare Ausdruck des Verlustes all dessen, was uns durch alle Zeiten hindurch als Menschen konstituiert hat. Ich mochte unsere Gespräche. Sie nährten den Optimismus, den ich von klein auf in mir hatte, diesen etwas naiven Optimismus, der mich immer hat glauben lassen, dass ein anderes Leben möglich war. Wenn diese Augenwischerei aufhört, sagte Dacho, denn sie wird eines Tages aufhören, was wird dann geschehen? Er belauerte mich mit einem verschmitzten, amüsierten Blick. Wo werden wir dann hingehen? Ich lächelte ihn an, denn ich kannte seine Antwort bereits. Back in the woods of course.

Ich wusste, dass es in Russland autochthone Kollektive gab, die während oder nach der Implosion der UdSSR in den Wald zurückgekehrt waren.3 Sie allerdings tatsächlich in Kamtschatka zu finden – denn ich wollte unbedingt, dass meine neue Feldforschung sich auf dieser Halbinsel abspielte, aus welchen Gründen werde ich später erklären –, das war eine andere Geschichte. Ich hätte den alten Nikolai küssen können, der uns in der Dunkelheit eines alten Holzhauses in Esso zwischen zwei Gläsern Wodka die Existenz dieser Even-Familie bestätigte, ohne dabei seine Verachtung für diese Leute zu verbergen, die nichts so taten wie die anderen und sich obendrein überlegen fühlten, weil sie zurückgezogen in ihrem Wald lebten. Nichts als Abtrünnige. Rückständige, die den Fortschritt, den Lauf der Geschichte ablehnen, behauptete er weiter. Ich hörte ihm zu und wälzte in meinem Kopf hin und her, was ich in den letzten Tagen verstanden hatte. Ich konnte nicht umhin, seinen Satz weiterzudenken: die das Schicksal ihrer Genossen in der früheren Kolchose Esso ablehnen, welche sich in den letzten zehn Jahren in ein vielversprechendes touristisches Zentrum verwandelt hat, das wohl oder übel belebt und bespaßt werden muss. Unter diesem Blickwinkel findet sich die Rolle der Indigenen ganz von selbst, und dies schon seit langer Zeit. An ihnen ist es, dem dalni wostok (dem far east, wie Kamtschatka von seinen Einwohnern selbst genannt wird) mit indigenen Traditionen und Folklore Farbe zu verleihen, wie die Touristen es lieben, die zwar auf der Suche nach der weiten, wilden Natur sind, sich aber letztlich nicht gut mit deren allzu beängstigender Leere begnügen können.

Und all das, so der an diesem Abend sturzbetrunkene Nikolai weiter, das Dorf, seine Geschäfte, seine heißen Quellen, sein Museum und seine Tanzbühne, hätten diese Irren verlassen. Sie tanzten nicht mehr, sängen nicht mehr, stellten keine traditionellen Gegenstände mehr her, um das kulturelle Erbe fortleben zu lassen. Später in der Nacht hatte er aufgehört, sie anzuklagen. In seinen Augen lag nur noch unendliche Traurigkeit. Meine Familie hat den Wald schon lange verlassen. Ich habe keine Rentiere mehr, kein Jagdgebiet. Die Stille zwischen seinen Sätzen war lastender geworden. Und so tanzen wir nun. Er hatte den Blick gesenkt und auf die abgenutzten braunen Bretter des Holzbodens gestarrt. Und schließlich gemurmelt: Besser man vergisst das alles.

Am nächsten Tag machten Charles und ich uns auf die Reise nach Itscha; drei Tage später waren wir in der Hütte von Ketatschan, mit Andrei, von Beruf Bildhauer, der uns reden ließ, ohne dabei aufzuhören, sein Messer über ein Steinbockhorn laufen zu lassen, das er in einen aus dem Wasser springenden Lachs verwandelte. Unsere Sache ließ sich nicht einfach an. Nachdem er uns lange zugehört hatte, wie wir von unseren jeweiligen Erfahrungen berichteten, in Alaska für mich und in Tuwa für Charles, hatte Andrei beschlossen, dass wir Interesse verdienten. Und so ging er auf mein Ersuchen ein, die Leute von Itscha zu kontaktieren. Eines Morgens um zehn Uhr schloss er das Funkgerät des Lagers an eine Batterie an und suchte die Frequenz der Even-Jagdlager am Fluss. Er brachte unser Anliegen vor, und »sie« (denn wir wussten noch nicht, welche Autorität sich da äußerte) erklärten sehr deutlich, sie hätten nicht die geringste Lust, Anthropologen bei sich zu begrüßen. Ich konnte es ihnen nicht übelnehmen. An ihrer Stelle hätte ich sicher auch nicht gewollt, dass irgendwelche vorgeblichen Wissenschaftler mich erforschen kämen, während ich doch gerade ein Leben fernab der Blicke gewählt hatte. Aber das änderte nichts, im Gegenteil. Meine Neugier war geweckt, und umso bitterer war meine Enttäuschung.

Wir verbrachten mehrere Tage mit Andrei, dessen Geschichten nicht versiegten. Ich bemühte mich, ihm aufmerksam zuzuhören, um diejenigen zu vergessen, die ich sicher nie kennenlernen würde, auch wenn ich es mir so sehr gewünscht hatte.

Die Zeit floss langsam dahin. Wir überließen uns ihrem Rhythmus, ohne noch irgendetwas zu erwarten. Und dann stand Andrei eines Morgens auf. Er öffnete die Tür der Hütte und sagte einfach: Wir gehen. Einfach so, ohne weitere Erklärungen. Packt eure Sachen. Wir stiegen alle drei auf sein rotes Quad und fuhren durch Schlamm und Regen die siebzig Kilometer, die uns von Ublakatschan trennten, dem ersten Jagdlager am Fluss Itscha. Unterwegs lachte er, während er sich mit baluk4 stärkte. Bei euch in Frankreich muss man eingeladen sein, um jemanden zu besuchen, nicht? Ich deutete ein zustimmendes Nicken an. Es bringt nichts zu versuchen, die Dinge wie bei euch zu Hause zu machen, meinte er dann. Im Wald muss man einfach aufkreuzen.

Die Nacht brach in der Tundra über uns herein. Wir zitterten im feinen, eisigen Regen, als wir nach mehrstündiger nächtlicher Fahrt abstiegen. Zwischen den Holzbrettern der Sommerküche drang ein schwacher Lichtschein hindurch. Andrucha!, rief Andrei in die Dunkelheit. Ein Knurren erklang. Gehen wir, sagte Andrei. Zu meiner Rechten bemerkte ich zwei durchnässte braune Bärenfelle, die über einem Holzgeländer hingen. Wir traten in die dunkle, verrauchte Hütte. Dort saßen zwei Russen an einem niedrigen Tisch, auf dem Wodkagläser standen; unter ihnen, auf dem gestampften Erdboden, lagen schwarze Bärenfelle. Eine Even-Frau stand in einer Ecke des Raumes am Feuer und bereitete eine Lachskopfsuppe zu. Wir wurden eher kühl empfangen, aber es war doch ein Empfang. Wir leerten unsere Gläser, aßen unsere Suppe und ließen uns dann auf dem Dachboden einer für Besucher vorgesehenen Hütte auf stark riechende Bärenfelle fallen.

Ich muss los, sagte Andrei am anderen Morgen. Er fügte hinzu, dass »sie« sicher kommen würden, da »sie« jetzt zwangsläufig wüssten, dass wir da waren. Wir bräuchten nur zu warten. Bis etwas passierte, bis jemand käme. Ein paar Tage später steckte ein Mann den Kopf durch die wackelige, durchbrochene Tür, und das Warten nahm ein vorläufiges Ende. Ilo. Um die fünfzig, großer, wendiger und kräftiger Körper, unergründliches Gesicht ohne die Spur eines Lächelns, dabei mandelförmige Augen, die nichts als Sanftmut ausdrückten, und hohe braune Wangenknochen. Ilo, der trotz der Einwände seines älteren Bruders Artjom gekommen war, um uns aus diesem russischen Jagdlager herauszuholen und über den Fluss zu bringen, die Grenzlinie, die friedlich zwischen zwei Welten dahinfließt, die nichts voneinander wissen wollen.

Wir ließen das Boot an einen Baum festgebunden zurück und tauchten unter den Kletterfarnen in den Birkenwald ein. Wir durchquerten einen weiteren Fluss. Erreichten eine Tundra. Dann einen weiteren Wald. Durchquerten einen neuen Wasserlauf. Bis wir eine Hütte erblickten, ein Proviantlager und eine Jurte. Wir gingen hinein, kniffen im Rauch die Augen zusammen. Setzten uns auf die Rentierfelle rund um das Feuer. Der schwarze Teekessel auf den Flammen pfiff. Wir ließen den Tee schweigend ziehen. Dann blickte Ilo zu uns auf. Das hier ist Manatsch, sagte er.

Der Regen begann auf die Plane zu trommeln, mit der die Jurte bedeckt war; erneut richteten wir uns im Warten ein. Doch diesmal tauchten wir, anders als bisher, vollkommen darin ein, wir vergaßen, wie es angefangen hatte und wo es aufhören würde. Die einzelnen Tropfen verwandelten sich in eine Sturzflut. Ich verfiel in einen Dämmerzustand. Darin befinde ich mich noch drei Tage, nachdem wir angekommen sind, endlich da, wo ich so sehr hinwollte.

Geburt eines Feldes

Jeden Morgen verschwindet Ilo hinter dem Regenvorhang, um am Fluss seine Netze einzuholen, zwanzig Minuten von der Jurte entfernt. Jeden Mittag kommt er die Arme voller Lachse zurück, die er sofort verwertet, die Hälfte im apana5 der Hunde, die andere Hälfte für uns. Auf dem Feuer gebraten oder als Suppe gekocht. Ilo erzählt uns von den französischen Sängern und Sängerinnen, die er bewundert, ein bisschen von Edith Piaf, viel von Joe Dassin. Während er mit dem Messer den Fisch schuppt, fragt er uns, ob es in Frankreich Löwen gibt. Wir reden auch von der Erde, die sich dreht, selbst wenn es nicht wahrnehmbar ist, und von der Sonne, die »untergeht«, während wir es doch sind, die unter dem Horizont verschwinden. Es regnet weiter, und es ist seltsam, sich da draußen eingesperrt zu fühlen und über absonderliche Themen zu diskutieren, die meine pathologische Ungeduld mich in die Kategorie der Gemeinplätze einordnen lässt.

Am Morgen werden wir von Stimmen geweckt, die knisternd aus einem alten Funkgerät dringen. Ilo liegt in einer Ecke auf einem Rentierfell, das Mikrofon des Funkgeräts in einer Hand, das Ohr dicht am Lautsprecher, und lauscht. Zehn Pakete Schwarztee der Sorte Weliki Tigr Klassitscheski, fünf Tüten Maxim’s Kaffee, zwanzig Kilo Mehl, zehn Kilo Zucker. Eine andere Stimme antwortet, ist notiert. Nimm auch eine Tüte Bonbons, für die Kinder. Und zwei Stangen Zigaretten. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, wer da spricht und von wo aus, ich begreife nur, dass dieses Funkgerät das Mittel ist, mit dem die Even von Itscha mit der Außenwelt kommunizieren und ihre Bestellungen an diejenigen übermitteln, die in den Wald zurückkommen, dass alle oder fast alle Jagdlager über diesen Funk verbunden sind, ebenso wie die nomadisierenden Rentierhalter, die in der Gegend unterwegs sind. Ilo wartet, bis die Stimmen versiegen, und fragt dann, ob jemand etwas über die Wettervorhersage weiß. Jemand, der aus dem Dorf Esso spricht, antwortet, ja, sie hätten den Wetterbericht gesehen und es würde noch mehrere Tage so weitergehen mit dem schlechten Wetter. Inja, sagt Ilo auf Even. Okay. Er schaltet das Funkgerät aus, sitzt einen Moment nachdenklich da, steht auf, zieht seine Stiefel an und verschwindet wieder im Regen.

Artjom, Ilos Bruder, ist gestern zurückgekommen. Die Stimme der Autorität aus dem Funkgerät in Ketatschan, das war er, unsere Anwesenheit ist ihm ganz offensichtlich nicht recht. Jedes Mal, wenn er die Jurte betritt, würde ich am liebsten im Erdboden versinken, aber ich kann nirgendwo hin, ich stecke in diesem Unbehagen fest, muss seine schweigende Missbilligung erdulden und versuchen, mich so gut wie möglich zu benehmen, um den Eindruck zu verbessern, den wir auf ihn machen. Artjom ist in Manatsch der Chef, das sieht man, es ist sein Jagdlager, sein Haus, sein Revier. In Gedanken schmiege ich mich ganz an Ilos Sanftmut; ich meide den Blick seines Bruders so gut wie möglich. Der Regen lässt nicht nach, und ich fühle mich immer deprimierter. Wir warten seit einer Woche, aber worauf eigentlich? Das weiß niemand. Vielleicht darauf, dass etwas passiert.

Ich langweile mich ernstlich. Der Nachmittag geht zu Ende. Ilo rührt träge das Apana der Hunde um, das auf der Glut vor sich hin köchelt; aus dem Teekessel steigt der Dampf langsam zur Dachöffnung auf. Das Wasser prasselt auf die Planen, es ist ohrenbetäubend, geisttötend. Ich kritzele in meine Hefte, finde nichts Interessantes zu sagen, in mir ist Leere, keine Worte, noch weniger Sinn. Ich schreibe: Wenn dieser öde, trübe Regenschleier sich nur lichten könnte; wenn der Himmel aufklaren könnte; wenn nur alles geschehen könnte. Ich verstehe nichts von dem, was ich schreibe. Und plötzlich kippt alles, von jetzt auf gleich. Ich sehe noch deutlich vor mir, wie die Abdeckung der Jurte plötzlich auf eine Seite des Dachs zurückgeschlagen wird, wie der junge Mann in der tropfnassen orangeroten Regenjacke hereinkommt, die beiden Fremden bemerkt, die da sitzen. Sdorowo, sagt er in die Runde, ein Lächeln auf den Lippen. Ich heiße Iwan.

Da es immer noch regnet, warten wir weiter, halb auf Rentierfellen ausgestreckt, eine Tasse Tee in den Händen. Iwan erzählt uns von seiner Mutter, Darja, der Schwester von Ilo und Artjom. Er sagt, er werde uns zu ihr, zu sich nach Hause mitnehmen, nach Twajan, dem abgelegensten Jagdlager, sechzig Kilometer flussabwärts an der Itscha gelegen. Wenn das Wetter sich beruhigt hat, wenn es möglich ist. Und wir werden in Drakun haltmachen. Denn zwischen Manatsch und Twajan liegt Drakun. Dort lebt Memme, das Gedächtnis unserer Familie. Memme ist sehr alt, sehr weise, sie hat alles erlebt. Als von seiner Mutter die Rede ist, taut Artjom etwas auf. Ja, bring sie zu Memme. Wenn es jemanden gibt, der euch etwas Interessantes erzählen kann, sagt er, dann ist sie das.

Am nächsten Tag hat der Regen sich gelegt. Unterdessen sind in der Nacht Cousins von Iwan in Manatsch angekommen – seit gestern scheint sich alles zu überstürzen, während die Tage seit Wochen einer wie der andere dahinflossen. Da die Cousins aus dem Dorf kommen, haben sie ein paar Flaschen Wodka mitgebracht, was zugleich eine gute und eine schlechte Nachricht ist. Unsere Reise über die Itscha nach Twajan gestaltet sich mühsam, ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Langsam, im Rhythmus des Motors, der kaputtgeht und repariert werden muss, des Schlauchboots, das Luft verliert und wieder aufgepumpt werden muss, der Deckel voll Kartoffelschnaps, die geleert werden müssen, fahren wir unter dem unergründlichen Blick der Seeadler, die in den Baumwipfeln sitzen, den Fluss hinab. Nach mehreren Stunden Fahrt (oder Dahintreiben) und ein paar Pausen auf kleinen Inseln mitten im Fluss, um das Wasser aus dem Boot zu schöpfen (und festzustellen, dass unser Fotomaterial dahin ist), erreichen wir eine Gabelung. Unter den niederen Ästen wird ein schmaler Flussarm sichtbar, die Köpfe und Rücken der Passagiere beugen sich plötzlich, Iwan schaltet den Motor aus und holt die Ruder hervor, wir gleiten durch einen Blättertunnel, alle sind still. Auf einmal erklingt Kinderlachen, im Dickicht raschelt es, und schließlich sehen wir sie, Onkel Wanka, Onkel Wanka, rufen sie Iwan entgegen, sie sind zu fünft oder zu sechst, ich weiß es nicht mehr genau, denn ich sehe vor allem Klawa vor mir, Iwans Tante, die uns trotz einer Spur von Besorgnis im Gesicht freundlich begrüßt. Sie sagt uns sehr schnell, dass wir Memme heute nicht werden sehen können, weil sie schläft, sie ist müde, sie ruht sich in der Hütte aus. Später, wenn ihr aus Twajan zurückkommt, haltet ihr und dann werdet ihr mit ihr sprechen können. Ich habe ihr gesagt, dass ihr kommt, sagt sie noch, sie ist einverstanden. Wir verabschieden uns von Klawa und machen uns wieder auf den Weg.

In Twajan ist es Nacht, als wir ankommen, Darja wartet am Ufer. Darja, von der ich noch nichts weiß, vor allem nicht, wie wichtig sie für mich werden wird; Darja, zu der Zeit sechzig Jahre alt, das Gesicht vom Leben gezeichnet, aber mit unendlich sanften Augen; Darja, die uns die Hand drückt und sagt, sie sei glücklich, uns kennenzulernen.

Wir sitzen alle um das Feuer herum im at’ien6, Iwan richtet den Lachskaviar in Schälchen an, schneidet das frische Brot, das seine Mutter gerade aus der Glut geholt hat, nimmt die Flasche unter dem Tisch hervor, stellt die kleinen Zinnbecher vor uns. Es ist ein schöner Abend, wir treiben auf den Dünsten des Alkohols dahin, es wird lebhaft diskutiert, sie freuen sich, ihre »ersten Fremden« bei sich zu empfangen, und wir sind glücklich, endlich da angekommen zu sein, wo wir hinwollten, auch wenn wir nicht genau verstehen, warum wir gerade da hingegangen sind. Die Ängste, die Ungeduld, die Zweifel, all das hat sich in der Gischt des Flusses aufgelöst. Matschilda, Darjas Schwiegersohn, vertieft seinen Blick ins Feuer. Es ist gerade etwas passiert, sagt er. Seht ihr?, fragt er uns. Nein, antworte ich. Jemand kommt oder jemand geht, ich weiß nicht, es ist nicht klar. Etwas passiert jedenfalls. Primeta7. Matschilda legt Holz nach, damit das Feuer weiter zu ihm spricht, aber es schweigt, es wird heute Abend nichts mehr sagen. Iwan lacht, hör auf mit deinen Alte-Leute-Geschichten. Er schenkt uns nach, und so geht die Nacht weiter, jemand bringt einen alten Kassettenrekorder, der nicht richtig funktioniert, Charles fängt an zu singen, ich singe auch, wir singen alle Lieder unserer Länder in allen Sprachen, die wir kennen, und lachen aus voller Kehle.

Ich stehe mit schmerzendem Schädel auf, froh, aber nicht sehr frisch. Ich krieche aus dem Zelt, gehe zum At’ien hinüber und stoße die Tür auf. Das Feuer ist aus, es ist niemand mehr da. Draußen weht ein komischer Wind, ein Wüstenwind, der Staub aufwirbelt und trockenes Gras vor sich her wälzt. Metallteile klappern, die Äste der Bäume schlagen gegeneinander. Mir ist unwohl zumute. Ich laufe zum Fluss hinunter, dort sehe ich Darja, die Wasser schöpft. Als sie sich aufrichtet, taucht sie ihren Blick in meinen, ihre Augen glänzen, sie haben vor Kurzem Tränen vergossen. Ich stehe dumm da und frage: Was ist passiert? Ich weiß es nicht, antwortet Darja. Aber Memme ist heute Nacht gestorben.

Ich denke plötzlich an Iwan. An seinen Onkel Artjom, der im Morgengrauen gekommen ist, um ihn zu holen, weil das Funkgerät hier kaputt ist, weil heute Nacht nur die Flammen gesprochen haben. Ich sage mir, dass er sicher voller Schuldgefühle ins Boot gestiegen ist: Er war nicht da, als heute Nacht das Herz seiner Großmutter aufgehört hat zu schlagen. Ich stelle mir den Orkan vor, der in seinem Inneren toben und alles hinwegfegen muss, was es in seinem Körper an Stabilem und Festem gab. In dieser Nacht sind wir angekommen; in dieser Nacht ist die alte Seele am Fluss gestorben. Aber was konnte er, Iwan, für dieses Außen, dass sich in den Wald eingeladen hatte? Er war die Bresche, die Öffnung, der Spalt, die Schwachstelle gewesen; der Führer. Ich stelle mir auch vor, wie er sich an die Lieder, die Musik erinnert, und, es ist unerträglich, an die Freude und das Glück, da zu sein mit diesen anderen, die von so weither gekommen sind. Ich sage mir, dass er vor Wut brennen muss, auf sich selbst, auf uns und auf das fatum, das Unwiderrufliche.

Der Lärm eines Motors auf dem Fluss unterbricht meine schweifenden Gedanken. Es ist Iwan, der zurückkommt. Mein Herz beginnt zu rasen, ich bin auf alles gefasst, vor allem aber darauf, dass wir auf der Stelle aus dem Wald verwiesen werden. Iwan kommt den schmalen Weg hinauf, ich bin oben, er bleibt vor mir stehen, taucht seine trockenen, festen, aber nicht harten Augen in meine, dreht den Kopf schweigend zur Seite, sieht Charles herankommen. Da ihr schon da seid, kommt ihr mit uns, sagt er nur. Wir werden Großmutter alle zusammen begraben.

In Drakun brennt zwischen den Bäumen der Lichtung ein Feuer, abseits der beiden Blockhütten und des At’ien. Die Männer kommen mit Holz beladen aus dem Wald zurück, das sie rasch zu Pfählen verarbeiten, um sie in einem Radius von vier Metern rings um die Feuerstelle in den Boden zu schlagen. In dem Kreis werden drei große Pfeiler aufgestellt und an ihrer Spitze gekreuzt: die Struktur. Die Pfähle, die den Kreis bilden, werden oben mit weiteren Stangen verbunden, dann wird das Dachgerüst gebaut und mit der Struktur zusammengefügt. In etwa einer halben Stunde ist der ot’schan, eine große Sommerjurte, in der sich die Familie versammeln wird, aufgebaut. Gegen Tagesende und in der Nacht beginnen die Verwandten herbeizuströmen, über Land, zu Pferd, oder über den Fluss, mit Iwan, der hin und her pendelt (es gibt nur ein einziges Boot in dem von den Even bewohnten Itscha-Gebiet, und das ist seines), um sie da abzuholen, wo sie sind.

Am Morgen wecken uns Hammerschläge. Direkt neben unseren Zelten entsteht im Nebel der Dämmerung ein Sarg, Iwan schlägt die Nägel einen nach dem anderen ein, seine Neffen bringen ihm nach und nach die Bretter, die sie tags zuvor zugeschnitten haben. Später am Morgen muss ein Platz gefunden werden. Darja zeigt auf den Hügel, der Drakun, den Fluss und den Wald überragt, dahin, wo Memme sich gerne hinsetzte. Die heranwachsenden Jungen und die jungen Männer gehen mit Schaufeln los. Ich schaue ihnen nach, ich verliere sie aus den Augen, ich zwinge mich, näher hinzugehen, um ihnen zuzusehen, ich muss diese Szene in meinen Kopf hineinbringen. Mehrere Stunden lang graben sie schweigend. Nach einer Weile sind sie unter der Erde, ihre Gesichter schwarz vor Staub. Ich sehe ihre Augen in der Grube deutlich vor mir. Keine Tränen, kein Lächeln, unendliche Schlichtheit und auf ihre Arbeit bedachte Hände.

Um das Feuer im Ot’schan wird lebhaft diskutiert. Wir sind gänzlich in den Kreis integriert, und es ist seltsam, fast als wären wir schon immer dagewesen, seit vielen Jahren in dieser Familie, und als wäre es vorgesehen, dass wir bei dieser Totenfeier dabei sein würden, wenn sie stattfinden sollte. Darja und ihre Kinder stellen uns den entfernteren Verwandten vor, die gestern Abend und heute Morgen angekommen sind, ich vergesse ihre Namen fast sofort wieder, es sind zu viele, wir müssen knapp fünfzig sein, als wir uns drinnen und draußen hinsetzen, um einen späten Mittagstee zu trinken.

Ich weiß noch nicht, dass ich gerade so gut wie alle ständigen Bewohner des Waldes kennengelernt habe und dass ich Jahre brauchen werde, um sie alle wiederzusehen, nach und nach, in ihren jeweiligen Jagd- oder Rentierlagern; ich bin weit davon entfernt, mir vorzustellen, dass diese Leute, ihre Namen, ihre Leben, ihre Orte und Lebensentscheidungen jahrelang in meinen Gedanken und auf den Seiten meiner Notizhefte leben werden.

Die Kinder kleiden den Sarg mit bunten Stoffen aus und schmücken ihn mit Blumen, die sie in der Tundra gepflückt haben. Memme ist in der Hütte, sie liegt in ihren schönsten, bestickten und mit Perlen verzierten Kleidern auf dem Bett. Das weiß ich, weil Darja sie mir beschreibt, aber ich gehe nicht zu ihr hinein, das geht über meine Kräfte. Ich kann dem Gesicht des Gedächtnisses dieses Ortes, das erloschen ist, als wir gerade ankamen, nicht gegenübertreten; trotz des unverhofften Empfangs und des Wohlwollens, das die Familienmitglieder uns entgegenbringen, spüre ich, dass das Gespenst der Schuld nicht weit weg ist. Meine Haltung in diesem Moment ist bei Weitem nicht die einer unbeteiligten Forschenden, wie es wünschenswert wäre. Ich kämpfe mit dem undeutlichen Gefühl, dass unsere Anwesenheit hier und jetzt, durch und mit dem Tod, kein bloßer Zufall ist, dass es da etwas zu verstehen gibt, für uns und für sie. Was? Das weiß ich nicht. Ich erinnere mich, dass mein Kopf sich schwer anfühlt, ich kann nicht mehr denken, die synaptische Übertragung ist unterbrochen. Ich begreife einfach nur, dass dieses Begräbnis der Beginn von etwas ist und dass es für mich den Ansatz einer möglichen Antwort auf Problematiken darstellt, die ich auf der anderen Seite der Beringstraße, in Alaska, vielleicht nur gestreift habe.

Um zwei Uhr nachmittags kommt Memme in ihrem bunten, nach Harz duftenden Sarg aus der Hütte heraus, auf den Schultern der jungen Männer, die am Morgen das Loch gegraben haben, das sie aufnehmen wird. Eine langsame Prozession, angeführt von den Kindern, die Blumensträuße tragen, beginnt auf die Anhöhe hinaufzuziehen. Die Jungen setzen den Sarg neben dem Loch ab, und die, die es wünschen, treten heran und beugen sich zum Gesicht ihrer Ahnin hinab, um ihr einen letzten Kuss zu geben. Dann, ohne ein Wort, wird der Deckel geschlossen. Man hört manche diskret weinen und schniefen. Als die jungen Männer anfangen, den Sarg mithilfe von Seilen in die Erde hinabzulassen, erklingt die Stimme eines alten Mannes: Ihr irrt euch, der Osten ist nicht da, ihr Kopf muss so weit wie möglich im Osten liegen! Verlegen ziehen die Jungen den Sarg wieder hoch und drehen ihn in die andere Richtung, bevor sie ihn wieder hinablassen. So ist es besser, murmelt der alte Mann. Und alle nicken zustimmend.

Während die Schaufeln arbeiten und das Grab sich langsam mit Erde füllt, zündet Darja daneben ein kleines Feuer an. Ich hocke mich in der Nähe hin, etwas im Hintergrund, um sie nicht zu stören. Als die Flammen hochschlagen, flackernd und zart, und der Rauch in sanften Spiralen in den Himmel aufsteigt, wirft Darja etwas Nahrung hinein. Dann legt sie in die Mitte des Feuers eine Nadel, Faden, einen Fingerhut und eine Brille. Ich höre sie einen Spruch auf Even sagen, den ich natürlich nicht verstehe. Dann einen weiteren, leiser, ein Gemurmel, das in den Gesprächen der Alten untergeht, die etwas abseits mit Zigaretten zwischen den Lippen im Gras liegen und abwechselnd Darjas Feuer und das Schaufeln der Jungen betrachten. Als das Loch zugeschaufelt ist, wird am Kopfende des Grabes ein großer, frisch gemeißelter Obelisk aufgestellt. Alle stehen auf und treten näher, jeder nimmt eine Handvoll frisches Gras, man geht dreimal um die Ruhestätte herum, im Uhrzeigersinn, ohne ein Wort, und legt das Gras beim Verlassen des Kreises auf das Grab.

Darja macht das Feuer aus und schiebt die Überreste der verbrannten Gegenstände unter die Asche. Sie ruft die Kinder herbei, und sie legen ihre Hände auf die noch warme Feuerstelle. Dann legen sie die Hände auf die lockere Erde des Grabs, überall da, wo es nicht vom Gras bedeckt ist. Die Prozession zieht sich langsam zurück, bummelt auf dem Rückweg ins Lager etwas. Ich warte eine Weile, um als Letzte zu folgen, ich werfe einen Blick zurück. Auf dem Obelisken steht nichts geschrieben. Asche, Holz, Gras und die Spur von Händen in der Erde.

Als ich die Tür des At’ien öffne, sehe ich Memmes sechs Kinder, die dem Eingang gegenüber im Halbkreis hinter dem Feuer sitzen. Artjom nickt Charles und mir zu und lädt uns ein, uns zu ihnen zu setzen. Eine verbeulte Blechtasse geht herum, wir nehmen jeder einen Schluck Wodka, nachdem das Feuer knisternd die ersten hundert Gramm geschluckt hat. Die Gesichter sind nüchtern, ohne übersteigerte Zeichen von Trauer. Es gibt Rentierfleisch und Lachs, es wird wenig gesprochen. Später gehen alle hinaus, um sich zurückzuziehen, sich im Ot’schan hinzulegen oder sich draußen auf Baumstämme zu setzen, um zu rauchen und zu palavern. Am Abend wird am Feuer wieder gelacht, alle vermischen sich wieder. Darja sagt zum zweiten Mal, seit wir uns begegnet sind, sie sei glücklich, dass wir da sind. Wir reden über Jagd, Kommunismus, Pferde, Bären, Schamanen, Wölfe, Hubschrauber und Rentiere.

In der Nacht denke ich an die Tote. An ihren Kopf, der im Osten liegt. Eines der Gespräche des Abends fällt mir ein, und meine Gedanken winden sich wieder und wieder um die gesprochenen Worte. Artjom hat uns beschrieben, was er tut, wenn er einen Bären tötet, um den Übergang seiner Seele zu begleiten. Du nimmst den Kopf und drehst zuerst die Augen in den Schädel hinein. Seine Seele darf dir nicht folgen, wenn du weggehst; sie darf nicht sehen, wohin du gehst. Dann richtest du sein Gesicht nach Osten und sagst ihm, dass er morgen anders wiederkommen wird. Ich weiß nicht, ob er diese Worte heute auch für Memme gesprochen hat. Wahrscheinlich schon? Wenn er sie für einen Bären sagt, dann muss er sie für seine Mutter erst recht aussprechen. Aber ich weiß es nicht, und meine Unwissenheit macht mich rasend. Ich denke an die Sonne, die morgen früh hinter ihrem Schädel aufgehen wird. Wird auch sie anders wiederkommen? In welcher Gestalt wird sie wiedergeboren werden?

Ich liege in der Jurte einer Rentierhalterbrigade, zehn Kilometer von Drakun entfernt, und warte mit einigen Mitgliedern der Familie darauf, dass möglicherweise ein demilitarisierter Panzer vorbeikommt, um vielleicht morgen weiterreisen zu können, zur Piste, zur Straße, ins Dorf und, was uns angeht, nach Frankreich. Ich denke an die letzten Tage zurück, in meinem Inneren kämpfen Widersprüche: das Gefühl, etwas gefunden und sofort wieder verloren zu haben, oder vielleicht das Gegenteil, ich weiß es nicht. Ich sage mir, es war alles da, in dieser kollektiven Vorbereitung, um Memme dahin zu begleiten, wo sie hinging, wo es auch sei. Eine Art, Körper und Seelen zu empfangen, sie zu umhüllen; eine Sanftheit, die durch Zurückhaltung und Schlichtheit entsteht; ein sparsamer Umgang mit Worten und Gesten, aber eine Fülle der Herzen.

Ich denke an meinen Vater, als er gestorben ist. An alles, was nicht da war, in dieser Kirche, unter dieser Orgel, angesichts dieses geschlossenen, lackierten Sargs. Die moderne Gesellschaft ist krank vor Distanz, sie leidet an dieser Kluft, die sie mühevoll gegraben hat zwischen sich und allem, was ihre Integrität bedroht, diesen großen »Anderen«, die Furcht einflößen, weil sie unkontrollierbar sind, darunter in erster Linie folgende Abstraktionen: die Natur, die »Primitiven« und der Tod. Ich sage mir hier in den tiefen Wäldern, dass diese Beerdigung die Ordnung wiederherstellt, indem sie Memmes Körper allen Formen von pyramidaler und hierarchischer, staatlicher und religiöser Kontrolle entzieht; ich denke weiter, dass es der Zusammenbruch des sowjetischen Systems ist, der das Unvorstellbare möglich gemacht hat, und dass ich das werde erklären müssen. Ergründen, wie gerade dieses kleine Even-Kollektiv, das durch die Kolonisatoren nacheinander kontaminiert, dezimiert, beraubt und unterjocht und schließlich genau deshalb von der großen Geschichte vergessen wurde, die systemische Krise zu nutzen wusste, um seine Autonomie zurückzugewinnen. Diese Bestattung ist meine Epiphanie als Forscherin, sie umfasst im gleichen Zug den Anfang und das Ende meiner Suche. Ich lächle im Dunkeln, meine Brust hebt und senkt sich im Rhythmus der Atemgeräusche um mich herum. Einen Ort aussuchen, die Erde selbst aufgraben, um den Körper des geliebten Menschen hineinzulegen, die Dinge benennen, um sich zu verabschieden, und die Lebenden um die Leere herum zu versammeln, das bedeutet zu wählen, welche Form man ihr geben will. Das heißt es, die Leere zu formen. Sich um die Leere herum verbinden. Nicht um sie auszufüllen, sondern um ihr eine Bedeutung zu geben. Die Hände, die sich auf dem Holz, in der Erde, über dem Feuer, in der Asche zu schaffen machen, das sind lauter Arten, das Kollektiv rund um das herum wieder zu begründen, was am ungewissesten, am unkontrollierbarsten, am un-menschlichsten und rätselhaftesten ist: der Tod. Sie haben uns unsere Toten gestohlen, sage ich mir noch, bevor ich einschlafe. Memme hat niemand gestohlen. Ich werde wiederkommen, ich muss wiederkommen, hier geht es weiter. Dann dämmere ich ein.

Twajan, August 2019

Darja und ich sitzen im At’ien, es ist fünf Uhr morgens, der Tee dampft zwischen unseren Händen. Wir lieben diese Momente der Zweisamkeit in der Dämmerung, wenn noch niemand wach ist. Im Sommer reden wir in diesen Morgenstunden über die Dinge der unsichtbaren Welt. In den vergangenen Jahren haben wir von so vielen Leuten gesprochen, uns an so viele Situationen erinnert und so viele Geschichten erzählt. Immer in Einklang mit dem Wetter draußen, mit der Eiseskälte im Winter, den Herbststürmen oder den Frühlingsnebeln. Aber aus irgendeinem Grund habe ich es nie gewagt, mit Darja noch einmal über die Beerdigung ihrer Mutter zu reden, die doch am Anfang unserer Begegnung stand und dieser von den ersten Momenten an eine besondere Tonalität verliehen hat.

Heute Nacht habe ich von Toten geträumt und Darja auch, und von ihnen sprechen die ersten Worte, die wir beim Aufwachen flüstern. Die Gedanken überstürzen sich in meinem Kopf, stoßen gegen die Wände meines Schädels. Es ist jetzt fünf Jahre her, murmele ich fast für mich selbst. Ich führe die Tasse zu den Lippen, trinke einen Schluck heißen Tee, entreiße meinen Blick mühsam den Flammen, um ihn auf Darja zu richten. Sag, Dascha. Was hast du an dem Tag, als wir sie begraben haben, zu Memme gesagt, als du den Faden, den Fingerhut und die Brille ins Feuer gelegt hast? Darja lächelt. Wenn du ankommst, nähst du dir ein schönes Kleid. Sie fährt fort: Weißt du, wir sind Nomaden. Heute sind wir hier, aber morgen sind wir woanders. Man muss also mit dem zurechtkommen, was man hat. Wir nehmen ein bisschen von allem, was wir im Alltag verwenden. Ein bisschen Fleisch, ein bisschen Salz, Streichhölzer, das alles tragen wir zusammen. Dann übergeben wir es dem Feuer, als Opfergabe. Denn so wird Memme mit Geschenken in der Tasche anderswo ankommen; sie kann sie mit den Ahnen teilen. Alles, was sie im Leben bei sich hatte, hat sie mit ins Jenseits genommen. Verstehst du? Ja. Sie fährt fort. Memme ist die Einzige, die wir in der letzten Zeit im Wald begraben haben. Seit der Kollektivierung wird im Dorf beerdigt. Aber bei Memme kam das nicht infrage, weder für sie noch für uns. Wir haben nicht um Erlaubnis gefragt. Wir haben es einfach getan. Für mich wird es genauso sein, weißt du. Darja führt die Teetasse an ihre Lippen, trinkt einen Schluck und seufzt leise. Memme war lustig. Sie machte gern Witze, alberte herum. Diese Trauerfeier passte zu ihr. Bevor sie gestorben ist, hat sie mit jedem ihrer Kinder geredet. Und auch mit ihren Enkeln. Sie hat allen eine Botschaft mitgegeben. Ich habe gesagt, dass wir zurechtkommen würden. Dass wir auf das hören würden, was sie uns gesagt hat.

Darja greift nach dem Schürhaken und schiebt die glühenden Scheite vom Rand der Feuerstelle zur Mitte. Ich sinne weiter nach. Erzähl mir noch mehr, bitte. Du hast noch eine letzte Sache gesagt, bevor du das Feuer ausgemacht hast. Erinnerst du dich? Ja. Sie blickt in die Flammen und flüstert: Schau nicht zurück. Geh voran. Es wird dir da, wo du hingehst, gut gehen. Sie schaut zu mir auf. Weißt du, manchmal kommt es vor, dass die Leute nacheinander wegsterben. Ich habe diese Worte gewählt, um das zu vermeiden.

ERSTER TEIL

Spiegel in Beringia

Bietet die Symmetrie den Menschen, die sie vereint und gleichzeitig einander entgegenstellt, nicht das eleganteste und einfachste Mittel, ähnlich und verschieden zu sein, fern und nah, Freunde, wiewohl in gewisser Weise Feinde, und Feinde, obwohl man Freunde bleibt? Unser eigenes Bild, in einem Spiegel betrachtet, scheint uns so nahe zu sein, dass wir es mit dem Finger berühren könnten. Und dennoch ist uns nichts ferner als dieser Andere unserer Selbst, denn ein bis in die kleinsten Einzelheiten imitierter Körper spiegelt sie alle umgekehrt wider, und zwei Formen, die einander wiedererkennen, bewahren beide die erste Richtung bei, die das Schicksal ihnen gewiesen hat.

CLAUDE LÉVI-STRAUSS, Strukturale Anthropologie II

Einleitung