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Um den Süchtigen zu heilen, muss man zum Anfang zurückkehren… Dr. Gabor Maté gehört zu den weltweit anerkanntesten Experten der Suchtpsychologie. Seine einschneidenden Erkenntnisse, die er durch seine jahrzehntelange Arbeit als Arzt in der Drogenszene Vancouvers erwarb, verändern unsere Sicht auf menschliche Entwicklung, Trauma und Entwurzelung. In seinem internationalen Bestseller Im Reich der hungrigen Geister nähert er sich mit ganzheitlichem und mitfühlendem Blick der Sucht – sei es nach Alkohol, Heroin, Sex, Tabak oder Glücksspiel. Dabei widerspricht er gängigen Annahmen, Suchtverhalten sei ein Phänomen willensschwacher Menschen oder eine genetische Disposition. Ganz im Gegenteil: Es durchzieht unsere gesamte Gesellschaft und lässt sich nur als komplexes Zusammenspiel von persönlicher Geschichte, emotionaler Entwicklung und neurochemischen Prozessen verstehen. Auf seine fesselnde Art verwebt Maté die aktuellsten Erkenntnisse der Neurowissenschaften und umfangreiche Sozialstudien mit authentischen Patientengeschichten und gesellschaftlichen Debatten. Dabei bezieht er klare Positionen, beispielsweise zur Legalisierung von Drogen und zur Entkriminalisierung von Süchtigen. Mit Maté lernen wir, dass der erste Schritt zur Heilung in einfühlsamer Selbsterkenntnis liegt. Seine hungrigen Geister werden unseren Blick auf uns selbst, auf unsere Mitmenschen und auf die Welt für immer verändern. „Ein bewegender, kontroverser und vielschichtiger Blick auf die Hintergründe von Suchtverhalten. Im Reich der hungrigen Geister liest sich nicht nur als lebhafte Analyse der körperlichen und seelischen Ursachen von Drogensucht, sondern führt auch direkt ins Herz des Autors selbst.“ The Globe and Mail
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DR. GABOR MATÉ
IM REICH DER HUNGRIGEN GEISTER
AUF TUCHFÜHLUNG MIT DER SUCHT – STIMMEN AUS FORSCHUNG, PRAXIS UND GESELLSCHAFT
Dr. Gabor Maté
Im Reich der hungrigen Geister
Auf Tuchfühlung mit der Sucht –
Stimmen aus Forschung, Praxis und Gesellschaft
1. deutsche Auflage 2021
ISBN 978-3-96257-217-4
© Narayana Verlag 2021
Titel der englischen Originalausgabe:
In the Realm of Hungry Ghosts - Close Encounters with Addiction
Copyright © 2008 by Gabor Maté, this translation published by arrangement with Alfred A. Knopf Canada, a division of Penguin Random House Canada Limited and Liepman AG.
Translated from the English language: In the realm of hungry ghosts
First published in Canada by Alfred A. Knopf Canada in 2008
Übersetzt aus dem Englischen von Annegret Hunke-Wormser & Elisabeth Möller-Giessen
Cover Design: Andrew Roberts
Coverlayout: Narayana Verlag GmbH
Fotografien: © Rod Preston
Herausgeber:
Unimedica im Narayana Verlag GmbH, Blumenplatz 2,
79400 Kandern, Tel.: +49 7626 974970-0
E-Mail: [email protected], www.unimedica.de
Alle Rechte vorbehalten. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlags darf kein Teil dieses Buches in irgendeiner Form – mechanisch, elektronisch, fotografisch – reproduziert, vervielfältigt, übersetzt oder gespeichert werden, mit Ausnahme kurzer Passagen für Buchbesprechungen.
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Die Empfehlungen in diesem Buch wurden von Autor und Verlag nach bestem Wissen erarbeitet und überprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.
Für meine geliebte Rae, meine Frau und liebste Freundin, die meine Arbeit seit fünfzig Jahren mitträgt, durch dick und dünn mit mir geht, in guten wie in schlechten Zeiten an meiner Seite ist, und dies immer zu unserem Besten.
Anmerkungen des Autors
Einleitung
Die hungrigen Geister: Im Reich der Süchte
Teil I Der Höllenzug
Kapitel 1 Das einzige Zuhause, das er je hatte
Kapitel 2 Die tödliche Macht der Drogen
Kapitel 3 Die Schlüssel zum Paradies
Kapitel 4 Sie glauben mir meine Lebensgeschichte wohl nicht!
Kapitel 5 Angelas Großvater
Kapitel 6 Tagebuch einer Schwangerschaft
Kapitel 7 Beethovens Geburtszimmer
Kapitel 8 Es muss Momente der Hoffnung geben
Teil II Arzt, heile dich selbst
Kapitel 9 Wer könnte das besser verstehen als ich?
Kapitel 10 Zwölf-Schritte – ein Protokoll
Teil III Ein anderer Zustand des Gehirns
Kapitel 11 Was ist Sucht?
Kapitel 12 Von Vietnam bis zum „Rat Park“
Kapitel 13 Ein anderer Gehirnzustand
Kapitel 14 Durch die Nadel – eine warme, sanfte Umarmung
Kapitel 15 Kokain, Dopamin und Schokoriegel
Kapitel 16 Wie ein Kind, das nicht erwachsen werden konnte
Teil IV Wie sich das süchtige Gehirn entwickelt
Kapitel 17 Ihre Gehirne hatten nie eine Chance
Kapitel 18 Trauma, Stress und die Biologie der Sucht
Kapitel 19 Es liegt nicht an den Genen
Teil V Der Abhängigkeitsprozess und die Suchtpersönlichkeit
Kapitel 20 „Ich tue alles, um das Gefühl der Leere zu vermeiden“
Kapitel 21 Zu viel Zeit für äußere Dinge
Kapitel 22 Armseliger Liebesersatz
Teil VI Die Idee einer humaneren Realität: Jenseits des Krieges gegen Drogen
Kapitel 23 Vertreibung und die sozialen Wurzeln der Sucht
Kapitel 24 Kenne deinen Feind
Kapitel 25 Ein gescheiterter Krieg
Kapitel 26 Die Freiheit der Wahl und die Wahl der Freiheit
Kapitel 27 Vorschlag für eine aufgeklärte, soziale Drogenpolitik
Kapitel 28 Ein kleiner, aber notwendiger Schritt
Teil VII Die Ökologie der Heilung
Kapitel 29 Die Kraft der mitfühlenden Neugier
Kapitel 30 Das innere Klima
Kapitel 31 Die vier Schritte – und der Fünfte
Kapitel 32 Enthaltung und das externe Milieu
Kapitel 33 Ein Wort an Familien, Freunde und Betreuer
Kapitel 34 Nichts ist verloren
Erinnerungen und Wunder: Ein Epilog
Appendix I Trugschlüsse in Adoptions- und Zwillingsstudien
Appendix II Eine enge Verbindung: Aufmerksamkeitsdefizitstörungn und Süchte
Appendix III Die Suchtprävention
Appendix IV Die zwölf Schritte
Endnoten
Danksagung
Referenzen
Index
Über den Autor
Anerkennung für Dr. Gabor Maté und seinen Bestseller Im Reich der hungrigen Geister
Alle Personen, Zitate, Fallbeispiele und Lebensgeschichten in diesem Buch sind authentisch. Keine verschönernden Details wurden hinzugefügt und keine künstlichen Charaktere wurden geschaffen. Zum Schutz der Privatsphäre habe ich für all meine Patienten Pseudonyme verwendet, mit Ausnahme von zwei Personen, die direkt darum gebeten haben, namentlich genannt zu werden. In zwei anderen Fällen habe ich – auch hier zum Schutz der Privatsphäre – die körperlichen Merkmale verändert.
Die Personen, deren Leben hier offengelegt wird: Sie haben ausnahmslos die auf sie zutreffenden Texte gelesen. Ferner haben die Personen, deren Fotos auf diesen Seiten abgebildet sind, ihre vorherige Genehmigung und endgültige Zustimmung erteilt.
Quellenverweise für alle Zitate aus wissenschaftlichen Arbeiten sind für jedes Kapitel am Ende dieses Buches in den Referenzen aufgeführt. Leider reicht der Platz nicht aus, um alle Zeitschriftenartikel aufzulisten, die bei der Erstellung dieses Buches hinzugezogen wurden. Fachleute – im Grunde genommen alle Leser – können mich für weitere Informationen gern kontaktieren. Ich bin über meine Website erreichbar: www.drgabormate.com. Ich freue mich über jeden Kommentar, kann aber Anfragen, in denen um medizinischen Rat gebeten wird, nicht beantworten.
Abschließend noch eine Anmerkung zu den Porträts in diesem Text. So demütigend es für einen Autor auch sein mag, dass ein Foto mehr sagt als tausend Worte, gibt es wohl keinen besseren Beweis für diese Aussage als die bemerkenswerten Fotografien, mit denen Rod Preston zu diesem Buch beigetragen hat. Da Rod in der Downtown Eastside gearbeitet hat, kennt er die Menschen, über die ich geschrieben habe, gut, und seine Kamera hat ihre Erfahrungen mit Treffsicherheit und Gefühl eingefangen. Seine Website: www.rodpreston.com
Was ist Sucht wirklich? Es ist ein Zeichen, ein Signal, ein Symptom der Verzweiflung. Es ist eine Sprache, die uns von einer Notlage erzählt, die verstanden werden muss.
ALICE MILLER
Abbruch der Schweigemauer
Auf dem Weg zur Wahrheit macht der Mensch zwei Schritte vorwärts und einen rückwärts. Die Leiden, die Sünden und die Langeweile des Lebens werfen ihn zurück, aber der Durst nach Wahrheit und der feste Wille treiben ihn vorwärts, immer vorwärts. Und wer weiß? Vielleicht erreicht er einmal die ganze Wahrheit.
ANTON ČECHOV
Das Duell
Es ist Februar 2018 – zehn Jahre nach der Veröffentlichung von Im Reich der hungrigen Geister. Ich steige aus einem Aufzug in einem Hotel in San Francisco. Von der anderen Seite der Lobby eilt ein Fremder mit offenen Armen auf mich zu. „Mein Sohn starb an einer Überdosis. Es war unbegreiflich für mich. Aber als ich Ihr Buch las, verstand ich, warum es geschehen war.“
Die tränenreiche Umarmung eines trauernden Vaters bestätigt mich darin, dass es richtig war, dieses Buch zu schreiben, und rechtfertigt die Arbeit, die dahintersteckt. In den letzten zehn Jahren haben mir Menschen aus allen Gesellschaftsschichten von überallher geschrieben, um die Wirkung des Buches auf sie selbst oder auf das Leben ihrer Lieben zu beschreiben. Sie berichten, wie es ihre Sichtweise auf süchtige Menschen und ihre Vorstellung von dem, was Sucht ist, beeinflusst hat. Es hat ihnen geholfen, ihr Herz für das ungeheure Ausmaß des Problems zu öffnen. Mein Buch hat Lieder und Gedichte in Kanada und den USA, Gemälde in Spanien sowie Theaterproduktionen in Rumänien und Ungarn inspiriert und wird heute in Ausbildungseinrichtungen, Suchtberatungsprogrammen und in Therapieeinrichtungen eingesetzt. Besonders dankbar bin ich angesichts der zunehmenden Suchtkrise für die Zuschriften junger Studenten, die beschreiben, wie sie motiviert wurden, Therapeuten zu werden oder Medizin bzw. Psychiatrie zu studieren, um Menschen, wie ich sie in meinem Buch geschildert und ihnen durch die Interviews Ausdruck verliehen habe, zu helfen. Eine Sozialarbeiterin aus Los Angeles schrieb: „Unsere Polizisten haben mich echt umgehauen – sie haben mir Hoffnung in meinem abgestumpften Herz gemacht. Vor allem einer hat sich das Konzept der Schadensminderung in Im Reich der hungrigen Geisterzur Orientierung genommen: Wenn er Kandidaten identifiziert, geht er mit Respekt und kreativem Mitgefühl auf sie zu.“ Das Buch hat Eingang in die Gefängnisse gefunden – Therapeuten haben mir von Häftlingen erzählt, die weinten, als sie feststellten, dass sich ihre Geschichten in diesem Buch oder in einigen meiner damit verbundenen Vorträge widerspiegelten. „Ihr Buch hat es mir ermöglicht, die Ursachen meiner Sucht herauszufinden“, schrieb ein in Idaho inhaftierter Mann. „Ich kann nun die Frage beantworten, die mir meine Familie und Freunde seit Jahrzehnten stellen: Warum?“
Die Frage nach dem ‚Warum‘ war noch nie dringlicher als heute.
Während ich diese Einleitung schreibe, gibt es das große Problem der Überdosierung von Opioiden. Alle drei Wochen sterben in den Vereinigten Staaten so viele Menschen an einer Überdosis wie bei den Anschlägen vom 11. September 2001 im World Trade Center. In Großbritannien, das in Europa den höchsten Prozentsatz an Heroinabhängigen verzeichnet, erreichten die drogenbedingten Todesfälle im vergangenen Jahr einen Rekordstand: In England und Wales starben über 3.700 Menschen, hauptsächlich an Heroin und verwandten Opioiden. In Deutschland kamen 1.300 Menschen durch Überdosierungen ums Leben. In Kanada sind die Zahlen ähnlich erschreckend. Laut dem Bericht der kanadischen Gesundheitsbehörde vom März 2018 gab es im Jahr 2017 mehr als 4.000 opioidbedingte Todesfälle, was einem Anstieg von fast 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht und „jeden Teil des Landes betrifft … mit verheerenden Auswirkungen auf Familien und Gemeinden“. In meiner Heimatregion British Columbia starben laut der Gesundheitsbeauftragten der Provinz, Dr. Bonnie Henry, im vergangenen Januar in nur einem Monat 125 Menschen an einer Überdosis. „Früher dachte man“, so erzählte mir Dr. Henry, „dass Überdosierungen den Menschen dort einfach so passieren“, womit sie die heruntergekommenen Viertel wie Vancouvers drogenberüchtigtes Downtown Eastside meinte, wo dieses Buch beginnt und endet und wo ein Großteil seiner Begebenheiten stattfinden. Dr. Henry berichtete, dass British Columbia 2016 einen öffentlichen Notstand ausrief, teilweise um die Diskussion von einem lokal begrenzten Notstand auf das umfassendere soziale Problem zu lenken, das es tatsächlich ist. „Das sind nicht irgendwelche Menschen. Es sind unsere Menschen, unsere Brüder und Schwestern, unsere Familien. Todesfälle durch eine Überdosis kommen in allen Stadtteilen vor, von den reichsten bis zu den ärmsten.“
Bei aller echten Betroffenheit und Trauer wegen dieses massenhaften Sterbens trösten wir uns leicht darüber hinweg, indem wir uns weismachen, dass diese Todesfälle nur auf individuelle Vorlieben oder Gewohnheiten zurückzuführen sind. Auf sozialer und politischer Ebene stellen sie menschliche Opfer dar. Die Menschen fallen dem anhaltenden Widerwillen unserer Gesellschaft zum Opfer, sich mit den Realitäten und den Ursachen der Sucht, insbesondere des Drogenkonsums, auseinanderzusetzen. Im Laufe der Jahrzehnte haben wir uns trotz aller Anhaltspunkte geweigert, eine Politik zu fordern oder anzunehmen, die die verheerenden Folgen der Sucht verhindern oder ihnen angemessen begegnen würde. Dies hat auch David Walker, Vorsitzender der Gesundheitsbehörde Public Health Ontario, in einem Brief an TheGlobe and Mail (17. März 2018) scharf und treffend bemerkt: „2003 wurde Kanada von einer neuen und beängstigenden Epidemie heimgesucht, vor allem in Toronto: Vierundvierzig Menschen starben an SARS. Die Regierungen der Provinzen und die Bundesregierung reagierten mit vollem Einsatz. Fünfzehn Jahre später befällt die Opioid-Sucht, eine weitere neue und beängstigende Epidemie, Kanada. Man fragt sich, warum unsere kollektive Reaktion relativ verhalten ausfällt. Liegt es daran, dass wir diejenigen, die sterben, weniger schätzen? Ist das die ‚fürsorgliche‘ Gesellschaft, zu der wir uns entwickelt haben?“
Wie bei vielen anderen menschlichen Problemen gibt es sogenannte unmittelbare Ursachen für diese eskalierende Epidemie – Ursachen, die unmittelbar zu den tragischen Ergebnissen beitragen. Jeder, der die aktuellen Nachrichten liest oder schaut, ist sich bewusst, dass die jüngste breite Verfügbarkeit der billigen und wirksamen Opioide Fentanyl und Carfentanyl unter den unmittelbaren Ursachen eine herausragende Rolle spielt. (Diese Drogen haben im Vergleich zu ihren pflanzlichen Verwandten Heroin und Morphium eine viel geringere Sicherheitsmarge, das heißt der Unterschied zwischen einer Dosis, die einen „high“ macht oder bei Entzugserscheinungen hilft, und einer Dosis, die tödlich wirkt, ist viel geringer. Daher ihre Letalität.)
Die Gefahr dieser potenziell selbstmörderischen Gewohnheiten ist nur die Spitze eines riesigen Eisbergs. In unserer Gesellschaft, in der die Menschen immer verzweifelter versuchen, der Isolation und dem Verdruss im Alltag zu entkommen, gibt es alle möglichen Süchte, und es werden immer mehr. „Die Internetabhängigkeit scheint eine weitverbreitete Störung zu sein, die es verdient, in das DSM-V [The Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Auflage] aufgenommen zu werden“, so las man im Editorial des American Journal of Psychiatry in dem Jahr, als dieses Buch erschien – und sie wurde seitdem allgemein viel umfassender als Erkrankung anerkannt.
Kürzlich wurde in einem Artikel in Psychology Today die „Computerspielsucht“ diskutiert. Smartphones sind ein weiterer wesentlicher neuer Suchtfaktor. Die New Yorker Psychotherapeutin Nancy Colier berichtete, dass „die meisten Menschen ihre Smartphones jetzt 150 Mal pro Tag oder alle sechs Minuten checken. Und junge Erwachsene verschicken inzwischen durchschnittlich 110 SMS pro Tag. Sechsundvierzig Prozent der Smartphone-Nutzer sagen mittlerweile, dass sie ohne ihre Geräte ‚nicht leben‘ könnten“: ein klassisches Zeichen für Suchtabhängigkeit.
Wir sollten uns davor hüten, Ursache und Wirkung zu verwechseln – nämlich die Erscheinungsform mit dem zugrunde liegenden Prozess. Hier hat man es nicht mit neuen Störungen zu tun, sondern nur mit neuen Zielen für das universelle und uralte Suchtverhalten; es sind neue Formen der Flucht. Die Prozesse des Geistes und des Gehirns sind bei allen Süchten, egal in welcher Form, gleich, ebenso wie die psychische Leere, die ihren Kern ausmacht.
„Die Daten offenbaren eine Gesellschaft, die von Verzweiflung gepackt ist, mit einem Anstieg ungesunder Verhaltensweisen und einer Epidemie von Drogen“, schrieb der Nobelpreisträger Paul Krugman in der New York Times. Wie sollen wir den Erscheinungsformen der Verzweiflung begegnen, ohne die Verzweiflung selbst zu verstehen?
Die Umstände, die die Verzweiflung – und damit möglicherweise auch die Sucht – fördern, sind mit jedem Jahrzehnt stärker in der industrialisierten Welt verwurzelt, vom Osten bis zum Westen: mehr Isolation und Einsamkeit, weniger Gemeinschaftskontakte, mehr Stress, mehr wirtschaftliche Unsicherheit, mehr Ungleichheit, mehr Angst und letztlich mehr Druck auf und weniger Unterstützung für junge Eltern. Angesichts der Pseudo-Verbundenheit unseres technologischen Zeitalters gibt es immer mehr Abkoppelung. Das Magazin Adbusters bemerkte hierzu in einer kürzlich erschienenen Ausgabe ironisch: „Sie haben 2.672 Freunde und durchschnittlich dreißig Likes pro Beitrag und niemanden, mit dem sie an einem Samstagabend zusammen essen gehen können.“
Es ist frappierend, dass hier in Downtown Eastside, wo Konsumenten in einigen Einrichtungen Drogen prüfen können, bevor sie sie injizieren, sich immer noch viele für Substanzen entscheiden, von denen sie wissen, dass sie potenziell tödliche Bestandteile enthalten. Um zu verstehen, warum das so ist, müssen wir nach den eigentlichen Ursachen suchen, die die Menschen überhaupt erst zum Drogenkonsum – und zu Abhängigkeiten jeglicher Art – treiben.
„Wir müssen darüber reden, was Menschen dazu veranlasst, Drogen zu nehmen“, sagte der berühmte Traumaforscher Dr. Bessel van der Kolk. „Menschen, die sich gut fühlen, tun nichts, was ihrem Körper schadet. Traumatisierte Menschen fühlen sich aufgewühlt, unruhig, haben eine Enge in der Brust. Sie hassen es, wie sie sich fühlen. Sie nehmen Drogen, um ihren Körper zu stabilisieren.“ Es ist die Verzweiflung – das Bedürfnis, Körper und Geist zu regulieren und der unerträglichen Bedrängnis oder Unruhe zu entkommen. Wie dieses Buch aufzeigt, führt diese Verzweiflung zu jedweder Form von Abhängigkeit, ob substanzgebunden oder nicht.
„Ich werde Sie nicht fragen, wovon Sie abhängig waren“, sage ich oft zu den Menschen. „Weder wann, noch für wie lange. Ich frage nur, was auch immer Ihr suchterzeugender Anlass war. Was hat die Droge Ihnen geboten? Was hat Ihnen daran gefallen? Was hat es Ihnen kurzfristig gegeben, wonach Sie sich so sehr sehnten oder was Sie so sehr mochten?“ Und die Antworten lauten durchgängig: „Es half mir, emotionalen Schmerzen zu entkommen, half mir, mit Stress umzugehen, gab mir Seelenfrieden, ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen, ein Gefühl der Kontrolle.“
Solche Antworten machen deutlich, dass Sucht weder eine bewusste Wahl, noch in erster Linie eine Krankheit ist. Sie hat ihren Ursprung in dem verzweifelten Versuch eines Menschen, ein Problem zu lösen: das Problem des emotionalen Schmerzes, des überwältigenden Stresses, der verlorenen Beziehungen, des Kontrollverlustes, des tiefen Unbehagens mit sich selbst. Kurz gesagt, es ist der vergebliche Versuch, das Problem des menschlichen Schmerzes zu lösen. Alle Drogen – und alle Suchtverhaltensweisen, ob substanzgebunden oder nicht, ob Glücksspiel-, Sex-, Internet- oder Kokainsucht – lindern den Schmerz entweder direkt oder lenken davon ab. Daher mein Mantra: Die erste Frage lautet nicht „Warum die Sucht?“, sondern „Warum der Schmerz?“.
„Selbst die schädlichsten Süchte dienen einer lebenswichtigen Anpassungsfunktion für entwurzelte Individuen“, schreibt mein Freund und Kollege Dr. Bruce Alexander in seinem grundlegenden Werk The Globalization of Addiction: A Study in the Poverty of the Spirit. „Nur chronisch und stark entwurzelte Menschen sind für Sucht anfällig.“ Mit Entwurzelung meint er „einen anhaltenden Mangel an psychosozialer Integration“. Dr. Alexander nennt dies innere und soziale Entwurzelung; ich nenne es Trauma.
„Drogenprobleme müssen in ihrem breiteren sozialen und wirtschaftlichen Kontext gesehen und angegangen werden. Tief verwurzelte Drogenprobleme scheinen signifikant mit Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung verbunden zu sein“, mahnte die britische Kommission für Drogenpolitik im Jahr 2012. Es ist nicht überraschend, dass die Suchtepidemie in Großbritannien an Orten wie Hull am weitesten verbreitet ist, wo der Niedergang der Fischereiindustrie dazu beigetragen hat, dass es dort eine der höchsten Arbeitslosenquoten im Vereinigten Königreich gibt. Die New York Times berichtete kürzlich aus Hull: „Der neue Kick kam von Fentanyl, einem opioiden Schmerzmittel, das fünfzig- bis hundertmal stärker wirkt als Morphium, und dem Heroin beigemischt wurde. Die Droge hat Tausende von Amerikanern, darunter die Rockstars Prince und Tom Petty, getötet. Doch das tödliche Risiko, das sie darstellt, hat die Süchtigen in Kingston Upon Hull, allgemein bekannt als Hull, kaum abgeschreckt. In der Tat können viele von ihnen nicht genug davon bekommen. ‚Es lässt alle Schmerzen verschwinden‘, erklärt Chris, ein zweiunddreißigjähriger Obdachloser aus Hull, der seit mehr als acht Jahren heroinabhängig ist.“
„Es ist zermürbend zu erleben, dass wir jeden Tag Menschen auf eine Weise verlieren, die hätte vermieden werden können“, bestätigt Dr. Henry. „Um das auszugleichen, haben wir bei der Bewusstseinsbildung große Fortschritte gemacht. Der öffentliche Diskurs, den wir wahrnehmen, hat sich dramatisch verändert.“ Von meinen Reisen durch Nordamerika und andere Teile der Welt weiß ich, dass dies der Fall ist. Ich vertraue darauf, dass dieses Buch weiterhin zu diesem Wandel beitragen wird. Aber trotz ermutigender Anzeichen und gesundheitspolitischer Initiativen auf lokaler und Bundesebene in Kanada und international liegt noch ein langer Weg vor uns, wenn wir einen vernünftigen, evidenzbasierten, mitfühlenden und wissenschaftlichen Ansatz für die Suchtbehandlung und -prävention erreichen wollen. Die Drogenkrise bringt uns an einen Abgrund. Da die gegenwärtige Situation unhaltbar ist, können wir entweder mögliche Lösungen in Betracht ziehen oder zulassen, dass wir über den Rand des Abgrundes in eine größere Dysfunktionalität, eine tiefere tragische Sinnlosigkeit, abgleiten.
Es wurde bekannt, dass in Kanada – als willkommenes Zeichen des sich abzeichnenden gesunden Menschenverstandes – zwei der führenden Parteien, die Liberalen und die New Democratic Party, erwägen, den Besitz bisher illegaler Drogen für den persönlichen Gebrauch zu entkriminalisieren. Dies wird mit großem Erfolg in Portugal praktiziert, dem einzigen Land der Welt, in dem es nicht mehr illegal ist, eine kleine Menge von beispielsweise Heroin oder Kokain für den persönlichen Gebrauch zu besitzen. Statt die Menschen in Gefängnisse zu stecken, werden sie ermutigt, an Rehabilitationsprogrammen teilzunehmen. Statt sie sozial auszugrenzen, wird ihnen Hilfe angeboten.
In Portugal ist der Gebrauch von Drogen zurückgegangen, es gibt weniger Kriminalität und mehr Menschen in Behandlung. Das Land hat die Konsumrate von intravenösen Drogen halbiert. Es gab keine negativen Auswirkungen. Norwegen denkt über die gleiche Politik nach. „Wie ich es sehe, geht es um die Entkriminalisierung der Menschen, die Drogen konsumieren, nicht um die Entkriminalisierung der Drogen“, sagt Dr. Henry. Wenn wir uns vorstellen, welche Fortschritte wir erzielen könnten, wenn ein großer Teil der Ressourcen, die jetzt in die schrecklichen Verfahren der Vollstreckung und Inhaftierung geflossen sind, der Prävention, Schadensminderung und Behandlung widmen würden? Das ist die Chance!
Denn sonst besteht die Gefahr, dass wir uns in die andere Richtung bewegen, zu mehr Ablehnung, Verachtung und Feindseligkeit. Das reichste und einflussreichste Land der Welt, in dem die Suchtraten bereits jetzt am höchsten sind, droht trotz – und zum großen Teil wegen – einer drakonischen Politik, sich in Richtung einer stärkeren Ächtung und gewaltsamen Unterdrückung zu entwickeln. Im März 2018 befürwortete der Präsident der Vereinigten Staaten öffentlich die Todesstrafe für Drogenhändler. „Einige Länder haben eine sehr, sehr harte Strafe – die ultimative Strafe“, sagte Donald Trump. „Und übrigens haben sie ein viel geringeres Drogenproblem als wir.“ In USA Today war zu lesen: „Im vergangenen Mai beglückwünschte Trump den philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte zu seinem ‚great job‘ bei der Bekämpfung von Drogen. Duterte hatte sich damit gebrüstet, mindestens drei Tatverdächtige persönlich erschossen zu haben. Menschenrechtsgruppen und die Vereinten Nationen haben Dutertes Selbstjustiz-Kampagne verurteilt, die Tausende von verdächtigen Drogenhändlern und -konsumenten das Leben gekostet hat.“ Amerikas derzeitiger Justizminister Jeff Sessions hat ebenfalls eine strengere Durchsetzung und härtere Bestrafung gefordert, da er angesichts aller Beweise seine Ansicht bestätigt sieht, dass Drogenkonsum und Kriminalität unweigerlich zusammenhängen. Was unweigerlich zu Verbrechen führt, ist nicht der Drogenkonsum als solcher, sondern die Kriminalisierung, wie der Autor Johann Hari in Drogen: Die Geschichte eines langen Krieges brillant aufzeigt. Nach den Worten des kolumbianischen Journalisten Alonso Salazar hat der von den Amerikanern geführte Krieg „eine Kriminalität und Zerstörung von Leben und Natur geschaffen, wie es sie nie zuvor gegeben hat“.
In diesem Buch stelle ich die Behauptung auf, dass es keinen „Krieg gegen Drogen“ gibt. Man kann keinen Krieg gegen leblose Objekte führen, sondern nur gegen Menschen. Und die Menschen, gegen die der Krieg am häufigsten geführt wird, sind diejenigen, die in ihrer Kindheit am meisten vernachlässigt und unterdrückt wurden, denn nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen, allen epidemiologischen Daten und allen Erfahrungen erliegen sie später in ihrem Leben am ehesten der Substanzabhängigkeit. In unserer zivilisierten Zeit bestrafen und quälen wir Menschen dafür, dass sie ein Trauma erlitten haben.
Abhängigkeiten sind zwangsläufig am weitesten verbreitet und am tödlichsten bei den Bevölkerungsgruppen, die in der Regel die anhaltendsten Traumata und Zerrüttungen erlebt haben. Anfang März 2018 wurde ich in das Blood Tribe Reservat, eine Blackfoot Community in der Nähe von Lethbridge, Alberta, eingeladen, um auf einer Konferenz über Jugendprobleme zu sprechen. Nach den Worten ihrer Ärztin, Dr. Esther Tailfeathers, hatte die Gemeinde zwei Wochen zuvor, am 23. Februar, „einen perfekten Sturm“ erlebt. Wohlfahrtszahlungen hatten dafür gesorgt, dass genügend Geld im Umlauf war. Die Drogenhändler fielen in das Reservat ein – wobei es sich in diesem Fall größtenteils um ebenfalls junge Leute handelte, die in hoffnungsloser Armut lebten, an einem Ort, wo die Arbeitslosigkeit fast 80 Prozent beträgt und die Wohnsituation so schlimm ist, dass sich manchmal drei Familien – bis zu zwanzig Personen – ein Haus mit einem Badezimmer sowie sechs oder sieben Personen ein Schlafzimmer teilen. Die jungen Leute dealen, um ihren eigenen Drogenkonsum zu finanzieren. An dem Abend wütete ein Schneesturm, sodass die Einsatzkräfte Schwierigkeiten hatten, auf den Straßen voranzukommen. In dieser Nacht gab es neunzehn Fälle von Überdosis und einen Toten wegen einer Messerstecherei. Von denen, die eine Überdosis genommen hatten, starben zwei, was eigentlich eine Tragödie ist, wegen der geringen Zahl aber von der Community zu Recht, wenn auch traurig, als Triumph betrachtet werden konnte. Denn sie hatten Maßnahmen zur Schadensminderung eingeleitet, indem sie zum Beispiel vorab der Bevölkerung Naloxon, ein Mittel zur (teilweisen) Aufhebung von Opiat-Überdosierungen, zur Verfügung gestellt hatten.
Die Konferenz war einberufen worden, weil so viele Blackfoot-Jugendliche Opfer einer Sucht geworden waren oder andere Erscheinungsformen von Traumata aufwiesen. Selbstmord, Selbstverletzungen, Gewalt, Angst und Depression kommen in Kanada in den First-Nations-Gemeinden wie auch in den Reservaten der amerikanischen Ureinwohner sowie in den Aborigines-Gemeinden Australiens in hohem Maße vor. Der Normalbürger hat einfach keine Ahnung, kann sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, welches Unglück, welche Tragödien und andere Widrigkeiten viele junge Ureinwohner erleben, wenn sie in die Pubertät kommen – von wie vielen geliebten Menschen sie bereits den Tod erlebt haben, welche Misshandlungen sie erdulden müssen, welche Verzweiflung sie empfinden, welche Selbstverachtung sie quält, welchen Barrieren für ein Leben in Freiheit und Orientierung sie ausgesetzt sind.
In allen Ländern mit einem kolonialen Erbe sind die Fragen, die auf den Tisch müssen, klar: Wie geht die Gesellschaft vor, um das generationsübergreifende Trauma zu heilen, das das Elend vieler Ureinwohner-Communitys verursacht? Was kann getan werden, um die Dynamik, die unsere Vergangenheit diktiert hat, rückgängig zu machen? Einige schrecken vielleicht vor einer solchen Untersuchung zurück, weil sie das Unbehagen fürchten, das mit Schuldgefühlen einhergeht. In Wahrheit geht es hier nicht um gemeinschaftliche Schuld, sondern um gemeinschaftliche Verantwortung. Es geht nicht um die Vergangenheit. Es geht um die Gegenwart. Und es geht um uns alle: Wenn ein paar von uns leiden, tun das letztlich alle.
„Ihr Buch macht den Süchtigen menschlich“, haben mir viele Leser gesagt. Diese Erkenntnis spiegelt eine grundlegende und weit verbreitete Fehleinschätzung wider. Süchtige sind menschlich. Was hält viele von uns davon ab, das zu erkennen? Es ist nur die Angewohnheit unseres egozentrischen Geistes, die Welt in „wir und die anderen“ aufzuteilen. Genauer gesagt ist es unsere Unfähigkeit – oder Weigerung –, uns in „dem anderen“ zu sehen und sie in dem, was wir als „uns“ betrachten.
Ein solches Versagen der Vorstellungskraft ist in allen Bereichen zu beobachten, von den persönlichen Beziehungen bis hin zur internationalen Politik. Einfach ausgedrückt spiegelt es das Festhalten an einer Identität wider, die unsere Art der Zugehörigkeit zu einer Gruppe definiert. Und wenn wir uns mit einer Gruppe egal welcher Größe identifizieren, die kleiner ist als die gesamte Menschheit, dann muss es andere geben, die per Definition nicht dazugehören und gegenüber denen wir uns, zumindest unbewusst, überlegen glauben. Diese Überlegenheit gibt uns das Gefühl, das Recht zu haben, zu urteilen und gleichgültig zu bleiben.
Die Vermeidung und Heilung von Traumata ist ein universelles Thema, das nicht auf eine bestimmte Klasse oder eine bestimmte ethnische Gruppe beschränkt ist. Je mehr ich über die Lebensweise der Ureinwohner erfahre, umso mehr überkommt mich in der Tat oft der Gedanke, dass wir uns selbst schaden, wenn wir Kulturen ablehnen, deren zentrale Lehren und Werte einen Beitrag zur Heilung unserer Welt leisten können, sofern sie von der modernen Gesellschaft geschätzt würden.
Obwohl dieses Buch bei seinem Erscheinen vor zehn Jahren immer noch umstritten war, sind das Konzept und die Praxis der Schadensminderung heute in ganz Kanada weitgehend akzeptiert, wenn auch immer noch nicht umfassend genug. Insite, damals Nordamerikas einziger betreuter Drogenkonsumraum, ist heute das Vorbild für viele solcher Einrichtungen, in denen Klienten ihre illegalen Substanzen ohne Angst vor Verhaftung oder Belästigung mitbringen können, wo sie saubere Nadeln und steriles Wasser zum Injizieren erhalten und wo sie im Falle einer Überdosis von geschultem Personal wiederbelebt werden.* Mehrere Studien haben die Wirksamkeit der Schadensminderung bei der Verhütung von Krankheiten, der Senkung der Gesundheitskosten und der Rettung von Leben nachgewiesen. In den letzten zwei Jahren, in denen ich die „hungrigen Geister“ schrieb, war ich Arzt in einem Entgiftungszentrum, das mit Insite zusammenarbeitet. Der damalige Premierminister Stephen Harper und seine Regierung waren entschlossen, das Zentrum zu schließen, wurden aber durch einen einstimmigen Beschluss des Obersten Gerichtshofs daran gehindert. Die Richter hielten Insite für eine wichtige medizinische Einrichtung.
Die Schadensminderung hat auch in den Vereinigten Staaten erhebliche Fortschritte gemacht. San Francisco wird bald die erste Stadt in den USA sein, die offiziell einen betreuten Drogenkonsumraum eröffnet; inoffiziell gibt es bereits solche Einrichtungen. Wie Dr. Henry, die Gesundheitsbeauftragte der Provinz British Columbia, sagt, besteht die Idee darin, „die Menschen am Leben zu erhalten, bis wir tatsächlich ein System aufbauen können, das Menschen mit Drogenkonsum, Abhängigkeiten und psychischen Gesundheitsproblemen hilft. Wie Ihr Buch aufzeigt, haben wir weder ein System, das verhindern kann, dass Menschen süchtig werden, noch eines, mit dem wir sie auf ihrem Weg ‚abholen‘ und sie in den verschiedenen Phasen der Genesung unterstützen können oder beim Versuch, ihr Leben zu gestalten, wenn sie psychische Probleme haben, süchtig sind oder mit beidem zu kämpfen haben“.
Aber egal, wie viele Einrichtungen es zur Schadensminderung auch geben mag, sie werden nicht ausreichen, um die Flut der Sucht einzudämmen, solange unser System Traumata und soziale Entwurzelung nicht als Ursachen des Problems erkennt und solange sich die Behandlungseinrichtungen hauptsächlich darauf konzentrieren, das Verhalten von süchtigen Menschen zu ändern, anstatt den Schmerz zu heilen, der dieses Verhalten steuert.
Vor vierzig Jahren habe ich mein Medizinstudium an der Universität von British Columbia abgeschlossen, ohne während der vier Studienjahre auch nur einmal etwas über psychische Traumata und ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und Entwicklung gehört zu haben. Einige Jahrzehnte später studierte meine Kollegin Dr. Henry Medizin an der Dalhousie University, an der anderen Küste von Kanada, anschließend in San Diego und Toronto. Auch sie hörte in all den Jahren ihres Studiums kein einziges Wort über Traumata. So schockierend es auch sein mag, es geht den meisten Medizinstudenten auch heute noch so, trotz aller Nachweise, die Traumata mit psychischen und physischen Krankheiten sowie Sucht in Verbindung bringen. Wie sollen Ärzte Menschen helfen, wenn sie keine Ausbildung erhalten, um die Ursachen der Probleme ihrer Patienten zu verstehen? Wie soll das System mit einer Epidemie umgehen, die es falsch einschätzt?
Wenn es um das Verständnis von Sucht geht, ist das Dilemma, die Ursachen nicht wahrhaben zu wollen, groß. Diese Abwehrhaltung verhindert, dass wir uns unserer eigenen Schmerzen und unserer dysfunktionalen Verhaltensweisen, mit denen wir uns vom Schmerz befreien wollen, bewusst werden. Dieses Versagen der Selbsterkenntnis bildet eine unsichtbare Grenze zwischen der Gesellschaft und den sozial ausgegrenzten Suchtkranken, was leider auch oft zwischen den Angehörigen der Gesundheitsberufe und ihren Patienten bzw. Klienten vorkommt.
Aus diesem Grund glaube ich, dass für manche Leser das Kapitel am schwierigsten ist, in dem ich meine eigene Kauf- und Arbeitssucht beschreibe – nur zwei der vielen Formen, wie sich eine Sucht äußern kann. Während viele dieses Kapitel erhellend finden, haben einige wenige negativ darauf reagiert. Jemand hat auf meiner Website gepostet: „Das Buch … fand ich gut, bis [der Autor] anfing, darüber zu reden, wie er Tausende von Dollar für Musik ausgegeben hat … Dadurch hat er bei mir völlig an Glaubwürdigkeit verloren.“ Oder wie ein Rezensent es ausdrückte: „Eine beiläufige Erwähnung dieser Schwächen hätte genügt. Maté ist als Arzt zu reflektierend, um seine Zwänge mit denen der Süchtigen, die er behandelt, auf eine Stufe zu stellen. Aber er siedelt sie mit einem gewissen Abstand auf demselben Kontinuum an und leistet meines Erachtens den Menschen, deren Wohlergehen wirklich durch ihre Süchte bedroht ist, damit einen Bärendienst.“
Auf den ersten Blick mag es für manche seltsam sein, „leichte“ Süchte mit tödlichem Drogenkonsum zu vergleichen, aber es ist in den letzten zehn Jahren allgemein anerkannt worden, dass Sucht viele Erscheinungsformen annehmen kann, von Substanzabhängigkeiten bis hin zu scheinbar „respektablen“ Zwängen, die allesamt der Gesundheit und dem Glück des Menschen schaden. Es gibt keine guten Süchte, keine sind bloße „Schwächen“. Alle Süchte verursachen Schaden. Jede Angewohnheit, die keinen Schaden verursacht, ist per Definition auch keine Sucht. Meine besondere Sucht nach dem zwanghaften Erwerb von klassischer Musik – der Erwerb der Musik, nicht die Liebe zur Musik an sich – hat mich dazu gebracht, Zeit und Geld zu verschwenden, meine Frau zu belügen, meine Kinder zu vernachlässigen und der Verantwortung gegenüber meinen Patienten entgegenzuwirken. Und was habe ich davon gehabt? Denselben dopamingetriebenen Kick aus Erregung, Nervenkitzel und Motivation, nach dem sich auch der Spieler, sex- oder kokainabhängige Süchtige sehnt. Diese vorübergehende Veränderung der neurochemischen Abläufe und des Geisteszustandes charakterisiert alle Arten von Sucht, von Drogen über Essen bis hin zu Selbstverletzungen: Das sind die Versuche, Körper und Geist zu regulieren, auf die Dr. van der Kolk verweist. (Es ist bezeichnend, dass meine crack-, meth- oder heroinabhängigen Patienten den Kopf schüttelten und lachten, als sie von meiner Hilflosigkeit angesichts meiner Kaufsucht hörten: „Hey Doc, ich verstehe, Sie sind genau wie wir anderen auch.“ Die Wahrheit ist, dass wir alle „genau wie wir anderen“ sind.)
Es gibt nur einen universellen Suchtprozess. Seine Erscheinungsformen sind vielfältig, von den sanfteren bis hin zu den lebensbedrohlichen, aber bei allen Süchten werden im Gehirn die gleichen Schaltkreise zur Schmerzlinderung, Belohnung und Motivation genutzt. Es entstehen die gleiche psychologische Dynamik der Scham und Verleugnung, die gleichen Verhaltensweisen der Ausreden und Unehrlichkeit. In allen Fällen fordert die Sucht den Preis des inneren Friedens, der Beschädigung von Beziehungen und des verminderten Selbstwertgefühls. Im Falle von Substanzabhängigen, sei es in der Knechtschaft von Nikotin, Alkohol oder illegalen Drogen, gefährdet die Sucht auch die körperliche Gesundheit. Nur mit einem breiteren Verständnis von Sucht und der Anerkennung ihrer Ursachen, die nicht in den Genen zu suchen sind oder eine Frage des freien Willens sind, sondern im menschlichen Leid liegen, entstehen Behandlungsansätze, die wirklich heilen könnten.
„Wir haben ein sehr fragmentiertes System der psychischen Gesundheit“, stellt Dr. Henry fest – eine Ansicht, die ich leider als nur allzu wahr teile. „[Wenn] die psychische Gesundheit die arme Schwester des Gesundheitssystems ist, dann ist Sucht wahrscheinlich die Cousine zweiten Grades, die in den Slums lebt.“
Voraussetzung für die Behandlung ist ein vielschichtiger Ansatz, der die Menschen so akzeptiert, wie sie sind. Für diejenigen, die nicht zur Abstinenz bereit sind, kann das Konzept der Schadensminderung ein Weg sein, für andere vielleicht ein Zwölf-Schritte-Programm, aber ohne gesetzliche oder moralische Nötigung der Teilnehmer. Wie Michael Pond in seinem ausgezeichneten Buch Wasted: An Alcohol Therapist’s Fight for Recovery in a Flawed Treatment System hervorhebt: „Verachtung gegenüber Drogenkonsumenten durchdringt unsere Kultur.“ Pond erlebte diese Verachtung selbst bei den Anonymen Alkoholikern (AA) und glaubt, dass dies ein Grund dafür sei, warum das Zwölf-Schritte-Programm bei ihm nie funktioniert hat – trotz der Kameradschaft, der selbstlosen Unterstützung und der Herzlichkeit, die ihm Einzelne in der Organisation entgegenbrachten. Das Konzept der AA war nie als Behandlungsmethode gedacht, sondern als eine Lebensweise für Menschen, die Befreiung aus der Abhängigkeit suchen. Niemand sollte dazu oder zu einer anderen Art der Genesung gezwungen werden.
Wenn Zwölf-Schritte-Programme nicht für jeden hilfreich sind – bei all ihrem Wert helfen sie nur einer Minderheit – was dann? Es gibt keine „Allheilmittel“ für die Herausforderung der Sucht. Für viele Opiatabhängige sind Ersatzbehandlungen mit Drogen wie Suboxon lebensrettend. (In British Columbia wurde den Ärzten ein großer Spielraum für die Verschreibung von Suboxon eingeräumt, das nur ein sehr geringes Risiko birgt.) Für einige Abhängige können Medikamente von Nutzen sein, verschiedene Formen der Beratung für andere, aber kein einzelner Ansatz garantiert den Erfolg. Jeder Abhängige muss genau dort „abgeholt“ und betreut werden, wo er sich in dem Moment befindet.
Die meisten Ärzte werden, wenn überhaupt, nur in geringem Maß zum Thema Sucht ausgebildet, obwohl die Sucht folgenschwere Auswirkungen auf die körperliche und geistige Gesundheit, die Langlebigkeit, die Produktivität und das Familienleben hat. Die wenigen Ausgebildeten haben in Bezug auf die biologischen Zusammenhänge nur begrenzte Kenntnisse erworben. Würde man mich bitten, ein umfassendes System zur Behandlung der heutigen Substanzabhängigkeit zu entwerfen, und zwar auch für die verheerenderen „verhaltensbezogenen Süchte“ wie etwa Glücksspiel oder zwanghafte Sexualität, so würde es folgende Merkmale aufweisen:
• Ärzte, Therapeuten, Psychologen, Pädagogen, Rechtsanwälte, Richter und alle Strafverfolgungsbeamten werden in Denkansätzen geschult, die Informationen über Traumata berücksichtigen.
• Naloxon und andere Maßnahmen der Schadensminderung werden weithin verfügbar sein. Einrichtungen zur Schadensminderung werden in allen größeren Gemeinden eingerichtet. Die Substitutionsbehandlung mit Opiaten wird jedem, der sich dafür qualifiziert, ohne Weiteres angeboten.
• Entgiftungseinrichtungen mit niedrigschwelligem und schnellem Zugang werden in vielen Gemeinden eröffnet.
• Abgestufte Einrichtungen werden etabliert, in denen die Patienten von der Entgiftung zur Traumaheilung übergehen können sowie Beratung und Unterstützung beim Umgang mit persönlichen und sozialen Beziehungen erhalten.
• Die Betroffenen werden in Selbstfürsorge unterrichtet, einschließlich gesunder Ernährung und Körperarbeit wie Yoga oder Kampfsportarten, zusammen mit Achtsamkeitsübungen wie Meditation.
• Die falsche Trennung zwischen Fragen der psychischen Gesundheit und denen der Sucht – die in vielen Einrichtungen und Behandlungszentren praktiziert wird – muss beendet werden. Sie sind untrennbar miteinander verbunden: Oft fungieren Letztere als Selbstmedikation für Erstere. Beide haben ihren Ursprung in einem Trauma und müssen gleichzeitig und gemeinsam angegangen werden.
• Da das süchtige Gehirn von Kindheit an geschädigt wurde und vor allem Drogen das Gehirn weiter schädigen, muss die Rehabilitation als ein langfristiges Unterfangen betrachtet werden, das eine geduldige und mitfühlende Umsetzung erfordert.
• Statt den einzelnen Süchtigen als das Problem zu sehen, werden die Großfamilien ermutigt, die Sucht als Frage eines generationsübergreifenden Traumas zu erkennen und daher als Gelegenheit, viele zu heilen, nicht nur den einen.
• Aus Sicht der Prävention werden gefährdete junge Familien erkannt sowie emotional und, wenn nötig, auch finanziell unterstützt. Wie ich in Appendix III dieses Buches darlege, muss die Prävention bereits bei der ersten Vorsorgeuntersuchung in der Schwangerschaft beginnen. Lehrer und Schulpersonal werden darin geschult, die Anzeichen von frühen Traumata bei Kindern zu erkennen, und von den Schulen werden gefährdeten Kindern und Jugendlichen Hilfsmaßnahmen und -programme angeboten. Alle Mitarbeiter, die mit Kleinkindern zu tun haben, werden darin geschult, die menschliche Entwicklung und psychologischen Grundbedürfnisse zu verstehen.
• Es werden Sozialprogramme eingerichtet, die dem Bedürfnis junger Menschen nach Beziehungen, Anleitung durch Erwachsene und sinnvollen Aktivitäten entsprechen.
Wir könnten viel gewinnen, wenn wir die Widerstandsfähigkeit und die uralten Lehren derer respektieren würden, die am meisten unter Traumata, Entwurzelung und Sucht gelitten haben: der Ureinwohner unter uns. Ihre Werte betonen stets den Gemeinschaftssinn und nicht den rücksichtslosen Individualismus, die Wiedereingliederung des Übeltäters in die Gemeinschaft und nicht die Vergeltung, die Integration und nicht die Trennung und, was am wichtigsten ist, eine Sichtweise des Menschen, die unsere körperlichen mit unseren geistigen, emotionalen und spirituellen Bedürfnissen in Einklang bringt. Je mehr ich die neuesten wissenschaftlichen Forschungen über die menschliche Entwicklung, das Gehirn, die Gesundheit und die Verbindungen zwischen dem Individuum und dem sozialen Milieu verinnerliche, desto größer ist meine Achtung vor den traditionellen Praktiken derer, die wir kolonisiert und deren Kultur wir nach Kräften versucht haben zu zerstören. Bei ihnen gab es vor der Kolonialisierung keine Abhängigkeiten.
Seit der ersten Veröffentlichung dieses Buches vor zehn Jahren habe ich auch über die Heilung von Süchten durch traditionelle Pflanzen der Schamanen und Praktiken aus Südamerika und Afrika wie Ayahuasca und Iboga dazugelernt. Meine Arbeit mit diesen Pflanzen war Gegenstand eines landesweit ausgestrahlten Dokumentarfilmprogramms der CBC über Die Natur der Dinge. In letzter Zeit ist viel über solche Praktiken geschrieben worden, und ich werde in meinem nächsten Buch The Myth of Normal: Being Healthy in an Insane Culture, das gerade in Arbeit ist, mehr zu diesem Thema sagen. Diese Pflanzen sind kein Allheilmittel, aber wir wären töricht, sie zu ignorieren. In einem kurzen Beitrag für The Globe and Mail habe ich es folgendermaßen formuliert: „Viele Weisheitslehren der Ureinwohner beruhen auf einem ganzheitlichen Verständnis. Wie alle auf Pflanzen basierenden indigenen Praktiken auf der ganzen Welt entspringt der Gebrauch von Ayahuasca einer Tradition, in der Geist und Körper als untrennbar angesehen werden. Ich habe miterlebt, wie Menschen ihre Sucht nach Substanzen, Sex und anderen selbstschädigenden Verhaltensweisen … überwunden haben. Im entsprechenden zeremoniellen Rahmen kann Ayahuasca in wenigen Sitzungen erreichen, was in vielen Jahren der Psychotherapie nur angestrebt werden kann.“
Wie ich eingangs erwähnt habe, sind meine Begegnungen mit trauernden Eltern – und es gab viele – für mich persönlich immer am bewegendsten. Da Süchte, sei es nach Substanzen oder Handlungen wie Glücksspiel, Sex, Essen – eigentlich egal wonach – in Schmerzen wurzeln, die in so vielen Fällen durch Leiden in der Kindheit hervorgerufen wurden, erwartet man vielleicht nicht, dass viele Eltern, die erwachsene Kinder durch Sucht verloren haben, Bestätigung für die Inhalte meines Buches geäußert und Verständnis gezeigt haben, statt verletzt oder wütend zu sein oder sich selbst für schuldig zu halten. „Die hungrigen Geister“ soll niemanden beschuldigen, sondern sich mit der gequälten Menschheit verbünden, um zu zeigen, dass Sucht eine der häufigsten und menschlichsten Ausdrucksformen von Leid ist. Es geht nicht darum, Vorwürfe zu machen, sondern nur um die zugrundeliegende Realität, dass Leiden generationsübergreifend ist, dass wir es unwissentlich weitergeben, bis wir es begreifen und die Glieder in der Übertragungskette innerhalb der Familie, Gemeinschaft oder Gesellschaft unterbrechen. Eltern Vorwürfe zu machen, ist in emotionaler Hinsicht herzlos und wissenschaftlich falsch. Alle Eltern tun ihr Bestes, nur ist unser Bestes durch unser eigenes ungelöstes oder unbewusstes Trauma begrenzt. Das ist es, was wir unwissentlich unseren Kindern vererben, so wie ich es selbst getan habe. Die gute Nachricht in diesem Buch, wie auch in vielen anderen Quellen, ist, dass Traumata und Trennungen von der Familie geheilt werden können. Unter den richtigen Bedingungen, so wissen wir heute, kann sich das Gehirn selbst heilen.
Ich vertraue darauf, dass Im Reich der hungrigen Geister auch weiterhin viele Menschen erreicht, um seine heilende Botschaft zu vermitteln, die auf emotionalen, psychologischen, sozialen und wissenschaftlichen Wahrheiten beruht. Wahrheit, wie wir wissen, bringt Freiheit, auch wenn sie Schmerz hervorrufen kann.
Süchte entstehen durch verhinderte Liebe, durch unsere blockierte Fähigkeit, Kinder so zu lieben, wie sie geliebt werden müssen, durch unsere blockierte Fähigkeit, uns selbst und einander so zu lieben, wie wir alle es brauchen. Die Öffnung unserer Herzen ist der Weg zur Heilung von Sucht – die Öffnung unseres Mitgefühls für den Schmerz in uns selbst und den Schmerz um uns herum.
Gabor Maté, Vancouver, April 2018
PS: In Downtown Eastside gehen die Tragödien und Wunder weiter. „Serena“, deren Geschichte in Kapitel 4 erzählt wird, starb kurz nach der Veröffentlichung von Im Reich der hungrigen Geister an einem HIV-induzierten Hirnabszess. „Celia“, die in Kapitel 5 schwanger ist, ist auf wundersame Weise wieder mit einer Tochter zusammengekommen, die sie vor drei Jahrzehnten zur Adoption freigegeben hatte. Es wird niemanden überraschen, dass die Tochter – die das Buch ursprünglich gelesen hatte, ohne zu erkennen, dass ihre Mutter darin dargestellt wurde – selbst mit Sucht zu kämpfen hat. Sie lebt in Ottawa und steht regelmäßig mit mir in Kontakt, während sie Schritte zur Genesung unternimmt. Ich hoffe, dass sie dem Schicksal ihrer Mutter entgehen kann.
* Der weltweit erste betreute Drogenkonsumraum wurde 1986 in Bern eröffnet. Im Jahr 1994 entstand in Hamburg Deutschlands erster Konsumraum, in dem Süchtige mit sauberen Spritzen versorgt werden.
Der Cassius dort hat einen hohlen Blick.
WILLIAM SHAKESPEARE
Julius Cäsar
Das buddhistische Lebensrad in Gestalt eines Mandalas durchläuft sechs Bereiche. Jeder Bereich wird von Charakteren bevölkert, die Aspekte der menschlichen Existenz repräsentieren – unsere verschiedenen Wege des Seins. In der Welt der Tiere werden wir von grundlegenden Überlebensinstinkten und Begierden wie physischem Hunger und Sexualität getrieben, dem, was Freud das Es nannte. Die Wesen des Höllenreichs sind in Zuständen unerträglicher Wut und Angst gefangen. In der Welt der Götter transzendieren wir unsere Sorgen und unser Ego durch sinnliche, ästhetische oder religiöse Erfahrungen, aber nur vorübergehend und in Unkenntnis der spirituellen Wahrheit. Selbst dieser beneidenswerte Zustand ist von Verlust und Leid geprägt.
Die Bewohner der Welt der Hungergeister werden als Kreaturen mit dürren Hälsen, kleinen Mündern, abgemagerten Gliedmaßen und großen, aufgeblähten, leeren Bäuchen dargestellt. Dies ist der Bereich der Sucht, in dem wir ständig nach etwas außerhalb von uns selbst suchen, um die unstillbare Sehnsucht nach Erlösung oder Erfüllung zu dämpfen. Die schmerzende Leere ist immerwährend, weil die Substanzen, Objekte oder Bestrebungen, von denen wir hoffen, dass sie sie lindern, nicht das sind, was wir wirklich brauchen. Wir wissen nicht, was wir brauchen, und solange wir uns im Zustand der hungrigen Geister befinden, werden wir es nie wissen. Wir geistern durch unser Leben, ohne vollständig präsent zu sein.
Manche Menschen verbringen einen Großteil ihres Lebens in dem einen oder anderen Bereich. Viele von uns bewegen sich zwischen ihnen hin und her, vielleicht sogar durch alle hindurch, im Laufe eines einzigen Tages.
Meine medizinische Arbeit mit Drogensüchtigen in Vancouvers Stadtteil Downtown Eastside hat mir die einzigartige Gelegenheit gegeben, Menschen kennenzulernen, die fast ihre ganze Zeit als Hungergeister verbringen. Es ist ihr Versuch, so glaube ich, dem Höllenreich mit seiner überwältigenden Angst, Wut und Verzweiflung zu entkommen. Die schmerzhafte Sehnsucht in ihren Herzen spiegelt etwas von der Leere wider, die auch Menschen mit einem scheinbar glücklicheren Leben erfahren können. Diejenigen, die wir als „Junkies“ abtun, sind keine Geschöpfe aus einer anderen Welt, sondern nur Männer und Frauen, die am äußersten Ende eines Kontinuums feststecken, auf dem wir uns alle hier oder dort durchaus wiederfinden könnten. Das kann ich persönlich bezeugen. „Sie schleichen mit einem hungrigen Blick um Ihr Leben herum“, sagte einmal jemand zu mir, der mir nahestand. Angesichts der schädlichen Zwänge meiner Patienten musste ich mich mit meinen eigenen auseinandersetzen.
Keine Gesellschaft kann sich selbst verstehen, ohne ihre Schattenseiten zu betrachten. Ich glaube, dass allen derselbe Suchtprozess zugrunde liegt, sei es der Abhängigkeit meiner Downtown-Eastside-Patienten von tödlichen Substanzen, der verzweifelten Selbstbefriedigung durch übermäßiges Essen oder dem zwanghaften Shoppen, der Besessenheit von Spielern, Sexsüchtigen und zwanghaften Internetnutzern oder dem gesellschaftlich akzeptablen und sogar bewunderten Verhalten von Workaholics. Drogensüchtige werden oft abgelehnt und abgewertet, als verdienten sie kein Mitgefühl und keinen Respekt. Mit dem Erzählen ihrer Geschichten verfolge ich eine doppelte Absicht: Ich möchte dazu beitragen, dass ihre Stimmen gehört werden, und ich möchte Licht bringen in den Ursprung und das Wesen ihres unglückseligen Kampfes um die Überwindung ihres Leidens durch Drogenmissbrauch. Sie haben viel gemeinsam mit der Gesellschaft, die sie ausgrenzt. Auch wenn sie scheinbar einen Weg ins Nichts gewählt haben, haben sie uns anderen noch viel beizubringen. Im dunklen Spiegel ihres Lebens können wir unsere eigenen Umrisse erkennen.
Es gibt eine Reihe von Fragen, die zu berücksichtigen sind, zum Beispiel:
• Was sind die Ursachen von Süchten?
• Was ist das Wesen der suchtgefährdeten Persönlichkeit?
• Was geschieht physiologisch in den Gehirnen von Suchtkranken?
• Wie viele Wahlmöglichkeiten hat der Süchtige wirklich?
• Warum ist der „Kampf gegen Drogen“ ein Fehlschlag und was könnte ein humaner, evidenzbasierter Ansatz zur Behandlung schwerer Drogenabhängigkeit sein?
• Wie könnten einige Süchtige, die nicht von starken Substanzen abhängig sind, erlöst werden – das heißt, wie nähern wir uns der Heilung der vielen Verhaltensabhängigkeiten, die durch unsere Kultur gefördert werden?
Die erzählerischen Passagen in diesem Buch basieren auf meinen Erfahrungen als Arzt im Drogenghetto von Vancouver und auf ausführlichen Interviews mit meinen Patienten – von denen es mehr gibt, als ich anführen kann. Viele von ihnen haben sich freiwillig gemeldet, in der großzügigen Hoffnung, dass ihre Lebensgeschichte anderen helfen könnte, die mit Suchtproblemen zu kämpfen haben, oder dass sie dazu beitragen könnten, die Gesellschaft über Suchterfahrung aufzuklären. Ich präsentiere auch Informationen, Reflexionen und Einsichten, die ich aus vielen anderen Quellen gewonnen habe, einschließlich meines eigenen Suchtmusters. Und schließlich biete ich eine Synthese dessen, was wir aus der Forschungsliteratur über Sucht und die Entwicklung des menschlichen Gehirns und der Persönlichkeit lernen können.
Obwohl die Schlusskapitel Gedanken und Anregungen zur Heilung des süchtigen Geistes bieten, ist dieses Buch keine Anleitung. Ich kann nur sagen, was ich als Mensch gelernt habe, und beschreiben, was ich als Arzt erlebt und begriffen habe. Nicht jede Geschichte hat ein Happy End, wie der Leser herausfinden wird, aber die Entdeckungen der Wissenschaft, die Lehren des Herzens und die Offenbarungen der Seele versichern uns, dass jeder Mensch eine Chance auf Erlösung hat. Die Möglichkeit der Erneuerung besteht, solange es das Leben gibt. Wie wir diese Möglichkeit in anderen und in uns selbst fördern können, ist die ultimative Frage.
Ich widme diese Arbeit all meinen Hungergeister-Gefährten, seien es HIV-infizierte Obdachlose in den Innenstädten, Gefängnisinsassen oder ihre glücklicheren Pendants, die ein Zuhause, eine Familie, einen Arbeitsplatz und eine erfolgreiche Karriere haben. Mögen wir alle Frieden finden.
Was war es eigentlich, was mich zum Opiumesser machte?
Elend, völlige Verlassenheit, bleibende, beständige Dunkelheit.
THOMAS DE QUINCEY
Bekenntnisse eines englischen Opiumessers
Als ich durch die vergitterte Metalltür in den Sonnenschein trete, offenbart sich mir eine Kulisse wie aus einem Fellini-Film. Es ist eine Szene, die zugleich vertraut und fremd, fantastisch und authentisch ist.
Auf dem Gehweg in der Hastings Street sehe ich Eva – in ihren Dreißigern, aber immer noch wie ein verwahrlostes Kind wirkend, mit dunklem Haar und olivfarbenem Teint –, wie sie einen bizarren Kokain-Flamenco hinlegt. Sie schiebt ihre Hüften nach außen, bewegt ihren Oberkörper und ihr Becken hin und her, beugt sich in der Taille, wirft einen oder beide Arme in die Luft und bewegt ihre Füße in einer unbeholfenen, aber abgestimmten Pirouette. Die ganze Zeit verfolgt sie mich mit ihren großen, schwarzen Augen.
In Downtown Eastside ist dieses crackgesteuerte Improvisationsballett als „The Hastings Shuffle“ bekannt, und es ist ein vertrauter Anblick. Eines Tages, als ich auf meiner ärztlichen Visite in der Nachbarschaft unterwegs war, sah ich eine junge Frau, die diesen Tanz hoch über dem Verkehr in Hastings aufführte. Sie balancierte auf dem schmalen Rand eines Neonschildes zwei Stockwerke weiter oben. Eine Menschenmenge hatte sich zum Zuschauen versammelt, die Drogenkonsumenten unter ihnen mehr amüsiert als entsetzt. Die Ballerina drehte sich um sich selbst, die Arme waagerecht wie die einer Seiltänzerin, oder machte tiefe Kniebeugen – eine Kosakentänzerin der Lüfte, ein Bein nach vorne tretend. Bevor die Spitze der Feuerwehrleiter ihre Flughöhe erreichen konnte, hatte sich die bekiffte Akrobatin wieder in ihr Fenster zurückgezogen.
Eva bahnt sich ihren Weg zwischen ihren Gefährten durch, die sich um mich drängen. Manchmal verschwindet sie hinter Randall – einem an den Rollstuhl gefesselten, schwerfälligen, ernst dreinblickenden Burschen, dessen unorthodoxe Gedankenmuster nicht unbedingt auf eine ausgeprägte Intelligenz schließen lassen. Er rezitiert eine Ode autistischen Lobes an seinen unentbehrlichen motorisierten Streitwagen. „Ist es nicht erstaunlich, Doc, nicht wahr, dass Napoleons Kanone von Pferden und Ochsen durch russischen Schlamm und Schnee gezogen wurde? Und jetzt habe ich das hier!“ Mit einem unschuldigen Lächeln und ernster Miene schüttet Randall einen sich wiederholenden Schwall von Fakten, historischen Daten, Erinnerungen, Interpretationen, losen Assoziationen, Vorstellungen und Paranoia aus, der fast vernünftig klingt – beinahe. „Das ist der Code Napoleon, Doc, der die Transportmittel der unteren Ränge und Reihen veränderte, wissen Sie, in jenen Tagen, als diese angenehme Langeweile des Nichtstuns noch verstanden wurde.“ Eva schiebt ihren Kopf über Randalls linke Schulter und spielt Kuckuck.
Neben Randall steht Arlene, die Hände an den Hüften, mit vorwurfsvollem Blick und gekleidet mit knappen Jeans-Shorts und Bluse – was an diesem Ort ein Zeichen dafür ist, dass man auf diese Art sein Geld für Drogen verdient und nicht selten schon in jungen Jahren von männlichen Triebtätern sexuell ausgebeutet wurde.
Über das ständige Murmeln von Randalls Gerede hinweg höre ich ihre Beschwerde: „Sie hätten meine Pillen nicht reduzieren sollen.“ Arlenes Arme tragen Dutzende von horizontalen Narben, die parallel verlaufen, wie Eisenbahnschwellen. Die älteren sind weiß, die jüngeren rot, jede markiert ein Andenken an einen Schnitt mit der Rasierklinge, den sie sich selbst zugefügt hat. Der Schmerz der Selbstverletzung löscht, wenn auch nur vorübergehend, bei ihr den Schmerz eines größeren Schmerzes tief in ihrer Seele. Eines von Arlenes Medikamenten kontrolliert diese zwanghafte Selbstverletzung, und sie hat immer Angst, dass ich ihre Dosis reduziere. Das tue ich nie.
Ganz in unserer Nähe, im Schatten des Portland Hotels, haben zwei Polizisten Jenkins in Handschellen gelegt. Jenkins, ein schlaksiger Ureinwohner mit schwarzem, krausem Haar, das bis über die Schultern fällt, ist ruhig und fügsam, als einer der Beamten seine Taschen leert. Er beugt sich mit dem Rücken gegen die Wand, nicht die geringste Spur von Protest im Gesicht. „Sie sollten ihn in Ruhe lassen“, meint Arlene lautstark. „Der Typ dealt nicht. Sie schnappen ihn immer wieder und finden nie etwas.“ Zumindest am helllichten Tag kontrollieren die Polizisten in der Hastings Street mit vorbildlicher Höflichkeit – und nicht, wie meine Patienten sagen, mit der typischen Haltung von Ordnungshütern. Nach ein oder zwei Minuten wird Jenkins freigelassen und verschwindet, ohne etwas zu sagen, mit langen Schritten im Hotel.
In der Zwischenzeit hat der Dichterfürst der Absurdität innerhalb weniger Minuten die europäische Geschichte vom Hundertjährigen Krieg bis Bosnien aufgearbeitet und sich zur Religion von Moses bis Mohammed geäußert. „Doc“, so Randall weiter, „der Erste Weltkrieg sollte eigentlich alle Kriege beenden. Wenn das stimmt, warum gibt es dann die Kriege gegen Krebs oder Drogen? Die Deutschen hatten diese Kanone Dicke Bertha, die sie auf die Alliierten richteten, aber in einer Sprache, die den Franzosen oder Briten nicht gefiel. Gewehre produzieren ein übles Palaver, sie haben einen schlechten Ruf, Doc – aber sie haben die Geschichte vorangebracht, wenn man überhaupt davon reden kann, dass sich die Geschichte vorwärtsbewegt oder sich überhaupt bewegt. Glauben Sie, die Geschichte bewegt sich, Doc?“
Da unterbricht Matthew Randalls Debatte – er ist auf seine Krücken gelehnt, dickbäuchig, einbeinig, lächelnd, kahlköpfig und ungemein jovial. „Der arme Dr. Maté versucht nach Hause zu kommen“, sagt er in seinem charakteristischen Tonfall: sarkastisch und zugleich liebenswert aufrichtig. Matthew grinst uns an, als beträfe der Witz alle, nur nicht ihn selbst. Die verschiedenen Ringe, die sein linkes Ohr durchbohren, schimmern im goldenen Licht der späten Nachmittagssonne.
Eva tänzelt hinter Randalls Rücken hervor. Ich wende mich ab. Ich habe genug vom Straßentheater und will dem jetzt entfliehen. Der gute Arzt will nicht mehr gut sein.
Wir gehören zusammen, diese Fellini-Figuren und ich – oder sollte ich sagen, wir, diese Fellini-Crew –, vor dem Portland Hotel, wo sie leben und ich arbeite. Meine Klinik befindet sich im ersten Stock dieses vom kanadischen Architekten Arthur Erickson entworfenen Gebäudes aus Beton und Glas, eines geräumigen, modernen und zweckmäßigen Gebäudes. Es ist eine beeindruckende Einrichtung, die ihren Bewohnern gute Dienste leistet und das ehemals luxuriöse Haus aus der Jahrhundertwende um die Ecke ersetzt, das das erste Portland Hotel war. Der alte Ort mit seinen hölzernen Balustraden, breiten und geschwungenen Treppenaufgängen, muffigen Treppenabsätzen und Erkern hatte Charakter und Geschichte, die dem neuen Bollwerk fehlt. Obwohl ich die Aura der Alten Welt vermisse, die Atmosphäre von verblasstem Reichtum und Verfall, die dunklen und abblätternden Fensterbänke, die mit Erinnerungen von Eleganz behaftet sind, bezweifle ich, dass die Bewohner Sehnsucht nach den engen Zimmern, den korrodierten Rohrleitungen oder den Armeen von Kakerlaken haben. 1994 gab es einen Brand auf dem Dach des alten Hotels. Eine Lokalzeitung brachte eine Geschichte und ein Foto, auf dem eine Bewohnerin und ihre Katze abgebildet waren. Die Schlagzeile lautete: „Heldenhafter Polizist rettet Fluffy“. Jemand rief im Portland an, um sich zu beschweren, dass Tiere nicht unter solchen Bedingungen leben sollten.
Die gemeinnützige Portland Hotel Society (PHS), für die ich als Arzt tätig bin, verwandelte das Gebäude in eine Unterkunft für Obdachlose. Meine Patienten sind zum größten Teil Süchtige, obwohl bei einigen, wie Randall, die chemischen Gehirnprozesse so weit gestört sind, dass sie auch ohne Drogen den Kontakt zur Realität verloren haben. Viele, wie Arlene, leiden sowohl an psychischen als auch an Suchterkrankungen. Das PHS verwaltet mehrere ähnliche Einrichtungen in einem Umkreis von wenigen Häuserblocks: die Hotels Stanley, Washington, Regal und Sunrise. Ich bin als Arzt für alle Häuser zuständig.
Das neue Portland liegt gegenüber dem Kaufhaus für Armee- und Marinebedarf, wo meine Eltern als Neueinwanderer in den späten 1950er-Jahren den Großteil unserer Kleidung kauften. Damals war dieses Kaufhaus ein beliebtes Einkaufsziel für Berufstätige – und für Kinder aus der Mittelschicht, die auf der Suche nach ausgefallenen Militärmänteln oder Matrosenjacken waren. Draußen auf den Bürgersteigen gab es eine Mischung aus Studenten, die auf der Suche nach etwas Unterhaltung mit dem gemeinen Volk waren, sowie Alkoholikern, Taschendieben, Kauflustigen und Freitagabend-Bibelpredigern.
Jetzt ist es anders. Die Menschenmengen kommen schon seit vielen Jahren nicht mehr. Jetzt sind diese Straßen und ihre Hinterhöfe zum Zentrum von Kanadas Drogenhauptstadt geworden. Einen Block entfernt stand das verlassene Kaufhaus Woodward mit seinem riesigen, beleuchteten „W“-Schild auf dem Dach, das lange ein Wahrzeichen Vancouvers war. Eine Zeit lang belagerten Hausbesetzer und Anti-Armuts-Aktivisten das Gebäude, doch vor Kurzem wurde es abgerissen. Auf dem Gelände soll ein Mix aus schicken Wohnungen und Sozialwohnungen entstehen. Die Olympischen Winterspiele kommen 2010 nach Vancouver und mit ihnen droht die Wahrscheinlichkeit einer Gentrifizierung dieses Viertels. Der Prozess hat bereits begonnen. Es besteht die Befürchtung, dass die Politiker, die die Welt beeindrucken wollen, versuchen werden, die Suchtkranken zu verdrängen.
Eva verschränkt ihre Arme, dehnt sie hinter ihrem Rücken und beugt sich vor, um ihren Schatten auf dem Bürgersteig zu betrachten. Matthew kichert über die Yoga-Übungen der Cracksüchtigen. Randall schwafelt weiter. Ich blicke gespannt auf den vorbeiziehenden Berufsverkehr. Schließlich kommt die Rettung. Mein Sohn Daniel fährt vor und öffnet die Autotür. „Manchmal kann ich nicht glauben, dass das hier mein Leben ist“, sage ich und setze mich auf den Beifahrersitz. „Manchmal glaube ich es auch nicht“, nickt er. „Es kann hier ziemlich heftig zugehen.“ Wir fahren los. Im Rückspiegel sehe ich die sich entfernende Gestalt von Eva, gestikulierend, die Beine verrenkt, den Kopf zur Seite geneigt.
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Das Portland und die anderen Gebäude der Portland Hotel Society stellen ein wegweisendes Sozialprojekt dar. Der Zweck der PHS ist es, ein System der Sicherheit und Fürsorge für marginalisierte und stigmatisierte Menschen zu schaffen – für diejenigen, die „die Erniedrigten und Beleidigten“ sind, um Dostojewski zu zitieren. Die PHS versucht, diese Menschen vor dem zu retten, was ein lokaler Dichter als „Straßen der Vertreibung und Gebäude der Ausgrenzung“ bezeichnet hat.
„Die Menschen brauchen einfach einen Raum, wo sie sich aufhalten können“, sagt Liz Evans, eine ehemalige Gemeindeschwester, deren soziale Herkunft aus der oberen Schicht mit ihrer gegenwärtigen Rolle als Gründerin und Direktorin der PHS unvereinbar zu sein scheint. „Sie brauchen einen Platz, wo sie leben können, ohne verurteilt, gejagt und belästigt zu werden. Es handelt sich um Menschen, die häufig als Belastung angesehen werden, für Verbrechen und soziale Missstände verantwortlich gemacht und … als Zeit- und Energieverschwendung betrachtet werden. Sie werden selbst von Menschen, die Mitgefühl zu ihrem Beruf gemacht haben, barsch behandelt.“
Seit den sehr bescheidenen Anfängen im Jahr 1991 ist die Portland Hotel Society gewachsen und inzwischen sehr aktiv. Sie ist an vielen Projekten beteiligt: an einer Nachbarschaftsbank, einer Kunstgalerie für Künstler des Downtown Eastside, dem ersten betreuten Drogenkonsumraum Nordamerikas, einer kommunalen Krankenstation, wo tiefe Gewebeinfektionen mit intravenösen Antibiotika behandelt werden, einer kostenlosen Zahnklinik und an der Portland Klinik, wo ich seit acht Jahren arbeite. Die zentrale Aufgabe des PHS besteht darin, Menschen, die sonst obdachlos wären, einen Aufenthaltsort zur Verfügung zu stellen.
Die Statistiken sind krass. Eine Überprüfung, die kurz nach der Gründung der PHS durchgeführt wurde, ergab, dass drei Viertel der Bewohner im Jahr vor ihrer Unterbringung mehr als fünf Mal ihre Adresse gewechselt hatten. 90 Prozent waren wegen Verbrechen angeklagt oder verurteilt worden, meist wegen Bagatelldelikten. Gegenwärtig sind 36 Prozent HIV-positiv oder haben Aids, die meisten der Bewohner sind süchtig nach Alkohol oder anderen Substanzen – nach allem von Reiswein oder Mundwasser bis hin zu Kokain oder Heroin. Bei über der Hälfte von ihnen wurde eine psychische Erkrankung diagnostiziert. Der Anteil der kanadischen Ureinwohner unter den Bewohnern vom Portland ist im Verhältnis fünfmal so hoch wie ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung.
Für Liz und die anderen, die die PHS mit aufgebaut haben, war es unendlich frustrierend zu beobachten, wie Menschen von einer Krise in die nächste gerieten, ohne dass sie eine konsequente Unterstützung bekamen. „Das System hatte sie im Stich gelassen“, sagt sie, „also haben wir versucht, die Hotels als Stützpunkt für andere Dienstleistungen und Programme einzurichten. Es dauerte acht Jahre, bis die Mittel zusammen waren, sowie vier Provinzregierungen und vier private Stiftungen, bis das neue Portland Wirklichkeit wurde. Jetzt haben die Menschen endlich ihre eigenen Badezimmer, Waschmaschinen und einen vernünftigen Ort zum Essen.“
Was das Modell von Portland so einzigartig unter den Angeboten für Süchtige macht und zugleich so umstritten, ist die zentrale Intention, die Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind – ganz gleich, wie dysfunktional, gestört und störend sie auch sein mögen. Unsere Klienten sind nicht die „Armen, die es verdient haben“; sie sind einfach nur arm – unverdient in ihren eigenen Augen und in denen der PHS. Im Portland Hotel gibt es weder das Hirngespinst der Erlösung noch die Erwartung sozial respektabler Ergebnisse, sondern nur eine unsentimentale Feststellung der realen Bedürfnisse von realen Menschen in einer schäbigen Gegenwart, die bei allen gleichermaßen auf einer tragischen Vergangenheit beruht. Wir können hoffen (und tun es auch), dass Menschen von den Dämonen, die sie heimsuchen, befreit werden können, und arbeiten daran, sie in diese Richtung zu ermutigen, aber wir haben nicht die Vorstellung, dass ihnen irgendein psychologischer Exorzismus aufgezwungen werden kann. Die unbequeme Wahrheit ist, dass die meisten unserer Klienten süchtig bleiben werden und, so wie es jetzt aussieht, auf der falschen Seite des Gesetzes. Kerstin Stuerzbecher, eine ehemalige Krankenschwester mit zwei Abschlüssen in Geisteswissenschaften, ist ebenfalls Direktorin der Portland Society. „Wir haben nicht auf alles eine Antwort“, sagt sie, „und wir können den Menschen nicht unbedingt die Fürsorge bieten, die sie brauchen, um ihr Leben entscheidend zu verändern. Am Ende des Tages liegt es nie an uns – entweder haben sie’s in sich oder nicht.“
Den Bewohnern wird so viel Hilfe angeboten, wie es die finanziell angespannten Ressourcen erlauben. Das Pflegepersonal der Einrichtung reinigt die Räume und hilft den Hilflosesten bei ihrer persönlichen Hygiene. Essen wird zubereitet und verteilt. Wenn möglich, werden die Patienten zu Terminen bei Fachärzten oder für Röntgenaufnahmen oder andere medizinischen Untersuchungen