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Einmal ADHS, immer ADHS?
Heilungswege jenseits von Ritalin
ADHS – die immer noch unverstandene Krankheit bedeutet für unzählige Menschen ein Leben in Unruhe und Zerrissenheit. Dass bei der
Aufmerksamkeitsdefizitstörung eine Beeinträchtigung der Neurophysiologie besteht, ist auch für den Mediziner DR. GABOR MATÉ unbestritten.
Bei der Ursachenforschung bricht er jedoch mit der bisher gängigen These von der genetischen Veranlagung und legt stattdessen dar, wie Erfahrungen aus der Kindheit sich auf das menschliche Gehirn auswirken. Seine Botschaft an Eltern, Therapeuten, Lehrer und Betroffene: Heilung ist möglich! Sein Rezept: Mehr Einfühlsamkeit und Fürsorge!
Matés einzigartiger Therapieansatz verfolgt einen Prozess der Ganzwerdung. Er hilft Eltern zu verstehen, wie ihre ADHS-Kinder ticken und Erwachsenen, emotionale Selbststeuerung zu erlernen, um Zerstreutheit, Hyperaktivität und Impulsivität nicht mehr ausgeliefert zu sein. Das Buch ist eine aufschlussreiche Mischung aus Erfahrungsberichten, Fallstudien sowie neuesten Erkenntnissen aus Neurowissenschaft, Familiensystemtheorie und Genetik – und beleuchtet diese gravierende Beeinträchtigung nicht zuletzt in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen.
Der Kanadier DR. GABOR MATÉ ist Allgemein- und Palliativmediziner, Bestseller-Autor und selbst Betroffener. Der Experte zu den Themen ADHS, kindliche Entwicklung, Stress und Sucht verfasste mehrere Bücher, darunter den internationalen Beststeller WENN DER KÖRPER NEIN SAGT und IM REICH DER HUNGRIGEN GEISTER.
„Dieses erfreuliche, hilfreiche Buch ist eine willkommene Ergänzung zur Literatur über ADHS. Es ist auf der Grundlage solider Recherche und einer ausgeprägten humanistischen Sensibilität mit viel Humor und Mitgefühl aus einer schonungslos ehrlichen Perspektive geschrieben.“ - Dr. John Ratey, Professor für Psychiatrie, Harvard Medical School
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Seitenzahl: 527
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DR. GABOR MATÉ
Unruhe im Kopf
ÜBER DIE ENTSTEHUNG UND HEILUNG DER AUFMERKSAMKEITSDEFIZITSTÖRUNG ADHS
Dr. Gabor Maté
Unruhe im Kopf
Über die Entstehung und Heilung der
Aufmerksamkeitsdefizitstörung ADHS
1. Auflage 2021
ISBN 978-3-96257-260-0
© Narayana Verlag 2021
Titel der englischen Originalausgabe:
Scattered Minds: The Origins and Healing of Attention Deficit Disorder
Copyright©1999 by Gabor Maté, this translation published by arrangement with Alfred A. Knopf Canada, a division of Penguin Random House Canada Limited and Liepman AG.
Translated from the English language: SCATTERED MINDS
First published in Canada by Alfred A. Knopf Canada in 1999
Übersetzt aus dem Englischen von
Annegret Hunke-Wormser
Cover Design: Andrew Roberts
Coverlayout: Narayana Verlag GmbH
Herausgeber: Unimedica im Narayana Verlag GmbH, Blumenplatz 2,
79400 Kandern, Tel.: +49 7626 974970-0
E-Mail: [email protected],
www.unimedica.de
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Erkenntnisse in der Medizin unterliegen einem laufenden Wandel durch Forschung und klinische Erfahrungen. Autor und Übersetzer dieses Werkes haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass die in diesem Werk gemachten therapeutischen Angaben (insbesondere hinsichtlich Indikation, Dosierung und unerwünschten Wirkungen) dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Das entbindet den Nutzer dieses Werkes jedoch nicht von der Verpflichtung, anhand einschlägiger Fachliteratur und weiterer schriftlicher Informationsquellen zu überprüfen, ob die dort gemachten Angaben von denen in diesem Werk abweichen und seine Verordnung in eigener Verantwortung zu treffen.
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Für meine Mutter, Judith (Lövi) Maté, und meinen verstorbenen Vater, Andor Maté, sowie für meine eigene Familie, Rae, Daniel, Aaron und Hannah
„Jegliches Handeln hat nur im Kontext von Beziehung Sinn, und ohne Verständnis der Beziehung wird es auf allen Ebenen nur zu Konflikten führen. Ein Verständnis der Beziehungen ist viel, viel wichtiger als die Suche nach einem Handlungsplan.“
— J. Krishnamurti
An den Leser
Einleitung
TEIL I Die Merkmale der Aufmerksamkeitsdefizitstörung
KAPITEL 1 So viel Suppe und Mülleimer
KAPITEL 2 Viele unbeschrittene Wege
KAPITEL 3 Wir alle könnten durchdrehen
KAPITEL 4 Eine konfliktreiche Ehe: ADHS und die Familie (I)
KAPITEL 5 Die Zukunft bleibt außen vor
TEIL II Wie sich das Gehirn entwickelt und wie die Schaltkreise und die Chemie von ADHS entstehen
KAPITEL 6 Unterschiedliche Welten: Die Erbanlagen und die Umgebungen der Kindheit
KAPITEL 7 Emotionale Allergien: ADHS und Sensibilität
KAPITEL 8 Eine surrealistische Choreographie
KAPITEL 9 Einstimmung und Bindung
KAPITEL 10 Die Fußstapfen der Kindheit
TEIL III Die Wurzeln von ADHS in Familie und Gesellschaft
KAPITEL 11 Eine völlig Fremde: ADHS und die Familie (II)
KAPITEL 12 Geschichten in Geschichten: ADHS und die Familie (III)
KAPITEL 13 Diese hektischste aller Kulturen: Die gesellschaftlichen Wurzeln von ADHS
TEIL IV Die Bedeutung der ADHS-Merkmale
KAPITEL 14 Losgelöste Gedanken und Plappermaul: Zerstreutheit und Ausblenden
KAPITEL 15 Das Pendel schwingt hin und her: Hyperaktivität, Lethargie und Scham
TEIL V Das ADHS-Kind und Heilung
KAPITEL 16 Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist: Bedingungslose positive Wertschätzung
KAPITEL 17 Das Umwerben des Kindes
KAPITEL 18 Wie Fische im Meer
KAPITEL 19 Der will doch nur Aufmerksamkeit!
KAPITEL 20 Die Aufsässigen: Oppositionalität
KAPITEL 21 Die Entschärfung des Gegenwillens
KAPITEL 22 Mein Marshmallow hat Feuer gefangen: Motivation und Autonomie
KAPITEL 23 Vertrauen in das Kind und in sich selbst: ADHS im Klassenzimmer
KAPITEL 24 Kontrolle auf Schritt und Tritt: Teenager
TEIL VI Der ADHS-Erwachsene
KAPITEL 25 Die Rechtfertigung der eigenen Existenz: Das Selbstwertgefühl
KAPITEL 26 Erinnerungen fürs Leben
KAPITEL 27 Das Ungeschehene erinnern: ADHS und Beziehungen
KAPITEL 28 Der Engel rettet Mose: Die Fürsorge für das innere Kind (I)
KAPITEL 29 Die physische und spirituelle Umgebung: Die Fürsorge für das innere Kind (II)
KAPITEL 30 Anstatt Tränen und Leid: Süchte und das ADHS-Gehirn
TEIL VII Fazit
KAPITEL 31 Ich habe zum ersten Mal das Grün der Bäume gesehen: Was Medikamente bewirken können und was nicht
KAPITEL 32 Was Aufmerksamkeit bedeutet
Anmerkungen
Bibliografie
Danksagung
Index
Anerkennung für Dr. Gabor Maté und seinen Bestseller Unruhe im Kopf
Über den Autor
Unruhe im Kopf besteht aus sieben Teilen. In den ersten vier werden die Merkmale der Aufmerksamkeitsdefizitstörung beschrieben und ihre Ursprünge erläutert, während in den letzten drei der Heilungsprozess im Mittelpunkt steht. Teil Fünf, „Das ADHS-Kind und Heilung“, richtet sich nicht nur an Eltern, sondern auch an Erwachsene mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung, da er wichtige Informationen liefert, sich selbst verstehen zu lernen. In ähnlicher Weise können Eltern, die die Kapitel über Erwachsene mit ADHS lesen, vielleicht weitere Erkenntnisse über ihre ADHS-Kinder und über sich selbst erlangen.
Für die Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitätsstörung existieren verschiedene Bezeichnungen und Abkürzungen wie zum Beispiel AD(H)S, ADS oder HKS. Im Allgemeinen Gebrauch sowie in der Fachliteratur hat sich inzwischen die Abkürzung ADHS durchgesetzt, auch wenn die Hyperaktivität, für die das „H“ steht, nicht zwingend bei jedem Betroffenen vorliegen muss. Da ADHS als die einfachste Form angesehen wird, wird in diesem Buch ausschließlich diese Abkürzung verwendet.
Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung wird in der Regel von allen, die an schlechte Gene „glauben“, als deren Ergebnis angesehen, und alle, die nicht daran glauben, sehen sie als Folge schlechter Erziehung. Die Aura der Verwirrung und sogar der Verbitterung, von der die öffentliche Debatte über diese Störung umgeben ist, steht einer vernünftigen Diskussion im Wege. Diese Diskussion sollte darüber geführt werden, wie sowohl die Umgebung als auch die Vererbung die Neurophysiologie von Kindern beeinträchtigen können, die in gestressten Familien, in einer zersplitterten und unter starkem Druck stehenden Gesellschaft sowie in einer Kultur aufwachsen, die zunehmend hektischer zu werden scheint.
Ich selbst leide an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung, und auch bei meinen drei Kindern wurde ADHS diagnostiziert. Ich glaube nicht, dass es hierbei um schlechte Gene oder schlechte Erziehung geht, sondern vielmehr um Gene und Erziehung. Die Neurowissenschaften haben nachgewiesen, dass das menschliche Gehirn nicht nur durch biologisches Erbgut programmiert wird, sondern dass die Schaltkreise im Gehirn auch dadurch geprägt werden, was nach der Geburt eines Kindes und sogar während der Zeit im Uterus geschieht. Die Gefühlszustände und die Lebensweise der Eltern üben einen starken Einfluss auf die Bildung der Gehirne ihrer Kinder aus, obwohl Eltern solche subtilen, unbewussten Einflüsse oft nicht kennen oder kontrollieren können. Die gute Nachricht ist, dass es in den Schaltkreisen des Gehirns eines Kindes und sogar eines Erwachsenen zu großen Veränderungen kommen kann, wenn die für eine positive Entwicklung erforderlichen Bedingungen geschaffen werden.
Fast immer, wenn von der Umgebung die Rede ist, kommt schnell auch die Frage der Schuld auf. Die Leute fragen dann sofort: „Denken Sie, dass es der Fehler der Eltern ist?“ Es ist allzu einfach gedacht, dass jemand schuld sein muss, wenn etwas nicht funktioniert. Es würde Eltern von Kindern mit ADHS, die von allen Seiten von Freunden, Familie, Nachbarn, Lehrern und sogar fremden Menschen auf der Straße mit verständnislosen Urteilen und kritischen Äußerungen belagert werden, nicht helfen, wenn man sie auch noch an den Pranger stellen würde. In diesem Buch geht es nicht um Schuld.
Ein Arzt in Ontario lieferte dem Vater eines neunjährigen Mädchens mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung einen äußerst zutreffenden Vergleich. „Stellen Sie sich vor“, sagte er, „Sie würden in der Mitte eines Zimmers stehen, in dem sich wirklich viele Menschen befinden. Jeder um Sie herum redet. Plötzlich fragt Sie jemand: ‚Was haben der und der gerade gesagt?‘ Genauso sieht es im ADHS-Gehirn aus und genauso ist es für Ihr Kind.“ Ein weiterer Vergleich beschreibt ebenfalls treffend die Situation, in der sich die Eltern von ADHS-Kindern befinden: Sie stecken mitten im dichten Verkehr an einer Kreuzung fest. Der Motor ist abgewürgt und sie tun ihr Bestes, um ihr Auto wieder zu starten. Alle hupen und schreien sie wütend an, aber niemand bietet ihnen seine Hilfe an. Vielleicht weiß niemand, wie er helfen kann.
Als Eltern, die verzweifelt bemüht sind, ihre Kinder in liebevoller Sicherheit großzuziehen, müssen wir uns nicht noch schuldiger fühlen, als wir es ohnehin schon tun. Wir brauchen weniger Schuldgefühle und ein besseres Verständnis, wie die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung genutzt werden kann, um die emotionale und kognitive Entwicklung unserer Kinder zu fördern. Unruhe im Kopf wurde geschrieben, um ein solches Verständnis zu fördern.
Dieses Buch wurde auch mit Blick auf zwei weitere Zielgruppen geschrieben. Ich hoffe, dass Erwachsene mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung hier Erkenntnisse finden werden, die ihnen dabei helfen, ein tieferes Verständnis ihrer selbst und des Weges zu ihrer eigenen Heilung zu entdecken. Unruhe im Kopf soll darüber hinaus Gesundheitsfachleuten mit ADHS-Patienten und Lehrern mit ADHS-Schülern einen umfassenden Überblick über ein häufig falsch verstandenes Krankheitsbild geben.
Die in diesem Buch vorgestellte Analyse von ADHS versucht, die Erkenntnisse der modernen neurowissenschaftlichen Forschung, der Entwicklungspsychologie, der Familiensystemtheorie, der Genetik und der Medizin zusammenzuführen.1
Hinzu kommen eine Interpretation gesellschaftlicher und kultureller Trends sowie meine eigenen Erfahrungen als Erwachsener mit ADHS, als Vater und als Arzt. Zur Vermeidung einer akademischen Ausrichtung dieses Buches sind in den Anmerkungen am Ende Quellenangaben sowie Kommentare für Fachleute und Laien aufgeführt, die auf der Suche nach weiteren Informationen sind.
Die Fallbeispiele und Zitate stammen aus meinen Akten. Die Namen wurden bis auf wenige Ausnahmen geändert.
Die Medizin sagt uns genauso viel über die bedeutungsvolle Leistung des Heilens, Leidens und Sterbens, wie eine chemische Analyse uns etwas über den ästhetischen Wert von Töpferware sagt.
—IVAN ILLICH
Die Nemesis der Medizin
Bis vor vier Jahren verstand ich die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ungefähr so gut wie fast jeder Arzt in Nordamerika, das heißt, so gut wie überhaupt nicht. Ich habe durch einen dieser unerwarteten Zufälle, die im Grunde genommen keine Zufälle sind, mehr darüber erfahren. Eine Sozialarbeiterin, die ich kennengelernt hatte, war mit der Diagnose ADHS konfrontiert worden und hatte mir angeboten, ihre Geschichte zu erzählen. Sie vermutete, dass ich mich dafür interessieren würde – oder vermutlich hatte es ihr eher ihr Bauchgefühl gesagt. Also beschloss ich als Kolumnist für medizinische Themen in The Globe and Mail, einen Artikel über diese merkwürdige Störung zu schreiben. Aus der geplanten Kolumne wurde eine Reihe von vier.
Nur meinen Zeh hineinzutauchen hieß für mich zu wissen, dass ich mein ganzes Leben lang bis zum Hals darin gesteckt hatte. Diese Erkenntnis könnte man als die Phase der ADHS-Erleuchtung bezeichnen, die Verkündigung, die durch Euphorie, Verständnis, Begeisterung und Hoffnung gekennzeichnet ist. Mir schien es, als hätte ich den Weg zu jenen dunklen Winkeln meines Geistes gefunden, aus denen ohne jede Warnung Chaos, wilde Gedanken, Pläne, Emotionen und Absichten in alle Richtungen hervorschießen. Ich hatte das Gefühl, entdeckt zu haben, was mich immer davon abgehalten hatte, psychische Integrität zu erlangen: Ganzheit, die Abstimmung und die Zusammenführung der unharmonischen Fragmente meiner Gedanken.
Die nie zur Ruhe kommenden Gedanken des ADHS-Erwachsenen irren herum wie ein verwirrter Vogel, der sich hier oder da für eine Weile niederlassen kann, aber nie lange genug bleibt, um ein Nest zu bauen. Der britische Psychiater R. D. Laing hat an irgendeiner Stelle einmal gesagt, dass es drei Dinge gibt, vor denen Menschen Angst haben: vor dem Tod, vor anderen Menschen und vor ihrer eigenen Psyche. Aus Angst vor meiner eigenen Psyche hatte mir immer davor gegraut, einen Moment lang allein mit ihr zu sein. Für den Notfall musste ich immer ein Buch in der Tasche haben, falls ich irgendwo warten musste, auch wenn es nur eine Minute war, sei es in der Schlange in der Bank oder an der Kasse im Supermarkt. Ich warf meinem Geist immer wieder kleine Fetzen zu, von denen er sich ernähren sollte, wie einem wilden und grausamen Tier, das mich in dem Augenblick verschlingen würde, in dem es nichts im Maul hatte.1 Mein ganzes Leben lang hatte ich nicht gewusst, wie ich anders hätte sein können.
Der Schock der Selbsterkenntnis, den viele Erwachsene erleiden, wenn sie etwas über ADHS erfahren, ist sowohl belebend als auch schmerzhaft. Es gibt – zum allerersten Mal – einen roten Faden für das Verstehen von Erniedrigungen und Fehlschlägen, von unerfüllten Plänen und nicht gehaltenen Versprechen, von Ausbrüchen manischer Begeisterung, die sich in ihrem eigenen wilden Tanz selbst verzehren und emotionale Trümmer zurücklassen, von scheinbar grenzenloser Fehlorganisation von Aktivitäten, Gehirn, Auto, Schreibtisch und Zimmer.
ADHS schien viele meiner Verhaltensmuster, Gedankenprozesse, kindischen emotionalen Reaktionen sowie meine Arbeitssucht und andere Suchtneigungen zu erklären. Hinzu kamen die plötzlichen Ausbrüche schlechter Laune und totaler Irrationalität, die Konflikte in meiner Ehe und mein Verhalten im Umgang mit meinen Kindern, das an Dr. Jekyll und Mr. Hyde erinnerte. Und auch mein Humor, der sich zu den unmöglichsten Gelegenheiten zeigt und die Menschen zum Lachen bringt oder aber fröstelnd zurücklassen kann. Mein Witz springt zu mir zurück, wie man im Ungarischen sagt, „wie Erbsen, die man an eine Wand wirft“. Sie erklärte zudem meine Neigung, gegen Türen zu rennen, meinen Kopf an Regalen zu stoßen, Sachen fallen zu lassen und Menschen zu streifen, bevor ich überhaupt bemerke, dass sie da sind. Auch meine Unfähigkeit, Anweisungen zu befolgen oder mich auch nur an sie zu erinnern, oder meine lähmende Wut, wenn ich eine Gebrauchsanweisung in der Hand halte, die mir sagt, wie ich die einfachsten Geräte bedienen soll. Vor allem aber wurde mir klar, warum ich mein Leben lang das Gefühl gehabt hatte, mein Potenzial, mich selbst auszudrücken und zu definieren, irgendwie nie voll ausgeschöpft habe – die Überzeugung des ADHS-Erwachsenen, dass er Talente, Kenntnisse oder undefinierbare positive Eigenschaften besitzt, zu denen er Zugang haben könnte, wenn die Drähte nicht falsch verbunden wären. „Ich kann das, auch wenn die Hälfte meines Gehirns hinter meinem Rücken gefesselt ist“, pflegte ich zu scherzen. Das war kein Scherz. Genauso habe ich viele Dinge erledigt.
Mein Weg zur Diagnose ähnelte dem vieler Erwachsener mit ADHS. Ich stieß fast versehentlich auf diese Störung, stellte Recherchen dazu an und suchte mir professionelle Unterstützung, die mir bestätigte, dass meine Vermutung nicht aus der Luft gegriffen war. Mit dem Krankheitsbild der Aufmerksamkeitsdefizitstörung sind so wenige Ärzte oder Psychologen vertraut, dass Betroffene gezwungen sind, selbst zu Experten zu werden, bis sie jemanden gefunden haben, der eine kompetente Einschätzung vornehmen kann. Ich hatte Glück. Als Arzt konnte ich mir einen Weg durch das medizinische Labyrinth bahnen und nach den besten Hilfsquellen suchen. Innerhalb weniger Wochen, nachdem ich meine Kolumnen über ADHS geschrieben hatte, wurde ich von einer ausgezeichneten Kinderpsychiaterin untersucht, die auch Erwachsene mit dieser Störung behandelt. Sie bestätigte meine eigene Diagnose und begann die Behandlung zunächst mit der Verschreibung von Ritalin. Außerdem sprach sie mit mir darüber, wie einige der Entscheidungen, die ich in meinem Leben traf, meine ADHS-Tendenzen verstärkten.
Wie bei vielen Erwachsenen mit ADHS glich mein Leben einer Jongliernummer im Varieté: Ein Mann lässt gleichzeitig mehrere Teller auf Stäben rotieren und versucht, sie im Gleichgewicht zu halten. Er fügt immer mehr Stäbe und Teller hinzu und rennt dann hektisch von einem zum anderen, da jeder Teller immer langsamer wird und herunterzufallen droht. Er kann dies nur so lange fortführen, bis die Stäbe anfangen zu wackeln und die Teller am Boden zerschellen oder bis er selbst zusammenbricht. Eines von beidem muss passieren, aber die ADHS-Persönlichkeit hat Schwierigkeiten, sich von etwas zu lösen. Anders als der Jongleur kann ein Mensch mit ADHS die Vorführung nicht beenden.
Mit genau dieser Ungeduld sowie dem fehlenden Urteilsvermögen, die beide für ADHS typisch sind, hatte ich bereits vor meiner offiziellen Diagnose angefangen, mich selbst medikamentös zu behandeln. Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ist durch ein Gefühl der Dringlichkeit gekennzeichnet, eine Verzweiflung, sofort zu bekommen, was auch immer man im Moment haben möchte, ob es nun ein Objekt ist, eine Aktivität oder eine Beziehung. Und es gab noch etwas anderes, für das eine Frau, die mich einige Monate später um Hilfe bat, die richtigen Worte fand. „Es wäre schön, zumindest für eine kleine Weile, eine Pause von mir zu bekommen“, sagte sie, ein Gefühl, das ich nur zu gut verstand. Man sehnt sich danach, den ermüdenden, sich ständig drehenden und ständig herumwirbelnden Gedanken zu entkommen. Direkt am ersten Tag, an dem ich zum ersten Mal von ADHS hörte, nahm ich Ritalin in einer viel höheren als der empfohlenen Anfangsdosis ein. Nach wenigen Minuten fühlte ich mich euphorisch und hellwach und hatte das Gefühl, verständnisvoll und voller Liebe zu sein. Meine Frau fand, dass ich mich merkwürdig verhielt. „Du siehst aus, als würdest du unter Drogen stehen“, lautete ihr prompter Kommentar.
Ich war kein unwissender Teenager auf der Suche nach einem Kick, als ich mir selbst Ritalin verordnete. Ich war bereits in meinen Fünfzigern und ein erfolgreicher, angesehener Hausarzt, dessen Medizinkolumne für ihren Tiefgang gelobt wurde. Ich lege bei meiner medizinischen Arbeit großen Wert darauf, pharmazeutische Produkte zu vermeiden, es sei denn, es ist absolut notwendig. Und es versteht sich von selbst, dass ich meinen Patienten immer davon abrate, sich selbst Medikamente zu verordnen. Ein solch frappierendes Ungleichgewicht zwischen intellektueller Erkenntnis auf der einen Seite und Kontrolle der eigenen Emotionen und des eigenen Verhaltens auf der anderen Seite ist typisch für Menschen mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung.
Ungeachtet dieses Unmaßes an Impulsivität glaubte ich, dass ich Licht am Ende des Tunnels sah. Das Problem lag klar auf der Hand und die Lösung war wunderbar einfach: Bestimmte Teile meines Gehirns waren die Hälfte der Zeit über im Tiefschlaf, aus dem sie lediglich geweckt werden mussten. Die „guten“ Bereiche meines Gehirns würden dann die Kontrolle übernehmen – die ruhigen, vernünftigen, reifen, wachsamen Bereiche. Das hat so nicht funktioniert. In meinem Leben schien sich nicht viel zu ändern. Es gab neue Erkenntnisse, aber was gut gewesen war, blieb auch gut, und was schlecht gewesen war, blieb schlecht. Das Ritalin führte bald dazu, dass ich deprimiert war. Dexamphetamin, ein Aufputschmittel, das mir als Nächstes verschrieben wurde, führte dazu, dass ich wacher war und noch effizienter arbeiten konnte.
Seitdem ADHS bei mir selbst diagnostiziert wurde, habe ich Hunderte Erwachsene und Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung gesehen. Heute denke ich, dass Ärzte und die Verschreibung von Medikamenten bei der Behandlung von ADHS mittlerweile eine übertrieben große Rolle spielen. Was als Problem der Gesellschaft oder der menschlichen Entwicklung seinen Anfang nimmt, wird fast ausschließlich als medizinische Erkrankung definiert. Selbst wenn Medikamente in vielen Fällen hilfreich sind, so ist die Heilung von ADHS kein Prozess der Genesung von irgendeiner Krankheit. Sie ist vielmehr ein Prozess der Ganzwerdung, was zufälligerweise auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Heilung ist.
Dass bei der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizitstörung eine Störung der Neurophysiologie vorliegt, ist unbestritten. Die Folge daraus ist jedoch nicht, dass wir alle Probleme des ADHS-Geistes erklären können, indem wir auf die Biologie aus dem Gleichgewicht geratener neurochemischer Substanzen und einen Kurzschluss in den neurologischen Bahnen verweisen. Eine geduldige und mitfühlende Untersuchung ist erforderlich, wenn wir die tieferen Bedeutungen dessen herausfinden wollen, was zum Ausdruck kommt in den aus dem Ruder geratenen neuronalen Signalen, schwierigen Verhaltensweisen und dem psychischen Tumult, die zusammengenommen als ADHS bezeichnet wurden.
Meine drei Kinder haben ebenfalls eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung – diese wurde nicht von mir diagnostiziert, sondern aufgrund von Auswertungen in einer Klinik festgestellt. Eines von ihnen hat Medikamente bekommen, was sehr nützlich war, aber zurzeit nimmt keines von ihnen etwas ein. Angesichts einer derart überzeugenden Familiengeschichte mag es überraschen, dass ich nicht glaube, dass ADHS die fast ausschließlich genetische Erkrankung ist, für die viele Leute sie halten. Ich sehe sie nicht als eine unveränderliche vererbte Störung der Gehirnfunktion, sondern als physiologische Folge eines Lebens in einer bestimmten Umgebung, in einer bestimmten Kultur. Man kann in vielerlei Hinsicht und in jedem Alter aus ihr herauswachsen. Der erste Schritt besteht darin, sich von dem Krankheitsmodell zu lösen, ebenso wie von der Vorstellung, dass Medikamente mehr als eine temporäre Notlösung bieten können.
In letzter Zeit ist ADHS von einem Hauch von Mystik umgeben; sie ist aber ungeachtet dessen, was viele Leute denken, keine neue Entdeckung. In Nordamerika ist sie in der ein oder anderen Form seit 1902 bekannt. Der Weg für ihre derzeitige Behandlung mit Psychostimulanzien wurde bereits vor sechs Jahrzehnten geebnet. Die Namen, die diesem Krankheitsbild gegeben wurden, sowie seine genauen Beschreibungen haben sich mehrfach geändert. In Nordamerika ist die aktuelle Definition dieser Störung in der fünften Auflage des Diagnostic and Statistical Manual zu finden, dem Leitfaden und Nachschlagewerk der American Psychiatric Association. Das DSM IV definierte die Aufmerksamkeitsdefizitstörung noch rein nach ihren äußeren Merkmalen, nicht nach ihrer emotionalen Bedeutung im Leben der einzelnen Menschen. Es beging den Fauxpas, diese äußeren Beobachtungen als Symptome zu bezeichnen, während dieser Begriff in der medizinischen Fachsprache für die individuell gefühlte Erfahrung eines Patienten steht. Äußere Beobachtungen, wie akut sie auch immer sein mögen, sind Anzeichen. Kopfschmerzen sind ein Symptom. Ein mithilfe des Stethoskops eines Arztes festgestelltes Brustgeräusch ist ein Anzeichen. Husten ist sowohl ein Symptom als auch ein Anzeichen. Im DMS wird die Sprache der Anzeichen gesprochen, weil die Weltsicht der konventionellen Medizin mit der Sprache des Herzens nicht vertraut ist. Der UCLA-Kinderpsychiater Daniel J. Siegel hat es so ausgedrückt: „Im DSM geht es um Kategorien, nicht um Schmerzen.“
ADHS hat viel mit Schmerzen zu tun, die jeder der Erwachsenen und jedes der Kinder, die zur Beurteilung zu mir kamen, fühlten. Die tiefe emotionale Verletzung, die sie mit sich herumtragen, ist zu erkennen an den niedergeschlagenen, abgewandten Augen, dem schnellen, unzusammenhängenden Redefluss, der angespannten Körperhaltung, den unruhigen Händen und Füßen sowie dem nervösen selbstironischen Humor. „Jeder Aspekt meines Lebens schmerzt“, sagte ein 37-jähriger Mann zu mir, als er zum zweiten Mal in meiner Praxis war. Die Menschen sind oft überrascht, wenn ich nach einem kurzen Gespräch ihren Schmerz nachfühlen und ihre wirre Geschichte voller Widersprüche verstehen kann. „Ich spreche über mich selbst“, sage ich ihnen dann.
Manchmal habe ich mir gewünscht, dass die „Experten“ und Medienvertreter, die die Existenz einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung leugnen, nur einigen der schwer betroffenen Erwachsenen begegnen könnten, die mich um Hilfe gebeten haben. Diese Männer und Frauen in ihren Dreißigern, Vierzigern und Fünfzigern waren nie in der Lage, irgendeinen Job oder einen Beruf über einen längeren Zeitraum auszuüben. Sie können nicht ohne Probleme sinnvolle, verbindliche Beziehungen eingehen, geschweige denn in einer Beziehung bleiben. Einige sind nie in der Lage gewesen, ein Buch von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen, andere können nicht einmal bis zum Ende eines Films auf ihrem Stuhl sitzen bleiben. Ihre Stimmung wechselt zwischen Lethargie und Niedergeschlagenheit, zwischen Unruhe und Erregung hin und her. Die kreativen Talente, mit denen sie gesegnet wurden, sind nicht genutzt worden. Sie sind zutiefst frustriert über das, was sie als ihr eigenes Versagen empfinden. Ihr Selbstwertgefühl ist in irgendeinem tiefen Brunnen verloren gegangen. Meistens sind sie fest davon überzeugt, dass ihre Probleme die Folge eines grundlegenden, nicht zu korrigierenden Makels in ihrer Persönlichkeit sind.
Ich würde mir wünschen, dass jeder ungläubige Thomas die autobiografische Schilderung lesen und sich zu Herzen nehmen würde, die ich von John, einem 51-jährigen alleinstehenden Mann ohne Arbeit bekommen habe. Mit seiner Erlaubnis gebe ich sie hier wortwörtlich wieder:
Hatte Jobs, Arbeit, habe mein Bestes gegeben, aber war nie gut genug. Wenn Leute mir etwas erzählen, fragen sie, ob ich zuhöre oder ob ich gelangweilt bin. Emotionen gezeigt oder ich drifte ab oder wenn ich etwas tun muss, kann ich es nicht zu Ende bringen oder fange etwas an und fange mit den Augen etwas anderes an. Wenn ich manchmal meistens bis zur letzten Minute warte, um etwas zu erledigen. Bekomme das unruhige Gefühl, ich muss es tun oder sonst fühle ich mich unter Druck. Verliere mich in Gedankengespinsten oder Tagträumen. Verlege dauernd Sachen oder verliere sie. Kann mich nicht erinnern, wohin ich etwas gelegt habe. „Vergesslich“, verwirrt, sprunghaftes Denken. Werde wütend wegen nichts, die Leute fragen mich, was los ist, ich sage, nichts. Ich kann anscheinend nicht erfassen, was die Leute von mir wollen, kann es nicht verstehen. Als ich ein Kind war, konnte nicht still sitzen, zappelig. Im Klassenbuch in der Schule stand immer etwas wie: Passt beim Unterricht nicht auf, sitzt nicht still, brauchte länger, um zu lernen oder zu verstehen. War immer in Schwierigkeiten, saß vorn oder hinten im Klassenzimmer oder im Büro des Direktors, festgebunden auf einem Stuhl. Hatte immer Treffen mit Beratern. Die Lehrer sagten immer, sitz still, sei leise. Wurde raus in den Flur geschickt, mein Vater befahl mir immer, still zu sitzen, was für ein fauler Kerl ich sei, ich soll in mein Zimmer. Hat mich immer angeschrien.
Johns gesprochene Sprache ist weitaus artikulierter als seine Schriftsprache, aber nicht weniger ergreifend. „Mein Dad“, sagte er, „hat mir immer unter die Nase gerieben, dass ich Arzt oder Anwalt hätte werden sollen, sonst wäre ich nichts wert. Nach ihrer Scheidung haben meine Eltern nur miteinander gesprochen, wenn meine Mutter meinen Vater angerufen hat, um ihm zu sagen: ‚Mach ihm die Hölle heiß‘ … Letzte Woche habe ich ein Video gesehen“, fügte er hinzu, „Sein Titel hat genau ausgedrückt, wie ich mich fühle: Ich habe es satt, es satt zu haben.“
Patienten verwenden eine plastische, oft fast lyrische Sprache, um ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. „Ah“, sagte ein 47 Jahre alter Mann mit einem mutlosen Abwinken und einem resignierten und zugleich schelmischen Lächeln, „mein Leben ist einfach so viel Suppe und Mülleimer.“ Was diese Worte genau bedeuten sollten, kann ich nicht sagen. Wie Gedichte vermitteln sie ihre Bedeutung durch die Gefühle und Assoziationen, die sie hervorrufen. „In der Suppe gelandet.“ „Nebel so dick wie Suppe.“ „Suppenküche.“ „Behandelt wie ein Stück Müll.“ „Ich fühle mich wie der letzte Dreck.“ Bilder der Verzweiflung, der Einsamkeit und der Verwirrung, die mit einem Anflug von Humor präsentiert werden. Die seltsam misstönende Bildsprache erzählt darüber hinaus von einer sorgenschweren Seele, die die Realität als hart empfand – so hart, dass der Geist fragmentiert werden musste, um den Schmerz zu fragmentieren.
Übernervöse Naturen wie die meine verfügen genau wie Kraftfahrzeuge über unterschiedliche Gänge, um jeden einzelnen Tag überstehen zu können. Es gibt bergige, beschwerliche Tage, für deren Besteigung man unendlich lange braucht, und andere steil abfallende, die man singend und mit voller Geschwindigkeit hinabsaust.
—MARCEL PROUST
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ist von drei wichtigen Merkmalen gekennzeichnet, von denen zwei für die Diagnose ausreichen: mangelhafte Aufmerksamkeitsfähigkeit, unzureichende Impulskontrolle und Hyperaktivität.
Typisch für ADHS ist ein automatisches, unbeabsichtigtes „Ausblenden“, eine frustrierende Nichtanwesenheit des Geistes. Eine Person stellt plötzlich fest, dass sie nichts von dem aufgenommen hat, was sie gerade gehört hat, nichts von dem gesehen hat, was sie gerade angeschaut hat, sich an nichts von dem erinnert, worauf sie sich versucht hat zu konzentrieren. Es fehlt ihr an Informationen und Hinweisen, sie verlegt Dinge und ringt darum, bei Gesprächen den Faden nicht zu verlieren. Das Ausblenden schafft Bedrängnis und beeinträchtigt die Freude am Leben. „Das Erleben von Musik als kontinuierlichem Ganzem ist mir unbekannt“, sagte ein High-School-Lehrer zu mir. „Nach nur wenigen Akkorden schweifen meine Gedanken ab. Ich muss mich enorm anstrengen, um einen kurzen Song in meinem Autoradio bis zum Ende anzuhören.“ Man hat das Gefühl, von der Realität abgeschnitten zu sein, eine fast körperlose Trennung von der physischen Gegenwart. Ein Mann hat es so beschrieben: „Ich fühle mich wie eine menschliche Giraffe, als würde mein Kopf in einer anderen Welt schweben, weit oben über meinem Körper.“
Diese geistige Abwesenheit ist eine der Ursachen für die Zerstreutheit und die kurzen Aufmerksamkeitsspannen, die den Erwachsenen oder das Kind mit ADHS quälen, außer es handelt sich um Aktivitäten von hohem Interesse und starker Motivation. Es geht hierbei um ein fast aktives Nichtbemerken, als ob eine Person absichtlich einen Umweg machen würde, um nicht wahrzunehmen, was um sie herum geschieht. Ich mache meiner Frau ein Kompliment über eine neue Dekoration in unserem Wohnzimmer, nur um dann zu hören, dass genau dieses Stück schon seit Monaten oder sogar Jahren dort steht.
Die Zerstreutheit fördert das Chaos. Sie beschließen, Ihr Zimmer aufzuräumen, das typischerweise aussieht, als wäre gerade ein Tornado hindurchgezogen. Sie heben ein Buch vom Boden auf und sind dabei, es zurück ins Regal zu stellen. Währenddessen stellen Sie fest, dass zwei Gedichtbände von William Carlos Williams nicht nebeneinanderstehen. Sie vergessen das Chaos auf dem Boden und nehmen einen der Bände, um ihn neben den zweiten zu stellen. Sie öffnen das Buch und fangen an, ein Gedicht zu lesen. Das Gedicht enthält einen Verweis auf das klassische Altertum, was Sie dazu veranlasst, in Ihrem Leitfaden zur griechischen Mythologie nachzuschlagen. Jetzt sind Sie völlig verloren, weil ein Verweis zum nächsten führt. Eine Stunde später ist Ihr Interesse an der klassischen Mythologie für den Augenblick erschöpft und Sie kehren zu Ihrer eigentlichen Aufgabe zurück. Sie sind auf der Jagd nach einer fehlenden zweiten Socke, die, vielleicht für immer, verschwunden ist, als ein anderes Kleidungsstück auf dem Boden Sie daran erinnert, dass Sie vor dem Abend noch Wäsche waschen müssen. Als Sie mit dem Wäschekorb nach unten gehen, klingelt das Telefon. Ihr Vorhaben, Ordnung in Ihrem Zimmer zu schaffen, ist nun dem Untergang geweiht.
Im ADHS-Geist fehlt es völlig an einer Ordnungsvorlage, einem mentalen Modell, wie Ordnung zustande kommt. Man hat vielleicht ein Bild von einem ordentlichen und organisierten Zimmer vor Augen, aber die geistige Einstellung, dies auch in die Tat umzusetzen, fehlt. Zunächst einmal gibt es einen tiefen Widerwillen dagegen, irgendetwas wegzuwerfen – wer weiß, wann Sie genau die Ausgabe der Zeitschrift The New Yorker brauchen werden, die seit drei Jahren Staub ansammelt, ohne jemals angesehen zu werden? Es gibt wenig Platz für die Dinge. Sie haben nie das Gefühl, das wilde Durcheinander aus Büchern, Papieren, Zeitschriften, Kleidungsstücken, CDs, unbeantworteten Briefen und diversen anderen Gegenständen in den Griff zu bekommen – Sie bewegen lediglich Teile des Chaos von einem Ort an einen anderen. Sollte es Ihnen trotz allem ab und zu gelingen, wissen Sie nur zu gut, dass die Ordnung vorübergehend ist. Bald werden Sie die Dinge wieder wild verstreuen, weil Sie auf der Suche nach irgendeinem benötigten Gegenstand sind, von dem Sie sicher sind, dass Sie ihn erst vor Kurzem in irgendeiner Ecke oder einem Winkel gesehen haben. Das Gesetz der Entropie herrscht: Die Ordnung währt kurz, das Chaos ist absolut.
Einige wenige Menschen mit ADHS besitzen außergewöhnliche mechanische Fähigkeiten und sind in der Lage, komplexe Gegenstände, Maschinenteile und ähnliches fast intuitiv auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Die meisten anderen haben Koordinationsschwierigkeiten, vor allem im Bereich der Feinmotorik. Dinge werden fallen gelassen, es wird auf Füße getreten, Bälle fliegen in die falsche Richtung. Dinge, die während des Aufräumens übereinandergestapelt werden, fallen zwangsläufig wieder herunter. Die Ziffern von Telefonnummern werden in der falschen Reihenfolge hingekritzelt: Selbst wenn Sie das Geschriebene lesen können, wird die Nummer nicht die richtige sein.
Wie viele andere Menschen mit ADHS habe ich Schwierigkeiten, dreidimensional zu denken oder die räumlichen Beziehungen zwischen Dingen zu erkennen, egal wie gut sie erklärt werden. Wenn ich in einem Roman die Beschreibung, sagen wir, eines Zimmers lese, mit einem Schreibtisch hier, einem Bett dort, einem Fenster, einem Nachttisch, dann wird mein geistiges Auge einfach trüb. Wenn ein Mensch mit ADHS auf der Straße jemanden nach dem Weg fragt, verliert er bereits den Faden, bevor der andere seinen Satz beendet hat. Glücklicherweise hat er die Kunst des Nickens perfektioniert. Er schämt sich zuzugeben, nichts verstanden zu haben, und da er weiß, dass es vergeblich ist, um weitere Erklärungen zu bitten, die er auch nicht besser verstehen würde, ist er ein Meister darin, den Verständigen zu spielen. Dann geht er weiter und vertraut auf sein Glück. „Wenn die Möglichkeit, eine falsche Abzweigung zu wählen, bei 50 Prozent liegt, werde ich das in ungefähr 75 Prozent der Fälle tun“, sagte einer meiner ADHS-Patienten. Das visuelle und räumliche Wahrnehmungsvermögen arbeitet eng mit der Zerstreutheit zusammen. Ordnung hat einfach keine Chance.
ADHS-Betroffene sind nicht durchgängig zerstreut. Viele Eltern und Lehrer irren sich an dieser Stelle: Ein Kind kann in der Lage sein, sich einigen Aktivitäten mit, wenn überhaupt, zwanghafter, übermäßiger Konzentration und Aufmerksamkeit zu widmen. Aber eine Hyperfokussierung, die die Wahrnehmung der Umgebung ausschließt, ist ebenfalls ein Zeichen für eine mangelhafte Aufmerksamkeitsregulierung. Darüber hinaus beinhaltet die Hyperfokussierung häufig das, was man als passive Aufmerksamkeit bezeichnen könnte, wie etwa beim Fernsehen oder Spielen von Videospielen. Bei der passiven Aufmerksamkeit können die Gedanken automatisch auf Wanderschaft gehen, ohne dass das Gehirn aufwendige Energie einsetzen muss. Aktive Aufmerksamkeit, wenn der Geist voll ausgelastet ist und das Gehirn Arbeit leistet, wird nur unter besonderen Umständen, bei denen eine hohe Motivation vorliegt, aufgebracht. Aktive Aufmerksamkeit ist eine Fähigkeit, die dem ADHS-Gehirn immer dann fehlt, wenn organisierte Arbeit getan werden muss, oder wenn die Aufmerksamkeit auf etwas von geringem Interesse gelenkt werden muss.
Die Fähigkeit der Fokussierung bei vorhandenem Interesse schließt ADHS nicht aus, aber um in der Lage zu sein, sich zu konzentrieren, benötigt eine Person mit ADHS eine viel stärkere Motivation als andere Menschen. Die Unkenntnis dieser Tatsache hat dazu geführt, dass viele Ärzte versäumt haben, die richtige Diagnose zu stellen. Der Hausarzt eines Hochschuldozenten, bei dem ich eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung festgestellt hatte, wollte eine zweite Meinung zu meiner Diagnose einholen. Der hinzugezogene Psychiater schrieb: „Dieser Patient kann seine Aufmerksamkeit auf etwas fokussieren, für das er sich wirklich interessiert, was für Patienten mit ADHS sehr schwierig ist.“ Das ist es nicht, was sehr schwierig ist. Was unendlich schwierig sein kann, ist das Wecken der Motivation, wenn kein persönliches Interesse vorhanden ist.
ADHS ist situationsabhängig: Wie sich die Störung äußert, kann bei ein und derselben Person von Situation zu Situation stark variieren. So gibt es zum Beispiel bestimmte Unterrichtsstunden, in denen das ADHS-Kind erstaunlich gut mitarbeitet, während es in anderen zerstreut und unproduktiv ist und vielleicht den Unterricht stört. Lehrer könnten daraus schließen, dass das Kind mutwillig entscheidet, wann es sich anstrengt und sorgfältig arbeitet und wann nicht. Viele Kinder mit ADHS sind im Klassenzimmer offener Missbilligung und öffentlicher Bloßstellung ausgesetzt, weil sie Verhaltensweisen zeigen, die sie nicht bewusst wählen. Diese Kinder sind nicht absichtlich unaufmerksam oder ungehorsam. Hier sind emotionale und neurophysiologische Kräfte im Spiel, die für sie die eigentliche Entscheidung treffen. Wir werden uns zu gegebener Zeit noch näher mit ihnen beschäftigen.
Das zweite, fast allgegenwärtige Merkmal von ADHS ist Impulsivität in Wort oder Tat, mit schlecht kontrollierter emotionaler Reaktionsfähigkeit. Erwachsene oder Kinder mit ADHS können sich kaum zurückhalten, andere zu unterbrechen, empfinden es bei allen möglichen Aktivitäten als Folter zu warten, bis sie an der Reihe sind, und handeln oder sprechen oft impulsiv, als müsste man nicht vorausdenken. Die Folgen sind, wie vorhersehbar, negativ. „Ich will mich zurückhalten“, sagte ein 31-jähriger Mann bei seinem ersten Besuch in meiner Sprechstunde zu mir, „aber mein Geist lässt mich nicht.“ Die Impulsivität kann sich als Kauf nicht benötigter Dinge aus einer Laune heraus äußern, ohne Rücksicht auf die Kosten oder die Folgen. „Impulskäufe?“, rief ein anderer Mann während unseres ersten Gesprächs aus. „Wenn ich das Geld hätte, würde ich aus einer Laune heraus die ganze Welt kaufen.“
Hyperaktivität ist das dritte auffällige Merkmal von ADHS. Klassischerweise drückt sie sich durch Schwierigkeiten aus, seinen Körper still zu halten, aber sie kann auch in für den Beobachter weniger leicht erkennbaren Formen auftreten. Eine gewisse Unruhe wird zu erkennen sein – Wippen der Zehen, Trommeln der Finger, Auf- und Abbewegen der Oberschenkel, Kauen der Nägel und der Innenseiten der Wangen. Die Hyperaktivität kann sich auch durch übermäßiges Reden bemerkbar machen. Bei einigen wenigen Fällen, vor allem bei Mädchen, kann die Hyperaktivität ganz fehlen. Sie sind während des Unterrichts vielleicht unaufmerksam und geistesabwesend, werden aber, da sie keine Schwierigkeiten bereiten, von Klasse zu Klasse „weitergereicht.“ Der Nachweis der Hyperaktivität ist für die Diagnose von ADHS zwar nicht erforderlich, sie kann aber für einige Patienten ziemlich problematisch sein. „Das Einzige, was mich je gebremst hat, war die Sirene des Polizeiautos, wenn ich beim Rasen erwischt wurde“, sagte eine 27 Jahre alte Frau.
Die Geschwätzigkeit vieler Kinder mit ADHS ist berüchtigt. Ein Junge aus der zweiten Klasse wurde von seinen Klassenkameraden Papagei genannt wird, weil er unaufhörlich plapperte. Auch seine Eltern sagten ihm oft, er solle den Mund halten. Es ist, als würde ein solches Kind sagen: „Ich bin von den Menschen abgeschnitten und habe so große Angst, dass ich, wenn ich mich nicht andauernd um Kontakt mit ihnen bemühe, allein gelassen werde. Ich kann das nur mit Worten. Ich weiß nicht, wie ich es sonst machen soll.“ Einige Erwachsene mit ADHS haben mir gesagt, dass sie zum Teil deshalb so schnell sprechen, weil ihnen so viele Wörter und Sätze in den Sinn kommen, dass sie Angst haben, die wichtigsten zu vergessen, wenn sie sie nicht so schnell wie möglich aussprechen.
Der einzelne Mensch mit ADHS erlebt den Geist als Perpetuum mobile. Eine intensive Abneigung gegen Langeweile, geradezu eine Abscheu vor ihr, breitet sich aus, sobald keine Aktivität oder Zerstreuung in Sicht ist oder etwas, worauf die Aufmerksamkeit gelenkt werden kann. Innerlich wird ein unaufhörlicher Mangel an Stille gefühlt – ein konstantes Hintergrundrauschen im Gehirn, ein pausenloser „weißer Lärm“, wie Dr. John Ratey, ein Harvard-Psychiater, es genannt hat. Ein gnadenloser Druck treibt ohne besonderes Ziel oder Richtung voran. Bereits 1934 wurde in einem Artikel im The New England Journal of Medicine von einer schmerzlichen Eigenschaft berichtet, die das Leben einiger Menschen prägt. Die Autoren nannten sie „organisches Getriebensein“. Ich zum Beispiel habe selten einen Moment der Entspannung erlebt, ohne das unmittelbare, beunruhigende Gefühl zu haben, ich sollte stattdessen etwas anderes tun. Wie der Vater, so der Sohn. Im Alter von acht oder neun Jahren sagte mein Sohn einmal zu mir: „Ich denke immer, dass ich irgendetwas tun sollte, aber ich weiß nicht, was es ist.“ Die älteste Person, der ich ein Stimulans verschrieben habe, war eine 85-jährige Frau, die nach der Einnahme von Ritalin zum ersten Mal in ihrem Leben 15 Minuten lang still sitzen konnte.
Die Ruhelosigkeit geht mit langen Perioden des Zauderns einher. Die Gefahr des Scheiterns oder die Aussicht auf eine Belohnung müssen unmittelbar erfolgen, damit der Motivationsapparat in Gang gesetzt wird. Ohne den mitreißenden Adrenalinschub des Wettlaufs gegen die Zeit gewinnt die Trägheit die Oberhand. In der High School oder Universität habe ich nicht ein einziges Mal mit einer Übungsarbeit oder einem Referat vor dem Vorabend des Tages angefangen, an dem ich die Arbeit abgeben musste. In jenen Zeiten der manuellen Schreibmaschinen mussten meine groben Entwürfe als endgültige Arbeiten dienen. Sie ähnelten einem akademischen Blattsalat: Blätter, auf die Papierstücke mit hastig gekritzelten Korrekturen geklebt waren. Andererseits, wenn es etwas gibt, was man wirklich will, ist man weder geduldig noch träge. Man muss es tun, muss es bekommen, muss es erleben, sofort.
Häufige und frustrierende Gedächtnisaussetzer kommen im Leben eines Menschen mit ADHS täglich vor. Brian, ein guter Freund von mir, hat eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Außerdem hat er einen Hund. Sie gehen jeden Tag zusammen spazieren. Während Brian seinen Mantel und seine Stiefel anzieht und seinen Hut aufsetzt, liegt der Hund unter dem Küchentisch und wartet. Brian verlässt das Haus, aber der Hund bleibt liegen. Er rührt sich nicht von der Stelle, bis Brian zum dritten Mal zurück ins Haus kommt, um den Schlüssel, seine Brieftasche oder was auch immer zu holen, was er bei den ersten beiden Malen vergessen hat. Der Hund ist aus Erfahrung klug geworden, was man von seinem Besitzer nicht gerade behaupten kann.
Während ich dies schreibe, verließ mich mein Gedächtnis zuletzt vor vier Tagen. Ich war am Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv, hatte all mein Gepäck dabei und war bereit für den Rückflug nach Vancouver. Ich war sehr zufrieden mit mir, weil ich es zur Abwechslung mal pünktlich irgendwohin geschafft hatte. Die Mitarbeiterin am Schalter der Fluggesellschaft sah sich meine Reisedokumente an. Verwirrung breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Aber Ihr Flug ist für morgen gebucht“, sagte sie schließlich. Vielleicht habe ich unbewusst versucht, all die anderen Male, bei denen ich gefährlich spät am Flughafen ankam, wiedergutzumachen.
Ich werde oft gefragt, wie es mir mit solchen Eigenschaften möglich war, die Mühsal des Medizinstudiums zu überstehen. Die generelle Antwort lautet, dass es viele Menschen gibt, die trotz ihrer ADHS sehr viel leisten können. ADHS kann verschiedene Aspekte des Lebens zunichtemachen. Der offenkundige berufliche Erfolg eines Workaholics vermag ernsthafte Probleme in anderen Bereichen zu verdecken. Wie für alles andere gilt auch für ADHS, dass es verschiedene Grade gibt, mit erheblichen Unterschieden von einem Ende des Spektrums zum anderen.
Obwohl ich mein ganzes Leben lang Arzt werden wollte, fing ich nach mehreren Umwegen erst mit 28 Jahren an, Medizin zu studieren. Mit Anfang 20 hatte ich meine akademischen Ziele nach und nach heruntergeschraubt, weil ich mich nicht dazu durchringen konnte, ernsthaft und ohne Unterbrechungen zu studieren. An einem denkwürdigen Tag in meinem zweiten Studienjahr ging ich völlig übernächtigt in den Prüfungsraum, weil ich zwischen Mitternacht und sieben Uhr morgens fünf Stücke von Shakespeare gelesen hatte. Unglücklicherweise hatte ich die Prüfungstermine verwechselt – bei dieser speziellen Prüfung ging es nicht um Shakespeare, sondern um europäische Literatur. Und so ging es weiter, Semester für Semester. Im dritten Jahr brach ich mein Studium ab. Im Medizinstudium waren die ersten beiden Jahre besonders hart, weil die Betonung auf den Grundlagenwissenschaften lag, die in qualvollen Details gelehrt wurden. Selbst dann begann ich mit meinen Prüfungsvorbereitungen erst in der Nacht vorher. Für mich war es einfacher, mich zu motivieren und am Ball zu bleiben, als die Kurse in den höheren Semestern mehr auf die Praxis und die Menschen ausgerichtet waren. Und, schwierig genug, im Medizinstudium folgt eine Frist auf die nächste, müssen Prüfungen bestanden und Hürden überwunden werden. Es ist weniger ein Langzeitprojekt als vielmehr eine lange Reihe von Kurzzeitprojekten.
Blickt ein Erwachsener mit ADHS auf sein Leben zurück, sieht er zahllose Pläne, die nie vollständig verwirklicht wurden, und Vorhaben, die unerfüllt geblieben sind. „Ich bin ein Mensch mit dauerhaftem Potenzial“, sagte ein Patient. Anfängliche Ausbrüche von Enthusiasmus ebben schnell ab. Patienten berichten von unfertigen Stützwänden, mit deren Bau vor mehr als zehn Jahren begonnen wurde, von halbfertigen Booten, die Jahr für Jahr die Garage versperren, von Kursen, die begonnen und dann abgebrochen wurden, halb gelesenen Büchern, aufgegebenen geschäftlichen Projekten, ungeschriebenen Geschichten oder Gedichten – viele, viele Wege, die unbeschritten geblieben sind.
Auch soziale Kompetenzen sind ein Problem. ADHS beeinträchtigt die Fähigkeit, zwischenmenschliche Grenzen zu erkennen. Obwohl einige ADHS-Kinder vor Berührungen zurückschrecken, klettern die meisten von ihnen als kleine Kinder buchstäblich auf Erwachsenen herum und zeigen im Allgemeinen ein nahezu unstillbares Verlangen nach körperlichem und emotionalem Kontakt. Sie nähern sich anderen Kindern mit einer naiven Offenheit, die häufig abgelehnt wird. Da ihre Fähigkeit, soziale Signale zu lesen, gestört ist, kann es vorkommen, dass sie von Gleichaltrigen verstoßen werden. Eltern zerreißt es das Herz, mitansehen zu müssen, wie ihr Kind von Spielen auf dem Schulhof, Geburtstagspartys, Übernachtungen und dem Austausch von Valentinskarten ausgeschlossen wird.
Obwohl unzureichende soziale Kompetenzen im Allgemeinen mit ADHS einhergehen, ist dies nicht generell der Fall. Ein bestimmter Typ von ADHS-Kindern verfügt über mehr Sozialkompetenz und ist sehr beliebt. Meiner Erfahrung nach verbirgt sich hinter einem solchen Erfolg ein Mangel an Vertrauen in wichtigen Funktionsbereichen und überdeckt ein sehr fragiles Selbstwertgefühl, das sich aber auch erst dann herauskristallisieren wird, wenn diese Kinder im späten Teenageralter und in ihren frühen Zwanzigern sind.
Erwachsene mit ADHS können als unnahbar und arrogant oder ermüdend gesprächig und ungebildet wahrgenommen werden. Viele erkennt man an ihren zwanghaften Scherzen, ihrer schnellen stoßartigen Redeweise, ihrem scheinbar zufälligen und ziellosen Springen von einem Thema zum nächsten sowie ihrer Unfähigkeit, eine Idee auszudrücken, ohne den Wortschatz ihrer Sprache zu erschöpfen. „Ich habe in meinem ganzen Leben keinen einzigen Gedanken zu Ende gedacht“, klagte ein junger Mann. Männer und Frauen mit ADHS haben eine fast greifbare Intensität an sich, auf die andere Menschen mit Unbehagen und instinktivem Rückzug reagieren. „Es ist, als käme ich vom Mars und alle anderen von der Erde“, erzählte mir eine 45-jährige Frau. Oder, wie ein anderer es ausgedrückt hat: „Alle anderen scheinen zu irgendeinem Club der netten Menschen zu gehören, nur ich gehöre nicht dazu.“ Dieses Gefühl, immer ein Außenstehender zu sein, der in Räume blickt und irgendwie nicht versteht, worum es eigentlich geht, ist allgegenwärtig. Bei gesellschaftlichen Ereignissen halte ich mich gern am Rand auf, weil ich mir des Gefühls bewusst bin, mich irgendwie nicht in die anderen hineindenken zu können. Ich beobachte, wie die Menschen miteinander plaudern, Menschen, die ich vielleicht ziemlich gut kenne, bin mir aber überaus bewusst, dass ich niemandem etwas zu sagen habe. Unverbindliche soziale Konversation war für mich immer ein Rätsel. Es ist vorgekommen, dass ich Menschen, die in lebhafte Diskussionen verstrickt waren, beobachtet und mir dabei gewünscht habe, ich wäre unsichtbar, um ihnen zuhören zu können – nicht um sie zu belauschen, sondern um ein für alle Mal herauszufinden, was es eigentlich zu bereden gibt. Meine Patienten mit ADHS erzählen mir im Großen und Ganzen genau dasselbe. „Ich weiß nicht, wie man Small Talk macht oder ich habe Angst, etwas Dummes zu sagen“, erzählte mir eine Frau von 26 Jahren. Und die Wahrheit ist, dass ADHS-Erwachsene, wenn sie sich an Gesprächen beteiligen, häufig von der übermäßigen Aufmerksamkeit gelangweilt sind, die andere Menschen Themen schenken, die ihnen oberflächlich erscheinen.
Erwachsene mit einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung zu interviewen, bedeutet oft, mit Witzen bombardiert zu werden. Unerwartete Wendungen und bewusst absurde Assoziationen geben Lebensgeschichten, die in sich nicht besonders lustig sind, eine besondere Würze. „Gott sei Dank ist es nur ADHS“, sagte ein Mann, nachdem ich seine Diagnose bestätigt hatte. „Ich habe immer gedacht, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank.“ Kinder mit ADHS übernehmen oft die Rolle des Klassenclowns.
Die Stimmungen von ADHS-Kindern sind von Launen geprägt: Ein glückliches Lächeln verwandelt sich in nur wenigen Augenblicken in stirnrunzelnden Unmut oder Grimassen der Verzweiflung. Ereignisse, die mit Freude erwartet und mit überschäumender Energie begonnen werden, enden häufig in bitterer Enttäuschung und einem schmollenden, anklagenden Rückzug. Auch die Gefühlszustände von Erwachsenen mit ADHS sind von schnellen und unvorhersehbaren Höhen und Tiefen geprägt. Auf gute Tage folgen ohne ersichtlichen Grund schlechte Tage.
Das an allen Tagen, ob guten oder schlechten, vorherrschende Thema ist ein nagendes Gefühl, etwas Wichtiges im Leben verpasst zu haben.
Denkt man tagtäglich über besonders komplizierte und emotional schwierige Situationen nach, können allzu vereinfachte Verallgemeinerungen schnell die Oberhand gewinnen.
—DOROTHY DINNERSTEIN
The Mermaid and the Minotaur
Die Aufmerksamkeitsdefizitstörung wurde als „Modeerscheinung der 90er-Jahre“ bezeichnet. Die Skepsis über ihre tatsächliche Verbreitung wird durch die Tatsache geschürt, dass kein Merkmal der ADHS so einzigartig ist, dass es nicht zu einem gewissen Grad bei einer beliebigen Anzahl von Menschen in der nicht von ADHS betroffenen Bevölkerung gefunden werden kann. Mehrere Persönlichkeitsmerkmale in einem psychiatrischen Handbuch in einen Topf zu werfen, schafft nicht automatisch ein Krankheitsbild. Es ist mehr als einleuchtend, dass sich viel Menschen fragen, warum gewöhnliche Eigenschaften als Symptome einer medizinischen Störung definiert werden. Es wird nicht lange dauern, so warnen kritische Stimmen, und alle menschlichen Eigenschaften werden als Krankheit neu definiert werden. Im Jahr 1997 enthielt die Februar-Ausgabe des Harper’s Magazine einen überaus geistreichen Bericht über das DSM IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), der von J. Davis verfasst worden war. Gemäß der derzeitigen psychiatrischen Diagnostik, schrieb Davis, „kann jeder Aspekt des menschlichen Lebens (mit Ausnahme natürlich der psychiatrischen Praxis) als Krankheitsbild gedeutet werden.“
Statistiken der Gesundheitsbehörde Health Canada deuten darauf hin, dass die im Jahr 1997 in Kanada eingenommene Menge an Ritalin seit 1990 um mehr als das Fünffache gestiegen ist. Allein im letzten Jahr dieses Zeitraums gab es einen Anstieg von 21 Prozent.1 Auch in den Vereinigten Staaten hat sich die Diagnose wie ein Lauffeuer verbreitet. Werden Kinder mit Medikamenten ruhiggestellt, damit Erwachsene es leichter haben? Einige argumentieren, die Diagnose sei nur eine weitere medizinische Ausrede, die für den Seelenfrieden inkompetenter Eltern und fauler Lehrer ersonnen wurde sowie für sich selbst bemitleidende Erwachsene, die zu unreif sind, um den Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein.
Selbst für diejenigen, die wie ich auch das Vorhandensein der neurophysiologischen und psychischen Beeinträchtigungen erkennt, die zusammengenommen als Aufmerksamkeitsdefizitstörung bezeichnet werden, gibt es durchaus berechtigte Fragen: hinsichtlich der Art und Weise, wie ADHS diagnostiziert wird, wie diese Störung verstanden werden sollte und vor allem, wie sie behandelt werden kann. Die Gesellschaft in Nordamerika versucht, viele Probleme unter Tonnen von Medikamenten zu begraben, weil sie es vorzieht, über die gesellschaftlichen und kulturellen Ursachen der gestressten Gemüter der Menschen hinwegzusehen. Die langfristigen gesellschaftlichen Folgen der massiven Medikamenteneinnahme bei der Behandlung von Depressionen, ADHS und einer Reihe anderer Krankheiten müssen sich noch zeigen. Auch für mich ist dies ein Grund zur Sorge, obwohl ich anderen Menschen Medikamente verschreibe und weiterhin selbst eines einnehme.
Vielen scheint darüber hinaus eine neurophysiologische Erklärung für Verhaltensweisen einem Versuch gleichzukommen, die eigenen Handlungen oder die von anderen zu entschuldigen, indem für Vergehen und Unzulänglichkeiten die Biologie verantwortlich gemacht wird. Sollen wir für das, was wir tun, nicht zur Rechenschaft gezogen werden? Ist ADHS ein Freibrief für hemmungsloses oder verletzendes Verhalten? In British Columbia behaupteten vor Kurzem die Verteidiger in einem Fall, in dem es um Vergewaltigung und Mord ging, ihr Klient könne nicht zur Verantwortung gezogen werden, da er an einer Zwangsstörung und einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung leide. Klugerweise wies die Jury diese Sichtweise zurück. Wir alle müssen die Verantwortung für unsere Handlungen übernehmen, sonst wird das Leben auf der Welt unmöglich. Es wäre jedoch ein unglaublich großer sozialer Fortschritt, wenn wir uns ein wenig bemühen würden zu verstehen, welche Erfahrungen Menschen zu fehlerhaften, unverantwortlichen oder sogar antisozialen Wesen werden lassen. Dann würden wir beispielsweise das Problem der Kriminalität in einem völlig anderen Licht sehen. Verantwortlichkeit verlangt nicht notwendigerweise nach der strafenden Unmenschlichkeit des Rechtssystems, wie sie in Kanada und vor allem in den Vereinigten Staaten praktiziert wird. In diesen Ländern sitzt ein größerer Teil der Bevölkerung im Gefängnis als in jedem anderen westlichen Land. Es bestehen kaum Zweifel daran, dass ein signifikanter Prozentsatz der Gefängnisinsassen an ADHS oder einer anderen vermeidbaren Störung der Selbstregulation leidet.* Ebenso wenig Zweifel besteht daran, dass die Haftbedingungen kaum diabolischer hätten gestaltet werden können, um all diese psychischen Funktionsstörungen zu verschlimmern.
Wir stehen ADHS nicht hilflos gegenüber, sodass auf der persönlichen Ebene der Versuch, die Verantwortung für negative Verhaltensweisen auf Schaltkreise im Gehirn abzuwälzen, wenig hilfreich ist. Die Betroffenen sind dann in der Opferrolle gefangen. Egal wie vernünftig neurophysiologische Erklärungen auch sein mögen, niemandes Kinder, Ehepartner, Freunde oder Kollegen sollten das Recht dieses Menschen akzeptieren, sie respektlos zu behandeln oder zu verletzen. Etwas über die psychischen und biologischen Mechanismen von ADHS zu erfahren, gibt dem Selbst eine Landkarte in die Hand – aber eben nur eine Landkarte, nicht mehr. Auch wenn für die Menschen, die darüber nicht verfügen, kaum mehr als ein entmutigendes Gefühl des Scheiterns bleibt, darf die Landkarte nicht mit der Reise verwechselt werden. Es ist immer noch Sache des Einzelnen, den Kurs zu bestimmen.
Einige Eltern sträuben sich gegen die Vorstellung, ihr Kind habe ADHS, weil sie befürchten, dass es dann in eine bestimmte Schublade gesteckt wird. Ihnen gefällt der Gedanke nicht, einem Kind, dem es außer in bestimmten Funktionsbereichen recht gut geht, eine medizinische Diagnose anzuheften. Solche Befürchtungen sind nicht unbegründet. Allzu oft scheint ADHS nicht mehr als ein Urteil zu sein, das ein Kind als Problemschüler kennzeichnet, unfähig zu normalen Aktivitäten. Der Sprachgebrauch von Menschen ist ziemlich aufschlussreich. So heißt es im englischen Sprachraum oft, dass dieser Erwachsene oder dieses Kind „ADHS ist“. Das ist in der Tat eine Etikettierung, die den gesamten Menschen mit Schwäche oder Einschränkungen identifiziert. Niemand ist ADHS und niemand sollte bezüglich dieses oder irgendeines anderen Problems definiert oder kategorisiert werden.
ADHS bei einem Kind zu erkennen, sollte schlicht eine Möglichkeit sein zu verstehen, dass die Hilfe für dieses Kind einige sachkundige und kreative Ansätze erforderlich macht. Es sollte kein Urteil sein, dass irgendetwas grundlegend oder unwiederbringlich nicht in Ordnung ist. Diese Erkenntnis sollte uns ermöglichen, das Kind bei der vollen Ausschöpfung seines Potenzials zu unterstützen, statt es weiter einzuschränken.
Man muss damit rechnen, dass selbst aufgeschlossene Menschen Schwierigkeiten haben könnten, sich mit dieser Diagnose zu arrangieren. Unsere übliche Denkweise, wenn es um Krankheit geht (und im Grunde genommen auch um alles andere), kommt mit Unklarheiten nicht gut zurecht. Ein Patient hat eine Lungenentzündung oder er hat keine. Er hat entweder irgendeine Krankheit, die seine Psyche beeinträchtigt, oder er hat sie nicht. Jeder Geisteszustand, der als „anomal“ wahrgenommen wird, erzeugt bei vielen Menschen ein Unbehagen. Was aber ist, wenn Krankheit keine eigenständige Kategorie ist, wenn es keine Trennlinie zwischen „Gesunden“ und „Ungesunden“ gibt, wenn die „Anomalität“ lediglich eine größere Konzentration gestörter Hirnprozesse ist, die bei jedem zu finden ist? Dann gibt es vielleicht keine festgelegten, unveränderlichen Hirnstörungen und wir alle könnten unter dem Druck stressbeladener Umstände anfällig sein für mentale Zusammenbrüche oder Fehlfunktionen. Wir alle könnten durchdrehen. Vielleicht sind wir bereits an diesem Punkt.
ADHS trotzt allen Kategorien von Normalität und Abnormität. Wenn bei jedem, der irgendein ADHS-Merkmal aufweist, auch ADHS diagnostiziert würde, könnten wir Ritalin gleich in unser Trinkwasser geben und den meisten Menschen in den Industrieländern eine Gruppentherapie verordnen. Wie Dr. Hallowell und Dr. Ratey in Zwanghaft zerstreut oder Die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein aufgezeigt haben, ist ADHS keine Diagnose einer Kategorie, sondern einer Dimension. An einem bestimmten Punkt des Kontinuums im Leben eines Menschen werden die mit ADHS assoziierten Eigenschaften so bestimmend, dass sie dessen Funktionsweise mehr oder weniger beeinträchtigen.
Fachleute, die mit ADHS-Kindern oder -Erwachsenen arbeiten, fällt es leichter, sich darüber zu einigen, wie sich ADHS äußert, als darüber, was sie ist. Der Begriff Störung ist in sich eine unzutreffende Bezeichnung. In der Medizin bedeutet Störung ein Leiden oder eine Krankheit, was ADHS ganz sicher nicht ist. Es geht hierbei vielmehr um eine Störung der Ordnung. „Wenn Sie viele der Merkmale von ADHS aufweisen“, sage ich zu Patienten, „und wenn diese in Ihrem Leben einen Mangel an Ordnung produzieren, dann haben Sie ADHS. Was ist Ordnung? Ein Sinn für Organisation. Eine bewusst geplante Abfolge von Aktivitäten. Zu wissen, wo die Sachen sich befinden, was man getan hat und was noch zu tun bleibt. Und wie nennen wir einen Mangel an Ordnung? Unordnung.“
Ich selbst sehe in ADHS keine Erkrankung im medizinischen Sinne. ADHS ist keine Krankheit, obwohl einige einflussreiche Experten es so genannt haben. ADHS ist eine Beeinträchtigung, wie beispielsweise eine Sehverschlechterung ohne Vorhandensein irgendeiner Krankheit.
Die Frage ist, woher diese Beeinträchtigungen, die tiefer liegenden physiologischen Funktionsstörungen und die damit zusammenhängenden Verhaltensweisen und psychischen Probleme kommen. Beim derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse sind noch keine endgültigen Antworten möglich, obwohl sich unser Verständnis des Gehirns in den letzten zehn Jahren erstaunlich erweitert hat.2 Angesichts dessen, was wir heute wissen – und was wir nicht wissen –, besteht der einzige Test für jede Erklärung der Aufmerksamkeitsdefizitstörung darin, ob diese im Lichte der Erfahrungen der Menschen und den aus der Forschung zur Verfügung stehenden Fakten Sinn ergibt und ob sie produktiv genutzt werden kann, um den Menschen zu helfen.
Nahezu alle Autoren von beliebten Büchern zu diesem Thema behaupten, ADHS sei eine vererbbare genetische Störung. Von einigen erwähnenswerten Ausnahmen abgesehen, beherrscht die genetische Sichtweise auch einen Großteil der Diskussionen in Fachkreisen. Mit dieser Sichtweise bin ich nicht einverstanden.
Ich bin der Ansicht, dass ADHS besser verstanden werden kann, wenn wir das Leben der Menschen beleuchten, nicht nur Bruchstücke ihrer DNA. Die Vererbung leistet zwar einen nicht unerheblichen Beitrag, der aber weit weniger ins Gewicht fällt, als gewöhnlich angenommen. Gleichzeitig wäre es zwecklos, auf den falschen Gegensatz zwischen Umgebung und genetischem Erbe zu setzen. Weder in der Natur noch in der Vorstellung eines seriösen Wissenschaftlers existiert eine solche Spaltung. Wenn ich in diesem Buch das Hauptaugenmerk auf die Umgebung lege, dann deshalb, weil die meisten Bücher zu diesem Thema diesen Bereich vernachlässigen und er in keinem von ihnen auch nur annähernd detailliert genug behandelt wird. Eine derartige Nachlässigkeit führt häufig zu lähmenden Defiziten, wenn es um die Behandlung der Menschen geht.
Es gibt viele biologische Vorgänge, an denen der Körper und das Gehirn beteiligt sind, die nicht direkt vom Erbgut programmiert sind. Und zu sagen, dass ADHS nicht in erster Linie genetisch bedingt ist, bedeutet keineswegs, ihre biologischen Merkmale zu bestreiten – weder die, die vererbt wurden, noch die, die durch Erfahrung erworben wurden. Die genetischen Blaupausen für die Architektur und die Funktionsweise des menschlichen Gehirns entstehen in einem Prozess der Interaktion mit der Umgebung. ADHS spiegelt zwar biologische Fehlfunktionen in bestimmten Hirnzentren wider, aber viele ihrer Merkmale – einschließlich der zugrunde liegenden Biologie selbst – sind ebenfalls untrennbar mit den physischen und emotionalen Erfahrungen eines Menschen verbunden.
Es gibt bei ADHS eine ererbte Veranlagung, aber zu sagen, es gäbe eine genetische Vorbestimmung, hat damit wenig zu tun. Eine Vorbestimmung gibt vor, dass etwas zwangsläufig passieren wird. Eine Veranlagung macht es lediglich wahrscheinlicher, dass etwas abhängig von den Umständen passieren kann. Das tatsächliche Ergebnis wird von vielen anderen Faktoren beeinflusst.
* Eine schwedische Studie aus dem Jahr 1998 hat gezeigt, dass ADHS unter Gefängnisinsassen weit verbreitet ist.
Kennzeichnend für eine konfliktreiche Ehe ist, dass Mann und Frau wütend und mit dem anderen nicht zufrieden sind. Die Stimmung in konfliktgeladenen Beziehungen ist zwar die meiste Zeit über intensiv negativ, wird aber in der Regel von Zeiten ebenfalls intensiver, manchmal sehr leidenschaftlicher Nähe unterbrochen. Konflikte können zur Sucht werden. Dies ist sowohl eine vertraute Situation als auch eine eindrückliche Erinnerung daran, wie stark Menschen miteinander verflochten sind. Menschen suchen nicht nach Streit, haben aber keinen anderen Weg der Interaktion gefunden.
—DR. MICHAEL E. KERR
Family Evaluation
Meine Frau Rae und ich haben drei Kinder: zwei Söhne, heute 23 und 20 Jahre alt, und eine zehnjährige Tochter. Bei allen drei Kindern wurde ADHS diagnostiziert, genau wie bei mir.
Unsere Familie könnte fast als Paradebeispiel für das genetische Argument dienen: Ein finanziell gesichertes, krisenfestes und seit fast 30 Jahren verheiratetes Paar der Mittelklasse, das sich und seine Kinder liebt. Es gibt weder Alkoholismus noch Drogenabhängigkeit, keine Gewalt in der Familie und keinen Missbrauch. Wenn diese Kinder eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung haben, dann muss es einfach an ihren Genen liegen. Was an dieser Umgebung könnte ADHS verursacht haben?
Die Umgebung ist ebenso wenig die Ursache von ADHS, wie die Gene die Ursache sind. Hier trifft bestimmtes Genmaterial auf eine bestimmte Umgebung und ADHS kann dann die Folge sein. Ohne dieses Genmaterial keine ADHS. Ohne diese Umgebung keine ADHS. Die nachhaltig prägende Umgebung ist die Herkunftsfamilie.
Was unsere Ehe betrifft, so war sie fest an dem Ende des Spektrums verankert, das man als „konfliktreich“ bezeichnen kann. Wir haben viele Probleme bewältigt, aber es hat Jahrzehnte gedauert und eine Menge Energie gekostet. Im Rückblick schrecken wir davor zurück, wie verletzend und dunkel es sich zeitweise angefühlt hat, und vor allem, wie unsere Streitereien das Leben unserer Kinder belastet haben.
Heute feiern wir unsere Ehe. Unsere Schiffe, die bei schwerem Seegang herumgeschleudert und herumgeworfen wurden, sind endlich sicher im selben Hafen angekommen. Aber die Stürme haben von unseren Kindern ihren Tribut gefordert. Am Ende seines herrlich freimütigen Essays My Own Marriage (dt.: „Meine eigene Ehe“) schrieb der bedeutende US-amerikanische Psychotherapeut und Lehrer Carl Rogers über die Schwierigkeiten, die seine erwachsenen Kinder in ihren Beziehungen hatten. „Die Tatsache, dass wir uns als Paar zusammengerauft haben und eine für uns befriedigende Beziehung führen“, fasste er zusammen, „war keine Garantie für unsere Kinder.“ Kinder sind für Eltern ein wunderbarer Ansporn und Antrieb, etwas über sich selbst, über den anderen und über das Leben selbst zu lernen. Unglücklicherweise kann ein Großteil des Lernens auf deren Kosten gehen.