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In den Siebzigerjahren erschüttern grausame Ereignisse aus dem Dunstkreis der Stasi die ostdeutsche Provinz. Sie werfen lange Schatten voraus, deren Ausmaß niemand zu begreifen vermag. Tief reichen die kräftigen Wurzeln des Bösen und sichern sein Überleben über Generationen hinweg - mit dramatischen Folgen. Die Beziehung zwischen Heidrun und Faizal überwindet Kontinente, doch kann ihre Liebe dem Regime trotzen? Adil, Colin und Lucy leben ihren Musiktraum, bis der Wunsch nach Erfolg ihnen zum Verhängnis wird. Wenn Vergeltung auf Unschuld und Berechnung auf Gutgläubigkeit treffen, steht eine harte Prüfung bevor. Christian Richter erzählt in diesem historischen Coming-of-Age-Thriller intensiv und emotional davon, dass der uralte Kampf von Gut gegen Böse niemals endet.
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Seitenzahl: 327
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Der Autor
Christian Thomas Richter ist Fremdsprachenkorrespondent und arbeitet als Texter und Übersetzer in einer Werbeagentur. Er wurde am 29.07.1987 in Altdöbern geboren und wuchs im Landkreis Oberspreewald-Lausitz auf, wo er bis heute lebt und arbeitet. In seiner Freizeit produziert er Musik und tourte zehn Jahre lang als Sänger und Gitarrist mit seiner Rockband durch Deutschland und Polen. Die Begegnungen und Erlebnisse aus dieser Zeit haben zum großen Teil sein Erstlingswerk ›Im Schatten der Stasi‹ beeinflusst. Er schreibt intensiv und emotional über das Leben und Schicksal der Menschen in seiner Heimat. Als Wendekind prägten ihn vor allem seine Beobachtungen der Nachwendezeit und die Erzählungen seiner Verwandten über ihre Erfahrungen mit der sozialistischen Diktatur der DDR.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Danksagung
Kontakt
Kapitel 1
Freitag, 6. Februar 1970
Regina Garak eilte von ihrer Wohnung im Plattenbau zum Vetschauer Bahnhof. Vor Aufregung war sie vor dem Wecker wach geworden. Ihr selbstgenähter Mantel aus Schurwolle wärmte ihren zarten Leib, während sie auf dem kalten Bahnsteig wartete. Der Sieben-Uhr-Zug nach Cottbus trotzte dem winterlichen Wetter und traf pünktlich ein. Die Zwanzigjährige nahm auf einem Doppelsitz neben dem Ausgang Platz und nutzte das spiegelnde Fenster, um mit einem strengen Blick ihr Aussehen zu überprüfen. Sie durchfuhr ihr mittellanges, kastanienbraunes Haar mit den Fingern und strich ihren Pony nervös zur Seite.
Nach einer kurzen Bahnfahrt nahm sie die Tram in den Norden der Stadt und stieg ›Am Nordrand‹ aus. Je näher sie der MfS-Bezirksverwaltung kam, desto mehr schlotterten ihre Knie und schneller pochte ihr Herz. An ihrem Ziel angekommen, hob sich ihr nachdenklicher Blick über die sieben Etagen des geradlinigen Gebäudes mit seinen vielen Fenstern. Sie stieg die gesalzte Treppe hinauf und trat an das Anmeldungsfenster, hinter dem ein glatzköpfiger Mann mit steingrauer Uniform saß. Er würdigte sie keines Blickes und war damit beschäftigt, ein Protokoll auszufüllen.
»Guten Tag!«, unterbrach sie die Stille.
»Name?«, entgegnete er und wandte seine Augen nicht vom Schriftstück ab.
»Garak, Regina. Ich melde mich zum Acht-Uhr-Termin bei Führungsoffizier Weber.«, gab sie einstudiert wieder.
Er überprüfte eine danebenliegende Liste und wies sie kurzsilbig an: »Dritte Etage links, Zimmer eins. Sie werden dort abgeholt.«
Sie kam in einen Raum mit grünem Linoleumboden und greller Neonbeleuchtung. Regina öffnete ihren Mantel und setzte sich auf einen Drehsessel mit Chromgestell und Holzarmlehnen. Ihr Blick wanderte durch das menschenleere Wartezimmer. Ihre feuchten Hände klebten an den Lehnen. Sie rieb sie an ihrer hellen Stoffhose trocken und beruhigte ihre Atmung. Schritte näherten sich und eine Frau mit schwarzer Kunststoffbrille und versteinerter Miene öffnete die Tür.
»Fräulein Garak?«, rief sie zum Appell.
»Ja.«, antwortete sie und erhob sich.
»Herr Weber empfängt sie nun. Folgen Sie mir!«, ordnete sie an.
Sie bewegten sich durch einen langen Flur mit unzähligen Türen und hielten vor Zimmer 13 an.
Die Dame mit blonder Dauerwelle steckte ihren Kopf vorsichtig durch den schmalen Spalt der dick gepolsterten Tür und flüsterte höflich: »Herr Weber, ich bringe Regina Garak.«
Eine verrauchte Männerstimme antwortete zufrieden: »Ja, bitte eintreten!«
Gustav Webers Büro hob sich deutlich vom anderen Raum ab. Die Wände waren aus Edelholz und ein Knüpfteppich zierte das Parkett. Auf der mit Vorhängen bedeckten Fensterseite stand ein massiver Marmorschreibtisch. Darauf eine Schreibmaschine, ein Aktenstapel und ein Telefon mit Drehscheibe und Knöpfen. Die abgestandene Luft roch nach Zigarren und Weinbrand. Als sie hereinkam, stützte sich Weber auf den Tisch und sah sie an wie ein Jäger seine Beute. Die Ärmel seines maßgeschneiderten, schwarzen Sakkos rutschten hoch und enthüllten eine teuere Armbanduhr am Handgelenk. Seine strengen, blauen Augen musterten sie und fingen an zu glänzen.
»Guten Tag, Fräulein Garak. Bitte setzen Sie sich!«, begrüßte er sie aufmerksam.
»Guten Tag, Führungsoffizier Weber. Ihre Einladung ehrt mich sehr.«, erwiderte sie brav.
Sie setzte sich zu ihm und lächelte vorsichtig.
»Ich bin äußerst zufrieden mit dem Ablauf des Operativen Vorgangs ›Wilke‹, den das MfS nicht zuletzt ihrer Mitarbeit zu verdanken hat.«, lobte er sie.
Sie zappelte kurz auf ihrem Platz herum und nickte anerkennend.
»Ihre Nachbarin wird der Spionage für den Westen verdächtigt. Sie hat sich in Briefen an Verwandte systemkritisch geäußert und einen Ausreiseantrag gestellt.«, fuhr er fort.
»Darf ich fragen, was mit ihr geschehen ist, nachdem Sie das falsche Spiel durchschaut haben?«, fragte sie ihn behutsam.
»Frau Wilke verließ am letzten Abend des Januars eine Gastwirtschaft und wurde festgenommen.«, antwortete er mit geschwollener Brust.
Sein strenger Blick senkte sich dabei immer wieder auf das Dekolleté ihrer weißen Bluse und seine verbrauchten Gesichtszüge drohten zu entgleisen. Er räusperte sich und lockerte den Knoten seiner Krawatte mit zittriger Hand.
»Ihr Beitrag durch das Abhören der Wohnung ist mit Gold nicht aufzuwiegen.«, schmeichelte er ihr, »Was halten Sie davon, wenn ich sie zur hauptamtlichen Mitarbeiterin befördere?«
Wie von einem Stromschlag getroffen, fuhr sie zusammen und rang mit bebender Stimme um die passenden Worte: »Führungsoffizier Weber, ich übertreibe nicht, wenn ich Ihnen sage, dass das mein größter Traum wäre.«
Er besänftigte sie: »Bitte nennen Sie mich Gustav, wenn wir unter vier Augen sind. Wir werden schließlich Hand in Hand zusammenarbeiten.«
»Vielen Dank, Gustav. Ich bin Regina.«, sagte sie verlegen.
Euphorisch sprang er auf und rief: »Darauf trinken wir!«
Sie zuckte zusammen und kämpfte mit der Erinnerung an ihre versoffenen Eltern. Sie hatten Reginas Kindheit mit Angst und Gewalt zerstört. Ihr Vater hatte nach der Arbeit im Kohlekraftwerk öfter am Tresen seiner Stammkneipe gesessen als mit seiner Familie am Esstisch. Wenn er nachts heimgekehrt war, hatte sie sich wie eine Maus in der Speisekammer versteckt. Hinter dem Regal mit Einmachgläsern. Betrunken hatte er sich in ein wütendes Tier verwandelt, dem Liebe fremd gewesen war.
Ihre Mutter hatte es aufgegeben, mit gutem Beispiel zu folgen. Sie hatte ihr Leben selbst nur mit Alkohol ertragen. Im Versteck hatte das Mädchen gehört, wie Mama schreiend von ihm misshandelt worden war. Eine Leberzirrhose hatte ihn kurz nach Reginas achtzehnten Geburtstag umgebracht, was einem verspäteten Geschenk geglichen hatte. Die Mutter war in Depressionen versunken und man hatte ihr die Überforderung als Witwe mit Kind angesehen. Verzweifelt war sie ihm ein Jahr später gefolgt, indem sie ihr Leben mit einem Strick auf dem Dachboden beendet hatte. Das junge Mädchen war mit einem Schlag auf sich gestellt gewesen.
»Wodka, Korn, Goldbrand oder Sekt?«, nahm Gustav wie ein launiger Kellner ihre Bestellung auf und steuerte die breite Schrankwand auf der gegenüberliegenden Seite an.
»Für mich bitte nur ein kleines Glas Sekt.«, bat sie ihn, obwohl sie Alkohol mit jeder Faser ihres Körpers verabscheute.
Um ihren Aufstieg zur hauptamtlichen Mitarbeiterin nicht zu gefährden, spielte sie das Spiel mit, denn sie war vertraut mit der Sprunghaftigkeit von Stasi-Männern. Reginas Wunsch, ihrem tristen Leben als Näherin den Rücken zu kehren, schien zum Greifen nah. Ihre Abneigung würde sie nicht davon abhalten. Der Siebenunddreißigjährige klappte die mit Spiegeln und Glaseinlegern bestückte Minibar auf. Er nahm eine Flasche trockenen Sekt aus dem kleinen Kühlschrankfach und holte zwei Gläser heraus. Er riss die rote Alufolie auf, öffnete den Draht und entfernte die Agraffe. Weber dämpfte den Knall des Plastikkorkens mit einer Stoffserviette, um kein Aufsehen zu erregen und diesen Moment in aller Ruhe auszukosten. Die Sektkelche aus glitzerndem Kristallglas füllte er schräg haltend mit dem perlenden Schaumwein und warf einen Blick in die spiegelnde Rückwand. Da sie ihn nicht beobachtete, zückte er ein braunes Apothekenfläschchen und fügte ihrem Trank drei Tropfen mit der Pipette hinzu. Die Freude darüber, dass die junge Frau in wenigen Minuten zu heißem Wachs in seinen Händen würde, löste ein diabolisches Lächeln auf seinem kalten Gesicht aus.
Bei ihrer ersten Begegnung im Cottbuser Intershop hatte Weber sich Hals über Kopf in die junge Frau verguckt. Sie war auf der Suche nach einem Schal gewesen, den sie sich von ihrem schmalen Lehrlingsgehalt hatte kaufen wollen.
»Zum Wohl, meine Liebe! Auf eine fruchtbare und angenehme Zusammenarbeit.«, verkündete er und reichte ihr das Glas mit dem unheilvollen Inhalt.
Sie prostete ihm zu und sagte nervös lächelnd: »Wohlsein!«
Der erste Schluck bahnte sich seinen Weg durch ihre Speiseröhre bis in den nüchternen Magen, denn Regina hatte vor Aufregung zum Frühstück keinen Bissen gegessen. Der Sekt wärmte sie von innen und stieg ihr binnen Sekunden zu Kopf, so dass ihr blasses Gesicht ein wenig errötete und sich ein paar Schweißperlen darauf bildeten.
»Wie kommt es, dass so ein hübsches Ding ledig und kinderlos ist?«, fragte er sie und eröffnete damit eine ganze Reihe unangebrachter Fragen.
»Ich habe kaum Zeit, weil ich eine Ausbildung zur Bekleidungsnäherin absolviere und seit dem Tod meiner Eltern den Haushalt allein schmeißen muss.«, gab sie preis.
»Das Leben ist doch zu kurz, um immer nur zu arbeiten, Reginalein. Amüsierst du dich denn gar nicht?«, erkundigte er sich ungeniert.
»Hin und wieder besuche ich die Diskothek mit meinen Kolleginnen, aber das kommt immer seltener vor.«, erklärte sie.
»Und gibt es schon einen jungen Mann, der für eine Ehe zur Auswahl steht?«, fragte er unverhohlen und wartete gespannt auf ihre Antwort.
Etwas befremdet von der intimen Frage, antwortete sie angeheitert: »Es haben schon viele Herren bei mir versucht, der Richtige war nicht darunter.«
Er lächelte sie an und ließ nicht locker: »Wie muss dein Traummann denn aussehen?«
»Das Äußerliche ist nicht so wichtig. Er sollte mich respektieren und ich will zu ihm aufschauen können.«, gab sie preis.
Weber freute sich über ihre Worte und schüttete sein Herz aus: »Regina, bei unserem ersten Treffen spürte ich, dass wir zueinander gehören. Ich bin verrückt nach dir.«
Seine Offenbarung verschlug ihr den Atem und sie hatte keine Bedenkzeit, um angemessen zu reagieren. Ihre Sinneswahrnehmung verlangsamte sich allmählich, das Bild vor ihren Augen war unscharf und drehte sich langsam im Kreis, so dass ihr ein bisschen schlecht wurde.
Sie schluckte die Übelkeit runter und kommentierte seine Aussage mit lallender Stimme: »Gustav, das ist lieb von dir, aber ein Altersunterschied von siebzehn Jahren ist nicht unerheblich.«
Er verzog keine Miene, war in sich gekehrt und in seinem Kopf ratterte es. Regina bekam Angst und ärgerte sich über ihre Worte. Die Beleidigung seiner Ehre brächte sie in Teufels Küche, wenn sie sich nicht schon darin befand.
»Ich möchte mich entschuldigen, vielleicht habe ich mich missverständlich ausgedrückt. Ich wollte keineswegs den Eindruck erwecken, dass ich dich um etwas bitte. Glaubst du etwa, dass ich dich ohne Gegenleistung zur hauptamtlichen Mitarbeiterin befördere?«, fuhr Weber fort und grinste sie amüsiert an.
»Gustav, ich weiß nicht ...«, stotterte sie.
Er unterbrach sie: »Bitte verschone mich mit deinem naiven Geschwätz!«
Reginas Kreislauf brach zusammen und ihre Augenlider schlossen sich. In der Dunkelheit nahm sie wahr, dass ihr Körper auf Händen getragen wurde. Im nächsten Moment lag sie auf einem Sofa und auf ihr Gustav Weber.
»Es wird dir gefallen, meine Süße. Du hast lange nach einem richtigen Mann gesucht und jetzt hast du ihn gefunden.«, flüsterte er ihr ins Ohr und schob seine rechte Hand unter ihre Bluse.
Mit links öffnete er den Reißverschluss seiner Anzughose und holte sein steifes Glied heraus. In der Luft verbreitete sich ein beißender Geruch aus Schweiß und Urin.
Er stöhnte: »Deine Brüste sind so schön, wie die eines großen Mädchens.«
Weber riss ihre Hose runter, zog sie mit einer geübten Bewegung über ihre Füße und knöpfte ihr Oberteil hastig auf. Dann winkelte er ihre schlanken Beine an und versank mit einem gewaltsamen Stoß in der bewusstlosen Frau. Sie kam langsam zu sich und der Schmerz durchfuhr sie wie ein gnadenloser Blitz. Immer wieder stieß er in ihre Mitte und schlug ihr mit den Fäusten ins Gesicht.
Er spuckte sie an und schrie: »Du erbärmliches Dreckstück hast dich von meiner Macht verführen lassen. Du dachtest, dass du mich um den Finger wickeln könntest.«
Sie ließ es wie versteinert geschehen, jede Spur von Notwehr erstickte im Keim und dicke Tränen liefen über ihre Wangen. Seine Atmung und Bewegung beschleunigten sich wie die eines flüchtenden Tieres. Er schloss die Augen und kam dem Höhepunkt näher.
»Ihr Weiber glaubt doch, dass euch die Welt gehörte, aber ihr versteht nicht, dass wir es sind, die unser herrliches Land zu seinem Glanz verholfen haben.«, keuchte er.
Sein Körper zuckte und Speichel tropfte aus dem offenen Mund auf ihren nackten Bauch. Mit einem letzten Stoß sackte er auf ihr zusammen und küsste ihren Nacken wie ein romantischer Liebhaber. Regina war bewegungsunfähig und weinte vor Scham und Ekel, als sie realisierte, was Weber ihr angetan hatte. In ihr stiegen Wut, Angst und zugleich Erleichterung auf, dass es vorbei war. Er trocknete sein schweißnasses Gesicht und säuberte seinen Intimbereich mit einem karierten Tuch aus der Hosentasche. Unbeeindruckt von seiner Tat, zog er sich wortlos an und lief zu einem großen Spiegel, um sein Aussehen zu überprüfen. Dabei wischte er eine braune Haarsträhne von der feuchten Stirn, begutachtete seine Geheimratsecken und setzte ein heuchlerisches Lächeln auf.
»Na, bist du stolz auf dich, Frauenschläger?«, platzte es aus Regina heraus.
»Es war schön mit dir. Ich hoffe, dass wir das wiederholen.«, schwärmte er.
»Du bist abscheulich! Wie konntest du nur?«, klagte sie ihn an.
»Wenn du es jemandem sagst, dann finde ich es heraus und bringe dich um. Denk erst gar nicht daran!«, drohte er ihr.
Sie schwieg und schüttelte ungläubig den Kopf. Auf einmal ergriff sie die nackte Panik und wünschte sich weit weg von diesem Ort.
Gönnerhaft fügte er hinzu: »Wenn du dichthältst, wirst du hauptamtliche Mitarbeiterin und hast eine große Karriere vor dir.«
Sie reagierte nicht auf ihn, kleidete sich schnell an und steuerte auf die Tür zu.
Er packte sie am Arm und wiederholte: »Wenn du dichthältst!«
Regina befreite sich von seinem festen Griff, verließ den Raum und rannte aus dem Gebäude. Auf dem Heimweg brachen ihre Sorgen wie ein Platzregen über sie herein und eine Frage ließ sie vor Angst erstarren.
Kapitel 2
Donnerstag, 2. April 1970
Es waren zwei Monate seit dem furchtbaren Vorfall mit Gustav Weber vergangen. Regina übte sich in Verdrängung und kämpfte jeden Tag mit sich und ihren Gedanken.
Die Worte ihres Peinigers hallten immer wieder durch ihren Kopf: Wenn du dichthältst!
An schweren Tagen war sie kurz davor, sich einer Kollegin anzuvertrauen, jedoch hielt sie sich im letzten Moment immer zurück. Nichts in der Welt wünschte sie sich mehr, als ihr Herz auszuschütten. Am Ende überwog die Angst vor Webers Drohung und sie behielt ihr trauriges Geheimnis für sich. Die Stasi-Karriere hätte Reginas Weg in ein besseres Leben sein können, aber der Preis war ihr zu hoch. Die Vorstellung, Tag für Tag auf diesen scheußlichen Mann zu treffen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen, war ihr zuwider. Die Einsamkeit fraß sie manchmal auf, besonders an den Feiertagen.
Ostern hatte sie wieder allein zu Hause verbracht und Kleidung mit Stoffresten aus ihrem Betrieb genäht. Sie entwarf eigene Kostüme, Blusen, Hosenanzüge und Mäntel. Ihr Handwerk erfüllte sie mit Selbstbewusstsein. Es war ihr einziges Mittel, um sich von der grauen Masse abzuheben und ihrem Aussehen einen eleganten Hauch zu verleihen. Die Geschäfte hatten wenig Auswahl. Wenn es überhaupt etwas gab, dann zu horrenden Preisen, die ihr Budget deutlich überstiegen. Sie träumte von der Champs-Élysées und stellte sich vor, wie sie schicke Haute Couture in einem Luxusgeschäft anprobierte. Ihre Traurigkeit holte sie schnell wieder zurück. Ihr Leben könnte nicht weiter entfernt sein von dem wohlhabender Französinnen.
Seit einigen Wochen plagten Regina oft Bauchschmerzen und Übelkeit, die sie zunächst mit ihrem Trauma in der MfS-Bezirksverwaltung begründet hatte. Die Vermutung, dass mehr an diesen Beschwerden dran sein könnte als ihr lieb war, schien unaussprechlich. Sie versuchte, den Nebel in ihrem Kopf zu lichten und sich mit allen Sinnen an die Vergewaltigung zu erinnern. Hatte Weber außerhalb ihres Körpers ejakuliert? Sie ging davon aus, dass er ihr Drogen untergemischt hatte. Diese hatten sie in ein willenloses Objekt verwandelt und ihr sämtliche Erinnerungen geraubt. Wieder kochte die Panik in ihr hoch und ihre Hände glitten instinktiv auf ihren Bauch. Hatte sie zugenommen? Seit dem Termin bei Gustav hatte sie an Appetitlosigkeit gelitten. Woher kamen die zusätzlichen Kilos? Regina schloss die Augen. Sie konzentrierte sich auf ihre Hände und spürte tief in sich hinein. Dabei vergaß sie ihre Umgebung und genoss die Wärme, die durch die Berührung in ihrem Unterleib entstand.
Es blitzten unangenehme Bilder in ihrem Kopf auf, die sofort wieder verschwanden. Ihr Vater, der mit einer Flasche Weinbrand im Schoß auf dem Sessel vor sich hin vegetierte wie ein feuchter Mehlsack. Ihre Mutter, die heulend und blutüberströmt in der Speisekammer hockte, um sich vor ihrem gewalttätigen Ehemann zu verstecken. Gustav Weber, der sich innerhalb weniger Minuten von einem freundlichen Mann zu einem teuflischen Dämon verwandelte. Wie er sie umgeben von Flammen und krächzenden Schreien benutzte, um sich zu befriedigen. Der Name Rowan keimte wie eine unbekannte Pflanze in ihr auf. Rowan, sie hatte ihn noch nie zuvor gelesen oder gehört. Was hatte es damit auf sich? Im nächsten Bild stand sie vor einer Gartenlaube in einer stürmischen Herbstnacht. Durch das einzige Fenster sah sie Kerzenlicht. Mit der Kraft ihrer Gedanken durchdrang sie die Wände und sah ihren geschwächten Körper auf einer gepolsterten Liege. Neben ihr kniete eine gesichtslose Frau im Schatten und tupfte ihre Stirn mit einem feuchten Waschlappen ab. Regina war hochschwanger und stand kurz vor der Geburt.
Die Klingel an ihrer Wohnungstür beendete die Vision abrupt und zerschnitt den Faden zu ihrer fiktiven Welt. Sie riss erschrocken die Augen auf, eilte in den Flur und erkannte Weber durch den Türspion.
»Was zum Teufel macht der hier?«, murmelte sie und blieb ruhig stehen, um nicht von ihm bemerkt zu werden.
»Ich weiß, dass du zu Hause bist, Regina.«, sagte er durch die Tür.
»Was willst du von mir?«, erwiderte sie aufgeregt.
»Ich muss mit dir reden. Lass mich rein!«, forderte er sie auf.
Ihr war klar, dass er nicht so schnell verschwinden würde, aber niemals hätte sie ihm Einlass in ihre Wohnung gewährt. Sie schob die Türkette in die Schiene und öffnete die Tür nur einen Spaltbreit.
»Hallo Regina. Darf ich reinkommen?«, fragte er höflich, um die hübsche Fassade vor den Nachbarn zu wahren. Die Paranoia war bei der Stasi allgegenwärtig.
»Nein, wir können an der Tür sprechen.«, entgegnete sie ihm.
Räuspernd fragte er sie: »Wie ist es dir ergangen? Ich habe dich seit Wochen nicht gesehen.«
»Hattest du erwartet, dass ich dir Liebesbriefe schreibe? Wie soll’s mir schon gehen?«, sagte sie wütend und verzerrte ihr Gesicht vor Schmerzen.
»Was hast du?«, fragte er nervös.
»Nichts, ich habe etwas Schlechtes gegessen.«, redete sie sich heraus.
»Bist du schwanger?«, flüsterte er.
»Schwanger? Du spinnst ja wohl.«, schnauzte sie ihn an und fasste sich an den Bauch.
»Regina, du musst zur Engelmacherin.«, drängte er sie.
»Engelmacherin?«
Er erklärte: »Niemand darf etwas davon erfahren. Du darfst das Kind nicht in einem Krankenhaus entfernen lassen.«
»Was ist, wenn ich gar nicht abtreiben will?«, provozierte sie ihn.
»Das steht außer Frage. Dieses Kind wird niemals das Licht der Welt erblicken und wenn ich es selbst erledige.«, drohte er ihr.
»Ich will auch kein Kind von dir.«, entwarnte sie ihn mürrisch.
Er zog einen Geldumschlag aus der Innentasche seines Sakkos, auf dem ›Berliner Straße 7, Vetschau‹ stand.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren, du bist schon in der achten Woche. Hier sind dreitausend Mark und die Adresse.«, sagte er eilig.
»Ich erledige es heute, aber bitte lass mich danach in Ruhe.«, flehte sie ihn an.
»In Ordnung, ich gehe jetzt und komme nicht wieder.«, versicherte er und verließ das Wohnhaus.
Regina duschte und bereitete sich für den unvermeidbaren Termin vor. Webers Umschlag deutete auf eine gewisse Routine hin. An wie vielen Frauen hatte er sich bereits vergangen, wenn er sowohl die Adresse als auch den Preis der Engelmacherin gekannt hatte? Sie war überrascht, dass es mitten in der Stadt eine Person gab, welche Dienste dieser Art anbot. Nach einem fünfminütigen Fußweg klingelte sie an der Haustür mit der Nummer sieben.
Eine alte, grauhaarige Frau mit roten Wangen und einer bunten Kittelschürze kam raus und begrüßte sie: »Hallo, mein Kind. Was führt dich zu mir?«
»Guten Tag, ich brauche ihre Hilfe bei ...«, stammelte sie.
»Ist schon gut, komm herein.«, unterbrach die fremde Frau sie und drehte sich um.
Regina folgte ihr mit gesenktem Kopf durch die Tür in ein Hinterzimmer, das wie eine Waschküche aussah.
»Wann ist es passiert?«, wollte sie wissen.
»Vor acht Wochen, es war ein Unfall.«, erklärte die Schwangere.
Die Alte nickte wissend und sagte: »Ich nehme dreitausend Mark.«
Sie gab ihr den Umschlag mit dem Geld und fragte: »Wird es weh tun?«
»Mach dir keine Sorgen«, beruhigte sie die junge Frau, »und leg dich nackt auf den Tisch.«
Sie zog ihre Kleidung aus und legte sich mit dem Rücken auf die kühle Holzplatte. Die Dame zog Gummihandschuhe an und kniete zwischen den gespreizten Beinen ihrer Patientin. Wortlos nahm sie eine lange Zange. Sie zog die Gebärmutter hervor, öffnete sie vorsichtig mit einer Kürette vom Zahnarzt und kratzte sie aus. Regina kniff die Augen vor Schmerzen zusammen und zählte die Sekunden, bis der Schwangerschaftsabbruch vorbei war.
Nach wenigen Minuten legte die Engelmacherin ihr Werkzeug beiseite.
Sie zog die Handschuhe aus und erlöste Regina: »Du kannst dich anziehen, es ist weg. Ruh dich heute aus und vermeide jede Anstrengung.«
Daraufhin zündete sie eine Kerze auf dem Beistelltisch an und murmelte etwas, das wie ein kurzes Gebet klang. Beide verabschiedeten sich mit einem sanften Handschlag und vertrauten Blick in die Augen.
Wieder zuhause angekommen, verblasste der körperliche Schmerz, aber Reginas psychischer Zustand verschlechterte sich. Die Schuldgefühle nagten an ihr wie Aasfresser an einem Kadaver. Nur ihre Gier nach sozialem Aufstieg hatte sie in diese Situation gebracht. Sie war es, die Weber schöne Augen gemacht und mit ihren Reizen gespielt hatte. Er hatte nur darauf reagiert und sich seinem Trieb hingegeben. Ihm war nichts vorzuwerfen, er hatte es gut mit ihr gemeint und ihr sogar das Geld für die Abtreibung zugesteckt. Sie hingegen hatte ein Menschenleben auf dem Gewissen und gestand sich die volle Schuld ein. Regina legte sich halb angekleidet ins Bett und überließ sich vor Erschöpfung ihren Gedanken.
Rowan. Da war wieder dieser unbekannte Name. Eine glühend heiße Stricknadel, die eine Fruchtblase zum Platzen brachte. Eine Badewanne mit kochendem Wasser. Eine verzweifelte Frau, die sich aus dem Fenster stürzte, um nicht mehr schwanger zu sein und sich beide Fußknöchel brach. Regina wälzte sich von links nach rechts.
»Mama, warum willst du, dass ich sterbe?«, flüsterte eine Kinderstimme, »Mama, warum hast du mich nicht lieb?«
Die Stimme kam aus ihrem Inneren.
»Ich bin Rowan.«, sagte er leise.
»Rowan?«, fragte sie, ohne die Lippen zu bewegen.
»Du kannst mich nicht töten, Mama.«, fuhr das Kind fort, »Ich muss geboren werden.«
Regina richtete sich wie ferngesteuert auf und schlafwandelte ins Badezimmer. Aus einem Spiegelschrank über dem Waschbecken nahm sie eine braune Tablettendose und schraubte den Deckel ab. Sie füllte den verkalkten Zahnputzbecher am Beckenrand mit Wasser und schluckte die roten Pillen mit der Flüssigkeit runter. Dann wankte sie in den Hausflur und stieg die Treppe bis zur obersten Stufe hinauf. Die Arme ausgestreckt, ließ sie sich mit einem Sprung rückwärts fallen. Sie stürzte auf den harten Treppenkanten hinunter und blieb reglos auf dem Flurboden liegen. Es vergingen einige Minuten, in denen sie sich keinen Millimeter bewegte.
»Fräulein Garak, was ist passiert?«, sprach Frau Wilke die Bewusstlose an, »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«
Regina kam allmählich zu Bewusstsein und antwortete leise: »Nein, es ist in Ordnung. Mir wurde schwarz vor Augen.«
Die besorgte Nachbarin stützte sie mit dem Arm ab, brachte sie zurück in ihre Wohnung und setzte sie auf dem Bettrand ab.
»Kann ich irgendwas für Sie tun? Soll ich Ihnen einen Tee kochen?«, fragte die Helferin beunruhigt.
»Vielen Dank, Frau Wilke. Ich komme klar.«, versicherte Regina.
Als die Tür ins Schloss fiel, bewegte sich ihr Mageninhalt nach oben. Sie sprang vom Bett auf und rannte zur Toilette, um sich zu erbrechen. Sie spuckte die rötliche Flüssigkeit mit den vielen Kapseln ins Becken und fühlte sich mit jedem Schwall erschöpfter. Regina sank auf dem Fliesenboden zusammen und starrte wie von Sinnen die Decke an.
Wieder ertönte diese Stimme in ihrem Kopf: »Du kannst mich nicht töten, Mama.«
»So muss es sich anfühlen, wenn man den Verstand verliert.«, sagte sie vor sich hin.
Regina richtete sich auf und stützte sich am Badewannenrand ab. Obwohl sie ihren Sinnen nicht mehr traute, konnte es nur ihr Kind sein, das zu ihr sprach und sein Name war Rowan. Die Schwangere realisierte, dass die teuer bezahlte Abtreibung erfolglos war. Wie viele Abbrüche hatte die Engelmacherin in ihrem Leben schon vorgenommen? Wenn sie dazu nicht in der Lage gewesen wäre, warum hätte Gustav sie dann zu ihr geschickt? Ihr Körper und Geist wehrten sich mit allen Mitteln gegen den Nachwuchs und zwangen sie zu den Pillen und dem Treppensturz. Rowan hatte insgesamt drei Mordversuche überlebt und sie vermutete, dass nur ihr eigenes Sterben das Kind töten könnte.
Wenn Weber herausfände, dass sie immer noch schwanger war, bedeutete das ihren sicheren Tod. Seine Position bei der Stasi gefährdete er um keinen Preis - erst recht nicht wegen Regina. Ihre Sinne schärften sich allmählich und sie überlegte, welche Kleidung ihren dicker werdenden Bauch am besten verhüllte. Sie nahm sich einen Kalender und rechnete nach, ob sie bis zur Geburt ihre Ausbildung beenden könnte. Erleichtert stellte sie fest, dass es zumindest zeitlich möglich wäre. Um den Vater des Kindes würde sie einen Bogen machen und hoffte, dass er sie nicht mehr besuchen würde. Es war an der Zeit, dass sie ihr neues Leben als Mutter akzeptierte, denn Rowans Geburt war unumgänglich.
Kapitel 3
Freitag, 26. Juni 1970
Otto Köhler verbrachte die Pause in der Kaffeeküche. Jede Etage der MfS-Bezirksverwaltung hatte eine. Bei einem Becher Kaffee konnte man hier die neusten Gerüchte aufschnappen und verbreiten. Die verschwiegene Stasi-Belegschaft bildete hier keine Ausnahme.
»Was ist eigentlich aus der Garak geworden? Gustav wollte sie doch ins Boot holen.«, fragte Otto seinen Kollegen Heinz.
»Weiß nur, dass sie Anfang Februar mal hier war. Wie ich Gustav kenne, konnte er seine Hände bestimmt nicht von ihr lassen.«, antwortete der Mann und goss sich einen Kaffee ein.
»Möchte mal wissen, was er an der findet. Junge Frauen wie sie machen doch nur Schwierigkeiten.«, sprach Otto abfällig.
Gustav Weber betrat den Raum und rief: »Na Männer, seid ihr schon wieder am Lästern? Was gibt’s Neues?«
Peinlich berührt hoben sie kurz die Hände und drucksten herum, dann erwiderte Heinz: »Es gibt tatsächlich eine Neuigkeit. Meine Frau ist im dritten Monat schwanger und wir bekommen ein Mädchen.«
»Herzlichen Glückwunsch, Heinz!«, gratulierte ihm Gustav und zündete sich eine Zigarre an.
»Glückwunsch, alter Freund!«, sagte Otto pflichtgemäß.
Die drei Herren versicherten sich mit einem kurzen Blick in den Flur, dass sie niemand in der Küche stören würde. Gustav holte einen mit Wodka gefüllten Flachmann aus seiner Sakkotasche. Er ließ ihn herumgehen und jeder nahm einen kleinen Schluck zur Feier des Tages. Als der Alkohol seine Wirkung entfaltete, schaute Köhler in Gedanken versunken aus dem Fenster.
»Was ist mit dir, Otto?«, fragte Gustav und blies Rauch über den Tisch.
»Es ist nichts. Meine Frau hängt mir bloß in den Ohren, weil sie unbedingt ein Kind möchte.«, erzählte Köhler.
»Worauf wartet ihr dann? Du bist immerhin schon achtunddreißig.«, nahm ihn Heinz in die Mangel.
Otto war das Thema unangenehm und er versuchte, davon abzulenken: »Wir brauchen noch ein bisschen. Alles zu seiner Zeit.«
»Genau, jetzt wird erst mal Heinz Vater. Dass ich das noch erleben darf!«, neckte Gustav seinen Kollegen.
Die drei lachten und ließen den Flachmann eine weitere Runde herumgehen. Mit gerötetem Gesicht beendeten sie ihre Pause und kehrten in ihre Büros zurück.
Zum Feierabend verabschiedete sich Otto und fuhr mit dem Moskwitsch zu seiner Wohnung am Puschkinpark. Seine Frau wartete schon am üppig gedeckten Esstisch. Ihr Etuikleid betonte den Stiernacken, der von ihrer schwarzen Lockenpracht bedeckt wurde. Das gemeinsame Essen war ihnen wichtig. Es vermittelte dem Paar das Gefühl, auch ohne Kinder eine Familie zu sein. Die Bettlaken der Köhlers waren schon seit Jahren kalt geblieben. In ihrer Gemeinde genossen sie den Ruf eines DDR-Vorzeigepaares, nur der Nachwuchs ließ auf sich warten. Gerüchte machten die Runde, dass Unfruchtbarkeit der Grund dafür wäre.
Bis Otto nach der NVA eine Stelle beim MfS angeboten worden war, hatte sie als Krankenschwester gearbeitet. Sie hatten sich in der Schule verliebt und auf Drängen der Eltern jung geheiratet. Sex hatte sich zu Monikas Enttäuschung nie ergeben. Ihr bequemes Leben als Stasi-Ehefrau entschädigte sie dafür.
Im Hause Köhler fehlte es an nichts. Kaffee, Süßigkeiten und Zigaretten aus dem Westen waren im Überfluss vorhanden. Monika bekam unter dem Ladentisch alle Waren, die sie sich wünschte. Während andere Kunden Schlange standen, genügte ein ernster Blick und die Verkäuferin rückte eilig die Produkte raus. Familie Köhlers Bezug zur Stasi war ein offenes Geheimnis und mit der legte sich niemand an. Zu groß war die Angst, mitten in der Nacht zu Hause abgeholt und zur Untersuchungshaftanstalt gebracht zu werden.
Otto fürchtete, ihr von Heinz Winters froher Kunde zu berichten. Ihr Kinderwunsch hatte – wie sie selbst – im vergangenen Jahr zugenommen. Monika beneidete die vielen jungen Mütter, die stolz ihre Kinderwagen durch die Straßen schoben. Auf einen Plausch mit anderen Frauen anhielten und sich fröhlich austauschten. Obwohl es ihr an nichts mangelte, verzehrte sie sich nach dem Gedanken, dass ihr größter Wunsch vielleicht niemals in Erfüllung gehen würde.
»Hallo Otto. Wie war dein Tag?«, sagte sie, als er zur Tür hereinkam.
»Grüß dich, Monika. Es war ein guter Tag. Heinz hat heute erzählt, dass er Vater wird.«
»Oh, das ist aber schön. In welchem Monat ist sie denn und was wird es?«, reagierte sie mit gespielter Freude.
»Im Dritten. Es wird ein Mädchen.«, antwortete er schmallippig.
Er setzte sich zu ihr an den Tisch. Otto goss den offenen Rotwein ein und sie nahmen ihr Abendessen zu sich.
»Ich frage mich, wann wir endlich Kinder bekommen.«, sagte sie vorwurfsvoll und verzog ihr breites Gesicht.
»Fang nicht schon wieder damit an, Monika.«, reagierte Otto genervt.
Sie fügte unbeirrt hinzu: »Wenn wir nie miteinander schlafen, werden wir auch keine Kinder bekommen.«
»Du weißt, dass ich Schwierigkeiten habe und trotzdem reitest du immer wieder darauf herum.«, schnauzte er sie an.
»Liegt es an dir oder mir?«, fragte sie ihn unter Tränen.
»Monika, ich liebe dich. Es liegt nicht an dir, ich habe sehr viel Stress bei der Arbeit und weiß manchmal nicht, wo mir der Kopf steht.«, rechtfertigte er sich.
Beim Anblick seiner grau melierten Haare mit der immer größer werdenden Glatze und den Segelohren, stellte sie ihre Liebe zu ihm nicht zum ersten Mal in Frage. In ihrem musternden Blick erkannte er, dass seine Ausreden nicht mehr bei ihr wirkten.
»Otto, wenn wir schon nicht miteinander intim werden können, dann will ich wenigstens ein Kind von dir.«, flehte sie ihn an.
»Wie soll das gehen? Willst du eins adoptieren?«, fragte er.
»Lass deine Beziehungen spielen. Aber komm mir nicht mit einem Schulkind. Ich will ein Baby und jeder soll glauben, dass es uns gehört.«, verlangte sie und nahm einen großen Schluck aus dem Rotweinglas neben ihrem Abendbrotteller.
Sollte er ein Kind beschaffen wie Lebensmittel aus dem Einkaufsmarkt?
Erschüttert von ihren Worten sagte er: »Monika, ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Wenn du auch das nicht kannst, dann frage ich mich, wie es mit uns weitergehen soll.«, fügte sie missmutig hinzu.
»Gib mir ein bisschen Zeit, um darüber nachzudenken. Ich gehe eine Runde spazieren.«, sagte Otto niedergeschlagen, zog sein Sakko an und verließ die Wohnung.
Sie blieb schweigend am Tisch sitzen und kippte sich den Rest des Weinglases hinter. Draußen atmete er tief durch und kämpfte mit seinen Tränen. Er hasste sich dafür, dass er nicht Manns genug war, um Monika auf natürlichem Wege ein Kind zu schenken. Er verstand nicht, was mit ihm nicht stimmte. Der Gedanke an Sex mit seiner Ehefrau war eine unüberwindbare Hürde, für die er dringend irgendeinen Umweg finden musste.
Er ging nachdenklich an der Straße entlang. Nach einer Weile kam ihm die Frauenklinik Altdöbern in den Sinn. Hier hatte Monika früher gearbeitet. Vielleicht würde sich ein Kontakt als nützlich erweisen. In Geheimakten hatte er von Zwangsadoptionen gelesen, die fast immer Systemkritiker trafen. Das Vorgehen war so kaltblütig wie einfach. Der Arzt erklärte den Eltern, das Baby sei nicht überlebensfähig und müsse nach der Geburt in den Brutkasten. Mutter und Vater bekamen es nicht zu sehen und durchlebten die Hölle auf Erden.
Dann übermittelte der Arzt die traurige Nachricht, dass es verstorben sei. In Wirklichkeit zog ein systemtreues Paar aus dem Dunstkreis der Stasi das Kind auf. Die wahren Eltern blieben bis zu ihrem Lebensende traumatisiert zurück und hatten nicht einmal die Gelegenheit, sich zu verabschieden. Otto empfand kein Mitleid mit den Opfern dieser gewissenlosen Praktiken. Vielmehr erkannte er eine Lösung für seine privaten Probleme und das ließ einen Funken Freude in ihm aufsteigen. Er war schon bis zum Spreewaldbahnhof gelaufen, der am Jahresanfang die letzte Personenverkehrstrecke zwischen Cottbus und Goyatz eingestellt hatte. Der Wein drückte auf seine Blase, weshalb er die öffentliche Toilette am Bahnhof aufsuchte. Mit einer Zwanzig-Pfennig-Münze entriegelte er das Drehkreuz und suchte sich eine Kabine in dem stillen, leeren Örtchen. Er erleichterte sich im Stehen und hörte, wie sich das Kreuz drehte. Es folgten Schritte, die in der Nachbarkabine endeten, und eine unbehagliche Ruhe. Otto beeilte sich und wollte schnell weiter, als es auf einmal an die Trennwand klopfte.
»Hallo.«, flüsterte eine männliche Stimme.
»Hallo?«, fragte er irritiert.
»Lust auf ein bisschen Spaß?«, raunte der Unbekannte lasziv.
Köhler war einen Moment sprachlos und bemerkte, wie er hinausging. Dann drückte der Fremde die Klinke seiner Kabinentür runter. Vor ihm stand ein junger Mann um die dreißig. Mit kurzem, blondem Haar und einem markanten Gesicht mit blauen Augen, die ihn verführerisch anschauten.
»Was wollen Sie von mir?«, schrie Otto empört.
Der Fremde legte seinen rechten Zeigefinger auf Ottos Lippen und säuselte ihm ins Ohr: »Es wird dir gefallen, mein Lieber.«
Seine Empörung über diese bizarre Situation wich einer aufkommenden Erregung, die er bei seiner Frau noch nie empfunden hatte. Der Verführer kniete sich auf den schmutzigen Fliesenboden, öffnete Ottos Hosenstall und machte sich an ihm zu schaffen. Er rang um Luft, schloss seine Augen und konnte nicht fassen, was ihm an diesem ungewöhnlichen Ort widerfuhr. Zu seiner Überraschung gefiel ihm, wie der Unbekannte ihn verwöhnte, und es würde nicht mehr lange dauern, bis es ihm kam.
Das Verbotene übte einen unvergleichbaren Reiz auf ihn aus. Nie hatte er sich so frei in diesem eingesperrten Land gefühlt. Der Verkehr mit einem anderen Mann entfesselte ihn vom verklemmten Dasein. Ihm wurde schlagartig klar, dass dieses Erlebnis eine Zäsur in seinem Leben darstellte. Die Angst erwischt zu werden, unterdrückte das tief empfundene Stöhnen, das in seiner Kehle emporstieg. Am Höhepunkt angekommen, wurden Ottos Knie weich. Ihm wurde schwindelig und er sackte ein bisschen zusammen. Als er die Augen langsam wieder öffnete und seinen Reißverschluss hochzog, war der Mann verschwunden. Er hörte nur den hallenden Klang der sich entfernenden Schritte im Bahnhofstunnel und machte sich schnell auf den Heimweg.
Samstag, 27. Juni 1970
Am nächsten Morgen saß Otto wieder im Büro. Die Erinnerungen an das erotische Erlebnis in der Bahnhofstoilette und die Frauenklinik gingen ihm durch den Kopf. Ob er den Fremden jemals wiedersehen würde? Für den Fall einer Begegnung in der Öffentlichkeit hatte er sich sein Aussehen fest eingeprägt.
Eine halbe Stunde vor Arbeitsbeginn hatte er sich ins Kellerarchiv der Bezirksverwaltung geschlichen und die Akte ›Heller‹ rausgesucht. An seinem Schreibtisch las er darin, dass Frau Heller (geb. 13.04.1949 in Cottbus) ›politisch unbequem‹ und ›nicht in der Lage sei, ihre Kinder im sozialistischen Sinne zu erziehen‹. Es war von ›vorgetäuschtem Säuglingstod‹ und ›Fremdplatzierung des Kindes‹ die Rede. Der Sarg sei mit einem ›Katzenkadaver bestückt‹ worden, um eine ›Scheinbeisetzung‹ durchzuführen.
Ihm wurde etwas übel. Dennoch rechtfertigte er das Vorgehen damit, dass es sich um eine Staatsfeindin handelte. Er fand zwei herausgerissene Seiten aus ihrem Sozialversicherungsausweis in der Haftakte: ›Gynäkologische Untersuchungen‹, ›Geburtsstation, Frauenklinik Altdöbern‹ und ›Assistenzarzt: Dr. med. Josef Mackwar‹. Man hatte durch die Manipulation des Ausweises die Schwangerschaft komplett vertuscht. Er las einen abgefangenen Brief an ihre Freundin im Westen:
Liebe Marita,
es fällt mir schwer, diese Gefühle in Worte zu fassen, aber ich muss das Leid mit jemandem teilen und hoffe, dass du mir helfen kannst. Ich weiß nicht, wo mein Kind ist. Die letzte Erinnerung ist eine Untersuchung in der Frauenklinik, drei Wochen vor dem Geburtstermin. Dort überkam mich ein stechender Schmerz und das Fruchtwasser lief an meinen Beinen runter. Ich glaube, dass der Arzt die Fruchtblase bei der Kontrolle absichtlich aufgekratzt hatte. Die Schwester rief den Assistenzarzt und als man mich zur Geburt aus dem Patientenzimmer schob, wurde ich bewusstlos. Nachdem ich wieder zu mir gekommen war, fragte ich die Hebamme: ›Wo ist mein Kind? Was ist es denn?‹. Eine Woche verbrachte ich im Krankenhaus, kein Arzt, keine Antwort, kein Baby. Dann teilte mir Dr. Mackwar mit, dass es nicht überlebt habe. Ich war völlig außer mir, die Beisetzung glich einem falschen Film, dem ich nicht folgen konnte. Der kleine Sarg, die fehlenden Trauergäste. Mein Gehirn rattert pausenlos, es fehlt ein Teil von mir. Ich bin wütend und verstehe nicht, was mit dem Kind geschehen ist.
Deine Anna
Otto beschloss, die Nummer der Klinik im Telefonbuch zu suchen. Es war neun Uhr. Das Klinikpersonal befand sich vermutlich in der Frühstückspause. Er ließ es dennoch auf einen Versuch ankommen und wählte mit der Drehscheibe seines Telefons.
»Frauenklinik Altdöbern, Schwester Beate?«, begrüßte ihn eine freundliche Stimme.
»Guten Tag. Hier ist Dr. Lehmann vom Krankenhaus Eisenhüttenstadt. Ist Dr. Mackwar im Haus?«, stellte sich Otto mit falschem Namen vor.
»Guten Tag. Ja, er ist in seinem Büro.«, antwortete die junge Krankenpflegerin.
»Würden Sie mich bitte verbinden?«, fragte er höflich.
»Verbinden? Einen Moment, ich hole ihn ans Telefon.«, sagte die Schwester irritiert.
Er hörte, wie sich ihre Schritte entfernten und danach ein lauter werdendes Schrittgeräusch.
»Dr. Mackwar?«, sagte die männliche Stimme.
»Guten Tag, Herr Doktor. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen.«, bedankte sich Otto.
»Wer sind Sie?«, fragte er misstrauisch.
»Köhler, MfS-Bezirksverwaltung Cottbus.«, gab er sich zu erkennen.
»Was wollen Sie?«, entgegnete der Arzt erbost.
»Ich denke, das wissen Sie genau.«, forderte Otto ihn heraus.
»Die Abmachung war, dass Sie mich in Ruhe lassen.«, flüsterte Dr. Mackwar hinter vorgehaltener Hand.
»Wir beide haben keine Abmachung, jedenfalls noch nicht. Ich will nur zwei Dinge von Ihnen wissen. Erstens: Mädchen oder Junge? Zweitens: Wann?«, stellte er seine Forderung.
»Das ist ausgeschlossen. Ich habe Ihren Leuten gesagt, dass Frau Heller die Letzte war.«, erwiderte der Arzt aufgebracht.
»Wenn Sie meinem Auftrag nicht folgeleisten, zerstöre ich nicht nur Ihr Leben, sondern auch das Ihrer Familie. An Ihren Händen klebt Blut und die Beweise liegen vor mir auf dem Tisch. Für wen halten Sie sich, dass Sie dem Ministerium widersprechen?«, drohte Otto dem Arzt.
Nach einer Pause antwortete er mit bewegter Stimme: »Heute Abend, zehn Uhr, im Gerätehaus am Hintereingang. Es ist ein Junge.«
»In Ordnung.«, sagte Otto zufrieden und legte auf.
Er sprang schwungvoll auf und wedelte wie ein Boxer mit seinen Fäusten durch die Luft. Nach einem kurzen Blick auf die Straßenkarte an seiner Wand, plante er seine Abfahrt um viertel zehn. Der Vater in spe überlegte aufgedreht, ob er Monika vorher einweihen solle. Er entschied sich für den Überraschungseffekt und wartete ungeduldig auf die Dämmerung.