Im Schatten des Mont Bisanne - David Tanner - E-Book

Im Schatten des Mont Bisanne E-Book

David Tanner

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  • Herausgeber: beTHRILLED
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Die kälteste Seite der Savoyer Berge ...

In einem beliebten Skiort in den Savoyer Alpen wird eine geschändete Frauenleiche an einem Sessellift aufgeknüpft. Doch lediglich die Lokalzeitung berichtet einmal kurz über den brutalen Mord. Das macht den Journalisten Antoine Kirchner stutzig: Gibt es jemanden, der die Tat vertuschen möchte? Kirchner begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit - und stößt bald auf eine grausige Spur zu vergangenen Verbrechen im Schatten des Mont Bisanne ...

Dieser Kriminalroman ist in einer früheren Ausgabe unter dem Titel "Das eisige Herz des Mont Bisanne" erschienen.

Journalist Antoine Kirchner ist mit seinen preisgekrönten Reportagen aus Kriegs- und Krisengebieten zum Chefreporter bei "Le Monde" aufgestiegen und berichtet von den Schauplätzen der Weltgeschichte. Doch trotz oder gerade wegen seiner aufreibenden Recherchen darf das Savoir-vivre für Kirchner nicht zu kurz kommen: In seinem Steinhaus in der Normandie bereitet der begeisterte Hobbykoch Köstlichkeiten zu, bei denen einem das Wasser im Mund zusammenläuft. Und auch wenn er Verbrechen aufdeckt, nutzt er jede Gelegenheit für Gaumenfreuden.

Krimis zum Genießen - Antoine Kirchner ermittelt auch in "Mörderisches Arcachon".

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Inhalt

Cover

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Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

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Epilog

Weitere Titel des Autors

Frankreich-Krimi mit Antoine Kirchner:Mörderisches Arcachon

Über dieses Buch

Die kälteste Seite der Savoyer Berge …

In einem beliebten Skiort in den Savoyer Alpen wird eine geschändete Frauenleiche an einem Sessellift aufgeknüpft. Doch lediglich die Lokalzeitung berichtet einmal kurz über den brutalen Mord. Das macht den Journalisten Antoine Kirchner stutzig: Gibt es jemanden, der die Tat vertuschen möchte? Kirchner begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit – und stößt bald auf eine grausige Spur zu vergangenen Verbrechen im Schatten des Mont Bisanne …

Über den Ermittler: Journalist Antoine Kirchner ist mit seinen preisgekrönten Reportagen aus Kriegs- und Krisengebieten zum Chefreporter bei »Le Monde« aufgestiegen und berichtet von den Schauplätzen der Weltgeschichte. Doch trotz oder gerade wegen seiner aufreibenden Recherchen darf das Savoir-vivre für Kirchner nicht zu kurz kommen: In seinem Steinhaus in der Normandie bereitet der begeisterte Hobbykoch Köstlichkeiten zu, bei denen einem das Wasser im Mund zusammenläuft. Und auch wenn er Verbrechen aufdeckt, nutzt er jede Gelegenheit für Gaumenfreuden.

eBooks von beTHRILLED – mörderisch gute Unterhaltung.

Über den Autor

David Tanner, geboren 1965, wuchs als Kind deutsch-französischer Eltern in Bayern und Südfrankreich auf. Als Student schloss er sich verschiedenen Hilfsorganisationen an und bereiste mit ihnen die Welt. Tanner lebt als Kinderarzt mit seiner Familie in Paris.

DAVID TANNER

IM SCHATTEN DESMONT BISANNE

ANTOINE KIRCHNERS ZWEITER FALL

beTHRILLED

Digitale Neuausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titel der Originalausgabe: »Das eisige Herz des Mont Bisanne«

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Lektorat: Daniela Jarzynka

Covergestaltung: © Christl, Glatz | Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © Getty Images: Chris White | standret | MCMLXXXI

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-8542-7

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

1

Weiß waren die Wiesen entlang des Ärmelkanals, weiß der ganze Küstensaum, Antoine Kirchner lachte auf, als er die Fensterläden seines Schlafzimmers an diesem Dezembermorgen aufstieß. Zwölf Jahre lang hatte es nicht mehr geschneit in diesem Winkel der Normandie, grün waren die Winter immer geblieben, aber nun hatte sich der Himmel eine ganze Nacht lang ausgeschneit und die Welt draußen weihnachtlich verkleidet.

»Schnee …«, sagte Kirchner staunend vor sich hin, dann rief er laut und gut gelaunt zum Vater, den er unten in der Küche vermutete: »Georges, was denkst du? Gehen wir heute Schlitten fahren? Bist du da unten irgendwo?«

Georges war da unten, hörte ihn aber nicht, weil er wie immer das Radio sehr laut laufen hatte, wenn er allein war, Radio Bleu. Sie spielten gerade Michel Sardou, und der Alte pfiff mit, übermütig trillernd: Elle court, elle court, la maladie d’amour … Er kochte Kaffee.

Kirchner konnte es riechen und das Fauchen der Maschine hören, als er an seinem Waschtisch stand und sich rasierte. Ein ruhiges, behagliches Wochenende lag vor ihm, er schaute vergnügt zum Fenster hinaus, wo die winterliche Sonne um diese frühe Stunde wie ein fahler Lampion in einen wolkenlosen Himmel aufstieg.

Spazieren gehen am verschneiten Strand, Feuer machen im Kamin, dachte Kirchner, später ein paar Austern, ein Glas Weißen dazu, das wird schön.

Er war erst drei Tage zuvor aus Kapisa zurückgekehrt, einer afghanischen Provinz, in der eine ganze Kompanie französischer Gebirgsjäger in einen Hinterhalt und eine fürchterliche Schlacht geraten war. Vierzehn Männer starben aufseiten der Franzosen, dreiundzwanzigjährige Leutnants, Gefreite von gerade achtzehn Jahren. Kirchner hatte sich aufgemacht, die Vorgänge, die schon ein paar Wochen zurücklagen, zu rekonstruieren. Es war eine harte, traurige Arbeit, die aber getan werden musste, davon war er überzeugt, und sei es nur zu Ehren der Opfer auf beiden Seiten.

Le Monde machte eine starke Doppelseite daraus mit den erschütternden Fotos von Piedro Pellegrini, der am Tag der Schlacht dabei gewesen war und überlebt hatte. Kirchners Text, geschrieben auf der Basis von vielen Gesprächen mit Augenzeugen, nach vielen Ortsbegehungen, Hubschrauberflügen, langen Fahrten durch Feindesland, schilderte kalt und klar die Realität des Krieges in Afghanistan. Die Reportage war verfasst im ureigenen Ton Kirchners, der immer etwas Feierliches, Hochernstes hatte. So jedenfalls erklärte Henri Pelleton, sein Chefredakteur bei Le Monde, regelmäßig die Wucht seiner Texte.

Pelleton war mehr als nur Kirchners Chef. Er war ein Freund, dabei ein kleiner, lustiger Baske, der im Singsang des Südens sprach und sich gern in Herrenbegleitung zeigte. Er liebte Kirchner, als Schreiber, als Reporter, als Mensch, und ließ ihn das großzügig immer wieder wissen.

Kirchner machte, in seiner langen Pyjamahose, ein paar Kniebeugen am offenen Fenster, die Luft kam frisch und kalt ins Zimmer. Der grand reporter aus der Normandie hatte gut geschlafen nach dem kleinen Festessen am Abend zuvor, mit dem er seine glückliche Heimkehr aus einem Kriegsgebiet wie stets gefeiert hatte.

Zehn Bekannte waren da gewesen, die meisten von ihnen Nachbarn, Bauern aus der Gegend, sie hatten hausgebrannten Calvados mitgebracht oder Austern aus der Bucht, geholt von ihren eigenen Bänken drunten im Wattenmeer. Kirchner hatte sie in seiner gewaltigen Küche bewirtet, groß wie ein bäuerlicher Festsaal. Er tischte eine normannische Potée auf, wie er das nannte, einen fast unanständig üppigen Schmortopf, serviert in schwarzem Eisengeschirr.

Darin vereinten sich vielerlei Zutaten zu einem winterlichen Essen, das die Schneefälle der Nacht vorauszuahnen schien und Kirchner als den begeisterten Koch auswies, der er immer schon gewesen war. Er hatte Speck ausgelassen, Rind- und Lammfleischwürfel angebraten, Wirsing und Zwiebeln angeschwitzt, Kalbsfond angegossen und diese Basis des späteren Ragouˆts im warmen Ofen sehr lange schmoren lassen, bis das Fleisch à point gegart war. In der letzten Stunde hatte er Birnen- und Apfelspalten in Butter gebräunt, Schwarzwurzeln in Kalbsfond mit Rosinen ziehen lassen, er hatte drei Kilo La-Ratte-Kartoffeln geputzt und gekocht und endlich alle Zutaten nach und nach zu seiner großen Potée vereint.

Die Esser um den großen Tisch leerten den Eintopf bis auf den Grund und tunkten am Ende noch mit Baguette auf, was an Säften und Soße übrig war.

Diesen neuen Morgen im Advent begann Kirchner barfuß, nach dem kleinen Frühsport am Fenster streifte er sich ein blütenweißes Hemd über und stieg in eine schwarze Wollhose. Er sprang federnd die Treppe des alten Steinhauses hinab, wo ihn Filou, der schwarze Retriever des Hauses, wedelnd begrüßte und ihm hektisch die Hände leckte.

»Ist ja gut, mein Dicker«, sagte Kirchner zum Hund gebeugt, »ist alles gut. Warst du denn schon draußen im Schnee?«

Georges antwortete für Filou aus der Küche: »Ich hab ihn noch nicht rausgelassen«, sagte er, »ich dachte, das Schauspiel sehen wir uns gemeinsam an.«

Mit diesen Worten trat der Alte aus der Küche, ein kleiner grauer Mann, reichte Kirchner einen Kaffeebecher hin und öffnete mit einem Ruck die Terrassentür auf der Landseite des schiefergedeckten Eindachhofes.

Filou verstand diese Geste als Einladung, ins Freie zu springen, und er tat es mit gewaltigen Sätzen. Bald wütete er lustig und mit fliegenden Ohren durch den Schnee, der glatt dreißig, vierzig Zentimeter hoch gefallen war. Das Tier nieste, glitt aus und genoss sichtlich das in der Normandie so seltene Naturwunder.

»Ich glaube, der Schnee speichert Gerüche«, sagte Kirchners Vater, »deshalb macht er Hunde so verrückt und glücklich.«

»Das sagst du immer über Schnee und Hunde«, gab Kirchner zurück, »einen Beweis dafür hast du mir noch nie gezeigt.«

»Ach, du und deine Beweise, Antoine«, sagte der Vater, »du brauchst immer für alles Beweise. Das ist eine Berufskrankheit von dir, weißt du das eigentlich!? Aber sag mir: Ist dieser Hund da draußen glücklich? Oder brauchst du dafür einen Beweis?«

Kirchner lachte, nickte, hob beschwichtigend eine Hand, dann standen die beiden Männer für eine Weile still, nippten am Kaffee und schauten Filou zu. Der Hund zog in weiten Kreisen durch die schön gestaffelte Landschaft, die normannische bocage, das alte, fein gegliederte Bauernland am Meer. Er schnürte durch die Apfelhaine und Felder, über die mittelalterlichen Wege, die der Schnee verdeckte, das große Weiß lag über dem hügeligen Land wie ein glitzerndes, verrutschtes Tischtuch.

»Schön«, sagte der Alte.

»Schön, ja«, sagte sein Sohn.

Anschließend zog sich Antoine Kirchner an seinen morgendlichen Arbeitsplatz zurück, wie jeden Tag. In der Küche, einer ehemaligen Stallung, die zehn mal sechs Meter maß, stand unter der Fensterreihe zur Meerseite hin sein kleiner Arbeitstisch, auf dem Georges jeden Tag die Zeitungen deponierte. Kirchner hatte allein zwei Dutzend Tageszeitungen abonniert, die nationalen Titel aus Paris natürlich, aber auch viele Regionalblätter: Ouest France hier aus der Gegend, Le Bassin libre, aber auch Blätter von weiter her. Nice-Matin kam mit ein paar Tagen Verspätung per Post, ebenso die Dernières Nouvelles d’Alsace und Le Savoyard libre aus Albertville am Rand der Alpen. Wöchentlich kamen die Frauenmagazine, Elle und Madame Figaro, oder das Katholikenorgan La Vie oder die intellektuelle Fernsehzeitschrift Télérama. Wenn Kirchner das nicht alles las, so überflog er es doch. Beim Blättern wirkte er wie ein Schachspieler, der sich alte Partien einprägt, das Stöbern in Zeitungen und Magazinen war seine Methode, um die eigene Zeitgenossenschaft immer wieder abzusichern. Und er fand hier neue Stoffe, unbekannte Geschichten, abseitige Themen, starke Menschen.

An diesem winterlichen Samstag fehlte der Stapel Zeitungen ganz. Kirchner fand keinen einzigen Titel auf seinem Arbeitstisch, das Schneegestöber der Nacht hatte den Vertrieb der Zeitungshäuser lahmgelegt und nicht nur Calvados, sondern die halbe Normandie vom Rest der Welt abgeschnitten. Die Region hatte so gut wie keinen eigenen Winterdienst, wozu auch, es schneite ja so gut wie nie.

Also waren nun Räumfahrzeuge aus anderen Landstrichen Frankreichs unterwegs, Georges hatte es im Radio gehört, aus der Picardie wurden Unimogs geschickt, aus Perche, von der Ile-de-France, aber das konnte alles dauern.

»Meinst du, dass die Post heute kommt, Georges?«, fragte Kirchner den Vater, der sich eben eine dicke gewachste Jacke überzog, um in Gummistiefeln ein wenig vors Haus zu gehen und nach den Ziegen zu sehen.

»Das hab ich schon geklärt«, sagte er. »Didier kommt.« Didier war der Briefträger, immer unterwegs in einem gelben Kastenwagen. »Er kommt, sagt er, ich hab mit ihm telefoniert. Vielleicht ein bisschen später als gewöhnlich, wahrscheinlich so gegen halb zehn.«

Kirchner schaltete den Computer an. Bis halb zehn hatte er noch eine gute Stunde, aber er musste seine journalistische Lesesucht sofort irgendwie befriedigen, papierlos. Er klickte sich von SPIEGEL online über die New York Times zur BBC. Englisch und Deutsch waren die Fremdsprachen, die er beherrschte, ein wenig Spanisch auch, aber das reichte nicht zum Zeitunglesen. Er fand im Netz wenig, was seine Aufmerksamkeit band, er vermisste die Blätter, das Blättern, die großen Bögen Papier, die einen viel schnelleren Überblick ermöglichten. Zeitungen, fand Kirchner, vereinfachten das Finden interessanter Artikel; das Internet erleichterte nur das gezielte Suchen.

Ein Feind des Digitalen war er nicht, er wusste um die Stärken des Computers und wie sehr ein Reporter wie er von ihnen profitieren konnte. Allein die Karten, die Luftbilder, jederzeit abrufbar, waren Gold wert. Nur waren ihm eben auch die Schwächen der Technik bewusst, die Unzuverlässigkeit vieler Informationen, die Fragwürdigkeit der Quellen im Netz. Er verachtete insgeheim die Blogger, die immer und überall ihren Senf dazugaben, ohne ein einziges Mal von ihrem Schreibtisch aufgestanden zu sein. Und immer wieder ärgerte er sich darüber, wenn er in einem Flugzeug gerade elektronisch etwas las und das Gerät wegen der nahen Landung ausschalten musste. Jedes Mal dachte er dann: Ein Buch muss man nicht ausschalten. Ein Buch liest man. Einfach so.

Kirchner klickte sich durch die Welt. In Kapisa, Afghanistan, wo er gerade herkam, waren schon wieder zwei französische Gendarmen Opfer eines Bombenanschlags geworden. In Südkorea fanden Bunkerübungen statt, aus Furcht vor einem Atomangriff des Nordens. Die UNO drohte Iran mit weiteren Sanktionen. Vor Australien versuchte die Marine, Bootsflüchtlinge aus Pakistan abzuwimmeln, ähnliche Szenen spielten sich ab um die südlichen, Italien vorgelagerten Inseln. Chicago meldete minus vierzig Grad Celsius. Kirchner zog eine Grimasse und stand auf, um sich Kaffee nachzuschenken.

Die Maschine stand auf der Küchenzeile, die sich an der Stirnseite des Raums erstreckte, nach rechts begrenzt von einem Kühlschrankturm, auf der linken Seite abgeschlossen von zwei hochgebauten Öfen, deren Klappen der Koch bequem im Stehen bedienen konnte. Zwei alte Spülbecken aus weißem Porzellan waren mittig in großzügige Arbeitsflächen aus hartem Holz montiert, die Wand entlang baumelten Kupferpfannen und Eisenbräter griffbereit an Fleischerhaken, Stieltöpfe, Fischkasserollen, Dämpfsiebe. Unter einem schwarzen Waffeleisen stand die Kaffeemaschine, ein schweres deutsches Fabrikat.

Kirchner schenkte sich nach und süßte seine Tasse, wie stets, mit einem knappen Löffel Zucker. Er rührte gedankenverloren und war sehr froh, draußen Didiers gerötetes Gesicht zu sehen, rot von der Kälte und den ersten Schnäpsen, die der Briefträger auf seiner Tour schon zu sich genommen hatte.

Kirchner winkte ihm zum Zeichen, dass er ihn bemerkt habe, verließ die Küche ins Treppenhaus und bog nach links ab zur Haustür auf der Seeseite. Der Windzug beim Öffnen hätte ihm die Tür um ein Haar vor den Kopf geschlagen.

»Aufgepasst!«, rief Didier, »hier kommt der Weihnachtsmann!«

Dann stand er schon prustend, die Stiefel bis zu den Waden weiß vom Schnee, in Kirchners Flur und lud seine Post ab.

»Wie geht’s, Didier?«, fragte Kirchner.

»Wie geht’s dir, Antoine?«, fragte Didier. »Ich war schließlich nicht in Afghanistan. Aber wahrscheinlich haben wir hier gerade mehr Schnee als die Kollegen am Hindukusch, wie?«

Kirchner lachte und fragte Didier, ob er einen Schluck Kaffee haben wolle. »Oder was anderes? Weißt du, ich hatte gestern Bouchot hier, der hat neuen Calvados mitgebracht. Also, ich meine, keinen neuen, sondern einen zwanzigjährigen …«

»Einen zwanzigjährigen?« Didier klappte die Unterlippe um zum Zeichen, dass er beeindruckt sei. »Also weißt du, Antoine, ich wollte ja gerade ›Kaffee‹ sagen, aber bei einem zwanzigjährigen – da tut’s mir leid, den muss ich leider annehmen.«

Kirchner holte zwei Schnapsgläser und trug die Flasche unter den Arm geklemmt, er entkorkte sie, und beide Männer schnupperten.

»Mein lieber Mann«, sagte Didier und nahm Haltung an, »ich trinke auf die Nachsicht unserer Verkehrspolizei.« Dann kippte er sich den Apfelbrand, den ihm Kirchner hinhielt, mit einer schnellen Kopfbewegung in den Rachen. »Wunderbar«, sagte er, »das fühlt sich ungefähr genauso an wie meine Hochzeitsnacht, die war auch vor zwanzig Jahren.«

Didier lachte rau über seinen eigenen Witz, kam dann zum Geschäftlichen und informierte Kirchner, welche seiner Abonnements fehlten.

»Hängt alles fest in Caen«, sagte der Postbote, »die Küste ist verschneit bis hinauf nach Cherbourg, die Züge fahren nicht, das wird jetzt alles eine Zeit lang dauern. Aber schau, Antoine, ein bisschen was hab ich ja trotzdem für dich.« Und mit diesen Worten übergab er Kirchner einen Packen Papier, es waren die stets um Tage verspäteten Regionalzeitungen.

»Das ist doch schon mal etwas«, sagte Kirchner, und er dachte bei sich, so komme ich einmal wieder zu meiner eigenen, kleinen Tour de France.

Keine zehn Minuten später, als Didier gegangen und Kirchner wieder allein war, mit dem Kaffee in der Hand über die Zeitungen gebeugt, wusste der Reporter, dass sein ruhiges Wochenende, kaum dass es begonnen hatte, schon wieder vorbei war.

2

Der Aufmacher der kleinen Zeitung Le Savoyard libre schreckte Kirchner auf. Das Blatt mit Sitz in Albertville berichtete über einen aufsehenerregenden Frauenmord im kleinen Skiort Chanterelle, der trotz seiner Brutalität den Sprung in die nationalen Nachrichten nicht geschafft hatte. Jedenfalls hatte Kirchner nichts davon mitbekommen, und das allein kam ihm merkwürdig vor. Denn dem Täter hatte es gefallen, die geschändete Leiche einer Frau an einem Sessellift aufzuknüpfen, wo sie – zum Entsetzen der aus Lyon und Paris zahlreich angereisten Skiurlauber – bei Liftstart am Morgen des Nikolaustages über den Dächern von Chanterelle eine Weile herumgefahren war.

Dass dieser Horror es nicht in die Zwanzig-Uhr-Nachrichten geschafft hatte, zumal Kirchner sicher war, auf YouTube und sonst im Netz verwackelte Filme zum Vorfall leicht zu finden, weckte seinen Reporterinstinkt. Der Fall selbst schien ihm so spektakulär, dass seine Nacherzählung allein eine Reise in die Alpen gelohnt hätte.

Und dann war da noch etwas, was er mit Chanterelle verband, aber er kam nicht darauf. Chanterelle, dachte Kirchner, was war in Chanterelle? Warum kenne ich den Namen? Woher kenne ich dieses Dorf? Chanterelle …

Kirchner las atemlos, was Julien Gaillard, ein Lokalreporter, auf die Schnelle zusammengeschustert hatte. Kirchners Ausgabe des Savoyard libre war die vom 7. Dezember, dem Montag der laufenden Woche, die Zeitung hatte fünf Tage bis zu ihm in die Normandie gebraucht. Die dunklen Ereignisse, über die sie berichtete, waren sechs Tage her. Der Artikel, den er vor sich hatte, war mithin der allererste, der frische Bericht über die Vorfälle, hektisch zusammengetragen von der Lokalredaktion von einem Tag auf den anderen. Am Stil des Geschriebenen meinte Kirchner ablesen zu können, dass dieser Gaillard ein junger Kollege war. Es steckte in und zwischen den Zeilen viel erzählerisches Feuer, das sich vor allem in viel zu vielen Adjektiven niederschlug.

Die Fakten, die der Bericht enthielt, waren diese: Am Sonntag, dem 6. Dezember, begann der Liftbetrieb im Skigebiet von Chanterelle wie immer um neun Uhr am Morgen. Es war ein klarer, sonniger Tag, und die Skischulen versammelten sich um diese Stunde wie üblich an der Gemsen-Hütte. Sie lag inmitten der Piste, unterhalb der Hauptstraße, zentral im Dorf und zugleich in der Nähe der Talstationen von drei großen Skiliften. Einer von ihnen, der Sessellift hinauf zum Mont Bisanne, hatte seinen Einstieg am tiefsten Punkt der Senke von Chanterelle und führte in gerader Linie malerisch über das halbe Dorf hinweg zum Gipfel. Seine Sesselreihen glitten vorbei am Turm der kleinen Kirche namens Nôtre Dame de l’Assomption, fuhren in vielleicht zehn Metern Höhe über die verschneiten Dächer von Chanterelle, ließen die Gemsen-Hütte unter sich liegen, schwebten über die Hauptstraße, um dann auf steilem Weg hinauf in die Wälder bald aus dem Blick zu geraten.

Um ziemlich genau zehn Minuten nach neun Uhr wurde an jenem Sonntag vor einer Woche allerdings offenbar, dass der Sessellift zum Mont Bisanne eine seltsame Fracht vom Berg zum Tale trug. Ein paar Skiläufer mochten es zuerst sehen, die Skilehrer den Schrecken zuerst erfassen. Aber erst als die Leiche in nur zehn Metern Höhe über den zweihundert, dreihundert Köpfen der an der Gemsen-Hütte versammelten Skischüler dahinfuhr, wurde ein großes, allgemeines Geschrei laut, und bald wusste das ganze Dorf, dass sich in seiner Mitte ganz Grauenhaftes ereignet hatte.

Wie die Leiche, mit Nylongurten ans Gestänge einer Sesselreihe geschnürt, dorthin gekommen war, darüber konnte der Savoyard libre nur spekulieren. Ausgeschlossen schien, dass der leblose Körper in der Bergstation auf dem Mont Bisanne an den Lift gebunden worden war. Dort oben auf dem Gipfel arbeiteten die Liftwärter am Morgen zu viert, und dass sich vier Männer zu einer solch monströsen Abscheulichkeit verabreden, schien ausgeschlossen.

Kirchner pflichtete dieser Mutmaßung im Stillen bei.

An der Talstation konnte die Leiche ebenfalls nicht an den Lift gekommen sein, weil die Leiche nicht von unten nach oben unterwegs gewesen war, sondern mit einer Sesselreihe vom Berg heruntergekommen und dann sogleich bemerkt worden war.

Blieb also nur die Möglichkeit, dass derjenige, der den Frauenkörper angegurtet hatte, irgendwo auf freier Strecke, in den Wäldern oben, einen der Liftmasten erklettert haben musste, in der Nacht oder am frühen Morgen, aber auch diese Theorie schien fragwürdig. Es hätte, schrieb der Savoyard libre, enormer Kräfte und großer Geschicklichkeit bedurft, die schmalen Steigen der Masten mit einer so schweren Last, wie es ein toter Mensch war, zu meistern. Und doch: Es konnte anders eigentlich nicht gewesen sein.

Der Artikel, der die halbe Seite eins der Zeitung füllte, enthielt ansonsten keine Fakten mehr. Ein beigestelltes Foto war dunkel und verwackelt, als hätten sich die Redakteure aus Gründen der Pietät nicht getraut, ein helles, scharfes Bild zu zeigen. Zitiert wurde noch ein Dorfpolizist namens Olivier Falsone, der großspurig zu Protokoll gab, dass sich die Polizei der Sache annehme, im vollsten Bewusstsein, dass die Weihnachts- und winterliche Hochsaison gerade beginne. Zitiert wurden Passanten, die sich geschockt zeigten, fassungslose Ladenbesitzer äußerten sich, und ein Skilehrer sagte, worüber Kirchner fast lachen musste, dass sich so etwas Ungeheuerliches in Chanterelle wirklich noch nie ereignet habe. Der Artikel endete im Wolkigen. Es war ein erster journalistischer Schuss. Besser gemacht, als es Kirchner dem Savoyard libre zugetraut hätte, die Arbeit wirkte jedenfalls sauber.

Chanterelle, dachte Kirchner, wo über den Köpfen die Leichen herumfahren … Woher kenne ich dich?

Er stand auf, um sich noch einmal Kaffee nachzuschenken, aber die Kanne war leer. Er ging ein paar Schritte, einmal herum um die lange Tafel mit dem Herd in der Mitte, die den schönen hellen Raum parallel zur Küchenzeile mit der Spüle durchschnitt. Er schaltete gedankenlos die größte Flamme seiner Gasfeuerstelle an und aus, er langte hinauf zu einem Schaumsieb, hob es herunter und klopfte damit sinnlos einen Takt auf die Arbeitsplatte. Dann setzte er sich wieder an den Computer und klinkte sich, nach einer kurzen Google-Suche, auf die Seite des Savoyard libre ein.

Die kleine Zeitung verlangte Geld für den digitalen Zugang, selbst für ihre Abonnenten, also erhob sich Kirchner fluchend noch einmal und ging zur Garderobe hinaus in den Flur, um aus dem Mantel seinen Geldbeutel mit der Kreditkarte zu holen. Er gab die Zahlenreihen in ein Formular ein, klickte in das Feld »Ich abonniere« – aber nichts geschah.

»Hallo!?«, sagte Kirchner scharf vor sich hin. »Niemand zu Hause?«

Er wiederholte die Prozedur. Sie schlug fehl. Dreimal ging das so. Viermal. Dann rief er die Zentrale in Paris an.

»Le Monde, was kann ich für Sie tun?«

Kirchner hörte die blasierte Stimme eines Portiers und stellte sich den Glasbau im Pariser Süden vor, im 13. Arrondissement, an dessen Fassade die ziemlich lächerliche Friedenstaube des Karikaturisten Plantu prangte.

»Kirchner hier, ich bräuchte bitte den Chef vom Dienst.«

»Wer ist da bitte, Monsieur?«

»Kirchner«, sagte Kirchner, »aus der Normandie. Ich arbeite im Haus.«

»Ah, Monsieur Kirchner, ich bitte um Entschuldigung, vielmals. Ich verbinde.«

Nach einigem Knacken hatte Kirchner Veronique Lessive am Apparat, die stellvertretende Chefin vom Dienst, eine rothaarige Kettenraucherin, die in der Regel grünen Lidschatten und Lederwesten über Seidenblusen trug. Sie hatte die Wochenendschicht, vor sich die undankbare Doppelausgabe Sonntag/Montag, war aber trotzdem guter Laune.

»Veronique«, sagte Kirchner, »ich weiß, es ist Samstag und du hast sicher viel zu tun, aber gib mir doch bitte mal einen Praktikanten, der etwas für mich heraussuchen kann.«

»Antoine«, sagte Veronique, wobei sie den zweiten Teil seines Namens dehnte und ihre schöne Stimme dabei höher klettern ließ, »wir haben ja ewig nicht voneinander gehört! Wie geht es dir?«

»Gut, gut«, sagte Kirchner, er war zu einer Plauderei eigentlich nicht aufgelegt, konnte sie aber auch schlecht einfach abschneiden.

»Du rufst bestimmt an, um eine Reportage über das normannische Schneechaos anzubieten, nicht wahr?«, fragte Veronique Lessive spöttisch. »Komm schon, das wär’s doch: Antoine Kirchner übers Wetter, das geb ich als Eilmeldung an die Agenturen, mein Lieber!«