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Im frühen Kindesalter unter Androhung schwerster Strafen vom Adoptivvater vergewaltigt und als Sexsklavin an andere Pädophile verkauft, von der Mutter nicht geliebt, beiseite geschoben und verprügelt, entwickelte sich bei der Autorin im Laufe ihres Lebens eine multiple Persönlichkeitsstörung, die ihr Leben immer wieder an Abgründe brachte und sie folgenschwere Entscheidungen treffen ließ. Die Geschichte von Terry Maria Balthasar steht für die Geschichten von vielen Betroffenen und soll als Sprachrohr dienen für diejenigen, die ihr Schweigen (noch) nicht brechen können. Kinderprostitution und Kinderpornographie gehören fast in die Alltäglichkeit unserer Schlagzeilen. Hier wird ein Einblick in die Tragweite einer solchen Nachricht gewährt. Im Schutz des Rudels ist ein Buch für alle, die nicht mit geschlossenen Augen durch die Gesellschaft gehen wollen.
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Seitenzahl: 579
Terry Balthasar
Terry Balthasar – Im Schutz des Rudels
ISBN 978-3-940868-50-3
© copyright 2009 Terry Balthasar
© copyright 2010 Hierophant-Verlag
© Coverillustration: Terry Balthasar
© Cover: Torsten Peters
1. Auflage 2010
Hierophant-Verlag
Im Bollerts 4 - 64646 Heppenheim
http://www.hierophant-verlag.de
Alle Rechte, auch der fotomechanischen Vervielfältigung und des auszugsweisen Abdrucks, vorbehalten.
Terry Balthasar – Im Schutz des Rudels
ISBN 978-3-944163-71-0
© copyright 2009 Terry Balthasar
© copyright 2010 Hierophant-Verlag
© Coverillustration: Terry Balthasar
© Cover: Torsten Peters
1.Digitale Auflage Juni 2013
Hierophant-Verlag
Im Bollerts 4 - 64646 Heppenheim
http://www.hierophant-verlag.de
allen
Mädchen und Jungen,
Frauen und Männern,
die Gewalt erleiden mussten.
Steht auf,
geht
hoch erhobenen Hauptes
ins Leben.
Seid stolz
auf die Person,
die ihr trotz allem
geworden seid,
auf die Anmut,
die neben allen Schatten,
in euren Seelen
strahlt.
Dieses Buch entstand auf dem Weg meiner Heilung, sozusagen als Nebenprodukt der Schritte, die ich ging. Freunde, denen ich Einblick gewährte, ermutigten mich, auch anderen die Möglichkeit zu geben, daran teilzunehmen und daraus Hoffnung zu schöpfen. In dieser Entwicklung traf ich auf Menschen, die mir ihr Verstehen, ihre Unterstützung, ihre Nähe und ihre Liebe schenkten.
Gabriele Balthasar, Du hast mich auf alle nur erdenkliche Weise unterstützt, mich gar versorgt, wenn ich es nicht konnte. In der Gegenwart Deiner Liebe, Weisheit und Kraft bin ich unverfälscht in allen Facetten meines Seins. Buhay ko, ich liebe Dich!
Bettina und Torsten Peters, vom ersten Tag an haben Sie dieses Buchprojekt liebevoll unterstützt, es im Hierophant-Verlag aufgenommen, daran geglaubt auch als ich Zweifel hatte. Sie gehen mit mir das Wagnis ein, dieses Buch Lesern zugänglich zu machen und legen Zeugnis ab wider den respektlosen Umgang unserer Gesellschaft mit Opfern sexualisierter Gewalt.
Andrea Tillack, mit Dir lotete ich die Untiefen meines Herzens aus. Du hast mit mir meine Trauer ausgestanden und hast mich gehalten. Dein Humor, Deine heilenden Töne und Deine Nähe zu meinen Innenpersonen haben mir geholfen, die Frau wiederzufinden, die ich bin und immer mehr sein werde.
Frank Tippelt, Du bist mir als unerwartetes Geschenk, bei der Überarbeitung dieses Buches, zuteil geworden und bist der erste Mann, mit dem ich diese Inhalte detailliert besprach. Als liebevoller Familienvater und einfühlsamer Mann hast Du mir neue Zugänge zu einer umfassenderen Erfahrung der männlichen Energie geöffnet.
Ursula Klär-Beinker, Sie sind nicht zurückgewichen, als ich von meinen Traumata sprach, haben sich vorgebeugt und meine Hand genommen, haben mit mir meine Ängste, meine Wut, meine Tränen ausgehalten. Sie haben mir geholfen, in meinen Körper zurückzufinden und in ihm zu bleiben. Sie wussten um meine Kraft und Kreativität und haben mich gelehrt, dass Heilung auch für mich möglich ist.
Befreundete Familien, Ihr lebt so selbstverständlich jene Werte, nach denen ich mich in meiner Kindheit sehnte und von denen ich fast glaubte, sie existierten nicht. Bei allen Konflikten seid Ihr direkt und offen, Eure Kinder genießen höchste Priorität, Ihr strahlt Sicherheit, Wärme und Geborgenheit aus.
Kai, Carsten, Michael, Heiko, Thomas und Thomas, Ihr seid gestandene Männer, kraftvoll und doch voller Sanftmut und Wärme. Eure Freundschaft bewirkt Heil in mir und verweist auf ein neues Menschsein jenseits geschlechtlicher Unterschiede, verweist auf die Integration von Anima und Animus in unserer je eigenen Person.
Meine Onkel und Tanten, meine Cousine und meine Cousins, Ihr seid mir Familie, die mir trotz allem blieb. Ich liebe Euch.
AnNa und Peter von Rosenstolz, Eure Musik und Eure Texte haben mich in Verbindung mit meinen Gefühlen gebracht.
All jene, zu denen ich keinen Kontakt mehr habe, mit denen ich im Laufe meines Lebens Seinsverbindungen fühlte, die mir halfen zu überleben und mich bewusst oder unbewusst auf meinem Weg begleiteten:
Meine Grundschullehrerin Fr. K., Anita, Walter, Johanna-Regina, Remberta, Erlinda, Heike und Cornelia F.
Ende der achtziger Jahre kam ich erstmals durch meinen Beruf als Ärztin in persönlichen Kontakt mit erwachsenen Opfern von sexualisierter Gewalt in der Kindheit. Meine Reaktion damals war zunächst ungläubiges Entsetzen, nicht fassen und nicht glauben können, was erwachsene Menschen Kindern antun. Heute und rückblickend sehe ich meine erste Reaktion als eine typische Reaktion all derer an, die zwar über Medien und eventuell Fachliteratur von diesen Gewalthandlungen an Kindern wissen, es aber gefühlsmäßig nicht nachvollziehen können. Im Laufe der Jahre begriff ich, dass die Berichte der Betroffenen, also all das was überhaupt in Worten ausgedrückt werden konnte, lediglich die Spitze eines Eisberges ist, dass das meiste und schlimmste aber keine Sprache finden kann, weil es die Opfer überwältigen würde. So bleibt für Nichtbetroffene das Leid der Opfer abstrakt und die Motive der Täter unverständlich. Dies ist die fatale Kombination aus Nicht- Verstehen und Nicht-Wahrhaben-Wollen, was diese Straftaten aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. So kann geschehen, dass quasi vor aller Augen den Schwächsten und Schutzbedürftigsten unserer Gesellschaft, den Kindern, weiter schlimmste Gewalt angetan wird. Mittlerweile geschieht es nicht mehr nur im Dunklen und Verborgenen, sondern mit Wissen und Wegsehen, aus einer emotionalen Unbeteiligtheit heraus.
Vor diesem Hintergrund ist das vorliegende Buch ein ebenso außerordentliches wie wichtiges und authentisches Dokument.
Die Autorin beschreibt ihre Geschichte in ein- und nachfühlsamen Worten, ohne falsche Schonung und mit mutiger, unsentimentaler Offenheit, um den Leser, der Leserin, Einblick zu gewähren in die dunkelsten Geheimnisse ihrer Biografie, um Betroffenen Mut und Hoffnung zu geben und Nichtbetroffenen Antworten auf ihre Fragen.
Es ist ein beunruhigendes, erschütterndes und aufrüttelndes Buch, aber vor allem ein bereicherndes Buch und es verdient Respekt und Beachtung.
Ursula Klär-Beinker,
Fachärztin für Psychosomatische Medizin
Dieses Buch erzählt über ein großes, immerfort begleitendes Thema der Menschheit: Opfer – Täter.
Diese Verstrickung erleben wir im Kleinen wie im Großen. Oft auf so grausame Weise, dass wir manches davon lieber nicht sehen, lieber nicht wahrhaben und schon gar nicht fühlen möchten. Lieber nicht fühlen! – So geht es mir beim Lesen dieses Buches.
Ich bin seit langer Zeit auf meinem Heilungsweg unterwegs und habe viele Stationen bewältigt. Dennoch fällt es nicht leicht, mich auf der Gefühlsebene auf diese traumatische Kind- und Jugendzeit einzulassen. Wie muss es Terry ergangen sein, die ihre Seele in 11 unabhängig voneinander getrennte Persönlichkeiten spalten musste, um zu überleben?
Unsere Seelen sind auf natürliche Weise heil, ganz, strahlend – kurz: göttlicher Natur. Warum also brauchen wir diese Erfahrungen? Was bringen sie uns? Jenseits des verbal Erklärbaren können wir Antworten finden, die für jeden individuell sind.
Bin ich bereit, für mich Verantwortung zu übernehmen und aus der Opferrolle auszusteigen? Bin ich mutig genug, nicht über die Aspekte hinwegzusehen, die ich vom Täter übernahm, in denen ich Täter bin? Damit beginnt meines Erachtens erst der wirkliche Heilungsweg. Diese Entscheidung, aus der tiefsten Seele getroffen, berührt alle Facetten, Zellen und Ebenen unseres Seins. Es ist ein mutiger, schmerzhafter, unbequemer und langer Prozess, der sich sehr lohnt. Nichts ist so wunderbar wie wirkliche Heilung und das Wissen darum, dass sie immer, egal aus welcher Verletzung entstanden, geschehen kann, ja, unweigerlich geschehen wird.
Heil zu werden liegt allein an und vor allem in uns. Der Weg dahin ist so einzigartig wie unser Fingerabdruck. Haben wir die Entscheidung getroffen, von unserer Vergangenheit zu gesunden, begegnen uns fast automatisch Wegbegleiter und Helfer. Auf dem Weg der Heilung ist Bereitschaft und Offenheit zunächst einmal alles, was wir benötigen.
Dieses Buch macht Mut, sich auf den Weg zu begeben. Ich finde es einzigartig in seiner Tiefe der Auseinandersetzung mit der schwer traumatisierten Vergangenheit, der Opfer- und Täterschaft und der Wanderschaft der Heilung. Terry lässt sich auf die scheinbar unlösbare Aufgabe ein: Wie kann ich mich und andere wahrhaftig lieben, wenn ich von meinen Eltern anstatt Liebe fast ausschließlich Gewalt und Erniedrigung erlebt habe? Mir fällt dazu ein Zitat aus dem Buch „Telos“, von Aurelia Louise Jones (R. Lippert Verlag, 2004, Seite122) ein: „Niemand kann euch mehr lieben, als ihr euch selbst lieben könnt. Noch könnt ihr jemals einen anderen Menschen im Sinne wahrer Liebe mehr lieben, als ihr euch selbst lieben könnt. Wann immer ihr jemanden sucht, der euch die Liebe geben soll, die ihr nicht willens seid, euch selbst zu geben, erschafft ihr Bedürftigkeit.“
Terry widmet sich dem Thema Selbstliebe und vollbringt Großes für sich im Kleinen, das wegweisend für viele Suchende ist.
Meine Hochachtung und innige Freundschaft gilt Sylvia, Magdalena, Dailing, Jessy, Mo, Nana Baket, Hanni, Killer, Phainomena, Jonathan und dem kleinen Mädchen. Ihr habt euch mir gezeigt in tiefem Schmerz und lebendiger Freude. An eurem großen Wissen, euren wunderbaren Talenten lasst ihr mich so großzügig teilhaben. Ich weiß, was das für euch bedeutet, welches Wagnis ihr eingeht. Ich danke von Herzen für euer Vertrauen und eure Freundschaft; euch allen, die ihr in Terry mehr und mehr euer Zuhause findet und eins werdet.
Möge sich die große Symphonie der Heilung und des Eins-Seins in Euch – in Dir, Terry, immer spürbarer manifestieren und in jedem, der ihr lauschen möchte.
Andrea Tillack
Der allein wandernde Wolf stimmt Geheul an, wenn er seinesgleichen sucht und sein Revier absteckt. Mit meinen Mitteln möchte ich gleiches tun. Ich möchte der Klage, die mich und viele täglich aus den Nachrichten anspringt, eine Stimme verleihen, möchte klar und deutlich ein Revier abstecken, das von unserer Gesellschaft nicht mehr negiert wird im Sinne von: Euch gibt es nicht. Doch! Es gibt uns! Mitten unter euch, auch wenn ihr lieber wegschaut!
Ich möchte den geschändeten Frauen und Männern dieser Welt ein Zeugnis ablegen: Eure Erfahrungen schmälern euch nicht, sie können das Potential einer neuen Gesellschaft werden. Sobald wir unsere Traumata verarbeiten und nicht nur wegschieben, verändern wir nicht nur uns, sondern üben Einfluss aus auf alle uns folgenden Generationen. Wir geben unsere Verletzungen nicht mehr unbewusst weiter, sondern unterbrechen den Kreislauf. Aus diesem Grund benötigen wir so dringend die Verständigung untereinander, dürfen nicht mehr schweigen, zumal nicht denen gegenüber, die unsere Erfahrungen nicht teilen.
Eine wahre Geschichte zu berichten bringt die Schwierigkeit mit sich, die Wahrheit unbeschönigt zu erzählen. Wahrheit ist oft schmerzhaft und nur schwer zu ertragen. Es ist, als ob sich uns die Worte für das Erlebte verweigern.
Menschliche Interaktion kann sehr grausam sein und jegliche Schilderung des Erfahrenen wirkt abstoßend oder gar obszön. Trotzdem wage ich den Versuch, die Sprachbarrieren zu brechen und das Unbeschreibliche in Worte zu fassen, möchte meine Gefühle und Gedanken nahe bringen, so, wie ich sie erlebe, ohne Beschönigung, ohne Tabus. Jemand sagte einmal zu mir, dass diese Form zu schreiben, eine direkte „Wichsvorlage“ für Pädophile sei. Dieser Gefahr bin ich mir bewusst. Der Umgang mit diesem Buch steht in der Verantwortung jedes einzelnen Lesers!
Über das gesamte Werk hinweg schreibe ich gnadenlos offen, in dem Urton der Brutalität, in der es geschah, ich könnte sagen: schamlos. Und ja, die Scham um diese Begebenheiten gehört zu jenen, die den Dreck um sich verbreiten: zu den Tätern.
Die erfahrene Gewalt scheint nicht zur augenscheinlichen Realität zu gehören. Wir selbst und unser soziales Umfeld weigern uns, der brutalen Wahrheit ins Auge zu schauen. Zu ungeheuerlich erscheint uns die Möglichkeit, dass körperlicher und seelischer Missbrauch in unserem direkten Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis geschieht. Die Ignoranz der Gesellschaft überträgt sich gewissermaßen auf das Opfer und es beginnt, das Geschehene vor sich selbst zu verleugnen. Gefühle stauen sich auf; es ist, als ob man platzt angesichts des Wunsches, der Welt die erfahrenen Schrecken ins Gesicht zu schreien. Dennoch: Die meisten Opfer schweigen – oft über Jahre und Jahrzehnte hinweg.
Den Mut, über den Missbrauch ihres Körpers und ihrer Seele zu sprechen, finden nur wenige Menschen. Ich halte es für dringend notwendig, die Öffentlichkeit über die Lebenswirklichkeit des missbrauchten Kindes zu informieren. Ich verstehe sehr wohl, dass „normale Menschen“ so schreckliche Geschehnisse am liebsten gar nicht wahrnehmen wollen, diese Tatsachen in die Nichtexistenz verdrängen möchten. Sogar mir selbst ergeht es nicht anders. Ich verleugne manchmal diese Realität und verbanne das Erlebte aus meinem Kopf.
Unsere Gesellschaft spricht und hört nicht gerne von Opfern und wagt sich ein Schriftsteller an die ernsthafte, detaillierte Schilderung, erntet er Naserümpfen. Zu pornographisch mutet er damit an. Um das Opfer zu verstehen, muss man sich die körperlichen Attacken, die physische und psychische Manipulation mit ihren Feinheiten vor Augen führen. Erst dann kann das Verständnis wachsen für die seelischen und körperlichen Schäden, die Betroffene oft lebenslang begleiten. Tragisch ist, dass den Kindern und Frauen, die körperliche und sexuelle Gewalt erfahren haben, indirekt auch das Wort verboten wird. Darüber redet man nicht, so etwas schreibt man nicht … Dabei geschieht es täglich tausendfach in unserem Land, und oft gerade dort, wo wir es am wenigsten vermuten.
Jeder, der die Historie verleugnet, ist dazu verflucht, sie zu wiederholen. Ganzen Völkern unterläuft dieser Fehler, um wie viel mehr, wenn es sich um die Intimsphären von Familien handelt. Zwar kann ich nur ganz allmählich einen Sinn darin erkennen, dass ich durch diese Hölle gehen musste, doch vermute ich, dass dies meine persönliche Berufung ist: unserer Gesellschaft das Grauen vor Augen zu führen, das in ihrer Mitte an der Tagesordnung ist. Ich will die Isolation der Opfer durchbrechen, will endlich eine gesellschaftliche Anerkennung erringen, will hören, dass jeder zu verstehen gibt: Ja, wir nehmen wahr, was euch geschehen ist, wir stehen auf eurer Seite und wenden uns gegen die Täter. Von einer solchen Haltung ist unsere Gesellschaft noch Lichtjahre entfernt.
Es mutet mir seltsam an, dass in Talk-Shows darüber hinweggeplätschert wird wie bei einem Kaffeekränzchen. Ich spüre jedes Mal, dass es mir die Kehle zuschnürt, wenn ich beginne, etwas von meiner Geschichte mitzuteilen. Mein Magen presst sich zusammen, als fände nur eine Erbse darin Platz; mein Herz hämmert so stark, dass ich jeden Schlag im Hals spüre; mein Mund wird trocken; Panik steigt auf; ich erlebe durch jedes Wort die Gefühle von damals wieder, als wären sie vor einer Stunde geschehen.
Manchmal drängen sich mir die Bilder der Gewaltverbrechen auf, denen ich wehrlos ausgeliefert war. Sie überfallen mich plötzlich und ohne Warnung am Arbeitsplatz, beim Staubsaugen, im Schlaf. Fieberhaft versuche ich, etwas Anderes zu denken, die innere Wirklichkeit zu verdrängen und mir nichts anmerken zu lassen. Worte schießen mir in den Kopf, die mein Adoptivvater hinrotzte: „Mach die Beine breit, na mach schon …“, oder im Park läuft ein Mann an mir vorbei, der nach Parfüm duftet, wie mein Peiniger gebrauchte: Tabac for men. Allein der Geruch bringt mich zum Würgen.
Mit diesen Worten, Bildern und Gerüchen kriechen in mir die alten Gefühle hoch, Verzweiflung befällt mich. Krampfhaft konzentriere ich mich auf meine reale Umwelt, höre laut Musik und singe mit oder verwickle mich in belanglose Gespräche mit meinen Mitmenschen, nur um zu vergessen, etwas Anderes zu denken, um der inneren Welt zu entfliehen. Ich zeige dir ein humorvolles Gesicht mit Augen voller Schalk. Aber tief drinnen bleibt das Gefühl, der normalen Welt meiner Mitmenschen fremd zu sein.
Ich habe lange geschwiegen. Nur wenigen Menschen gewährte ich Einblick in die Schmerzen, die ich erlitt und mitunter noch erleide. Jetzt, wo ich von meiner Geschichte berichte, mag es stellenweise so erscheinen, als erzähle ich in Bruchstücken, chronologisch nicht klar geordnet. Es liegt wohl daran, dass in mir immer wieder Bilder aufblitzen, die ich zeitlich nicht einordnen kann.
Bei der Überlegung, dieses Buch zu verfassen, geriet ich in eine Zwickmühle: meiner Leserschaft eine abgerundete Erzählung vorzulegen oder aber mein Leben so zu schildern, wie es eben war und ist. Ich entschied mich für die letztere Variante, die ich als ehrlicher empfand. Mal sind es Kurzfilme der Erinnerung mit Ton, dann wieder erscheinen Standbilder ohne Kommentar. Auszüge aus meinen Tagebüchern stehen kurz und prägnant neben Erzählkomplexen. Dieses Buch erscheint mir wie meine Persönlichkeit: etwas zerfleddert, aber letztendlich verständlich.
Wer jemals ein Trauma über einen längeren Zeitraum hinweg erfahren hat, der wird verstehen, was ich meine. Du hast die Wahrheit vor dir selbst und anderen verdrängt; erst später, als das Leben sich stabilisierte und eine Art Genesung möglich machte, versuchtest, du die Erlebnisse gewissermaßen „auf die Reihe“ zu bringen. Du wendest dich deinen Erfahrungen zu und stellst fest, dass in dir ein Blitzlichtgewitter von Erinnerungen herrscht, die du kaum einordnen kannst. Ich denke, dies ist einer der Gründe, weshalb wir Opfer des Missbrauchs als unwahrhaftig dargestellt werden, ganz nach dem Motto: Ihr habt eine viel zu lebhafte Fantasie. Leider ist es die Wahrheit.
Im sozialen Gefüge eines Wolfsrudels wird kein Mitglied geduldet, das die Struktur des Rudels nachhaltig stört. Unruhestifter werden ausgestoßen und müssen fortan als Einzelgänger leben. Wölfe befassen sich nicht mit Moralfragen des „armen Täters“, der ja nun allein leben muss. Für sie zählt einzig das Rudel, dessen Schutz mit allen Mitteln gewährleistet werden muss.
Das unterscheidet das Wolfsrudel von dem Prinzip, das leider oft in der menschlichen Gemeinschaft vorherrscht. Denn wir leben in einer von Männern dominierten, patriarchalischen Gesellschaft, und es soll vergessen werden: Es ist das Opfer, das leidet. Eine soziale Gemeinschaft wie die unsere kann es nicht ertragen, dass solches Unrecht direkt unter ihren Augen geschieht, sie fühlt sich hilflos wie die Opfer. Diese Machtlosigkeit zu ertragen ist schwer. Da fällt es schon leichter, sich auf die Seite der Täter zu schlagen und ihrer Behauptung, es sei niemals geschehen, Glauben zu schenken. Wie oft habe ich es selber gehört: „Du lügst, …du bildest dir das ein, …du bist selber schuld …“ Dies ist die Negation und Argumentation von Mittätern oder zumindest die von Ignoranten, die ihren kleinen Frieden brauchen.
Ich habe nun 24 Jahre meines Lebens damit verbracht, die mir geschehene Gewalt einigermaßen zu verarbeiten und meine daher rührenden Verhaltensmuster zu verstehen. Das heißt nicht, dass ich sie alle überwinden könnte. Doch immerhin wäre ich jetzt in der Lage, den Täter vor Gericht zu bringen und erniedrigende Befragungen auszuhalten und souverän Auskunft zu geben.
Eine Verurteilung der Täter ist jedoch nur möglich, wenn die Anzeige innerhalb der ersten zehn Jahre nach Vollendung des achtzehnten Lebensjahres erstattet wird. Die Statistiken hingegen zeigen deutlich, dass die betroffenen Missbrauchsopfer frühestens in der Mitte des dritten Lebensjahrzehnts in der Lage sind, ihren Heilungsprozess zu durchlaufen und eventuell zur Anzeige zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt ist die Tat in den allermeisten Fällen bereits verjährt. Genau dies nenne ich eine täterfreundliche Gesellschaft und empfinde tiefste Verachtung für diese bewusst gewollte Ignoranz der geschehenen Verbrechen. Oft bekommt das Opfer noch so einen Satz hinterher geworfen wie diesen: „Du musst dass doch irgendwann vergessen können, es ist doch auch einmal gut …“
Ist es nicht! Manchmal genügt es, in gerötete Augen zu schauen, von einem Mann angerempelt zu werden, eine Bierfahne zu riechen, eine kurze Berührung, Weihnachtsmusik, … eine banale Kleinigkeit eben – und plötzlich ist alles wieder da.
Alle Sinne, die des Hörens, Sehens, Schmeckens, Riechens, Tastens, haben Erinnerungen gespeichert, Vergessen ist unmöglich.
Immer wieder begegne ich der Frage, ob die Vergewaltigung von vor 20 Jahren für das Opfer heute noch von Bedeutung ist. Jenen, die diese Frage stellen, wünsche ich, zwei Minuten meiner Wirklichkeit zu erleben – den Moment, in dem ich „ausraste“, schweißgebadet mit einem Schrei auf den Lippen erwache; plötzlich, mitten am Tage, im klaren Wachzustand, beginne, die Türen und Fenster meiner Wohnung zu verrammeln, sein Gesicht mich in der U-Bahn anglotzt – obwohl er ganz bestimmt nicht da ist, sein Teil in meinem Schlund steckt – ich würgen muss mit dem Gefühl zu ersticken – obwohl ich gerade in der Kneipe sitze, einen Milchkaffee schlürfe und meine Freunde lachen, weil sie denken, ich hätte mich verschluckt. Hat all das noch Relevanz nach mehr als 20 Jahren?
Mein Urteil lautet: lebenslänglich. Tag für Tag kämpfe ich gegen die Folgen an und bejubele jede noch so kleine überwundene Verhaltensstörung. Ich wachse daran und bin froh und dankbar darüber, mich meinen Herausforderungen stellen zu können. Leider hat nicht jedes Opfer die Kraft und die nötige Hilfe hierfür.
Alles, was ich hier niedergeschrieben habe, entstammt meiner persönlichen Erfahrung und meiner Betrachtungsweise. Das ist zugegebenermaßen subjektiv. Die Frage der Objektivität bleibt offen, denn wir benötigen immer ein Subjekt (einen Menschen), um ein Objekt (eine Sache oder Wirklichkeit) zu betrachten. Es entsteht eine Dialektik zwischen der tatsächlichen Erfahrung und dem Hintergrund der allgemeinen Erfahrung der Opfer, der, wenn auch klischeehaft in einem gleichem Ergebnis mündet. Beide Sichtweisen verschmelzen ineinander, sind damit sowohl subjektiv als auch objektiv. Ich denke, hierin liegt ein weiterer Grund, weshalb Opfer als unglaubwürdig hingestellt werden und sich nur zu oft sagen lassen müssen, es seien alles boshafte Unterstellungen. Wahrheit findet sich zwischen beiden: sowohl in subjektiven Gefühlen, die die erfahrene Gewalt widerspiegeln, als auch in objektiven äußerlichen Erscheinungen, und Symptomen, wie zum Beispiel Verhaltensstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen, Narben, Dissoziation1 und anderen.
Meine Geschichte mag schockieren oder betroffen machen. Auf jeden Fall möchte ich dich zum Nachdenken über deine eigene Geschichte und die Geschichte derer, die dein Leben berühren, anregen. Ich bin überzeugt davon, dass wir alle Kontakt zu missbrauchten Kindern haben. Sei dies in unserer eigenen Familie, zu Mitschülern unserer Kinder, zu Nachbarn oder Bekannten. Denke immer daran, dass die Opfer meist schweigen: aus Scham und aus Furcht.
Wo immer du eine Intuition hast, ist diese oft nicht so absurd, wie du vielleicht annimmst. Gemeinsam haben wir die Verantwortung einzugreifen, junges Leben zu schützen um jeden Preis. Mein leiblicher Vater fragte mich einmal: „Als du 13 Jahre alt warst, da war doch was mit dir, hat dein Adoptivvater dir was angetan?“ Seine Frage kam Jahrzehnte zu spät.
Mögen unsere gemeinsamen Überlegungen dazu führen, dass Menschen in unserem Umfeld vor solchen Erfahrungen bewahrt bleiben, und mögen wir daraus lernen, mit unserer eigenen Geschichte des Missbrauchs zu leben.
Glaube mir, du bist nicht allein. Viele Menschen durchleben die immer wiederkehrenden Gedanken an früheren Missbrauch, genau wie du. Wir können unsere Traumata nicht ungeschehen machen, niemand kann wiedergutmachen, was an uns geschehen ist. Unsere Rachegelüste werden wir wohl niemals zu stillen in der Lage sein. Dies wäre auch nicht der Sinn, denn hiermit würden wir uns auf das Niveau des Täters hinab begeben und seine Verhaltensweisen fortentwickeln. Dies kann und darf nicht das Ziel sein, das wir verfolgen. Vielmehr sollten wir unsere Kräfte bündeln, unsere Verbundenheit untereinander ausbauen, uns in unserer Verletzlichkeit und Schwäche gegenseitig stützen, bis sie zur Kraft wird, die unsere Gesellschaft zwingt, unsere Anwesenheit nicht mehr zu verleugnen.
Projekte, die Heilung fördern, müssen unterstützt werden. Doch selbst die ersten Anlaufstellen, wie beispielsweise Mädchenhäuser werden geschlossen, weil angeblich das Geld fehlt. Ich denke, das Geld ist nicht das Problem. Unser Staat hat einen gesunden Haushalt, es ist eine Frage der Gewichtung. Was ist letztlich wichtiger: neue Straßen zu bauen, Abwrackprämien zu zahlen, die Diäten zu erhöhen oder Kindern die Möglichkeit zu geben einen Ort zu finden, der ihnen Zuflucht bietet?
Meine Krankenkasse zahlt mir einhundert Stunden Therapie und ich bin sehr dankbar hierfür. Doch sage mir: Was sind hundert Stunden, um die Erfahrung von 18 Jahren Gewalt und Missbrauch aufzuarbeiten? Es reicht nicht aus.
Heute bin ich 42 Jahre alt und kämpfe noch immer um Heilung. Mit 19 Jahren habe ich damit begonnen, es gab viele Fortschritte und viele Rückfälle. Alles, was ich mir wünsche, ist zu leben, voll und ohne Einschränkung. Doch bis jetzt überlebe ich nur.
Ich kämpfe an gegen physische und psychische Symptome. Sie umfassen ein riesiges Spektrum. Meine Symptome reichen von Schlafstörungen über Ernährungsstörungen, Erstickungsanfällen, Amnesien, Gefühllosigkeit, Schmerzunempfindlichkeit, Fremdheitsgefühle, innerer Leere, Lähmungen, Lethargie, Hörigkeit, kindliches Verhalten bis hin zu selbstzerstörerischen Handlungen. Ich habe den Eindruck, diese Liste könnte ich mühelos verlängern …
Heilung hingegen wird mir nur in kleinen dosierten Fragmenten zuteil. Ich aber will sie umfassend, in jeder Faser meines Lebens. Ich will Erlösung von diesem ungeheuren Schmerz, den ich nicht einmal spüren kann, weil ich ihn komplett von mir abspalte. Genesung ist möglich, davon bin ich überzeugt, jedoch rechne ich damit, dass eine, wie ich es nenne, Immunschwäche bleibt. Ich suche nach Heilung, heil werden in einem umfassenden Sinn: in der Beziehung zu mir selbst, zu meinem Körper, zu meiner Seele, in zwischenmenschlichen Beziehungen, ja auch Heilung meiner Spiritualität. Ich habe immer wieder das Gefühl, dass der Missbrauch mich geradezu von der göttlichen Energie trennt, weil mein grundsätzliches Misstrauen jeden Gedanken an Vertrauen zerstört. Ohne ein grundsätzliches Vertrauen in die göttliche Energie aber erscheint mir Heilung nicht möglich. Ja, ich glaube sogar, dass diese letzten Endes ein Geschenk ist. Alles, was ich unternehme, um meine Gesundung zu fördern, ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Im Grunde ist es Dialektik: Ich kämpfe darum und weiß doch, es ist ein Geschenk; ohne mein Ringen um Heil könnte ich den Boden nicht bereiten, auf dem das Geschenk der Gesundung möglich wird.
Wer jemals Kinder missbraucht hat, der muss zur Rechenschaft gezogen werden. Das muss von der Gesellschaft als moralische Richtschnur anerkannt werden, um zukünftige Gewaltverbrechen an Kindern, Jugendlichen und Frauen möglichst auszuschließen. Wir haben erfahren, was es bedeutet, ein Opfer zu sein. Wir sind die Einzigen, die unsere Gesellschaft dahingehend sensibilisieren können, diese Straftaten wahrzunehmen und gesetzlich schärfer zu verfolgen.
Richtig ist, dass viele Täter auch Opfer waren. Die Statistiken geben Zahlen bekannt, die diese Wahrheit eindeutig belegen. Dennoch wird ein Opfer nicht notwendigerweise zum Täter. Was war zuerst: die Henne oder das Ei? Der rechte Ansatz kann nicht in der Auflösung dieser Frage bestehen. Es ist eine Milchmädchenrechnung zu behaupten, dass jemand schuldunfähig wird durch die Gewalt, die er selbst erfahren musste. Dass wäre ja ein Freifahrtschein für mich persönlich, alle Männer zu ermorden oder sie zu quälen, bis sie um meine Verzeihung winseln. Die Wahrheit ist, dass ich zu jedem Zeitpunkt meines Lebens sehr wohl wusste, was richtig und was falsch ist. Und Gewalt ist niemals gerecht.
Ebenso halte ich es für einen Trugschluss zu behaupten, dass der Einfluss von Alkohol die Schuldfähigkeit mindert. Im Gegenteil, gerade dann sollte sie verschärft werden. Die Ausrede: „Entschuldige, denn ich wusste nicht, was ich tat“, habe ich zur Genüge von meinem Adoptivvater gehört. Wie kann er sich für etwas entschuldigen, was er nicht zu wissen vorgibt? Er war sehr wohl in der Lage, seine innere Stimme wahrzunehmen und eindeutig zu bemerken, dass seine Taten himmelschreiendes Unrecht waren. Und selbst wenn er betrunken war: Etwas muss er bemerkt haben, sonst hätte er sich nicht entschuldigt. Seine Konsequenz hätte dann völliger Alkoholverzicht sein müssen, damit das nicht wieder passiert. Doch er zog es vor, nach den Gesetzen seiner Triebbefriedigung zu leben anstatt nach den moralischen Gesetzen, die jeder Mensch in sich angelegt findet.
Von Wölfen und ihren naturgegebenen Instinkten können wir als Gesellschaft viel lernen. Gerade in Bezug zu ihrem Rudel und ihren Jungen haben sie im Laufe der Jahrtausende ein Verhalten entwickelt, dem menschliche Kommunen noch einiges abgewinnen können. Alle an einem Rudel Beteiligten sorgen füreinander, insbesondere für die Schutzbedürftigen. An der Aufzucht der Jungen sind ebenso alle beteiligt, Onkel, Tanten und ältere Geschwister lehren die Jungen, zeigen ihnen Grenzen auf und spielen mit ihnen. Vorhandene Konflikte werden offen ausgetragen, und zwar in dem Moment, in dem sie bewältigt werden müssen, sozusagen ohne Verzögerung und Aufschub. Vor allem aber folgen sie ihrer inneren Stimme, ihrem Instinkt, und handeln indes oft menschlicher als der Mensch.
Die öffentliche Meinung scheut sich nicht, uns dazu aufzufordern, Mitleid mit den Tätern zu haben und ihnen ihre Vergehen zu verzeihen. Welch lästernder Hohn!
Und was tun wir? Wir nehmen uns derartige Aufforderungen auch noch zu Herzen und handeln womöglich danach. Schließlich wurden wir von unserem Peiniger ausgiebig abgerichtet, jeder Form von Autorität mit Gehorsam und Unterwürfigkeit zu begegnen. Genau dies aber bedeutet, in der Opferrolle zu verhaften.
Unter Todesdrohungen wurde uns das Schweigen oktroyiert, als Kind und junge Frau hat mich diese Drohung das Fürchten gelehrt. Heute aber werfe ich zurück: Deine Taten haben mich das Kämpfen gelehrt, mich zu einer Persönlichkeit geformt, die sich durch den Tod nicht mehr beeindrucken lässt, denn den Tod habe ich hinter mir gelassen. Meinen Willen brichst du nicht mehr und deiner Aufforderung zu schweigen leiste ich keine Folge mehr. Mein Schweigen hat dich mächtig gemacht. Diese Macht nehme ich dir nun!
Vergebung ist sicher eine der schwierigsten Stationen auf dem Weg der Heilung, aber sie muss in einem umfassenden Kontext erarbeitet werden und kann keine vorschnelle Lösung sein. An diesem Punkt spreche ich aus persönlicher Erfahrung. Bevor ich in der Tiefe meines Seins Vergebung schenken kann, müssen Schmerz, Wut und Trauer angeschaut und verarbeitet werden. Wut, die ich nie fühlen konnte, weil ich sie um des Überlebens willen nicht ausleben durfte, darf ich jetzt zulassen. Ich muss sie aus mir heraus schreien, sie wahrnehmen und durchleben.
Den sinnbildlichen Tod meiner Seelenanteile betrauern, bevor ich Leben neu gestalten kann. Vergebung wird für mich am Ende dieser Prozesse der Seelenarbeit stehen. Ja, Vergebung ist eines der Ziele, die ich erreichen will, um inneren Frieden zu finden und weiterzuschenken. Vergessen hingegen werde ich niemals.
Wir bilden eine große Gemeinschaft von Frauen und Männern, die durch die sinnbildliche Hölle gingen und ohne dass die Täter das wollten, haben sie uns hierdurch die Stärke geschenkt, nicht in Verletzung und Zorn stecken zu bleiben, sondern unsere machtvollen Energien dem Leben zu widmen.
Es ist eine Notwendigkeit, zukünftige Opfer zu schützen und uns in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Außerstande, die Vergangenheit zu verändern, müssen wir die Zukunft beeinflussen.
Ich möchte besonders darauf aufmerksam machen, dass ich die geschriebenen Inhalte nicht fühlen kann oder sie nur ansatzweise spüre. Meine Gefühle für den wissentlichen Bereich sind abgespalten von meiner Wahrnehmung, daher bitte ich dich, feinfühlig mit deinem eigenen Innern zu sein, während du diesen Bericht liest. Viele Aspekte meiner Geschichte sind stark traumatisiert, und ich möchte keine seelischen Erschütterungen in dir wach rufen oder erinnern. Im Zweifelsfall bitte ich dich, darum lieber nicht zu lesen.
Alle vorkommenden Namen und Orte sind geändert.
Bevor ich beginne, mein Leben zu schildern, möchte ich eine Liste der Personen voranstellen, die bisher in mir aufgetaucht sind. Ich bin ein und dieselbe Person, doch aufgrund vieler Verwundungen habe ich bereits in der frühen Kindheit begonnen, verschiedene Ebenen innerhalb meiner Identität herauszubilden, um mit all diesen belasteten Erlebnissen nach außen relativ normal zu funktionieren.
Alle diese Bewusstseinsebenen zusammen genommen nennen meine verschiedenen Persönlichkeitsanteile das „Rudel“. Es ist eine Metapher für die Persönlichkeit, die wir sind. Im Schutz des Rudels hat unsere Seele überlebt, wir alle haben dazu beigetragen, dass unser tiefster Seelenkern unverletzt geblieben ist.
Daraus ergibt sich, dass dies kein wissenschaftlich fundiertes Buch über Wölfe ist; vielmehr ist es der Versuch, meine dissoziative Persönlichkeit so darzustellen, dass verständlich wird, wie sich die vielen Traumata auf mein Leben auswirkten.
In einem Rudel Wölfe gibt es klare Hierarchien und eine Aufgabenteilung. Die einen sorgen für die Jungtiere, andere gehen jagen oder beschützen den Bau. Es gibt Einzelgänger und Kämpfer, Mütter, Rudelführer und ältere Tiere. Sie funktionieren als ein soziales Gefüge. Wölfe sind mit einem hochsensiblen Instinkt ausgestattet, anpassungsfähig erobern sie Lebensräume, in denen man sie nicht vermuten würde. Sie sind spielerisch und immer loyal zu ihrem Rudel, das sie mit beinahe unvergleichlichem Heroismus verteidigen.
In der Menschheitsgeschichte wird der Wolf von verschiedenen Kulturen geehrt. Die Ägypter sehen ihn als Gott des Totenreichs. Die Griechen symbolisieren ihren Kriegsgott Mars durch ihn, Indianer sehen im Rudelverhalten ihre Stammesgesetze gespiegelt und verehren ihn als Schutzgeist der Jagd. Die Wölfin in der römischen Sage um Romulus und Remus versinnbildlicht die nährende und schützende Mutter, in der Antike steht der Wolf für Aufopferung, Stärke und ehrenhaften Tod. Er ist geachtet als der perfekte Krieger und Jäger. Durch die schweren Winter und die daraus resultierende Hungersnot um 1250 kommt es vereinzelt zu Angriffen des Wolfs auf Menschen. Etwa um diese Zeit herum beginnt die uns allen bekannte Sage um den „bösen“ Wolf, die jedoch inzwischen durch intensive Studien eindeutig widerlegt wurde. Heute sehen wir den Wolf eher als ein Symbol für Freiheit und Selbstbestimmtheit.
Ich sehe den Wolf und sein Rudel als ein Symbol für uns selbst, denn unsere inneren Personen waren das einzige Konstrukt, auf welches wir uns im Verlauf unseres Lebens immer uneingeschränkt verlassen konnten. Nur als Gesamtes waren wir funktionstüchtig. Wir assoziieren mit dem Wolfsrudel folgende Eigenschaften, die wir zum Teil bereits in uns integriert haben und auf welche wir noch weiterhin wachsen wollen: Der Wolf ist stets loyal zu seinem Rudel, beziehungsorientiert, mütterlich nährend, misstrauisch gegenüber allem, was ihm fremd ist, kundschaftet seine Feinde aus, ist kämpfend, Zähne fletschend, wachsam und konzentriert. Geheul anstimmend, das durch Mark und Bein geht, Geheul, das fürchten lehrt, Geheul, das Wildheit und Unbezähmbarkeit anzeigt, das aufrüttelt und wach macht. Der Wolf ist ein Jäger, ist ruhelos wandernd, mutig, gefühlvoll, treu ausdauernd und zielstrebig.
Das Rudel beschreibt in Bezug auf meine Person ein Ganzes, welches aufgrund von körperlichen und seelischen Erschütterungen in Einzelteile splitterte. Überleben konnten wir nur, weil jeder Einzelne von uns seine Aufgaben für das gesamte Gefüge übernahm und bereit war, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unseren tiefsten Seelenkern zu verteidigen.
Wir versuchen, behutsam die verschiedenen Bewusstseinsebenen zu vereinen und eine einheitliche Identität zu finden, in der jeder um jeden weiß, in der jeder vom Rudel die vorhandenen Erinnerungen teilt.
In einem Traum vom Oktober 2007 schildert quasi mein Unterbewusstsein die Funktion meiner Innenpersonen:
„Er ist da, er sucht dich, Sylvia!“ Ich liege im Zimmer und höre ihn und ich weiß, er wird kommen. Die anderen in mir sind auch da, sie wollen mich schützen. Dann sind sie plötzlich um mich herum, schauen und lauschen, wo er ist. Ich habe solche Angst, stehe auf, erstarre mitten im Zimmer. Die anderen sind um mich herum, dann kommt er rein, starrt mich an. Ich fühle Panik, doch er sieht mich nicht. Er sieht mich nicht, weil meine Innenpersonen um mich herum sind. Sie schützen mich, ich bin da, aber er sieht mich nicht.
Der Grund, warum ein Kind Fantasiepersonen entwirft, die so real werden, dass sie eine eigene Identität werden, ist meines Erachtens der Schutz des innersten Seelenkerns. In lebensbedrohlichen Situationen übernehmen dann „andere“, die am normalen Alltag nicht teilnehmen.
Bis vor einigen Jahren haben wir gelebt wie ein Chamäleon. Wir haben uns dem jeweiligen Hintergrund so stark angepasst, dass wir vor ihm verschwunden sind: Der Papa wollte einen Sohn, dann wurden wir zu einem, die Mama ein tüchtiges Mädchen, das den Haushalt schmeißt, kein Problem; die Oma eine nette Enkelin, gut, die Tanten eine normale Nichte, auch nicht schwierig, er wollte eine Hure, die er Freunden anbieten konnte, nun denn … Um jeden Preis musste das Treiben der kleinen Familie geheim bleiben.
Dieser Lernprozess hat so früh in der Kindheit begonnen, dass der Wille der Familie zum inneren System wurde. Ich musste genau beobachten, welche Anforderungen von außen gestellt werden, um sofort darauf reagieren zu können, um möglichen Bestrafungen und bedrohlichen Situationen zu entgehen. Heute gibt es keine Bedrohung mehr, dennoch fällt es schwer, diesen Habit abzulegen. Diese früheren Überlebensmuster sind unbrauchbar geworden und doch so tief in mir verankert, dass ich oft den Eindruck gewinne, mir selbst gegenüber machtlos zu sein.
Heute bemühen wir uns, keine Gefühle, Erfahrungen oder Selbstanteile mehr abzuspalten, um zum Beispiel Schmerzen zu ertragen oder um einen sozialen Konflikt zu bewältigen. Bisher haben wir völlig selbstverständlich auf die Dissoziation zurückgegriffen. Wir erkennen, dass uns derartiges Verhalten heute hindert.
Der Prozess, in dem wir einander kennen lernen, ist oft äußerst schmerzhaft und wäre höchstwahrscheinlich ohne die Begleitung unserer Therapeutin undenkbar.
Dieses sowie die nächsten zwei Bilder entstanden im Herbst 2007 während der Reflektion über meine drei „Rudelführerinnen“.
Sylvia, sie arbeitet und organisiert, nimmt Termine wahr, geht einkaufen, versucht, das gemeinsame Leben so gut wie möglich zu ordnen, liebt heiße Rhythmen. Sie ist Raucherin, trinkt gerne Kaffee und Weinschorle.
Sie ist täterabhängig, hat panische Furcht vor Konflikten, das Wort „Nein“ war lange eine unbekannte Größe. Lehnt innere Wahrheiten oft ab und verleugnet bei Zeiten den Missbrauch, da sie ihn selbst „nur“ in zwei Fällen erfahren hat.
Dieses Skript mit den Aufzeichnungen der traumatischen Ereignisse aller Innenpersonen hat sie unter großer Anstrengung im Jahr 2006 zum ersten Mal gelesen. Bis zu diesem Zeitpunkt lehnte sie die Wahrheit der abgespaltenen Anteile fast gänzlich ab.
Sie hat Angst vor Schmerzen und Gefühlen, da sie beides in Bezug zur eigenen Person nicht wahrnehmen kann.
Sie reagiert mit autoaggressivem Verhalten wie Selbstverletzung durch stumpfe Schläge oder Bulimie, wenn sie mit traumatischen Inhalten oder mit Gefühlen konfrontiert wird. Hypersensibel für die Energiefelder Außenstehender, besitzt eine enorme Beobachtungsgabe und ist hochgradig konditioniert, auf die Ansprüche anderer zu reagieren und diese zu erfüllen. Jede Handlung entgegen diesen Anforderungen wird als Schuld empfunden.
So war sie bisher für die Bedürfnisbefriedigung ihrer Mitmenschen zuständig, lernt nun für die Bedürfnisse innerhalb des Rudels zu sorgen. Innerhalb von Beziehungen zeigt sie starke Tendenzen des Selbstzerfalls; es ist wie ein Fließen, Überfließen in den anderen, erlernt jetzt Abgrenzung und Wertschätzung des Selbst.
Sylvia hat viele täteridentifizierte Anteile, positive Eigenschaften von uns kann sie schlecht stehen lassen, hinterfragt ständig, wertet ab und bestraft sich selbst.
Ihr „Ich Erleben“ ist noch stark von außen gesteuert. Hat früher die Existenz des Rudels verleugnet, hatte dadurch bedingt oft massive Zeitverluste, ist noch heute mitunter überrascht, wenn Personenwechsel stattfinden, lernt langsam, positiv damit umzugehen
Magdalena, nicht traumatisiert, entstanden mit ca. 19 Jahren. Ihr Entstehen in mir war der konsequente Schritt einer Flucht nach vorn, weg von allem was wir kannten. Wie ein Lebensentwurf, der quasi nichts mit Männern oder Sexualität zu tun hatte, auf der Suche nach anderen Inhalten, die Sinn geben.
Sie ist die Kontemplative2, Spirituelle, Philosophische, Intellektuelle; sie versucht, unser Erleben in Sinnzusammenhänge zu setzen, sie tritt in Verbindung mit dem, was sich unseren Augen entzieht, was wir nur „mit dem Herzen erkennen können“, sie liebt die Stille, die innere Sammlung und das Schweigen, das sich versenken in Meditation, ist sehr hellfühlig, manchmal hellsichtig, nüchtern denkend, fast abstrakt, studiert gern, sehr selbstsicher, manchmal bestimmend und belehrend; sie ist der Bio-Öko-Typ in uns, lebt bevorzugt spartanisch und asketisch, liebt die Natur, fühlt sich in unserem Körper vergiftet; ihre Körperhaltung ist sehr gerade, fast steif, ist kühler, distanzierter zu ihrer Umgebung, ist irgendwie immer weit weg, in anderen Sphären, strebt nach Abstand.
Magdalena arbeitete lange in der Jugendarbeit, in der Sterbebegleitung und in sozialen Brennpunkten, fühlte sich durch den Umtrieb überfordert, wollte Karmelitin werden, fordert innere, seelische Weiterentwicklung. Sie wurde im Kloster auf Leitungsfunktionen vorbereitet, nahm an vielen persönlichkeitsbildenden Kursen teil. Der Austritt aus dem Kloster hat sie schwer verunsichert, sie trat viele Jahre völlig zurück, erobert jetzt Leben neu, hat im System große Wichtigkeit, ist unser Seinsgrund, unsere Seinsverbundenheit, unsere innere Anbindung ans Leben.
Dailing, nicht traumatisiert; sie ist zu einem recht späten Zeitpunkt im Kloster entstanden, als eine Persönlichkeit gefordert war, die sich selbstsicher nach außen artikulieren und verhalten kann. Ihren Namen gaben wir ihr erst Jahre später auf den Philippinen, da sie dort die am meisten nach außen agierende Person des Systems war, und die Menschen dort mehrfach über sie sagten, sie sei wie „a little Tyfoon“;, nun, einer dieser Taifune, die in jenem Jahr über das Land zogen, hieß Dailing.
Sie ist die Kreative, Schöpferische, schreibt, kocht bevorzugt asiatisch, spielt Gitarre, malt, gestaltet, reißt nieder, baut auf, sie ist sehr intuitiv und hellfühlig.
In den Jahren 2000 bis 2006 hat sie das Skript weitgehend allein verfasst, hat vorhandene Erinnerungen der einzelnen Personen aufgenommen und im Erzählstil wiedergegeben.
Dailing ist sehr entscheidungsfreudig, wagt Neues, hat ein Temperament wie ein Wirbelwind, sie ist das Leben, weiß um unser Innenleben, leitet gewissermaßen das Rudel, „als Rudel sind wir stark, wir bewältigen alles“. Sie hat Humor und Charme, bevorzugt klassische Musik, sorgt für die Sinne: hören, riechen, schmecken, sehen, fühlen. Besitzt eine hohe Sozialkompetenz, ist sprachbegabt, liebt Wortspiele, ist eine gute Rhetorikerin, spricht ohne zu zögern vor großen Gruppen, ist durch Autorität nicht zu beeindrucken.
Sorgt für unsere inneren Kinder, ist eine einfühlsame, exzellente Lehrerin, ist multikulturell, besitzt jedoch keinen Orientierungssinn, verliert sich in der Stadt oder beim Autofahren. Verfügt über enormen Ideenreichtum, renoviert für ihr Leben gern, hat unsere Wohnung als Wohlfühloase für alle gestaltet, ist gleichzeitig wahnsinnig faul im Haushalt, das überlässt sie gern den anderen. Zeitweise schnippisch, überkandidelt, extravagant, hochnäsig, setzt den brillanten Verstand bei Bedarf schlagfertig, verletzend ein. Ihr „Ich Erleben“ lässt sich zusammenfassen in den Worten: Hier bin ich, was kostet die Welt …
Bis Ende 2006 waren diese drei „Frontfrauen“ in ihrem Bewusstsein mitunter komplett voneinander getrennt, viele Amnesien im alltäglichem Leben waren die Folge. Inzwischen haben sie sich integriert, und die Grenze zwischen Dailing, Magdalena und Sylvia verläuft eher fließend. Alle drei sind Rudelführerinnen und mit dem Wohl des Systems befasst, sie sorgen nach innen und außen.
Nana Baket / Mutter / Heilerin, sie ist die nährende Mutter, die immer schon da war, die weise, alte Frau. Kümmert sich um die Kleinen, liest aus Kinderbüchern vor, singt Schlaflieder, spielt und lacht mit ihnen. Sie tröstet, spendet Wärme, Zuneigung, nimmt in den Arm, ist emphatisch, behütet, umsorgt, weiß Rat, ist wahnsinnig konsequent, ist integer, immer stimmig mit sich selbst, besitzt heilende Energie, die Begegnung mit ihr ist heilsam.
Sie ist eine Innenperson, die nur selten bei Sterbenden nach außen tritt, spricht offen über den Tod, tröstet Angehörige. Nana Baket ist der einende Punkt im Rudel, jeder darf bei ihr wertfrei sein.
Killer ist ein Beschützer, ihn gibt es seit unserem zehnten oder elften Lebensjahr, war immer schon erwachsen, ist älter als wir. Unsere Sicherheit ist sein Lebensinhalt; er ist eine eigenständige Persönlichkeit. Er ist in Stresssituationen vorn, tritt für das Rudel, vor allem aber für die Kleinen ein, ist ein großer Macho, kommt ungefragt und blitzschnell bei äußeren Triggern (Auslösereizen)3 hervor, schreit, brüllt rum, schlägt auf tote Gegenstände ein, ist ein potentieller Gewalttäter, reagiert massiv auf Autofahren, braucht viel körperliche Betätigung; Sport bleibt ihm aufgrund der Faulheit der anderen oft versagt. Killer bezieht viel Kraft von Nana Baket und steht Phainomena sehr nah, hat viel Verständnis für sie. Sein „Ich Erleben„ ist eine gewisse Unbesiegbarkeit. Wird seit etwa 1 ½ Jahren mehr ins Leben integriert, seine aggressives Potential wird positiv genutzt, er unterstützt Sylvia, für uns einzutreten, Konflikten standzuhalten, statt wegzulaufen.
Phainomena / Hure / Ordinäre, 16 Jahre alt, erscheint wie Killer ungefragt und unverhofft, bringt prekäre Situationen mit sich, will ständig Sex mit Männern, ist provokant und ausgekocht, sehr berechnend, sie raucht und trinkt extrem viel Alkohol sowie Unmengen Kaffee. Drängt im Kontakt mit Männern nach vorne, bekommt mit einem Augenaufschlag von ihnen, was sie will, zieht sie auf wie Spielzeugmäuse; amüsiert sich königlich, wenn sie dem Rudel peinlich ist. Sie braucht das Machtgefühl über Männer, verachtet diese zutiefst als „schwanzgesteuerte, hirnlose Wesen“. Ihr Vokabular ist ungehobelt und ihr Sprachniveau niedrig. Sie erlebte die Worte des Alten: „Die braucht das, die will das …“ als Prophezeiung, die sie zwanghaft erfüllen musste.
Phainomena verbirgt hinter ihrem äußeren Auftreten eine große Liebesbedürftigkeit und sehnt sich nach Geborgenheit.
Sie ist durch jahrelange Ausgrenzung vom Rudel extrem verletzt, hat kein Vertrauen zum Rudel, fühlt sich von uns abgelehnt, unverstanden. Langsam wächst Vertrauen und Verständnis von allen zu ihr hin, entsprechend verändert sich auch ihr Verhalten.
Sie ist entstanden als Jessy beim Skatspiel unter den Tisch zum „Spielen“ musste und nicht konnte. Sie übernahm, weil ihr Jessy unendlich leid tat, und sie es lieber selbst tragen wollte, als es dem Kind zuzumuten.
Jonathan, ca. 18 Jahre alt, sehr ruhig, spricht wenig, ist ein sehr intensiver Zuhörer, sensibel, nimmt auch minimale Nuancen wahr, will anderen helfen, war lange der große Bruder und Kumpel von Jessy und Phainomena, ist jetzt nur noch sehr selten zu spüren.
Jessy, 12 Jahre alt, täterabhängig; sie hat versucht, alles richtig zu machen, damit der „Papa“ sie lieb hat; sie ist das Mädchen aus dem LKW, wurde dort vom Alten an Fremde verkauft und schwer missbraucht; Sodomie; hasst Autofahren. Jessy ist sehr selten im Außen, das heißt, nur Menschen, denen das gesamte Rudel vertraut, können mit ihr in Kontakt treten.
Der Geruch von Männerschweiß und Sex ist für sie ein stark Panik auslösender Reiz, will ständig duschen, fühlt sich immer dreckig, Suizidgedanken und Schuldgefühle: „Ich habe nie nein gesagt …“ Jessy erleidet enorme physische und psychische Schmerzen, massivste Körper-Flashbacks4, hierbei erinnert der Körper damals erlebte Traumata in der Gegenwart, wie beispielsweise Krampfanfälle in den Schultern, Schmerzen im Unterbauch, Taubheit in den Beinen, Schmerzerleben. Sie hat panische Angst, dem Peiniger jemals wieder zu begegnen und hat schwere nächtliche Angstzustände. Braucht sehr viel Liebe und Zuwendung, ist schutzbedürftig, benötigt Sicherheit, Geborgenheit.
Mo, sein Name kommt von Moses. Er ist 10 Jahre alt, glaubt, er gehört nicht in seine Familie, schwer traumatisiert durch die Mutter, nennt sie nur „die Frau“. Sehr spielerisch veranlagt, mag Fußball spielen, setzt sich für Hanni und Jessy ein. Er ist stolz darauf, Hannis großer Bruder zu sein, liebt Amber, unsere Hündin, über alles; liebt seinen Papa, findet LKW und Gabelstapler fahren toll; ist manchmal wütend, weil die Mädchen den Papa nicht mögen und ihm auch nicht sagen, warum das so ist: „Mädchen sind blöd.“ Inzwischen weiß auch er mehr über die inneren Zusammenhänge der Haltung der Mädchen zum Papa und hat sich von ihm innerlich distanziert.
Hanni, ist 6 Jahre alt; soll nach dem „Urlaub“ in die Schule, will endlich mal in Ruhe schlafen, liebt Pferde und schwimmen über alles, beide Vorlieben wurden durch „Papas“ böses Treiben fast vernichtet, er pervertierte ihre Wünsche. Sie stellt sich selbst ohne Arme dar, weil der „Papa ihre Arme so stark festgehalten hat“. Sie glaubt, zutiefst böse zu sein, das Rudel hilft ihr, diese Überzeugung zu überwinden.
Sie wurde in Gegenwart der Mutter missbraucht und hat Angst vor „Mama“, weil die sie schlägt und verantwortlich dafür macht, dass Papa so laut ist. Sie erzählt: „Papa hat oft gesagt: Du bist dick und hässlich und du bist wie ein Junge“, und Mama sagt oft: „Du bist durchtrieben und schlecht“. Hanni hat abends Angst einzuschlafen und nicht zu hören, wenn er kommt; braucht beim Schlafengehen eine Taschenlampe, ist nachts oft verwirrt und desorientiert. Sie liebt den Opa, der ihr all die Tiere zeigt und sie mitnimmt aufs Feld. Die Oma mag sie nicht, weil die die Kätzchen ersäuft hat.
Mädchen, sie ist noch sehr klein, spricht nicht, reine Innenperson, ist eine Art Ur- oder Unterbewusstsein, dringt in Phasen zwischen Schlaf und Aufwachen an die Oberfläche; hat ein fotographisches Gedächtnis, zeigt Bilder aus ganz frühen Stadien – etwa 3 Jahre –, Bilder meist sehr detailliert; benötigt unser aller Annahme und Liebe, vermitteln von Sicherheit und Geborgenheit hat höchste Priorität.
Die Dunklen. Ich weiß, dass es in unserem System Täter gab, die nach außen aggressiv auftraten. Ich erinnere mich daran, dass ich früher auf dem Schulhof andere verprügelte, blindwütig um mich schlug, andere bewusst schlecht machte, sogar einmal eine Ratte zu Tode quälte und ein angefahrenes Kaninchen halb lebendig begrub. Ja, ich schäme mich, aber es gab sie in mir.
Während meiner Klosterzeit befasste ich mich über einen langen Zeitraum mit diesen Tätern in mir. Sie waren wie eine dunkle, undefinierbare Masse in mir, die nie ganz klar ins Bewusstsein kam; es fühlte sich an, als spielten sie Verstecken mit mir. Im Orden meditierte ich oft und viel über den Heiligen Geist, der innewohnenden Liebe Gottes im Menschen. Dann kam ein Tag, an dem ich über diesen Gottesgeist und die vorhandenen Täter in mir nachdachte. Ich ging über den Klosterflur, schaute dabei auf einen Türrahmen und in mir flutete der Gedanke: „Von jetzt an darfst du nicht einmal mehr böse denken, der Heilige Geist atmet in dir, da ist kein Raum mehr für Täter.“ Ich nahm diesen Augenblick wahr, als fiele eine große schwere Last von mir, es war ein Gefühl der Befreiung, als die dunklen Kräfte von mir gingen.
Nun, dies war eine spirituelle Erfahrung, ich habe keine Beweise dafür, doch ich kann nur über das reden, was ich in mir vorfinde.
Täterintrojekte5; sie sind keine Persönlichkeit, dennoch füge ich sie hier an, da sie zum Gesamtbild meiner Identität gehören. Hier beziehe ich unbewusst fremde Anschauungen und Motive in mein eigenes Erleben mit ein. Es fühlt sich so an, als wären diese Gedanken meine eigenen und erscheinen mir dennoch völlig fremd. Zum Beispiel fahre ich mit dem Auto an einer Gruppe Kinder vorbei und brülle urplötzlich los: „Verdammte Scheißblagen …“ Ich empfinde nicht so und es sind überdeutlich die Worte meiner eigenen Mutter, die da aus meinem Mund kommen. Oder ich gerate in einen Konflikt. In mir herrscht von jetzt auf gleich der Trieb loszuprügeln, obwohl dies in meinem Handelsspektrum nicht als Option offen steht. Dies sind Täterintrojekte, gedankliches Gut, Handlungsformen der Täter in meinem Leben, die sich tief in mein Unterbewusstes eingefressen haben. Treffe ich auf einen Auslösereiz3, können sie Macht über mich ergreifen.
Ich lebe in dem Bewusstsein, dass diese Liste meiner Personen nach meinem derzeitigen Erleben beendet ist, aber ich rechne mit x … und wenn er / sie da sein sollte, darf auch er / sie in Erscheinung treten. Ja, ich lade jeden noch abgespaltenen Seelenanteil ein: „Auch du gehörst zu mir, hast Teil an meinem Leben. Kehre zurück zu mir, denn ohne dich fehlt mir ein wesentlicher Bestandteil meines Selbst.“
Du Schatten meiner Vergangenheit,
ich werde dir begegnen
wieder und wieder gegen dich kämpfen.
Bedrängt von dir
werde ich dich
hin und wieder in die Knie zwingen.
Mit dir leben und begreifen
ich kann dir nicht entgehen,
ist Qual.
Schmerz überstehen,
Hoffnung gegen alle Verzweiflung hegen,
ist Aufgabe,
unendlich schwer.
Dir begegnen
erzeugt Wut, Hass, Aggression.
Dich verleugnen
bedeutet, unverhofft von dir eingeholt zu werden.
Bestreite ich deine Existenz,
werde ich als Person unverständlich,
meine Reaktionen und ihre Ursachen unbegreiflich.
Stehe ich zu deiner Wahrheit,
muss ich Hilflosigkeit ertragen,
Angst begegnen.
Du Schatten meiner Vergangenheit,
drängst dich in meine Gegenwart,
versuchst meine Zukunft zu vernichten.
Ich fasse Wahrheit in Worte.
Manche flüstern entrüstet:
Obszön!
Vulgär!
So ist meine erlebte Wirklichkeit.
Meine Worte zerren dich ans Licht:
Du Schatten meiner Vergangenheit,
du sollst mich nicht mehr einholen.
Ich sage dir den Kampf an!
Die Grundgesetze der Natur sind für unser Empfinden grausam: fressen und gefressen werden. In der Regel ist es jedoch so, dass ein Raubtier nie mehr Beute schlägt, als es für seine Ernährung benötigt. Ein Töten aus reiner Lust können wir nur sehr selten beobachten und kommt es doch vor, dann nur, weil der Mensch in die Natur eingegriffen hat und zum Beispiel Schafherden in ungeheuer großen Stückzahlen hält. Gerät ein Raubtier in ein derartiges „Überangebot“, verfällt es mitunter in ein Jagdfieber und schlägt Beute, die es zum Überleben nicht benötigt. In freier, unbeeinflusster Natur kommt solches Verhalten nicht vor – im Gegenteil: selbst der Prozess des Tötens ist darauf ausgelegt, möglichst effizient und schmerzlos zu sein.
Ein erlegtes Tier dient nicht nur dem Jäger, sondern einer ganzen Kette von Lebewesen als Nahrung. Interessanterweise produziert hierbei keines von ihnen Abfallprodukte, die biologisch nicht abbaubar sind. Das wiederum kann nur der Mensch.
Jäger und Gejagte sind instinktbegabte Wesen, haben indes keinen freien Willen. Gerade aus diesem Grund kommt eine Grausamkeit, die nicht dem Erhaltungstrieb entspringt, in ihrem Verhalten nicht vor.
Dem Menschen hingegen ist es möglich, seine Triebe nach Nahrung, Sexualität und anderen Bedürfnissen zu befriedigen, ohne Rücksicht auf die Schäden, die sein Handeln in anderen Beteiligten hervorrufen kann. Er ist privilegiert mit dem freien Willen, dem höchsten Gut des Menschen. Baut aber diese Wahlfreiheit des Menschen nicht auf ethischen Grundregeln auf, die in uns in Form eines „Gewissens“ verankert sind, dann kommt es mitunter zu einer Perversion der Menschlichkeit und zu Grausamkeiten, die in der Natur unvorstellbar wären.
Bevor die Wölfin gebiert, gräbt sie ein tiefes Loch, eine Wurfhöhle, in der sie ihre Jungen zur Welt bringt. In den Wochen nach der Geburt wird sie von ihrem Rudel mit Nahrung versorgt. Frühestens nach vier Wochen verlässt die Wölfin das erste Mal den Bau. Von nun an wirkt das ganze Rudel an der Aufzucht mit. Spielerisch lernen die Welpen unter dem Wohlwollen der älteren Tiere das Rudelverhalten, das Jagen, das Leben. Es ist ein filigranes soziales Gefüge, bei dem jeder Aspekt dem Wohle der Welpen dient. Leider sind die sozialen Bedingungen in der menschlichen Kommune nicht immer so gesund, dass sie zur Erziehung der Kleinen geeignet sind.
Gezeugt wurde ich vor, nach oder während der ersten Scheidung meiner leiblichen Eltern. Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Die Gedanken meiner Mutter während ihrer Schwangerschaft kann ich mir gut vorstellen: „Gerade jetzt, … ich will das Kind nicht, … unehelich …“ Solche und ähnliche Gedanken müssen sich geradezu aufgedrängt haben. Ich bin überzeugt davon, dass sich die Haltung der Mutter zu ihrem Kind auf die Selbstwahrnehmung des Kindes überträgt. Diffus wird in dieser pränatalen Phase das Selbstverständnis geprägt, nicht gewollt und unerwünscht zu sein. Mit Worten, Gesten und Handlungen wurde mir dies in den späteren Jahren der Gewalt und des Missbrauchs so lange mitgeteilt, bis ich selbst die unumstößliche Überzeugung gewann, der absolute Störfaktor meines sozialen Umfelds zu sein. In mir manifestierten sich Gedanken wie: „Du bist unerwünscht, nicht gewollt, du bist im Weg.“ Heute werfe ich zurück: Ich will mich und ich will das Tröpfchen Leben, um welches ich immer kämpfte, auskosten. Ich will leben, jede Minute in mich aufsaugen: Ja, ICH will mich!
Um den Schein der heilen Familie zu wahren, heirateten meine Eltern ein zweites Mal. Doch meine Anwesenheit genügte nicht, ihre verlorene Liebe wieder aufleben zu lassen. So reichte auch dieser weitere Anlauf nur für kurze Zeit. Sie trennten sich endgültig, als ich drei Jahre alt war. Aus diesen ersten drei Jahren bleiben mir nur Bruchstücke, welche ich hier zusammengetragen habe.
Das erste Bild, das ich aus frühester Kindheit wachrufen kann, ist entstanden in einer kleinen Mietwohnung. Eines nachts wurde ich durch die lauten Schreie meiner Mutter geweckt. Ich öffnete die Kinderzimmertür einen Spalt weit und spähte hinaus. Vater hatte am Abend zuvor mit einem Freund aus seinem Fußballverein bei uns daheim getrunken. Während ihres Trinkgelages muss es zum Streit mit meiner Mutter gekommen sein. Jedenfalls hatten die beiden Männer sie an Händen und Füßen gepackt und schwangen sie zwischen sich hin und her wie eine Schaukel. Augenblicke später begriff ich, warum sie schrie: Auf dem Höhepunkt des Schwingens schlugen sie Mutter gegen eine Kante an der Kommode, die im Flur stand. Mein Bruder fasste mich von hinten an den Schultern und zog mich zurück ins Zimmer. Er sagte nur: „Komm, lass sie.“
Ich erinnere mich daran, Mutters rechte Hüfte am nächsten Tag gesehen zu haben. Sie war mit einem riesigen Bluterguss überzogen. Wie es ihr ging, kann ich nur erahnen, ihre innere Not muss sehr groß gewesen sein. Gewalt erzeugt Angst und Hass, immer! Mit meinem leiblichen Vater habe ich nach vielen Jahren über diesen Vorfall gesprochen. Er war äußerst peinlich berührt und nannte mir Eifersucht als Grund. Mutter sei viel fremdgegangen, was auch mein fünf Jahre älterer Bruder nachdrücklich bestätigte. Dennoch bleiben Fragen offen: Was war zuerst, das Fremdgehen oder die Gewalt? Was war Ursache, was war Wirkung?
Ich kann und will dies nicht beurteilen. Doch in dieser Nacht hat sich mir das Gefühl der Hilflosigkeit eingeprägt. Körperliche Gewalt zu erleben, die schmerz- und wutverzerrten Gesichter meiner Eltern zu sehen und nichts dagegen tun zu können hat in mir Gefühle ausgelöst, die mich bis heute begleiten.
In den 1960er Jahren war es für eine Frau fast undenkbar, sich gegen häusliche Gewalt zu wehren. Die Privatsphäre der Familie war ein hoher Wert; wer darüber öffentlich sprach, wurde mit Ablehnung und Unglauben bedacht. So blieb meiner Mutter wohl wenig Anderes übrig als zu schweigen und zu leiden. Das Schweigen wiederum war der Freifahrtschein für Männer, sich ungehemmt in jeglicher Form danebenzubenehmen, ohne soziale Sanktionen befürchten zu müssen. Ich versuche oft, mir Mutters damalige Situation zu vergegenwärtigen, um zu verstehen, auf welchem Hintergrund ihre Gewalt gegen mich gewachsen ist. Ihre Hilflosigkeit und Wut suchte ein Ventil und richtete sich gegen das schwächste Glied der Kette: gegen mich. Ich war der augenscheinliche Grund, der sie nötigte, noch mit diesem Mann leben zu müssen.
Als ich später mit meiner Mutter über jene Zeit sprach, wiederholte sie mehrfach, dass sie nicht arbeiten gehen durfte, obwohl sie das gerne wollte. Ich hatte den Eindruck, sie fühlte sich wie eine Leibeigene ihres Mannes. Oder sie berichtete von den langen Wochenenden, an denen sie mit uns allein zu Hause saß, während mein Vater Fußballspielen und Saufen ging.
Einmal, so erzählte sie später, hatte sie einen Hexenschuss. Ich lag in der Wiege und brüllte, weil ich die Hose voll hatte. Sie konnte mich vor Schmerzen nicht herausheben und mein Vater war mal wieder nicht zu Hause. Sie erzählte mir wörtlich: „Ich hätte dich am liebsten verwackelt.“ Ich glaube gern, dass man in einer solchen Situation Hass auf den Mann und auf das Kind empfinden kann. Im Übrigen bin ich der festen Überzeugung, dass sie mich „verwackelt“ hat. In meinen Gefühlen war dies in dem Augenblick Fakt, als sie es erzählte.
Mein Vater schilderte mir eine andere Begebenheit. Er brachte mich eines Tages zum Töpfchen. Als er mein Hemdchen hochzog stellte er fest, dass mein ganzer Rücken über und über voll war mit Blutergüssen. Man mag sagen, es könnte eine erfundene Story von ihm sein, doch aus vielen eigenen Erfahrungen heraus, die ich später mit meiner Mutter machte, glaube ich ihm. In meiner Erinnerung ist dieses Erlebnis jedoch völlig ausgelöscht. Die Reaktion darauf war, dass er nun seinerseits meine Mutter verprügelte, eine äußerst intelligente Form der „Bestrafung“.
Es ist schon seltsam: Vater erzählt mir diese dunklen Ereignisse, um Mutter abzuwerten. Im Grunde jedoch sagt er damit, in welcher Hilflosigkeit er mich bei ihr zurückgelassen hat. Er wusste um ihre Gewalttätigkeit uns Kindern gegenüber, doch er hat nichts unternommen, um mich davor zu schützen. Er hat sie weder angezeigt noch mich dem Jugendamt übergeben, ganz zu schweigen davon, dass er selbst eingeschritten wäre. Es lief, wie es schon immer war: Der männliche Nachkomme wird geschützt. Da ist kein Neid, keine Wut gegen meinen Bruder in mir, nur diese Traurigkeit, dass mir nicht die gleiche Liebe entgegengebracht wurde wie ihm.
Im Februar 2005 besuchte ich meinen Bruder für drei Tage. Es war das erste Mal seit der Trennung, dass wir mehr als zwei Stunden zusammen waren. Bei dieser Gelegenheit erzählte er mir von einer Begebenheit, die mir bis dahin nicht bekannt war.
Ich sei damals zwei Jahre alt gewesen. Mutter hatte uns beide schwer verprügelt, wir beide lagen mit blauen Flecken übersät und weinend in unseren Betten, als unser Vater nach Hause kam. Er ging in unser Zimmer und sah uns an. Danach schloss er die Tür hinter sich und begann, Mutter zu verprügeln. Mein Bruder, inzwischen siebenjährig, bekam Panik, nahm mich an die Hand und verließ mit mir zusammen die Wohnung. Er klingelte bei einer Nachbarin und sagte ihr, dass Vater unsere Mutter verprügelte, woraufhin diese sofort die Polizei rief. Nach deren Eintreffen wurde Vater vorübergehend festgenommen. Die Polizei befragte meinen Bruder, ob unser Vater uns so zugerichtet hätte, doch er erwiderte immer nur: „Die Mama war es, die Mama war es.“