Im Schwarzwald geht der Tod um - Sonja Kindler - E-Book

Im Schwarzwald geht der Tod um E-Book

Sonja Kindler

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Beschreibung

Hauptkommissarin Ines Sandner empfindet es als Glücksfall, dass sie einen Job am Rande des Schwarzwaldes ergattert hat und mit ihrer Familie der abgasbelasteten Luft Stuttgarts entfliehen kann. Ihre Kollegen sind nett und kompetent. Alles läuft bestens, bis ihr ein Unbekannter einen Strauß weißer Lilien schickt, Blumen, die auch bald bei einem tödlichen Unfall eine Rolle spielen. Es stellt sich heraus, dass an dem Auto manipuliert wurde. Zufall? Wohl kaum. Vielmehr sieht sich die Kommissarin plötzlich mit Geschehnissen konfrontiert, die darauf hindeuten, dass ihre Familie in Gefahr ist. Irgendetwas in ihrer Vergangenheit scheint der Grund, warum sie jemand verfolgt. Dieser Jemand bestellt sie auf einen Schwarzwaldhof, der angezündet wird. Sie entkommt den Flammen, doch wie weit wird dieser Jemand noch gehen?

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Sonja Kindler

wurde 1963 in Recklinghausen geboren, wuchs aber in Blumberg, einem Ort nahe der Schweizer Grenze auf, wo sie mit ihrer Familie lebt. Sie arbeitet als Schadensanalytikerin in einem metallverarbeitenden Betrieb. Das Bücherschreiben ist ein berufsausgleichendes Hobby für sie geworden. Bücher begleiteten sie bereits ihr Leben lang, was lag da näher, als sich die Geschichten selbst auszudenken? In ihren Romanen zeigt sie glaubwürdig auf, welche Motivationen letztendlich zu einem Verbrechen führen können.

Sonja Kindler

Im Schwarzwaldgeht der Tod um

Schwarzwaldkrimi

Oertel+Spörer

Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.

© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2019

Postfach 16 42 · 72706 Reutlingen

Alle Rechte vorbehalten.

Titelbild: © Fotolia

Gestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, Reutlingen

Lektorat: Bernd Weiler

Korrektorat: Sabine Tochtermann

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-96555-059-9

Besuchen Sie unsere Homepage und informieren Sie sich über unser vielfältiges Verlagsprogramm:www.oertel-spoerer.de

Für meine Kinder Melanie und Steffen

Der Schatten der Hausnische schützte ihn. Bisher fiel niemandem der Mann auf, der an der Wand lehnte. Unablässig blickte er zur gegenüberliegenden Straßenseite hinüber. Ab und zu bewegte er seine Glieder, obwohl ihn die daunengefütterte Langjacke und die warmen Stiefel vor der gröbsten Kälte bewahrten, die Anfang Februar über dem Land lag. Immer wieder dehnte er seine verfrorenen Finger. Als er schon daran zweifelte, den richtigen Tag erwischt zu haben, bog der Möbelwagen mit Esslinger Kennzeichen in die Straße ein und hielt vor dem Haus, das er seit Stunden nicht aus den Augen ließ. Sofort war er hellwach. Zwei Packer stiegen aus und öffneten die Ladeklappe. Doch wo war sie? Angespannt hielt er die Luft an, suchte enttäuscht die Straße in der Richtung ab, aus der der Möbelwagen kam. Als ein blauer Golf um die Ecke bog, hinter den Männern zum Stehen kam, atmete er auf.

Ein dämonisches Lächeln erschien im Gesicht des heimlichen Beobachters, während ein Pärchen ausstieg und sich lachend zu den Möbelpackern gesellte.

Das ist sie also. Ines Sandner. Genau, wie auf dem Foto, obwohl …

Derart attraktiv hatte er sich die bisherige Hauptkommissarin aus Stuttgart nicht vorgestellt. Er bewunderte dieses fein geschnittene Gesicht, ihre makellose Figur, die er unter der dicken Winterkleidung allerdings nur erahnen konnte. Eigentlich wirkte sie jünger als achtunddreißig, als sie fröhlich lachend ihren Partner an die Hand nahm und Richtung Haus zerrte. Vielleicht lag es auch nur an der beigen Pudelmütze, unter der Strähnen ihres kurz geschnittenen, braunen Haares frech hervorlugten, die ihr diese Jugendlichkeit verlieh. Doch letztendlich half ihr das auch nicht – sein Plan stand fest. Keinen Millimeter würde er davon abrücken. Dafür hatte er viel zu lange auf diese Gelegenheit gewartet, zu viel Arbeit in die Vorbereitung gesteckt. Nun zog er es auch unerbittlich durch.

Er hoffte, dass sie vorerst nichts davon erfuhr, dass er es war, der die Fäden im Hintergrund zog. Er hatte dafür gesorgt, dass sie die Stelle hier bekam. Denn für das, was er plante, war der Raum Stuttgart einfach zu unübersichtlich. Innerlich beglückwünschte er sich zu diesem klugen Schachzug, schlug den Jackenkragen hoch und verschwand mit einem zufriedenen Lächeln.

Hey, Vorsicht junger Mann!«

Mit einem Lachen griff Ines Sandner mit beiden Händen in den Fahrradlenker. Große, dunkle Kinderaugen schauten sie erschrocken an.

»Ups, ich habe dich gar nicht gesehen.«

Die gestotterte Entschuldigung des sechsjährigen Jungen erheiterte Ines noch mehr. Neckisch zog sie am Kinnriemen seines Schutzhelmes.

»Ja, das habe ich gemerkt. Zukünftig solltest du ein bisschen besser darauf achten, ob dir jemand entgegenkommt, Max!«

Mit einem freundschaftlichen Klaps gab sie den Weg frei. Amüsiert registrierte sie sein Aufatmen. Immer noch lächelnd, betrat sie die Wohnung im dritten Stock, was ihrem Lebensgefährten Jan nicht verborgen blieb.

»Hast du im Lotto gewonnen?«

»Ach was! Mir lief nur gerade der kleine Max Henning über den Weg.«

Sie erzählte von dem Vorfall von eben, was Jan ebenfalls auflachen ließ. Er fand es herrlich, dass seine Ines so gut gelaunt in den Feierabend ging. Das war nicht immer so, denn ihre Arbeit als Hauptkommissarin bei der Kriminalpolizei zeigte an manchen Tagen auch ihre Schattenseiten. Voller Liebe schloss er sie in seine Arme, wobei er sie fest an sich drückte.

Seine feinfühlige Art mit Menschen umzugehen, sorgte vor ungefähr einem Jahr dafür, dass Ines sich Hals über Kopf in ihn verliebte. Und das, obwohl sie sich nach ihrer gescheiterten Ehe mit Antonio Gomez geschworen hatte, dem männlichen Teil der Menschheit für eine Weile permanent aus dem Weg zu gehen. Das einzig Gute an dieser Beziehung war ihre gemeinsame Tochter Daniela.

Doch seinem vorbestimmten Schicksal konnte man nicht entkommen. Sie musste in Erinnerung an diesen Vorfall unwillkürlich lächeln. Einem unachtsamen Augenblick auf einer Rolltreppe war es zu verdanken, dass sie sich gefunden hatten. Doch Jans blitzschnelle Reaktion mit einem raschen Sprung über das Geländer, verhinderte damals größeres Unheil. Mit festem Griff half er ihr auf. Die Berührung versetzte ihren ganzen Körper in ein einziges kribbelndes Etwas. Und erst sein Blick aus diesen spitzbübisch lächelnden, graublauen Augen … sie war sofort gefangen. Obwohl es ihre Unachtsamkeit gewesen war, bestand er darauf, sie auf einen Kaffee einzuladen. So saß sie schließlich mit diesem gut aussehenden, sportlichen Mann in einem Café. Noch heute wunderte sie sich darüber, wie schnell sich ein Gefühl der Vertrautheit zwischen ihnen eingestellt hatte, so, als kannten sie sich schon seit Jahren. Sogar Danny war vom ersten Augenblick von ihm angetan.

»Bevor ich es vergesse, ich muss gleich noch mal kurz weg. Ein Kunde hat Probleme mit seiner Software«, riss Jan sie abrupt aus ihren Gedanken.

Als freiberuflicher IT-Spezialist und Softwareentwickler konnte er glücklicherweise den größten Teil seiner Arbeit von zu Hause aus erledigen, aber manchmal ließ es sich eben nicht vermeiden, Außentermine wahrnehmen zu müssen.

»Kannst du das nicht telefonisch abklären?« Hoffnung lag in ihrer Stimme, denn sie hatte sich sehr auf einen gemeinsamen Abend gefreut. Doch insgeheim kannte sie die Antwort.

»Nein, tut mir leid. Dem ist das ganze System abgestürzt. Sein Computer macht keinen Mucks mehr. Das scheint eine schwierige Sache zu sein.«

»Schade. Sag mal, wo steckt eigentlich Danny?«

Suchend schaute Ines sich um. Jan zuckte hilflos mit den Schultern, während er einige Unterlagen in seine Aktentasche packte.

»Na hier, wo denn sonst!«

Aus dem hinteren Teil der Wohnung näherten sich schnelle, schlurfende Schritte, die plötzlich von einem deutlichen Poltern unterbrochen wurden, gefolgt von einem leisen, halb unterdrückten Fluch. Ein verstrubbeltes, langhaariges Mädchen erschien mit hochrotem Kopf im Raum.

»Kann vielleicht endlich jemand mal diesen blöden Karton neben der Garderobe wegräumen?«

Das Mädchen starrte die beiden vorwurfsvoll an, während sie demonstrativ humpelnd Ines begrüßte. Insgeheim musste Ines ihrer Tochter recht geben. Nun wohnten sie bereits ein halbes Jahr in Villingen, doch der Inhalt dieses Kartons hatte immer noch keinen festen Platz gefunden.

»Ich erledige das diese Woche noch. Ganz bestimmt! Nicht, dass in diesem Haushalt noch jemand durch meine Schuld den Tod findet.«

Jan zwinkerte Danny zu, während er nach seiner Jacke an der Garderobe griff. Die Aktentasche klemmte bereits unter seinem Arm.

»Wohin gehst du?«

Neugierig geworden, vergaß Daniela sogar, weiter zu humpeln.

»Zu einem Kunden«, antwortete Ines für Jan. »Und wir beide machen es uns jetzt gemütlich. Was hältst du davon?«

»Au fein,« kam es wie aus der Pistole geschossen. Über so viel Begeisterung schüttelte Jan amüsiert den Kopf. So schnell also arrangierten sich die beiden ohne ihn. Aber er verstand das schon. Schließlich kam es nicht oft vor, dass Danielas Mutter so früh wie heute zu Hause war. Ganz im Gegenteil. Oft musste sie sogar mitten in der Nacht los. Und dann gab es Tage, da sah Daniela Ines überhaupt nicht. Aber für solche Fälle gab es ja Gott sei Dank ihn und auch Danielas Oma. Jan umarmte liebevoll seine beiden Frauen. Ein kleines bisschen beneidete er die beiden um diesen intimen Abend. Er wäre nur zu gern ein Teil davon gewesen. Aber man konnte nun mal nicht alles haben. Die Türklinke schon in der Hand, drehte er sich noch einmal um.

»Ach ja, da fällt mir ein, für dich ist heute ein Brief angekommen. Er liegt im Wohnzimmer auf dem Sideboard.« Er zeigte in die Richtung und Ines nickte verstehend.

»Ich kümmere mich später darum. Das kann nichts Wichtiges sein.«

Daniela genoss es, zusammen mit ihrer Mutter Spaghetti Carbonara zu kochen. Selbst das Aufräumen der Küche nach dem Essen ging zusammen viel schneller von der Hand. Anschließend machten die zwei es sich im Wohnzimmer gemütlich, schauten ihren Lieblingsfilm ›Titanic‹, auch wenn er schon älter war.

Draußen vor dem Haus hörte man hin und wieder ein Auto vorbeifahren, aber das störte sie keineswegs. Viel zu selten hatten sie Gelegenheit, zusammen zu entspannen. Doch aufgewachsen mit dem Beruf ihrer Mutter, kannte Daniela es nicht anders. Allerdings hatte sich die Situation seit ihrem Umzug deutlich verbessert. Ines musste nun nicht mehr so viele Fälle gleichzeitig bearbeiten und deshalb auch nachts nicht so oft fort. Was für ein Glück, dass Jan durch einen seiner Kunden von der freien Stelle im Kriminalkommissariat Villingen hörte! Natürlich kam es auch weiterhin vor, dass sie einige Kilometer bis zu ihren Einsatzorten fahren musste, aber das kannte sie schließlich aus ihrer Zeit in Stuttgart. Der Unterschied bestand zumindest darin, dass ihr hier meistens ein nerviger Stau erspart blieb.

»Mama, willst du noch einen Film anschauen?«

Abrupt riss Danielas Stimme Ines aus ihren Gedanken. Mit leicht gerunzelter Stirn schüttelte sie den Kopf.

»Nein, lass mal. Das wird sonst zu spät für uns beide. Schließlich müssen wir morgen wieder früh raus. Lass uns doch einfach noch ein bisschen quatschen.«

Danny nickte. Ihre Füße baumelten über die Armlehne des Sofas, während der Kopf auf Ines Schoß ruhte. Ines strich Danny eine ihrer widerspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Wieder einmal stellte sie fest, wie sehr Daniela doch ihrem Vater aus dem Gesicht geschnitten war: Die gleiche gerade geformte Nase, das Grübchen auf der rechten Wange, wenn sie lächelte und natürlich die widerspenstigen, lockigen und pechschwarzen Haare.

»Sag mal, mein Schatz, wie gefällt es dir hier eigentlich? Hast du dich schon eingewöhnt oder fehlt dir Stuttgart sehr?«

»I wo, hier ist es echt toll. Man kann so viel machen und ich habe schon ganz viele Freunde.«

»Freut mich, das zu hören. Vielleicht sollten wir mal eine kleine Party für deine Freunde schmeißen.«

Danny setzte sich auf und schaute Ines entgeistert an.

»Quatsch, so was tut doch kein Mensch. Das können wir an meinem Geburtstag machen. Das reicht.«

Energisch stemmte sie die Hände in ihre Hüften. Ihre Tonlage ließ keinen Widerspruch zu, weswegen Ines nur entschuldigend mit den Schultern zuckte.

»In Ordnung, wenn du meinst. Es sind schließlich deine Freunde.«

»Ja, meine ich. Übrigens, Oma hat mich gefragt, ob ich mit ihr dieses Jahr auf den Schätzele – Markt gehe.«

Aha, Themawechsel. Ines staunte, wie schnell das bei ihrer Tochter ging.

»Der ist aber erst im Oktober, Süße.«

»Echt? Was ist das eigentlich für ein Markt?«

»Nun, da gibt es viele Stände mit Süßigkeiten, Spielzeug, Bratwurst, Döner, Klamotten und so weiter, was es halt so an Marktständen gibt. Ach ja, und einen Rummel mit mehreren Fahrgeschäften ist wohl auch dabei.«

»Super. Also darf ich?«

»Ja sicher, wenn du willst.«

Ines hatte dagegen nichts einzuwenden. Sollten die beiden doch ihren Spaß haben. Sie konnte wirklich froh sein, ihre Mutter in der Nähe zu haben. Sie wohnte nur ein paar Straßen weiter und kümmerte sich liebend gern um ihr einziges Enkelkind, wenn Not am Mann war. Das erleichterte doch einiges.

»So, aber jetzt ist Feierabend. Ab ins Bad und dann ins Bett!«

Danny zog einen Schmollmund.

»Jetzt schon? Muss das wirklich sein? Es ist doch gerade so gemütlich.«

»Tut mir leid, mein Schatz, aber es wird allerhöchste Zeit. Schließlich ist morgen auch noch ein Tag.«

Sie gab ihrer Tochter einen freundschaftlichen Schubs. Daniela tat Ines den Gefallen und stand auf, um sich für die Nacht fertigzumachen, was nicht lange dauerte. So kam Ines recht bald in den Genuss des obligatorischen Gute-Nacht-Kusses ihrer Tochter. Schließlich zog sich Daniela in ihr Zimmer zurück. Ines begleitete sie nicht dabei. Danny mochte das nicht, denn schließlich war sie kein Baby mehr, wie sie ständig betonte. Aber Ines wusste auch so, dass Danny sich ins Bettzeug kuscheln würde, im Arm ihren alten, halb zerfledderten Teddy, den sie vor Jahren von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte und in den Händen ein Buch, aus dem sie noch eine halbe Stunde lesen würde, bevor sie dann das Licht löschte und einschlief.

Ines seufzte. Sie wollte nur noch eben die Spätnachrichten anschauen und dann ebenfalls schlafen gehen.

Im Bett liegend kreisten ihre Gedanken um ihre Familie. Was für ein Glück! Jeden Tag wurde sie sich dessen bewusst. Sie musste an Jan denken. Ob er seinen Kunden wohl zufriedenstellen konnte? Ach, wenn er doch jetzt nur neben mir liegen würde. Sie stellte sich vor, wie er seine starken Arme um sie legte und sie an seinen athletischen Körper zog. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter, als sie sich seine Liebkosungen vorstellte. Wie sie es hasste, alleine in dem großen Bett schlafen zu müssen. Er fehlte ihr einfach. Das war ihr letzter Gedanke, bevor sie in einen traumlosen Schlaf fiel.

Unauffällig starrte er zum dritten Stock hinauf. Nur ein minimaler Lichtstreifen fiel durch eine nicht richtig schließende Lamelle des Rollladens. Natürlich konnte er keine Menschenseele dort oben ausmachen. Doch das störte ihn nicht. Es reichte vollkommen aus, dass er wusste, wer sich dort im Moment aufhielt.

Ein Auto fuhr um die Ecke, fraß sich mit seinen Scheinwerfern durch die Dunkelheit der Straße, was ihn unwillkürlich einen Schritt tiefer in den nächtlichen Schatten der Hauswand treten ließ. Ohne dass ihn der Lichtkegel ergriff, fuhr das Auto in einigem Abstand an ihm vorbei. Ansonsten war es menschenleer um ihn herum. Nur leise drangen Geräusche aus den Nebenstraßen an sein Ohr. Geräusche, die zeigten, dass es außer ihm noch andere Menschen gab, die diese laue Sommernacht genossen.

Er schaute nach oben, wo in diesem Moment auch der letzte Schein durch die Ladenritze erlosch. Er ballte die Fäuste. Wie wäre es, wenn er nach oben ginge und dem Ganzen ein für alle Mal ein Ende bereiten würde? Ob seine Albträume dann wohl verschwanden? Vor der Ausführung schreckte es ihn nicht. Natürlich, sie war eine ausgebildete und kampferprobte Gegnerin. Aber das Überraschungsmoment lag auf seiner Seite, das sollte man nicht unterschätzen. Und kämpfen konnte er auch. Zudem hatte er selbst gesehen, wie ihr Lebensgefährte das Haus vor einiger Zeit verließ. Aus der Richtung war also keine Gefahr zu erwarten. Den Nachwuchs von Ines Sandner empfand er ebenfalls nicht als bedrohend, auch wenn er aus Erfahrung wusste, dass elfjährige Mädchen mitunter zu Furien mutieren konnten.

Nein. So einfach kommt sie mir nicht davon.

Die ganzen Jahre hatte er auf diesen Moment hingearbeitet. Nun würde er das Geplante auch durchziehen. Jeden einzelnen Moment wollte er auskosten. Diesen Entschluss gefasst, streckte er den Rücken durch und ließ zischend die Luft aus seinen Lungen entweichen, die er aus lauter Anspannung, ohne es zu merken, angehalten hatte. Lässig zog er sich die Schirmmütze tiefer ins Gesicht, als er in hundert Metern Entfernung einen Alten wahrnahm, der in gebeugter Haltung und mit schlurfendem Schritt eine nächtliche Runde mit seinem Dackel lief. Das veranlasste den Beobachter, die inzwischen wieder entspannten Hände in die Jeanstaschen zu stecken und seinen Posten aufzugeben. Unauffällig und ungesehen zog er sich über den Hinterhof des Hauses zurück. Ines Sandner war für ihn nun keine Fremde mehr. Vielmehr kannte er inzwischen ihre Gewohnheiten, ihre Vorlieben und Abneigungen, genauso wie ihre Freunde und Familienmitglieder. Es gab also keinen Grund, sie weiterhin zu beschatten. Nun war handeln angesagt.

Ines, genieße dein Leben, solange du es noch kannst.

Ines schrak hoch, zerrte das Kissen über die Ohren und ließ sich zurück auf die Matratze plumpsen. Doch es half nichts. Auch das Kissen verhinderte nicht, dass dieses nervtötende Gedudel zu ihr durchdrang. Ach nein, was soll das denn jetzt?Was ist das für ein Lärm? Langsam dämmerte ihr, dass sie im Bett lag. Auf dem Nachttisch vibrierte ihr Handy permanent zum Soundtrack aus Twin Peaks, der Kultserie der Achtzigerjahre. Es dauerte eine ganze Weile, bis Ines verschlafen nach dem Störenfried tastete. Auf dem Display leuchtete die Nummer ihres Kollegen Thomas Klausmann auf. Mist! Kein gutes Zeichen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Anruf entgegenzunehmen.

»Ja?«

»Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe, aber du wirst deinen hübschen Hintern wohl oder übel aus den Federn hieven müssen. Wir haben eine Leiche.«

»Oh verdammt. Und das auf nüchternen Magen. Sag mal, wieso bist du um diese Zeit eigentlich schon so unverschämt munter?«

Sie schielte hinüber zu ihrem Wecker, doch ihre müden Augen ließen nur einen verschwommenen Blick zu. Ein heiseres Lachen drang aus dem Mikrofon.

»Nur kein falscher Neid. Aber beeil dich jetzt. Ich hole dich gleich ab.«

»Klar, bin schon auf dem Sprung. Danke für deinen Anruf.«

Das Handy am Ohr, schwang sie ihre Beine bereits über den Bettrand. Das lief nach ihren vielen Dienstjahren in dieser Situation schon automatisch ab. Während sie einen sehnsüchtigen Blick auf ihr noch warmes Bett warf, kam ihr Handy nicht so gut weg. Es musste für diese viel zu frühe Unterbrechung herhalten, zumal es auch Jan geweckt hatte. Er blinzelte ihr schlaftrunken zu, als er die Hand ausstreckte, um nach ihrem Arm zu greifen. Mit Leichtigkeit zog er sie zu sich herüber, was ihr sehr gefiel. Wie gerne wollte sie in sein verstrubbeltes Haar greifen. Und dann dieser wundervolle Körper! Sie wusste genau, wie weich sich seine Haut anfühlte. Sofort spürte sie, wie Erregung sie erfasste, als er spielerisch seine Finger über ihren Arm gleiten ließ. Sie hatte ihn heute Nacht gar nicht kommen gehört. Anscheinend war sie doch müder gewesen als gedacht. Aber jetzt, von Müdigkeit keine Spur mehr. Nein! Sie rief sich zur Ordnung. Und doch, vielleicht … nur ein kleines bisschen.

»Na, Frau Kommissarin, ruft die Arbeit?«

Jan spürte deutlich, wie Ines mit sich kämpfte. Und er tat nichts, um es ihr leicht zu machen. Zärtlich knabberte er an ihrem Ohr. Doch mit einem tiefen Seufzer stieg sie energisch aus dem Bett. Wenn sie nicht sofort aufstand, würde sie Jans Zärtlichkeiten nicht mehr widerstehen können.

»Tut mir leid, aber ich muss los. Es ist dringend. Vielleicht schläfst du noch etwas. Aber denk dran, dass Max nachher kommt.«

»Sicher. Ich freu mich doch schon auf den Tag mit den beiden Rackern.«

Vergnügt grinste er sie an, wartete ab. Doch Ines Entschluss stand fest. Sie küsste ihn noch einmal bedauernd auf die Stirn, um dann endgültig unter der Dusche zu verschwinden. Sie brauchte dringend eine Abkühlung.

Eine halbe Stunde später holte Thomas sie mit dem grauen Dienstwagen, Marke BMW, ab. Obwohl sie erst ein halbes Jahr zusammenarbeiteten, fusionierten sie schon zu einem perfekten Team. Ines schätzte die humorvolle Art und den analytisch perfekten Sachverstand an ihrem Kollegen sehr. Als Single hätte ihr dieser gut gebaute Kommissar mit den dunkelblonden Haaren und den leuchtend blauen Augen schon gefährlich werden können. Und da zwischen ihnen nur ein Jahr lag, passten sie auch altersmäßig gut zueinander.

Es sollte ein langer Tag werden. Routiniert schauten sich die beiden Kommissare den Leichenfundort im Bad Dürrheimer Gewerbegebiet an. Wolfgang Meier, der kompetente Gerichtsmediziner aus Freiburg, mit schütterem, grauem Haar und Bauchansatz, ließ die beiden einen kurzen Blick auf die junge tote Frau werfen. Da die Spurensicherung mit ihren Leuten in den schicken, weißen Overalls alles im Griff zu haben schien, konnten Ines und Thomas mit den eigentlichen Ermittlungen beginnen, was jede Menge Laufarbeit zur Folge hatte. Aber das waren sie schließlich gewöhnt.

Völlig erschöpft erreichte Ines an diesem Abend schließlich die eigene Wohnung. Müde rieb sie sich die Augen und öffnete die Wohnungstür. Leise Musik wies darauf hin, dass jemand zu Hause sein musste. Jan, der das Türschloss gehört hatte, kam ihr im Flur entgegen.

»Schön, dass du da bist. Du siehst verdammt fertig aus. Komm, setz dich ins Wohnzimmer und lege die Füße hoch. Ich mache dir erst einmal einen Tee.«

Dankbar genoss sie mit geschlossenen Augen den Moment, als er sie mit einem zärtlichen Kuss verwöhnte. Genau das brauchte sie jetzt. Doch dann stutzte sie. Ungewöhnlich, dass ihr kleiner Wirbelwind nicht auf sie losstürmte, wenn sie zu einer relativ zivilisierten Zeit nach Hause kam.

»Wo ist denn Danny? Ist sie nicht da?«

»Keine Sorge, sie kommt gleich. Sie bringt nur Max nach Hause.«

Stimmt, er hatte den Tag mit den Kindern verbracht. Spitzbübisch blitzten ihre Augen ihn an. Fordernd wanderten ihre Hände unter sein Shirt und die Fingerspitzen erkundeten die gut trainierten Brustmuskeln. Vielleicht konnten sie dort weitermachen, wo sie heute Morgen aufgehört hatten?

»Hat alles geklappt? Waren die beiden mit deinen Kochkünsten zufrieden?«, fragte sie mit rauer Stimme, während ihre Hände nicht aufhörten, ihn zu streicheln.

»Natürlich, was glaubst du denn?« Auch seine Stimme wurde heiser. »Ich bin doch der geborene Pizzabäcker, wie du weißt.«

Er beugte sich hinab, knabberte an ihrem Ohr, glitt mit dem Mund weiter hinab, hauchte einen Kuss nach dem anderen der Silhouette des Muskelstreifens an ihrem schlanken Hals entlang, bis er an der Schulter ankam. Ines hielt die Augen geschlossen, das Blut rauschte in ihren Ohren. Ihr Herzschlag schnellte in die Höhe.

»Wie lange sind die Kinder schon fort?«

Voller Verlangen schaute sie ihn mit halb geschlossenen Augen an, küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund. Und Jan handelte. Mit seinen kräftigen Armen trug er sie ins Schlafzimmer.

»Und, wie war es im Kino?«

Eng in seine Armbeuge gekuschelt, genoss Ines etwas später Jans Wärme. Verschwitzt, mit zerwühltem Haar, das in wirren Strähnen von ihrem Kopf abstand, wie die Antennen des alten Satelliten Sputnik, dabei umhüllt von seinem männlichen Duft, fühlte sie sich sicher und geborgen. Sie wischte seine widerspenstige Locke aus der Stirn, während seine Hand spielerisch ihre Wirbelsäule hinauf und hinab fuhr, was ein kribbelndes Gefühl in ihr hervorrief.

»Bei der Wärme wollten die Kinder lieber ins Schwimmbad. Also haben wir einfach kurzfristig umdisponiert. Aber was anderes: Dein Brief liegt immer noch ungeöffnet im Wohnzimmer.«

»Ach, das ist die Bestätigung meiner Anmeldung zum Klassentreffen nächste Woche. Darauf freue ich mich wirklich. Ich kann es kaum erwarten, die anderen nach so langer Zeit wiederzusehen.«

»Womöglich triffst du dort deine Jugendliebe wieder. Vielleicht sollte ich vorsichtshalber mitkommen?«

Er trat einen Schritt auf sie zu und legte mit neckischem Grinsen die Hand auf ihre Schulter. Sie legte ihre zärtlich obendrauf.

»Natürlich gab es damals einen Jungen, für den alle Mädchen schwärmten, mich eingeschlossen. Aber draus geworden ist dann doch nichts. Wer weiß, vielleicht ist er ja inzwischen dick und hässlich.«

»Deine Mutter hat sich auch gemeldet.« Seine Worte erreichten Ines bereits aus der Küche, da er endlich sein Versprechen einlösen wollte, ihr einen Tee zu servieren.

»Bestimmt wollte sie wissen, ob bei uns alles in Ordnung ist oder ob sie sich um Danny kümmern soll. Ob sie wohl jemals damit aufhört, sich wie eine Glucke zu benehmen?«

Sie hörte, wie Jan in der Küche mit dem Geschirr herumwerkelte. Trotzdem antwortete er ihr.

»Du musst sie verstehen. Sie meint es doch nur gut. Außerdem empfinde ich es als großes Glück, dass sie mit uns hergezogen ist. So ist Danny immer versorgt, auch wenn wir alle beide am Arbeiten sind.«

Doch Ines hörte ihn gar nicht mehr; sie war vor Erschöpfung eingeschlafen. Erst als Jan den fertigen Tee auf den kleinen Tisch stellte, erwachte sie wieder. Er setzte sich zu ihr und sie kuschelte sich verschlafen an ihn, während sie die Tasse ergriff und den heißen Inhalt in sich hineinschlürfte. Beide schraken hoch, als es an der Tür klingelte.

»Wer ist das denn jetzt?«, fragte Ines, plötzlich hellwach. »Danny hat doch ihren eigenen Schlüssel, deshalb …«

»… den sie aber leider vergessen hat«, vollendete Jan den Satz. »Ich habe ihn nämlich auf dem Schuhschrank entdeckt. Aber ruhe dich nur aus. Ich mach das schon.«

Schnell erhob er sich, um nachzusehen. Erstaunt registrierte Ines, wie fit er um diese Uhrzeit noch zu sein schien. Und das, obwohl für ihn die letzte Nacht nicht sonderlich viel Zeit zum Schlafen übrig ließ.

»Hallo Mama«, begrüßte Danny ihre Mutter, während sie außer Atem ins Wohnzimmer stürmte. »Entschuldigt, dass es etwas länger gedauert hat. Aber Max wollte mir unbedingt noch seine neue Rennbahn zeigen. Ich soll euch liebe Grüße von Frau Henning ausrichten. Und danke, dass Max hier sein durfte!«

»Ist doch selbstverständlich. Max ist bei uns jederzeit willkommen«, merkte Ines an.

»Habe ich ihr auch gesagt. Herr Henning darf morgen wieder nach Hause. Die Blinddarmoperation ist ohne Komplikationen gewesen. Anscheinend heilt alles bestens. Aber schonen muss er sich halt noch, sagt Maria.«

Jan und Ines freuten sich über diese guten Nachrichten. So, wie es aussah, konnten sie alle drei zusammen einen heimeligen Restabend verbringen. Und das taten sie dann auch, denn höchstwahrscheinlich würde Ines demnächst nicht viel Freizeit haben, wenn die Ermittlungen in ihrem neuen Mordfall erst einmal auf Hochtouren liefen.

Trotz ihres zeitigen Arbeitsbeginns saß Thomas bereits hinter seinem Schreibtisch.

»Du willst doch nicht etwa Überstunden sammeln, damit du früher ins Wochenende verschwinden kannst?«, flachste Ines, als sie den Raum betrat.

Doch Thomas, der Ines mit einem leichten Nicken begrüßte, winkte ab.

»Nee, eher anders herum. Mir fehlen noch ein paar Stunden, die ich jetzt unbedingt aufholen muss.«

»Ach ja, dein Sommerurlaub und deine Reise in den Norden. Ist schon blöd, wenn man nach Hause fliegen will, und dann das Flugpersonal streikt. Aber man fliegt auch nicht am selben Tag zurück, an dem man eigentlich wieder anfangen sollte zu arbeiten.«

Glucksend versuchte sie, ein Lachen zu unterdrücken.

»Ja, ja, spotte du nur. Warte nur, bis dir mal was Ähnliches passiert. Dann vergeht dir auch noch das Lachen.« Doch so ernst sich die Worte anhörten, seine Miene verriet, dass er ebenfalls nur im Spaß die beleidigte Leberwurst spielte.

Während sich Ines ihre Akten zurechtlegte und den Zettel mit den Nachrichten von eingegangenen Anrufen durchlas, näherte sich Thomas ihrem Schreibtisch. Neugierig sah sie auf.

»Ja?«

»Maier hat angerufen.«

»Der Pathologe?«

»Lass ihn das bloß nicht hören.«

»Wovon sprichst du?«

»Na davon, dass du ihn einfach nur den Pathologen genannt hast. Da ist er sehr empfindlich. Er hat schließlich elf lange Jahre lernen, studieren, assistieren und sich ausbilden lassen müssen, bis er da hingekommen ist, wo er heute ist. Ein ausgebildeter Gerichtsmediziner muss einiges mehr können als ein Pathologe, der in der Regel nur nach krankheitsbedingten Veränderungen im Körper sucht. Übrigens hat der auch großen Anteil bei Krebsdiagnosen. Aber nur ein Gerichtsmediziner ist in der Lage, Genaueres zu den Umständen zu sagen, die bei einem Menschen zu einem gewaltsamen Tod geführt haben. Wusstest du eigentlich, dass ein Gerichtsmediziner weitaus mehr Untersuchungen an lebenden Menschen durchführt, als an Toten?«

Langsam wurde es Ines zu viel. Schließlich lernten sie solche Fakten in der Ausbildung. Warum hielt er ihr jetzt hier und heute einen Vortrag über dieses Thema? Sie beschloss, die Sache abzukürzen.

»Geschenkt, ich weiß Bescheid. Häusliche Gewalt, Kindesmisshandlung, Übergriffe, Vergewaltigungen, und, und, und … Dass Maier Wert darauf legt, nicht einfach nur Pathologe genannt zu werden, kann ich verstehen, obwohl dieser Berufszweig auch wertgeschätzt werden muss. Aber die viele Arbeit, die in seiner Ausbildung steckt, sollte man schon anerkennen, oder nicht?«

»Stimmt genau. Übrigens, er ist mit der Leichenschau unserer Toten fertig. Simone Petzold ist ihr Name, wie inzwischen feststeht.«

»Na, dann lass uns mal sehen, was der werte Herr Maier für uns bereithält.«

Nach der Videoschaltung mit Wolfgang Maier blickte Ines aus dem Fenster neben ihrem Schreibtisch. Heute galt ihr Blick nicht der Natur. Sie schaute einfach ins Leere. Ihre Gedanken kreisten um Max Familie. Vielleicht sollten sie und ihre Tochter heute Abend mal bei den Hennings vorbeischauen. Sie würden den Hennings ihre Hilfe anbieten, wo Karl Henning doch erst heute aus dem Krankenhaus zurückkommen sollte. Das Klingeln des Telefons holte sie in die Gegenwart zurück. Thomas sah nicht einmal auf, als sie sich meldete, bekam aber jedes Wort mit.

»Ja, Sandner hier.«

Sie lauschte konzentriert ihrem Gesprächspartner, gab ab und zu ein »Aha, ja verstehe« oder »Nein, das ist nicht nötig« von sich, um schließlich mit den Worten zu enden: »Ja, das geht in Ordnung. Vielen Dank und einen schönen Tag.«

»Wer war das?« Neugierig geworden schaute Thomas sie an.

»Die KTU. Sie fanden tatsächlich DNA-Spuren und Wollfasern. Das bedeutet?«

Thomas sah zur Zimmerdecke und verdrehte die Augen.

»Bin ich Hellseher?«

»Arbeit, Herr Hauptkommissar. Also los. Lass uns Computerprogramme checken und Akten wälzen. Schließlich werden uns die Täter nie auf dem Silbertablett serviert. Zeig mal den Steuerzahlern, dass ihr Geld in dich gut investiert ist.«

Voller Energie und mit Feuereifer stürzte sich Ines in die Unterlagen. Schließlich wartete ihr Chef, Siegmund Willimsky, Kriminaloberrat des Kriminalkommissariates Villingen-Schwenningen, auf Ergebnisse.

Am darauffolgenden Morgen wachte Ines erstaunlicherweise recht gut erholt auf. Da sie gestern mal wieder länger arbeiten musste, beschloss sie, erst nach dem Mittagessen zu ihrer Dienststelle zu fahren. Sie drehte sich um und bemerkte den leeren Platz neben sich im Bett. Ihre Hand glitt prüfend über das Laken. Kalt. Das bedeutete, Jan musste schon vor längerer Zeit aufgestanden sein. Ein Blick auf den Wecker bestätigte das: Kurz nach acht. So spät schon? Sie setzte sich auf, zog die Bettdecke bis unter die Achseln hoch und lauschte. Kein Laut drang aus einem der Zimmer. Vermutlich schlief Danny noch. Das sollte sie auch ruhig. Schließlich waren Ferien.

Sie streckte sich noch einmal, bevor sie die Beine über die Bettkante schwang. Nach einer ausgiebigen Dusche schlich sie zu Danielas Zimmer. Sie liebte es, ihre Tochter mit strubbeligem Haar, tief schlafend in die Bettdecke eingewickelt, zu sehen. Doch sie wurde enttäuscht, denn im Zimmer stand nur ein verwaistes Bett mit zurückgeschlagener Daunendecke. Von ihrer Tochter keine Spur weit und breit.

»Gut, dann mach ich eben nur für mich Kaffee«, murmelte sie vor sich hin, während sie in die Küche schlurfte. Doch im selben Moment öffnete sich die Wohnungstür und ein gut gelaunter Jan mit einer strahlenden Danny im Schlepptau kamen hereinspaziert.

»Hey, Mom, du bist ja schon auf!« Danny schien nicht überrascht, obwohl sie ja nicht wissen konnte, dass Ines heute später zur Arbeit gehen würde.

»Wir waren beim Bäcker und haben Brötchen geholt. Riech mal, wie das duftet.«

Danny öffnete die Papiertüte und hielt sie Ines hin. Die beugte sich hinunter und atmete den Geruch von frisch Gebackenem genüsslich ein.

»Erst mal guten Morgen, meine Süße, aber hmm, du hast recht. Es gibt doch nichts Besseres, als den Tag mit so einem leckeren Frühstück anzufangen.«

Sie drückte Danny an sich und gab ihr einen Kuss. Jan stellte sich gleich dazu und spitzte seine Lippen. Auch er erhielt seine Belohnung.

»Ich wollte dich nicht wecken. Nachdem du gestern so spät heimgekommen bist, dachte ich mir, dass du den Schlaf gut gebrauchen kannst.«

Ines lächelte dankbar und küsste ihn ein weiteres Mal.

Beim Frühstück plauderten sie zwanglos über alles Mögliche: Danny über ihre Freunde, Jan erzählte von seinen Kunden und Ines fielen ein paar Anekdoten aus dem Umfeld ihrer Arbeit ein.

»Übrigens, bevor ich es vergesse Ines, du hast noch einen Brief bekommen.«

Er stand auf und holte einen Umschlag aus dem Flur. Kurzerhand riss Ines ihn auf, indem sie mit den Fingern in den Spalt am oberen Falz fuhr. Ein freundlich gestaltetes Blatt inklusive Ticket kamen zum Vorschein.

»Ach, das ist jetzt die Einlasskarte zu meinem Klassentreffen.«

Mit leuchtenden Augen schwenkte sie das Schriftstück voller Vorfreude in der Luft.

»Wann ist das denn?«, wollte Danny wissen.

»Am Wochenende. Die Bestätigung kam jetzt nur so spät, weil die Organisatoren nicht wussten, ob es mit den Räumlichkeiten klappt. Aber das habe ich dir doch schon längst erzählt.«

»Ich weiß. Ich wusste nur nicht mehr den genauen Termin. Bleibt es denn dabei, dass ich in der Zeit bei Papa und Susi bin?«

»Sicher. Das war doch abgesprochen, oder nicht?«

Stirnrunzelnd warf sie einen Blick in Richtung Jan und Danny.

»Aber klar doch«, beruhigte Jan. »Ich werde das Wochenende nutzen und daheim am PC arbeiten. Ich muss unbedingt ein neues Programm für einen Kunden optimieren.«

»Dann wäre ja alles geklärt, ihr zwei. Aber mir fällt da gerade etwas ein.« Ines wandte sich behutsam an ihre Tochter. »Was hältst du davon, wenn wir nachher nach Maria schauen? Ich habe mir überlegt, dass sie vielleicht unsere Hilfe gebrauchen kann, jetzt wo ihr Mann gerade erst aus dem Krankenhaus wieder zurück ist.«

Danny überlegte nicht lange.

»Das ist eine gute Idee. Jan, kommst du auch mit?«

»Nein, besser nicht. Ich glaube, ihr beide macht das lieber ohne mich. Ich muss sowieso leider wieder weg, denn die Arbeit ruft.«

Eine Stunde später saßen Ines und Danny bei Maria und Karl Henning vor einem liebevoll gedeckten Tisch im Wohnzimmer. Max hatte sich neben Danny gequetscht und ließ die Beine von der Couch herunterbaumeln. Unruhig schaukelten sie hin und her.

»Vielen Dank, Ines, dass ihr auf Max aufgepasst habt«, meinte Maria, während sie den dampfenden Kaffee in die bereitgestellten Tassen goss. Herrlicher Kaffeeduft verwöhnte die Nasen, wodurch Ines sofort Lust auf diese Koffeinspritze bekam, obwohl ihr Frühstückskaffee noch gar nicht so lange zurücklag.

»Du brauchst dich nicht zu bedanken. Du weißt doch, wie gern wir den kleinen Kerl haben. Er ist bei uns immer willkommen.«

»Wie hätte ich denn allein mit Jan die Pizza aufessen sollen?«, ließ sich Danny im Brustton der Überzeugung vernehmen.

Karl Henning, der noch ein bisschen blass um die Nase war, lachte und musste sich sofort den Bauch halten.

»Alles in Ordnung?« Maria hielt in der Bewegung inne, schaute ihn mit großen Augen an. Doch Karl beruhigte sie mit einer lapidaren Handbewegung.

»Kein Grund zur Sorge, nur beim Lachen ziehen die Muskeln im Narbenbereich noch ein wenig. Sag mal Ines, wie ich hörte, arbeitest du an einem neuen Fall?

»Woher weißt du das denn schon wieder?«

»Ob du es glaubst oder nicht, aber auch im Krankenhaus funktionieren die Buschtrommeln einwandfrei. Die arme Frau. Wisst ihr denn schon, wer es war?«

Er schaute Ines direkt an, die versuchte, den Mund nicht zu sehr zu verziehen. Schließlich sollte Karl nicht bemerken, dass sie sich ein bisschen über seine naive Art amüsierte.

»Tut mir leid, Karl, aber wir stecken noch mitten in den Ermittlungen. Leider darf ich dir darüber nichts erzählen.« Sie legte den Zeigefinger auf ihren Mund. »Außer, du könntest mir etwas Relevantes zur Aufklärung des Falles beitragen.«

»Nee, leider kann ich dir nicht weiterhelfen, Mädchen. Dachte ich mir schon, dass du so etwas sagen würdest. Ich wollte es trotzdem bei dir versuchen.«

Der Schalk blitzte aus seinen Augen. Schlagartig wurde Ines bewusst, dass er nur den Naiven gespielt hatte. Was für ein Schauspieler. Na warte, es würde sich schon irgendwann eine Gelegenheit zur Revanche finden.

»Können wir nicht endlich aufstehen?«, nörgelte Max. »Ich mag spielen und nicht über die tote Frau reden.«

Insgeheim musste Ines Max recht geben. Das war kein Thema für Kinder. Es wurde sowieso Zeit, dass sie sich mit ihrer Tochter verabschiedete. Schließlich sollte es nur eine kleine Stippvisite werden, um nach dem Rechten zu sehen. Und arbeiten musste sie ja auch noch. Sie nahm Karl und Maria das Versprechen ab, sich zu melden, falls sie Hilfe brauchten, egal ob zum Einkaufen, Putzen oder sonst was, als sie die Wohnung verließen.

Wieder zu Hause, bemerkten Danny und Ines die schon ziemlich fortgeschrittene Zeit. Ihre Überlegungen, ob sie sich etwas vom Italiener liefern lassen sollten, wurden durch ein energisches Klingeln an der Tür unterbrochen. Monika. Lachend schwenkte sie einen Einkaufskorb an ihrem Arm.

»Hallo ihr Hübschen. Mir lief vorhin Jan über den Weg und erzählte mir, dass ihr Maria besuchen wollt. Da dachte ich mir, ich überrasche euch und bring euch was Leckeres vorbei, falls das mit dem Kochen zeitmäßig nicht mehr so ganz klappt.«

Sie stellte den Korb auf den Tisch in der Küche, strich sich eine Strähne ihres knallroten Haares aus dem Gesicht und schaute vergnügt in die beiden Gesichter. Obwohl die sechzig gerade überschritten, strotzte Ines Mutter voller Energie. Danny entfernte neugierig das karierte Geschirrtuch, das den Inhalt des Korbes abdeckte und spickelte hinein.

»Wir sind hier nicht zu Hause bei Assauers. Bei mir darfst du nicht nur gucken, sondern auch anfassen. Hol es raus, bevor es kalt wird.«

Sie ließ sich das nicht zweimal sagen. Beherzt griff sie zu und förderte eine in Alufolie gewickelte, sehr warme Auflaufform zutage. Fast hätte sie einen Topflappen dafür gebraucht. Ines entfernte die Alufolie und zum Vorschein kam Monikas selbst gemachte Lasagne.

»Deck schnell den Tisch!« Ines schob Daniela sanft in die Nähe des Schrankes mit den Tellern.

Bald schon saßen die drei friedlich beisammen, mampften genüsslich vor sich hin, bis ihnen fast die Bäuche platzten. Nach dem Essen verzog sich Danny in ihr Zimmer. Sie wollte noch ein bisschen mit ihren Freunden über Facebook kommunizieren. Monika und Ines blieben indes noch ein bisschen sitzen.

»Wie geht es denn Maria?«, wollte Monika wissen.

»Natürlich ist sie sehr traurig, du weißt ja, dass ihr Vater vor Kurzem starb. Aber sie sieht nach vorne und tut nun die Dinge, die eben in solch einem Fall getan werden müssen. Vielleicht ist es ganz gut, dass ihr Mann auch noch etwas Pflege braucht. So hat sie nicht so viel Zeit zum Grübeln. Und außerdem gibt es noch Max. Ihm gegenüber will sie sich nach Möglichkeit nichts anmerken lassen.«

»Ich weiß, wie schwer so was ist. Als euer Vater starb, kam auch alles so plötzlich. Am liebsten hätte ich mich damals verkrochen. Ich wollte eigentlich niemanden sehen, nur für mich alleine trauern dürfen. Aber ihr wart ja auch noch da und noch so klein. Da blieb mir doch gar nichts anderes übrig, als mich um euch zu kümmern.«

»Ich kann mich kaum noch an Papa erinnern«, bedauerte Ines.

»Kein Wunder. Er war ja dauernd weg. Einsätze rund um die Uhr. Ohne Vorwarnung, immer auf Abruf. Das hat die Familie schon sehr belastet. Und als er dann bei diesem verdammten Einsatz ums Leben kam, mussten wir von einem Tag auf den anderen ganz ohne ihn klarkommen. Ich hatte gehofft, dass meine Kinder einmal einen ganz anderen Beruf ergreifen würden, aber dass du bei der Polizei gelandet bist, muss irgendwie in den Genen stecken.«

»Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?«

»Och, ganz klassisch. Ich saß in einem Café. Allein. Er sah mich und kam an meinen Tisch. Wir unterhielten uns und merkten, dass wir über vieles gleich dachten. Wir lachten über dieselben Dinge. Dabei wollte ich nie in meinem Leben etwas mit einem verheirateten Mann anfangen.«

»Verheiratet? Er war verheiratet? Das wusste ich ja gar nicht. Das gab bestimmt Probleme.«

Monika nahm einen Schluck Tee, den sich die beiden inzwischen zubereitet hatten, und starrte aus dem Fenster. Sie schien mit ihren Gedanken weit weg zu sein, vermutlich in der Vergangenheit. Mit einem Lächeln auf den Lippen, noch etwas weltentrückt, fuhr sie fort.

»Ach so schlimm, wie es immer bei Rosamunde Pilcher und Co. erzählt wird, kam es gar nicht. Er und seine Frau hatten sich schon lange nicht mehr viel zu sagen. Wir heirateten gleich nach seiner Scheidung. Dich und deinen Bruder trug ich schon in mir. Es ist schon erstaunlich, dass das niemandem, trotz meiner schlanken Figur damals, auffiel.« Sie lächelte und Ines fühlte, wie glücklich ihre Mutter mit ihrem Vater gewesen sein musste.

»Hast du seine damalige Frau jemals kennengelernt?«

»Nein. Das wollte ich nicht. Ich wollte ihr nicht wehtun. Von mir aus hätten sie sich auch nicht unbedingt scheiden lassen müssen. Ich hätte deinen Vater trotzdem geliebt. Aber ich sah mal ein Bild von ihr.«

»Vermisst du ihn manchmal?«

»Machst du Witze? Natürlich vermisse ich ihn. In Gedanken ist er immer bei mir. Und ich stelle mir vor, wie er voller Stolz auf unsere Kinder und unsere Enkeltochter sieht.«

Noch lange an diesem Abend musste Ines darüber nachdenken, wie ihre Mutter voller Liebe über ihren Vater sprach. Sie bedauerte in diesem Augenblick sehr, dass sie ihn nicht besser kennenlernen konnte und er so früh aus seiner Familie gerissen wurde. Die Menschen nannten so etwas wohl Schicksal.

Lilien. Weiße Lilien. Was für wunderschöne Blumen. Und so voller Sinnlichkeit.

Er lachte in sich hinein. Das würde sie sicher rätseln lassen.

Ob sie erriet, was sie bedeuten sollen?

In asiatischen Ländern war weiß die Farbe des Todes: Weiße Blumen, weiße Gewänder. Aber in Europa symbolisierten sie eher die Liebe, weswegen sie oft bei Hochzeiten als Dekoration verwendet wurden. Doch auch bei Beerdigungen fanden sie ihren Einsatz auf Särgen und in Grabgestecken. Wie passend. Liebe und Tod. Optimaler ging es gar nicht. Genau das wollte er zeigen: Liebe und Tod.

Fast schon behutsam öffnete er den Briefumschlag, was ihm mit den Handschuhen schwerfiel, befüllte ihn. Dabei achtete er penibel darauf, keine verräterischen Spuren zu hinterlassen. Schließlich hatte er nicht umsonst alles bis ins letzte Detail geplant.

Ein Hochgefühl ergriff ihn, als er sich ihre Reaktion vorstellte. Würde sie die Gefahr sofort erkennen? Er hoffte nicht, wollte ihre Unwissenheit auskosten, es genießen, wenn die Erkenntnis sie plötzlich treffen würde.

Vergnügt rieb er sich die Hände, streifte die Jacke über. Den Brief verstaute er in einem frischen Gefrierbeutel, den er in seine Jackentasche steckte.

Dann verließ er das Haus. Die Jagd hatte begonnen.

Bestimmt nichts vergessen?« Ines schaute ihre Tochter fragend an.

»Nein. Und wenn, dann sicher nichts Wichtiges. Außerdem gibt es in Stuttgart genügend Einkaufsmöglichkeiten, sollte doch was fehlen«, erklärte Danny im Brustton der Überzeugung. »Mach dir also nicht so viele Gedanken!«

Ines musste Daniela recht geben. Schließlich kannte Danny Stuttgart wie ihre Westentasche. Immerhin hatten sie bis vor einem halben Jahr dort noch gewohnt. Und außerdem würde Antonio sich glücklich schätzen, wenn er Danny etwas kaufen konnte. Es gab für ihn nicht so oft die Möglichkeit, sein Kind zu verwöhnen. Aber das holte er in den letzten beiden Wochen der Ferien sicher nach.

Danielas Koffer platzte fast aus den Nähten und nur mit Jans Hilfe schafften sie es, ihn zu schließen.

»Zum Glück fährst du nicht mit dem Zug. Du würdest dir glatt einen Bruch an deinen Klamotten heben!«

Jan sah Danny breit grinsend in die Augen. Diese boxte ihn dafür im Spaß in die Seite. »Keine Ahnung hat der Mann! Eine Frau braucht nun mal genug Garderobe! Was weiß ich denn, was mein Vater alles mit mir unternehmen will?«

Stundenlang hätte Ines diesem Geplänkel zuhören können, doch ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass Daniela sich besser beeilte. Höchste Zeit, dass sie fertig wurde. Antonio würde jeden Moment vor der Tür stehen. Im selben Moment klingelte es. Während Jan öffnete, trat er einen Schritt zurück, begrüßte Danielas Vater mit einem freundlichen: »Hallo, komm rein. Die Mädels sind schon ganz durch den Wind. Wird Zeit, dass hier wieder Ruhe einkehrt.«

Beide Männer kannten sich nun schon eine ganze Weile und achteten einander, was Ines ihnen hoch anrechnete.