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Blumberg: Eine idyllische Stadt am Rande des Südschwarzwaldes. Eine historische Dampflok, Überreste ehemaligen Erzabbaus und wunderschöne Wanderwege haben den Tourismus in den letzten Jahren gewaltig angekurbelt. Doch mitten in diesem Idyll geschieht ein bestialischer Mord. Eine junge Frau wird übel zugerichtet im Abhang des Eichbergs zwischen Gestrüpp und Bäumen tot aufgefunden. Eine Beziehungstag? Ein Zufallsopfer? Die zweifache Mutter hatte scheinbar keine Feinde. Ganz im Gegenteil, sie war überall sehr beliebt. Trotzdem muss irgendjemand eine Mordswut auf sie gehabt haben. Das ruft die Villinger Kriminalhauptkommissarin Ines Sandner und ihr Team auf den Plan. Sie nehmen die Ermittlungen auf, ohne zu wissen, dass dieser Mord erst der Anfang ist.
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Seitenzahl: 331
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Sonja Kindler
wurde 1963 in Recklinghausen geboren, wuchs aber in Blumberg, einem Ort nahe der Schweizer Grenze auf, wo sie mit ihrer Familie lebt. Sie arbeitet als Schadensanalytikerin in einem metallverarbeitenden Betrieb. Das Bücherschreiben ist ein berufsausgleichendes Hobby für sie geworden. Bücher begleiteten sie bereits ihr Leben lang, was lag da näher, als sich die Geschichten selbst auszudenken? In ihren Romanen zeigt sie glaubwürdig auf, welche Motivationen letztendlich zu einem Verbrechen führen können
Sonja Kindler
SCHWARZWÄLDER HUNDSTAGE
Krimi
Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Für Dagmar
PROLOG
Angespannt lauschte er in die Nacht. Alles ruhig. Nur die gleichmäßigen Atemstöße aus dem Gitterbett in der hinteren Ecke des Raumes waren zu hören. Ohne ein unnötiges Geräusch zu verursachen, schlug er langsam die Bettdecke zurück, schwang die dünnen Beinchen über die Kante. Ein Schwindel ergriff ihn, der Grund war sein leerer Magen, der seit zwei Tagen keine feste Nahrung mehr bekommen hatte. Schlurfenden Schrittes bewegte er sich zum Fenster, durch das der Mond die Einrichtung in fahles Licht tauchte. Die breite Fensterbank bot ausreichend Platz, sich mit angezogenen Knien, die er mit seinen Armen umschlang, niederzulassen.
Aus dem Kinderbett drang ein Aufstöhnen. Der Junge am Fenster hielt den Atem an, drehte den Kopf und schaute durch das Halbdunkel hinüber.
»Bitte nicht, schlaf weiter«, flüsterte er. Seine Hände verkrampften sich ineinander. Erst vor zehn Minuten war seine kleine Schwester nach stundenlangem Schreien vor Erschöpfung eingeschlafen. Dabei hatte er alles versucht, sie zu beruhigen: Die Windel entfernt, die nur noch aus Fäkalien zu bestehen schien und den Po mit einem seiner Shirts notdürftig gereinigt. Wie gerne hätte er dem Kind mit einem Waschlappen und etwas Wasser Erleichterung verschafft, doch sie waren in diesem Zimmer eingeschlossen, sodass er nur auf dieses Kleidungsstück zurückgreifen konnte. Sie sperrte ihre Kinder immer ein, wenn sie sich auf den Weg machte, um sich den nächsten Schuss zu besorgen.
Ich hab’ keinen Bock darauf, euch plötzlich jammernd am Rockzipfel zu haben. Wehe, ihr macht die Nachbarn auf euch aufmerksam. Dann Gnade euch Gott. Oder willst du, dass die Polizei kommt und euch holt? Weißt du, was die mit solchen Schissern wie euch macht? Die steckt euch ins Heim zu den bösen Onkeln.
Deutlich hallte ihm die Stimme der Mutter im Ohr nach. Er sah sie wieder vor sich, wie sie mit schiefem Grinsen vor ihm stand, den Zeigefinger in seine Brust bohrte. Ein Speichelfaden sabberte aus dem Mundwinkel, während sie mit unkontrollierten Bewegungen versuchte, ihre High Heels irgendwie an die Füße zu bekommen. Er wollte nicht zu den Onkeln, denn er wusste, wozu diese fähig waren. Schließlich brachte sie öfters einen mit nach Hause. Aber wenigstens immer nur einen. Dabei wurde es für ihn immer schwerer, seine kleine Schwester vor diesen Männern zu beschützen. Sie ließen sie nur in Ruhe, weil er, obwohl vor Angst zitternd, die Zähne zusammenbiss und ihre perversen Spielchen über sich ergehen ließ, wovon unzählige Hämatome zeugten. Sein kleiner Körper war voll davon.
Mit traurigen Augen stützte er sein Kinn auf den Knien ab, hielt den Kopf schief und lehnte ihn an die kühle Scheibe. Sein Blick ging ins Leere, sah nicht die Schönheiten der Natur draußen, die im Mondlicht herrlich zur Geltung kamen.
Würde sie wiederkommen? Allein? Wenn nicht, was dann?
Er blickte zu dem kleinen Tischchen neben seinem Bett hinüber. Nur noch ein kleiner Rest befand sich in der Wasserflasche. Diesen würde er für sein Schwesterchen aufbehalten. Milch gab es schon seit gestern nicht mehr. Er hatte Angst davor, was passieren würde, wenn sie wieder in ihren endlosen Schreikrampf verfiel. Seine Kraft war nahezu erschöpft und er wünschte sich, er wäre lieber tot, als so weitermachen zu müssen.
DREISSIG JAHRE SPÄTER
Sonntag
»Ach komm, Süße. Nur ein klitzekleines Küsschen. Ich verspreche dir, das tut überhaupt nicht weh.«
Er legte seinen Arm besitzergreifend um Martinas Schulter, versuchte, sie an sich zu ziehen. Dabei streifte sie sein alkoholgeschwängerter Atem, sodass sie angewidert den Kopf abwandte. Energisch schubste sie seine Hand fort. Wenn er nur ein kleines bisschen weniger getrunken hätte, wäre sie vielleicht nicht einmal abgeneigt gewesen, sich zu einem kleinen Flirt hinreißen zu lassen. Doch im Moment hatte dieser Mann gesetzteren Alters mit seinen abstehenden, wie man ansatzweise noch erkennen konnte, ehemals schwarzen Haaren und den von zahlreichen Margaritas getrübten Augen wenig Anziehendes an sich. Dazu kam noch, dass der Schweiß in Strömen an ihm hinunterlief. Dabei klebte das hellblaue Hemd an seinem verschwitzten Oberkörper, völlig unvorteilhaft für seinen beginnenden Bauchansatz. Durch die Menschenmenge in der Pizzeria und die tagelange Sommerhitze hatte der Gastraum eine nahezu unerträgliche Schwüle angenommen. Martina spürte, wie sich eine Schweißperle zwischen ihren wohlgeformten Brüsten einen Weg hinunter zu ihrem Bauch bahnte. Doch zumindest roch sie wenigstens nicht unangenehm, was man von ihrem Gegenüber nicht behaupten konnte.
»Mensch, sei doch nicht so. Wir beide könnten zusammen echt viel Spaß haben, glaub mir, Schätzchen«, gab er nicht auf, während er diesmal probierte, seine Hand auf ihrem Oberschenkel zu platzieren. Doch der Versuch scheiterte, da Martina vom Barhocker rutschte. Sie verdrehte die Augen, hielt ihn mit vorgestrecktem Arm auf Abstand.
»Von wegen. Ich glaub, dir rast der Blocker, Kurt. Nur weil dich deine Frau daheim rausgeschmissen hat, brauchst du mich in diesem Zustand nicht anbaggern.«
Sie steckte sich eine Strähne ihres blonden, lockigen Haares hinters Ohr. Kurt, schwankend auf seinem Hocker sitzend, blinzelte unter seinen halb heruntergelassenen Lidern hervor, wollte nach ihr greifen. Doch seine Hand ging ins Leere. Scheinbar beeinträchtigte der Alkoholpegel bereits seine Koordinationsfähigkeit.
»Bitte, wenigstens noch einen kleinen Drink zum Schluss«, bettelte er mit einem Dackelblick aus seinen braunen Augen, während er sich krampfhaft am Tresen festkrallte. Doch Martina ließ sich nicht erweichen. Demonstrativ blickte sie auf ihre silberne Armbanduhr.
»Nein, für heute ist Schluss. Ich muss morgen wieder früh raus.« Sie schob ihr leer getrunkenes Glas energisch auf die Seite, um dem Wirt, der hinter dem Tresen gerade eine Handvoll Gläser spülte, ein paar Scheine hinzulegen.
»Stimmt so«, lächelte sie ihn freundlich an, worauf dieser dankend mit Zeige- und Mittelfinger an eine imaginäre Hutkrempe klopfte. Kurt sah wohl ein, dass sich Martina nicht mehr überreden ließ, zumindest gab er Ruhe. Sie bahnte sich einen Weg durch die fröhlich schwatzenden Menschen nach draußen. Die Tische vor dem Lokal waren immer noch gut frequentiert. Während Martina die kühle Abendluft tief einatmete, schlenderte sie die Stufen hinab.
Oh Gott, fühlt sich das gut an.
Ein weiterer Blick auf die Uhr zeigte, dass sie eigentlich noch eine Stunde hätte bleiben können. Doch sie war nicht bereit, Kurts unmissverständliche Annäherungsversuche auch nur eine Minute länger auszuhalten. Schade, denn heute war ihr einzig freier Tag in diesem Monat. Seit ihrer Scheidung vor fünf Monaten gönnte sie sich regelmäßig diese Auszeit, half es ihr doch, ein kleines bisschen das Gefühl zu haben, auch mal etwas für sich selbst zu tun. Schließlich blieb nicht viel Zeit dafür, weil, neben ihrem Job als Büroangestellte in einer Steuerkanzlei, auch ihre Kinder nicht zu kurz kommen sollten. Es lag ihr sehr am Herzen, dass die beiden, trotz der Scheidung, so normal wie möglich aufwuchsen. Dazu gehörte eben auch, genug Zeit mit ihnen zu verbringen. Nicht immer ganz einfach. Deshalb gehörte jeder erste Freitagabend im Monat ihr ganz allein. Ein Abend, an dem sie abschalten konnte. Manchmal fand sie für einen kurzen Augenblick eine Schulter zum Anlehnen, schließlich handelte es sich bei ihr um eine Frau in den allerbesten Jahren. Sie empfand tiefe Dankbarkeit, weil ihre Mutter ihr das ermöglichte. Sie war es nämlich, die die beiden Racker an solchen Abenden verwöhnte und ins Bett brachte.
Martina nahm noch einmal einen tiefen Zug der kühlen Luft in sich auf, ließ die Stille der Nacht auf sich wirken, schlenderte ein paar Schritte den Gehweg entlang, bis das Gemurmel der Gäste im Terrassenbereich nicht mehr zu hören war. Außer dem Zirpen einiger nächtlicher Grillen gab es keine Geräusche. Sie blickte nach oben, wo die Sterne heute besonders schön funkelten. Völlig klar im Kopf, sie hatte den ganzen Abend nur alkoholfreie Fruchtcocktails getrunken, schaute sie sich um.
Die Tür hinter ihr schwang auf, ließ für einen kurzen Augenblick die Geräuschkulisse aus dem Inneren der Gaststätte in die Stille fließen. Ein alberndes Pärchen verließ das Haus, schlenderte Arm in Arm zu einem abgestellten Wagen. Während der Motor aufheulte, bemerkte Martina, wie sie zu frösteln begann, als eine leichte Brise an der Feuchtigkeit auf ihrer Haut leckte.
Sollte sie sich ein Taxi rufen? Wofür hatte sie schließlich ein Handy in der Tasche?
Während sie noch überlegte, lauschte Martina dem Zirpen in den Vorgärten der Umgebung. Ob sich die Tierchen auf Brautschau befanden? Sie musste bei diesem Gedanken lächeln. Eigentlich war es ein wunderschöner Abend. Die Kinder gut versorgt, Zeit hatte sie auch noch, also die idealen Voraussetzungen für einen Abendspaziergang. Und wenn sie die Abkürzung, den Trampelpfad am Sportplatz vorbei, nahm, dann würde sie sich auch nicht verspäten. Ihr Entschluss stand fest.
Der Weg war relativ gut erkennbar, da der Mond bereits am sternenklaren Himmel stand, auch wenn sein Schein nicht bis in die hinterste Ecke drang. Es reichte zumindest dafür, dass sie nicht stolperte. Gut gelaunt setzte sie Fuß vor Fuß, genoss die herrliche Nacht.
Es war plötzlich da …, dieses Rascheln am Wegesrand. Erschreckt blieb sie stehen. Erleichtert betrachtete sie das kleine Kätzchen, das unvermittelt maunzend um ihre schlanken Fußfesseln schlich.
»Mensch, Mieze, hast du mich erschreckt.« Martina bückte sich und fuhr dem kleinen Wollknäuel mit den Fingern durch das seidige Fell. Genüsslich rieb das Tier sein Köpfchen an Martinas Beinen.
»So und nun genug der Streicheleinheiten. Lauf nach Hause, Frauchen wartet bestimmt schon«, forderte Martina. Das Kätzchen hob seinen Kopf. Konnte es sein, dass das Tier ihr einen beleidigten Blick zuwarf? Martina kam es jedenfalls so vor. Sie lachte. Das hätte ihrer sechsjährigen Janine sicher gefallen.Die Kinder! Ach, herrje. Sie sollte nun wirklich schauen, dass sie nach Hause kam, mochte der Abend auch noch so schön sein.
Gerade als sie weiterlaufen wollte, stoppte sie ein erneutes Knacken.
Nicht schon wieder! Martina, das ist bloß diese alberne Katze. Bleib nicht stehen, sonst wirst du sie gar nicht mehr los! ermahnte sie sich in Gedanken selbst. Doch als sie erneut ein Geräusch vernahm, drehte sie sich neugierig um. Nichts zu sehen.
Hatte sie sich getäuscht? Nein, denn jetzt hörte sie Schritte.
Sie blieb stehen, wandte sich erneut um, horchte. Wieder nichts. Alles schien ruhig zu sein. Angestrengt schaute sie zur linken Seite hinüber, wo sich im Dunkeln ein Spielplatz befand, deren Spielgeräte sie schemenhaft erkennen konnte. Der Sportplatz, rechts von ihr gelegen, lag völlig im Dunkeln. Nur der gitterähnliche Metallzaun, der das gesamte Sportgelände umgab, reflektierte an manchen Stellen das Mondlicht. Sie streckte sich, um irgendetwas in dieser undurchdringlichen Schwärze zu erkennen, doch sie konnte keine Bewegung ausmachen. Ganz wohl war ihr nicht bei der Sache. Da gab es nichts daran zu rütteln, die Schritte hatte sie sich nicht eingebildet, das wusste sie. Martina spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, während sie suchend die Augen umherschweifen ließ. Ohne Zweifel stieg der Adrenalinspiegel in ihrem Blut an, schärfte ihre Sinne. Hitze stieg in ihr auf und verstärkte ihren Fluchtgedanken. Weg. Nichts wie weg hier. Verflucht, warum musste ich unbedingt diese Abkürzung nehmen?
So schnell wie möglich wollte sie nun aus dieser dunklen Zone heraus. Fest krampften sich ihre Finger um ihre Handtasche, als handele es sich um einen Rettungsanker. Wie von selbst beschleunigte sich ihr Gang, lenkten die Füße sie in Richtung der nächsten Straße, wo Laternen ihr Licht verströmten. Dort würde sie sich sicherer fühlen. Immer schneller lief sie, begann vor Anstrengung zu keuchen. Der Pfad neben dem kleinen Stadion ging in einen breiten Kiesweg über, der sich mitten durch eine große Wiese schlängelte. Sie sah bereits die ersten Häuser, wähnte sich fast in Sicherheit. Doch dann vernahm sie wieder Schritte hinter sich. Dieses Mal schneller, fester auftretend und nicht so vorsichtig wie zuvor. Nun rannte sie, der Rock schlang sich beim Laufen um ihre Oberschenkel, bremste ihren Lauf. Keuchend schaute sie sich um, und da sah sie ihn. Eine dunkle Gestalt im langen Mantel. Schritt für Schritt holte er auf. Schon befand sich die erste Laterne fast in greifbarer Nähe, doch für sie unerreichbar. Ihr Verfolger hatte sie erreicht. Brutal stoppte er Martinas Flucht, indem er kraftvoll in das lange blonde Haar griff und sie zurückriss. Mit einem Aufschrei fiel sie auf die Knie. Das Adrenalin pumpte sich bis in die letzten Enden ihrer Blutbahn, breitete sich im ganzen Körper aus wie ein Dämon, der von ihr Besitz ergriff. Blut rann aus den vom Kies aufgerissenen Beinen. Ungeahnte Kräfte wurden in ihrem Inneren entfesselt, blendeten die Schmerzen aus, ließen sie laut schreiend um sich schlagen, sich mit allen Kräften gegen den Angreifer wehren. Doch der wich all ihren Versuchen, ihn zu verletzen, geschickt aus. Im fahlen Mondlicht sah sie etwas aufblitzen, spürte unsagbaren Schmerz in der Brust. Ihr letzter Gedanke galt ihren Kindern, die sie in diesem Leben nie wiedersehen würde.
Montag
Schnaufend stoppte Ines ihren Lauf. Sie beugte sich hinunter, legte die Hände auf die Schenkel ihrer durchgestreckten Beine und ließ den Oberkörper locker nach unten hängen, wobei ein neonfarbenes Stirnband über ihrem kurzen, dunklen Haar dafür sorgte, dass ihr der Schweiß nicht in die Augen lief. Nachdem sich die Atmung wieder etwas normalisierte, schob sie zum Abschluss der Joggingrunde noch ein paar Dehnübungen nach. Obwohl ihr pinkes Top von ihren sportlichen Aktivitäten an diesem Morgen deutliche Schweißspuren aufwies, fühlte sie sich rundum wohl. Sie liebte es, den Tag mit Sport zu beginnen, denn er sorgte dafür, dass sie sich lebendig fühlte. Und ganz nebenbei setzte sie keine überflüssigen Pfunde an. Ein Blick auf das Trackingarmband ließ sie zufrieden lächeln. Alle gesteckten Ziele erreicht. Leichtfüßig lief sie die letzten Meter am Gelände der Kindertagesstätte Am Kopsbühl vorbei. So früh am Morgen herrschte hier noch absolute Ruhe, doch das würde sich bis in zwei Stunden grundlegend ändern. Ines wählte mit Absicht immer einen Teil ihrer Laufstrecke durch ein Wohngebiet. Inzwischen kannte sie sich in Villingen gut aus. Wurde auch Zeit, nachdem sie nun schon über zwei Jahre hier lebte.
Ines erreichte ihren orangenen Seat Ibiza, der auf dem Lidl-Parkplatz direkt gegenüber dem Friedhof parkte. Diesen Wagen hatte sie sich zugelegt, als der alte Mini seinen Geist aufgab, ungefähr ein halbes Jahr nach ihrem Umzug von Stuttgart nach Villingen. An die Ereignisse damals, die in diesem Augenblick automatisch in ihr Gedächtnis traten, wollte sie eigentlich nicht denken. Zu viel Schmerz erfüllte sie, wenn ihre Gedanken zu Jan gingen, ihrem damaligen Lebensgefährten. Entschlossen wischte sie mit der Hand alles Trübe zur Seite, als ob sie eine lästige Fliege verscheuchte. Es war vorbei. Sie lebte hier und jetzt. Das alleine zählte.
Eine Stunde später, frisch geduscht, warf sie, an ihrem Kaffee nippend, einen Blick in den Lokalteil des Südkuriers. Endlich einmal Ruhe. Danny, ihre inzwischen dreizehnjährige Tochter, befand sich für zwei Wochen in Stuttgart.
Dort wurde sie von Antonio, ihrem Ex-Mann und Dannys Vater nach Strich und Faden verwöhnt. Das galt natürlich auch für seine Frau Susi und die kleine Emily. Danny liebte ihre Halbschwester abgöttisch, konnte nicht genug davon bekommen, mit ihr herumzutollen. Aber die Kleine war mit ihren drei Jahren auch einfach zu goldig.
»Antonio, freu dich nicht zu früh. Wenn Danny einen ihrer Tobsuchtsanfälle bekommt, musst du dich warm anziehen«, murmelte Ines grinsend vor sich hin, als sie daran dachte, wie Danny ausgerastet war, als Ines Mutter ihrer Enkelin ein rosa Kuscheltier aus dem Urlaub mitbrachte. Ihr Blick wanderte zum leeren Platz im Regal über der Spüle, Zeuge eines fliegenden Einhorns, das ihre Lieblingstasse zu Boden gefegt hatte. Ein paar Augenblicke später kehrte eine reumütige und am Boden zerstörte Danny die Scherben zusammen. Erst überlegen, dann handeln? Dieser Spruch traf im Moment nicht auf ihre Tochter zu. Pubertät war schon eine merkwürdige Geschichte. Na ja, gehörte wohl zum Erwachsenwerden dazu. Hauptsache, Danny ließ ihren Frust nicht an ihrer kleinen Halbschwester aus. Aber vermutlich hielt sich Familie Gomez sowieso hauptsächlich im Schwimmbad auf, bei diesen Rekordtemperaturen. Da gab es ganz andere Möglichkeiten, überschüssige Energien abzubauen.
Ganz Deutschland stöhnte schon seit Wochen unter der anhaltenden Hitze. Sie las gerade, dass in den umliegenden Gemeinden bereits die Feuerwehren mit ihren Tankwagen aushelfen mussten, um die Bäume mit Wasser zu versorgen. Ein einziger Baum benötigte doch glatt zweihundert Liter Wasser. Ines staunte. Als sie den letzten Schluck aus der Tasse in sich hineinschüttete, richtete sie einen Blick auf die Küchenuhr über der Tür. Genug getrödelt, es wurde langsam Zeit, ihren Dienst anzutreten.
»Oh, hallo Chef!«
Überrascht erblickte sie Siegmund Willimsky im Türrahmen, der mit seinen Lachfältchen und dem nicht zu übersehenden Bauchansatz eher einen gutmütigen Eindruck machte, als dass er auf den ersten Blick Autorität verströmte. Doch dieser Eindruck täuschte gewaltig. Ines und ihre Kollegen konnten ein Lied davon singen. Klug und gerecht führte er seine Mannschaft, erwartete dafür aber auch Einsatz und Eigeninitiative. Laut werden, aus der Haut fahren? Auch das kein Problem für Willimsky. Besondere Vorkommnisse erforderten eben auch entsprechende Maßnahmen.
»Wie ich sehe, ist meine leitende Beamtin fleißig bei der Arbeit. Doch ich fürchte, ich muss Sie unterbrechen.«
Augenzwinkernd näherte er sich, überreichte ihr ein Blatt.
»Das kam gerade rein. Es gibt eine weibliche Leiche. Und wie es den Anschein hat, handelt es sich um Mord. Die Kollegen aus Rottweil sind gerade dabei, eine Mordkommission einzurichten.«
Ines nahm das Papier in die Hand, warf einen Blick darüber und zog die Augenbrauen hoch.
»Eine Wegbeschreibung?«
»Jepp. Rottweil möchte, dass sie die Leitung des Falles übernehmen und sich gleich mal am Leichenfundort umsehen. Es wurde dementsprechend bei mir angefragt. Sie wissen doch, Urlaubszeit, überall nur Notbesetzung. Da konnte ich nicht Nein sagen. Schließlich liegt bei uns im Moment nichts an, was nicht warten könnte. Und ein Tötungsdelikt aufzuklären, hat immer Priorität. Außerdem scheint mir, dass Sie im Moment gerne dieses Büro gegen einen kleinen Betriebsausflug tauschen möchten.«
»Erwischt, Chef. Aber diese Affenhitze hier ist auch einfach nicht zum Aushalten.«
Wie zur Bestätigung lief ein weiterer Schweißtropfen von der Stirn die Schläfe hinab, der jedoch automatisch von ihrer Hand mit einem Wisch ins Nirwana befördert wurde. Gedankenverloren strich Ines mit dem Finger anschließend über das Muttermal an ihrer Stirn, wie immer, wenn das Hirn in ihrem hübschen Kopf anfing, auf Hochtouren zu laufen. Fragend schaute sie Willimsky in die grauen Augen.
»Wieso eine Wegbeschreibung? Ist der Tatort so abgelegen, dass das Navi kein GPS-Signal mehr bekommt, oder weshalb sonst?«
»Nein, nein. Das ist nur als Orientierungshilfe im Vorfeld gedacht, damit Sie schon mal wissen, in welche Richtung es geht.«
»Liegen denn schon Informationen vor?«
Ines Interesse war geweckt. Die Aussicht, diesem Glutofen für ein paar Stunden entrinnen zu können, hob ihre Stimmung deutlich an. Energisch schob sie die Tastatur zur Seite, schenkte Willimsky nun ihre ganze Aufmerksamkeit. Abwartend sah sie dabei zu, wie er sich den Bürostuhl vom verwaisten Nebenschreibtisch schnappte. Plumpsend ließ er sich nieder, zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, um sich den Schweiß von Stirn und dem Kopf über seinem weißen Haarkranz zu wischen. Der Hauch eines herben, aber keineswegs unangenehm duftenden Deodorants streifte Ines Nase, als er sich zu ihr hinüberlehnte.
»Die Leiche befindet sich in einem Waldstück bei Blumberg. Sie kennen diesen Ort?«
»Blumberg? Ist das dort, wo diese Museumsbahn fährt?«
»Genau. Die Frau wurde in bewaldetem Gebiet, abseits der gut frequentierten Wanderwege entdeckt. Zu unserem Glück befand sich die Donaueschinger Hundestaffel des Roten Kreuzes gerade auf einem Trainingseinsatz. Der feinen Nase eines Rottweilers ist es zu verdanken, dass sie gefunden wurde. Vermutlich hätte die Tote dort sonst noch Wochen, wenn nicht sogar Monate liegen können, ohne dass man sie gefunden hätte.«
Willimskys Worte führten Ines wieder die entsetzlichen Momente vor Augen, als ihre Tochter Daniela und Ines Mutter von einem Psychopathen entführt worden waren. Nur durch die Hilfe der Rettungshunde konnten die beiden damals schnell gefunden und von einem SEK-Team befreit werden.
»Ines? Hören Sie mir zu? Vielleicht sollten sie bei der Wärme mal einen Schluck trinken.« Besorgt schaute er sie an, doch sie hatte sich schon wieder im Griff.
»Alles gut. Hab schon verstanden. Sonst noch etwas, dass ich wissen muss?«
»Alles Weitere erfahren Sie von den Kollegen vor Ort. Sie werden hauptsächlich von Rottweil aus arbeiten. Die Beamten richten Ihnen gerade ein Büro ein. Aber das kennen Sie ja bereits.«
Da sich in Rottweil die Kriminalpolizeidirektion befand, während es sich in Villingen-Schwenningen »nur« um ein Kriminalkommissariat handelte, leisteten sie bei Bedarf Schützenhilfe für die Kollegen, die ständig unter Personalmangel litten. Fälle, bei denen eine Mordkommission eingerichtet wurde, mussten in der Regel sowieso von Rottweil aus geklärt werden. Natürlich gab es Ausnahmen, aber Rottweil verfügte einfach über das entsprechende Equipment und die ausreichenden Räumlichkeiten. Das Verhältnis zwischen den beiden Dienststellen war ausgezeichnet. Ines arbeitete gern mit den Beamten zusammen, auch als Ermittlerin, wenn sie nicht die Leitung hatte.
»Und Sie, Chef?« Gespannt wartete sie auf die Antwort.
»Ich werde mich hauptsächlich auch in Rottweil aufhalten, denn ich übernehme zusätzlich die kommissarische Gesamtleitung, solange Kriminaloberrat Neumann noch im Urlaub weilt. Anweisung aus Tuttlingen. In Villingen bin ich nur sporadisch, solange es die Situation zulässt.«
Mit Freude nahm Ines zur Kenntnis, dass er bei diesem Fall ihr Ansprechpartner für alle Fragen und Probleme sein würde.
»So, und nun schalten Sie ihren Computer ab. Es wird Zeit, dass Sie sich die Sache persönlich anschauen. Viel Erfolg.«
Die Leichtigkeit, mit der sich Willimsky bei diesen Worten erhob, erstaunte Ines immer wieder aufs Neue. Mit einem aufmunternden Zwinkern verließ er den Raum, während Ines ihre Waffe ins Halfter steckte, dabei automatisch kontrollierte, ob sie auch wirklich gesichert war.
Auf dem Weg zum Auto bedauerte sie, dass sie immer noch keinen festen Partner an ihrer Seite hatte. Ein Seufzen machte sich aus ihrer Kehle Luft, denn sie musste unwillkürlich an ihren ehemaligen Praktikanten Peter denken. Peter Fuhrer, der unermüdlich Akten gewälzt hatte, um ans Ziel zu kommen. Keine Arbeit war diesem blonden, blauäugigen jungen Mann zu viel gewesen, wenn es darum ging, einen Mörder zu schnappen. Sie vermisste seine humorvolle Art und seinen Pragmatismus. Aber wer weiß, vielleicht würden sie ja in nicht allzu ferner Zukunft einmal Kollegen sein, denn im Moment befand er sich kurz vor den Prüfungen seines dreijährigen, dualen Studiums für den gehobenen Polizeivollzugsdienst. Und das war etwas, worauf sie sich wirklich freute. Doch im Moment standen andere Dinge im Vordergrund. Sie musste sich um diesen neuen Fall kümmern.
Warum in Gottes Namen muss alle Welt plötzlich überall Kreisverkehre bauen? Obwohl, an dieser Stelle erschien es ihr einigermaßen sinnvoll.
Sie konzentrierte sich auf den Weg. Laut Navi musste sie noch ein Stück geradeaus auf der Hauptstraße bleiben. Eine Fabrik huschte an ihrer linken Seite vorbei, bevor ein Areal mit mehreren Einkaufszentren erschien. Ihr Weg führte sie weiter in Richtung Stadtzentrum.
»In einhundert Metern rechts abbiegen auf Uchbahnstraße«, schnarrte es aus dem Lautsprecher. Sie fuhr in die angegebene Straße. »In fünfzig Metern weiter geradeaus fahren, um auf Eichbergstraße zu bleiben.«
Weitere Straßen folgten. Langsam ging es immer höher, die Strecke wurde kurviger. Nachdem sie die letzten Häuser passierte, säumten nur noch Bäume und Gestrüpp ihren Weg. Schließlich ließ sie noch ein einzelnes Holzhaus links liegen. Ein Gerüst und die Farbe des Holzes ließen erkennen, dass es sich gerade im Umbau befand. Kurz darauf stoppte sie das typische rot-weiße Absperrband der Kollegen in Höhe eines Wanderparkplatzes. Es schaukelte quer über der Straße in einer leichten Brise, wodurch der Zugang zum Wanderweg in zwei verschiedene Richtungen verwehrt wurde. Ab hier ging auch die geteerte Oberfläche der Straße in einen unbefestigten Waldweg über, aber immer noch breit genug, um von einem Fahrzeug befahren zu werden. Vier Kollegen der Schutzpolizei und zwei Polizeiwagen sicherten den Bereich. Scheinbar lag der Tatort noch etwas entfernt, denn ansonsten hätten hier deutlich mehr Menschen umherwuseln müssen.
Ines hielt an, ließ das Seitenfenster hinunter. Fern vom Straßenlärm der Stadt drang munteres Vogelgezwitscher an ihr Ohr. Eine Mischung aus Tannenduft, vermoderndem Holz und verschiedenen Waldgewächsen ließ sie die Augen schließen. Für einen klitzekleinen Augenblick vergaß sie, warum sie hier war. So lange, bis sich eine Polizeiwachtmeisterin zu ihr hinunterbeugte.
»Hallo, Frau Sandner. Sie müssen noch ein ganzes Stück fahren. Geradeaus, dann bei der nächsten Gabelung rechts und immer den Weg folgen. Bis zum Stutz hoch«, meinte die Beamtin freundlich, nachdem sie einen Blick auf Ines Ausweis geworfen hatte.
»Zum Stutz? Was ist denn das?« Ratlos zog Ines die Augenbrauen hoch.
»Sie sind nicht von hier, oder? Also, wir befinden uns hier auf dem sogenannten Eichberg und seine höchste Stelle, das ist der Eichbergstutz, etwas mehr als neunhundert Meter hoch.«
»Aha, und dort oben ist auch der Tatort?«
»Kann ich Ihnen nicht sagen, die Leiche wurde dort jedenfalls gefunden, aber, ob es sich auch um den Tatort handelt, die Frage müssen Sie schon dem Gerichtsmediziner stellen.«
»Okay, vielen Dank. Immer da entlang, sagten Sie?« Ines zeigte auf den ausgefahrenen, leicht steinigen Weg vor sich.
»Genau. Sie können es gar nicht verfehlen. Folgen Sie einfach den rot-schwarzen Markierungen des Wanderweges.«
Ungefähr zweieinhalb Kilometer später erreichte die Hauptkommissarin das Ziel, wie ihr das Vorhandensein mehrerer Polizeifahrzeuge und jede Menge Einsatzkräfte verschiedener Couleur signalisierten. Zuerst schaute sie sich nach einem geeigneten Abstellort für ihren Wagen um. Schließlich fand sie ein freies Plätzchen am Wegrand, halb in einem Graben. Geäst schrappte am Unterboden entlang, als sie parkte. Oh, oh, das hörte sich nicht gut an.
Hundegebell drang an ihr Ohr, als sie auf die Personen in ihren weißen Overalls zuging, die geschäftig hin- und herliefen, dabei stets bemüht, keine Spuren zu beschädigen. Ein angenehmer Wind wehte über die Kuppe eines Abhanges vor ihr, blies ihr den Pony aus dem Gesicht. Prüfend wanderte ihr Blick über die Szenerie.
Neben einer kleinen Blockhütte standen drei Personen in Zivilkleidung, die sich angeregt unterhielten. Einer von ihnen entdeckte Ines und machte die anderen auf sie aufmerksam, indem er mit der Hand auf sie zeigte und Ines gleichzeitig zu sich winkte. Mit ausladenden Schritten und ausgestreckter Hand kam er ihr entgegen.
»Sie sind sicher Hauptkommissarin Sandner, nicht wahr?«
Der Händedruck dieses rothaarigen Mannes mit der schiefen Nase und den wachen, grünen Augen fühlte sich warm und fest an. Angenehm überrascht stellte Ines fest, dass seine Hand trotz Hitze keinerlei Feuchtigkeit aufwies. Sie legte den Kopf leicht in den Nacken, da er sie um fast einen Kopf überragte.
»Ich bin Hauptkommissar Tobias Wehrle, bei den beiden anderen handelt es sich um die Kommissare Jennifer Schramm und Marco Bernardi«, stellte er die Gruppe vor. Auch wenn Ines schon öfters mit Rottweil zusammengearbeitet hatte, kannte sie selbstverständlich nicht alle Bediensteten, zu groß war das Kommen und Gehen dort. Diese drei waren ihr bisher noch völlig unbekannt. Doch sie liebte es, neue Leute kennenzulernen. Die Arbeit bekam dann immer etwas frischen Wind und blieb nicht in alten Fahrspuren hängen. Ines hielt sich nicht mit langen Reden auf, sondern kam gleich zur Sache.
»Herr Wehrle, können Sie mir einen ersten Überblick geben? Was haben wir?«
»Kommen, Sie. Ich zeige es Ihnen.«
Er ergriff sie am Arm und zog sie mit sich, vorbei an einem Grillplatz. Im Vorbeilaufen erspähte Ines einen Grill, der sehr künstlerisch aus alten Schienen zusammengeschweißt worden war. Ein Blickfang und funktionell zugleich. Die anderen beiden Kommissare folgten ihnen auf den Fuß. Zu viert steuerten sie auf den Abhang zu, den Ines vorhin schon bemerkt hatte. Eine Art Holzsteg ragte über ihn hinaus, gesichert durch einen sehr wacklig aussehenden Holzzaun. Nicht gerade vertrauenserweckend.
Eine Aussichtsplattform? Aber dieser leicht nach unten geneigte Boden, war das nicht gefährlich?Und warum mit einem Zaun gesichert?
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich da jemand rauf wagte. Vorsichtig lugte sie nach unten. Und zwar sehr vorsichtig, wobei sie prompt von einem Schwindel erfasst wurde. Steil bergab ging es da. Wie steil, konnte man nur erahnen, da alles mit Bäumen und Gestrüpp zugewuchert war. Doch wenn man den Kopf hob und in die Ferne sah, hatte man einen grandiosen Ausblick.
Tobias Wehrle sah Ines fragenden Blick, was ihn zu einer Erklärung veranlasste.
»Sie haben so etwas noch nicht gesehen, oder? Ist eine Absprungplattform. Wir haben hier jede Menge Deltaflieger.«
»Oh. Sie meinen, diese bunten Drachenflieger, die stundenlang in der Luft bleiben, wenn sie die richtige Thermik erwischen?« Es überraschte sie doch immer wieder, was die Gegend hier zu bieten hatte. Jetzt entdeckte sie auch die Masten mit den Windsäcken, die an verschiedenen Stellen aufgestellt waren. Instinktiv schaute sie nach oben, doch am Himmel über ihr schwebte keiner dieser Hängegleiter.
»Genau. Hier herrschen für diese Sportler die besten Bedingungen. Was glauben Sie, was die für eine Aussicht von da oben haben? Schauen sie mal da hinten.«
Er wies mit dem Finger geradeaus in die Ferne. Ines folgte der Richtung, wobei sie die Augen zusammenkneifen musste, da die Sonne stark blendete, obwohl sie hoch über ihnen stand. Doch dann sah sie es. Berge. Richtige Berge, nicht nur neunhundert Meter hoch. Sogar Schnee konnte sie trotz des Hochsommers auf manchen Gipfeln erkennen. Allerdings schienen sie sehr weit weg zu sein.
»Schön, nicht?« Dabei handelte es sich eher um eine Feststellung von Tobias als um eine Frage. »Das sind die Alpen. Aber leider sind wir nicht zum Sightseeing hier. Also, an die Arbeit.«
Ines riss sich von dem Anblick los und folgte ihm. Rechts, unter den Bäumen, kniete ein Mann in einem Schutzanzug. Konzentriert schaute er sich den Körper an, der vor ihm auf einer Folie lag, bis er die Ankömmlinge bemerkte. Gemächlich erhob er sich, bewegte sich auf sie zu. Hitze, Alter und ein paar Pfunde zu viel sorgten dafür, dass es der sympathische Mann mit dem schütteren grauen Haar etwas langsamer angehen ließ. Doch in seinem Fall zählten nicht Fitness und Behändigkeit, sondern seine fachliche Kompetenz.
»Was für eine angenehme Überraschung. Grüße Sie, Frau Sandner. Wie ich hörte, leiten Sie in diesem Fall die Ermittlungen.«
»Stimmt. Und Sie haben sich mal wieder leider auf den weiten Weg zu uns begeben müssen, Professor Maier. Wobei das leider für Sie gilt. Für uns ist das eher ein Glücksfall.«
»Ach kommen Sie, schmieren Sie mir keinen Honig ums Maul. Ein anderer Gerichtsmediziner wäre bestimmt genauso gut. Bei elf Jahren Ausbildung muss ja schließlich auch was hängen bleiben.«
Er lachte gut gelaunt, wischte sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn.
»Aber ich muss Ihnen schon recht geben. Bei diesen Temperaturen ist es bei mir in Freiburg natürlich deutlich angenehmer. Tja, Augen auf bei der Berufswahl, kann ich da nur sagen.«
Trotzdem hätte Ines unter keinen Umständen mit ihm tauschen wollen. Lieber arbeitete sie in der Sommerhitze, als in der Kühle der klimatisierten Räume der Gerichtsmedizin, einschließlich des Sektionssaales. Den beißenden Geruch nach Chemikalien, Reinigungsmitteln und von verwesendem Fleisch konnte sie noch nie etwas Positives abgewinnen.
»Und, gibt es schon erste Erkenntnisse?«, wollte Ines wissen, als er sich wieder der Leiche zuwandte.
»Hat der Kollege Sie schon wissen lassen, wie sie gefunden wurde?«
»Ich hatte noch keine Gelegenheit«, mischte sich Tobias in das Gespräch ein.
»Dann holen Sie das schleunigst nach, Wehrle. Ich bin hier zu stark beschäftigt, als dass ich das auch noch übernehme.« Und schon zupfte er wieder an der Kleidung der Toten herum, schaute sich die Finger einzeln an, versuchte, den Kopf anzuheben. Voll in seinem Element, schien er die Menschen um sich herum schon ausgeblendet zu haben.
»Also, Kommissar Wehrle, dann bitte Einzelheiten. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Deutlich war die Ungeduld in der Stimme der leitenden Beamtin herauszuhören. Ein kurzes Räuspern seitens Tobias, der sich beeilte, zusammenzufassen: »Die Leiche wurde durch einen Hund der Rettungshundestaffel während eines Trainings im Freigelände entdeckt. Als der Hund anschlug und sich von seinem Führer auch nicht davon abbringen ließ, schaute dieser sich die Stelle etwas genauer an. Dabei entdeckte er Schleifspuren im Gras sowie abgeknickte Zweige an den Büschen, was wiederum zu der Annahme führte, dass ein Wanderer abgestürzt sein könnte. Aus diesem Grund verständigten seine Kollegen die Bergwacht. Die kam mit mehreren Männern, Kletterausrüstung und Rettungstrage. Ein Teil seilte sich ab und suchte das Gelände ab. Schnell fanden sie die Frau, wobei sie nur noch den Tod feststellen konnten. Da es für uns unmöglich war, an dieser unzugänglichen Stelle den Fundort zu betreten, wurde beschlossen, die Leiche von den Leuten der Bergwacht bergen zu lassen und die ersten Untersuchungen hier oben durchzuführen.«
Mit den Fingern über ihr Muttermal rubbelnd, hakte sie nach.
»Ich hoffe doch, die Lage der Leiche wurde trotzdem fotografisch dokumentiert?«
»So gut es ging. Einmal durch unseren Fotografen von der Stelle aus, wo wir uns gerade befinden und dann noch zusätzlich durch einen der Bergretter. Mehr war nicht drin.«
Bedauernd hob er die Schultern, doch mit einem erhobenen Daumen signalisierte Ines ihm, dass sie damit leben konnte. Vorsichtig beugte sie sich erneut über den Abgrund, inspizierte die Umgebung zwischen dem Grünzeug auf Besonderheiten.
»Was ist mit der Spurensicherung des Fundortes? Gibt es jemanden mit Fachausbildung, der da runter kann?«
»Ja, wir haben sogar zwei Männer mit Spezialausbildung, müssten jeden Moment hier eintreffen.«
»Sehr gut.«
»Allerdings sind durch die Bergung vermutlich einige Spuren vernichtet worden.«
»Klar. Trotzdem denke ich, dass alle richtig gehandelt haben. Gibt es einen Namen zu der Toten?« Fragend schaute sie in die Runde. Sie wollte unbedingt die beiden jungen Kollegen in die Ermittlungen von Anfang an mit einbeziehen. Nur so konnte ein gut funktionierendes Team entstehen.
Antwort bekam sie von der jungen Frau, die Tobias Wehrle vorhin als Jennifer Schramm vorgestellt hatte, deren hellblondes, glattes Haar praktischerweise als geflochtener Zopf auf dem Rücken weilte.
»Im Moment wissen wir noch nicht, wer die Tote ist. Aber ein Rechercheteam geht für den Anfang die frisch eingegangenen Vermisstenmeldungen durch.«
»Gut. Wie ich sehe, ist die Spurensicherung auch bereits aktiv. Dann wollen wir mal rüber …. Hey, Sie da vorne, was soll das?«
Mitten im Gespräch mit ihrem Team hatte Ines einen Mann entdeckt, der sich irgendwie an der Absperrung vorbeigeschmuggelt haben musste. Sicherlich hatte ihm seine kleine Statur dabei geholfen. Nun hielt er eine Kamera in den Händen und knipste, was das Zeug hielt. Wütend fegte die Kommissarin auf ihn zu, entriss ihm das Teil.
»Verflucht noch mal, was suchen Sie hier? Sehen Sie nicht, dass der Zutritt für Unbefugte gesperrt ist?« Eigentlich hätte der etwa fünfzigjährige Mann auf der Stelle tot umfallen müssen, so wie ihre Augen vor Zorn blitzten. Doch der verzog seinen Mund nur zu einem schiefen Lächeln.
»Also, ich kam da hinten den Trampelpfad quer durch den Wald hoch. Von einer Blockade keine Spur. Bin ganz aus dem Häuschen, was ich hier antreffe. Dafür können Sie mir nicht die Schuld in die Schuhe schieben. Und nun geben Sie mir mein Eigentum zurück.«
Fordernd streckte er seine Hand aus. Doch Ines übergab die Kamera an Marco.
»Marco, sichern Sie den Apparat und nehmen Sie die Personalien dieses Herrn auf. Und Sie …«, sie wandte sich wieder dem Störenfried zu, »… Sie melden sich morgen bei mir auf der Dienststelle in Rottweil. Wir unterhalten uns noch. Machen Sie sich auf ein Nachspiel gefasst.«
Mit gefurchter Stirn und immer noch auf hundertachtzig wandte sie sich Tobias zu.
»Wieso ist hier um den Fundort nicht großzügig abgesperrt worden? Und wo sind Ihre Leute, die zu verantworten haben, dass der Mann seelenruhig fotografieren konnte? Wir sind doch hier nicht in einer Peepshow oder am Bahnhof«, polterte sie.
»Nun halten Sie aber die Luft an. Wir sind schließlich auch noch nicht lange vor Ort. Die Kollegen sind dabei, die rot-weißen Bänder anzubringen. Aber das Gelände ist unübersichtlich, das geht nicht so hopplahopp. Außerdem handelt es sich bei dem Kerl um einen stadtbekannten Zeitungsfritzen. Der wird sich gleich gedacht haben, dass er vielleicht eine gute Story kriegt und sich dementsprechend verhalten haben. Wenn die Aasgeier Witterung aufnehmen, dann handeln die instinktiv.«
Trotz ihres Unmutes fand es Ines bemerkenswert, wie Tobias seine Leute in Schutz nahm. Doch eine schlampige Tatort- beziehungsweise Fundortsicherung konnte sie nicht durchgehen lassen. Schon gar nicht im Freigelände, wo es schon schwierig genug war, Spuren zu finden.
»Das ist kein Grund für unsaubere Arbeit. Sorgen Sie dafür, dass niemand mehr durchkommt.«
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um, dabei stetig Hundegebell im Ohr. Sie ließ den Blick schweifen und erkannte, dass sich die Trainingsteilnehmer der Hundestaffel etwas abseits im Schatten der Bäume niedergelassen hatten. In stoischer Ruhe warteten die Hundeführer auf weitere Anweisungen, während die Tiere langsam unruhig wurden. Ines winkte die junge Jennifer Schramm zu sich.
»Jennifer …das ist doch ihr Name, nicht wahr?«
»Ja. Was soll ich tun, Chefin?«
Wie selbstverständlich kam diese Anrede über Jennifers Lippen, sodass Ines schon wieder versöhnt war. Kompetenzgerangel schien es jedenfalls nicht zu geben.
»Wissen Sie, Jennifer, ob die Personalien der Hundeführer schon aufgenommen wurden?«
»Oh, ja. Das habe ich persönlich erledigt.«
»Und warum sind die Leute dann noch da? Je weniger Menschen hier herumwuseln, umso besser.«
»Wir dachten, vielleicht haben Sie noch ein paar Fragen an die Leute, und bevor die nicht mehr auf die Schnelle greifbar sind …« Den Rest ließ sie offen. Ines verstand.
»Schicken Sie die Leute heim. Sie sollen morgen im Kommissariat erscheinen und ihre Aussagen machen. Fürs Erste werden die nicht mehr gebraucht.«
Während Jennifer ihrem Auftrag nachging, lief Ines zu Wolfgang Maier hinüber.
»So, Herr Professor, jetzt bin ich ganz Ohr für Ihre ersten Erkenntnisse.«
Maier erhob sich, schob den Mundschutz zur Seite und startete den Versuch, den Schweiß aus den Augenwinkeln zu blinzeln, was ihm nur bedingt gelang.
»Kommen Sie, wir setzen uns dort drüben auf die Bank. Meine Arbeit hier ist sowieso fertig.«
Er gab den Kollegen einen Hinweis, worauf die Leiche fachmännisch für den Transport in die Gerichtsmedizin verstaut wurde. Ines hatte nur einen kurzen Blick darauf werfen können. Viel war nicht zu erkennen gewesen, denn das blonde Haar lag zerzaust, wild um den Kopf verteilt am Boden. Das komplett zerrissene Kleid mit dem geblümten Rockteil verdeckte kaum den übel zugerichteten Körper, der nur noch aus Fleischfetzen und Blut zu bestehen schien, Arme und Gesicht gezeichnet von Schmutz und unzähligen Kratzern.
»Woran ist sie gestorben? Durch den Sturz den Abhang hinunter?«
Maier schüttelte den Kopf.
»Nein. Sie ist erstochen worden. Das heißt, eigentlich trifft abgeschlachtet es besser. Der Täter hat gewütet wie ein Berserker. Dabei erwischte er mehrere Hauptschlagadern. Sie ist nahezu ausgeblutet. Sie war schon tot, als sie wie ein Stück Dreck den Abhang hinuntergeworfen wurde.«
Obwohl der Gerichtsmediziner schon vieles in seinem Leben gesehen haben musste, hörte Ines seiner rauen Stimme an, dass der Tod dieser Frau, beziehungsweise die Art und Weise wie sie sterben musste, selbst ihn nicht kalt ließ.