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Wie wirklich ist Zeit?
Zeit ist etwas völlig Selbstverständliches für uns, wir erleben, wie sie vergeht, wenn wir auf die Uhr schauen, Kindern beim Älterwerden zusehen oder Wettrennen beobachten. Und doch haben Physiker von Newton über Einstein bis zu den heutigen Quantenphysikern eine andere Auffassung der Zeit. Für sie ist sie nicht real, sondern eine Illusion. Für sie wird das Universum von Gesetzen beherrscht, die außerhalb der Zeit stehen, zeitlos sind, von Newtons Gravitationsgesetz bis zur Formel e=mc².
Lee Smolin hingegen sieht Zeit als die einzige fundamentale Größe des Universums. Alles andere, auch die vermeintlich unabänderlichen Gesetze, unterliegen seiner Auffassung nach der Veränderung in der Zeit. Newtons Gesetze werden vielleicht nicht immer so grundlegend bleiben, wie wir sie heute verstehen. Mit dieser revolutionären Auffassung stellt er die Zeit in den Mittelpunkt unseres Denkens über die Welt und erklärt, welche Auswirkungen das auf uns, auf die Welt, auf das Universum hat.
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Seitenzahl: 561
Lee Smolin
IM UNIVERSUM DER ZEIT
Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis des Kosmos
Aus dem Englischen von Jürgen Schröder
Deutsche Verlags-Anstalt
Die Originalausgabe ist 2013 unter dem Titel Time Reborn. From the Crisis in Physics to the Future of the Universe bei Houghton Mifflin Harcourt, New York, erschienen.Die Rechte für die Abbildungen im Innenteil liegen bei Henry Reich, mit Ausnahme von: Alamy/World History Archive (Abb. 2), Carol Rovelli (Abb. 14, mit freundlicher Genehmigung), R. Loll/J. Amjørn /K. N. Anagnostopolous (Abb. 21, mit freundlicher Genehmigung) und Lee Smolin (Abb. 13, 15, 16, 20).
1. AuflageCopyright © 2013 by Lee SmolinCopyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHAlle Rechte vorbehaltenRedaktion: Manuela Knetsch, MünchenTypographie und Satz: Brigitte Müller/DVAGesetzt aus der MinionISBN 978-3-641-10492-4www.dva.de
Für meine Eltern Pauline und Michael
Ein großes Dankeschön an Roberto Mangabeira Unger für eine gemeinsame Reise
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Einleitung
TEIL I GEWICHT: Die Austreibung der Zeit
1 Fallen
2 Das Verschwinden der Zeit
3 Ein Wurfspiel
4 Physik in künstlicher Isolation praktizieren
5 Die Austreibung von Neuheit und Überraschung
6 Relativitätstheorie und Zeitlosigkeit
7 Quantenkosmologie und das Ende der Zeit
TEIL II LICHT: Die Wiedergeburt der Zeit
Zwischenspiel: Einsteins Unbehagen
8 Der kosmologische Fehlschluss
9 Die kosmologische Herausforderung
10 Prinzipien für eine neue Kosmologie
11 Die Evolution von Gesetzen
12 Quantenmechanik und die Befreiung des Atoms
13 Die Schlacht zwischen Relativitäts- und Quantentheorie
14 Die Wiedergeburt der Zeit aus der Relativitätstheorie
15 Die Entstehung des Raumes
16 Leben und Tod des Universums
17 Die Wiedergeburt der Zeit aus Wärme und Licht
18 Unendlicher Raum oder unendliche Zeit?
19 Die Zukunft der Zeit
Epilog: Denken in der Zeit
Dank
Bibliographie
Register
Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen,in das hinein geschieht auch ihr Vergehennach der Schuldigkeit …nach der Zeit Anordnung.
ANAXIMANDER, Über die Natur
Prolog
Was ist Zeit? Diese täuschend einfache Frage ist das wichtigste Einzelproblem, das sich der Naturwissenschaft stellt, während wir immer tiefer in die Grundlagen des Universums eindringen. Alle Rätsel, mit denen Physiker und Kosmologen ringen – vom Urknall bis zur Zukunft des Universums, von den Rätseln der Quantenphysik bis zur Vereinheitlichung von Kräften und Teilchen –, laufen auf das Wesen der Zeit hinaus.
Der Fortschritt der Naturwissenschaft ist seit jeher durch das Abstreifen von Illusionen gekennzeichnet. Materie scheint kontinuierlich, also glatt zu sein, erweist sich aber als aus Atomen bestehend. Atome scheinen unteilbar zu sein; es stellt sich jedoch heraus, dass sie aus Protonen, Neutronen und Elektronen bestehen, wobei sich die ersten beiden aus noch elementareren Teilchen, den sogenannten Quarks, zusammensetzen. Die Sonne scheint sich um die Erde zu drehen, aber es ist umgekehrt – und wenn man es genau betrachtet, zeigt sich, dass alles sich relativ zu allem anderen bewegt.
Zeit ist der allgegenwärtigste Aspekt unserer Alltagserfahrung. Alles, was wir denken, empfinden oder tun, erinnert uns an ihre Existenz. Wir nehmen die Welt als einen Fluss von Augenblicken wahr, aus denen sich unser Leben zusammensetzt. Aber sowohl Physiker als auch Philosophen sagen uns schon seit Langem, dass die Zeit die ultimative Illusion ist (und viele andere Leute meinen das auch).
Wenn ich die Nicht-Wissenschaftler unter meinen Freunden nach ihrer Meinung über das Wesen der Zeit frage, antworten sie häufig, dass ihr Vergehen trügerisch ist und dass alles, was eigentlich wirklich ist – Wahrheit, Gerechtigkeit, das Göttliche, wissenschaftliche Gesetze –, außerhalb von ihr liegt. Die Vorstellung, dass Zeit eine Illusion ist, hat den Status eines philosophischen und religiösen Gemeinplatzes. Jahrtausendelang haben sich Menschen mit der Mühsal des Lebens und ihrer Sterblichkeit versöhnt, indem sie an die Möglichkeit eines letztendlichen Entrinnens in eine zeitlose und wirklichere Welt glaubten.
Einige unserer berühmtesten Denker behaupten die Unwirklichkeit der Zeit. Sowohl Platon, der größte Philosoph der antiken Welt, als auch Einstein, der größte Physiker der modernen Welt, lehrten uns eine Sicht der Natur, in der das Wirkliche zeitlos ist. Sie betrachteten unsere Zeiterfahrung als eine zufällige Eigenschaft unserer Verfasstheit als Menschen – eine zufällige Eigenschaft, die die Wahrheit vor uns verbirgt. Beide glaubten, dass die Illusion der Zeit überwunden werden muss, um das Wirkliche und Wahre wahrzunehmen.
Früher glaubte ich an die wesentliche Unwirklichkeit der Zeit. Tatsächlich kam ich zur Physik, weil ich mich als Jugendlicher danach sehnte, die an die Zeit gebundene menschliche Welt, die ich als hässlich und unwirtlich betrachtete, gegen eine Welt der reinen, zeitlosen Wahrheit einzutauschen. Später im Leben stellte ich fest, dass es ganz schön war, Mensch zu sein, und das Bedürfnis nach einem transzendenten Ausweg verblasste.
Genauer gesagt, ich glaube nicht mehr daran, dass die Zeit unwirklich ist. Tatsächlich habe ich mich der entgegengesetzten Ansicht angeschlossen: Die Zeit ist nicht nur wirklich, sondern nichts, was wir kennen oder erleben, kommt dem Herzen der Natur näher als die Wirklichkeit der Zeit.
Meine Gründe für diese Kehrtwende liegen in der Naturwissenschaft – insbesondere in den zeitgenössischen Entwicklungen in der Physik und der Kosmologie. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass Zeit der Schlüssel zur Bedeutung der Quantentheorie und ihrer letztlichen Vereinheitlichung mit dem Raum, der Zeit, der Gravitation und der Kosmologie ist. Das Wichtigste ist, glaube ich, dass wir die Wirklichkeit der Zeit auf neue Weise annehmen müssen, um dem Bild des Universums, das uns von kosmologischen Beobachtungen nahegelegt wird, einen Sinn abzugewinnen. Das ist es, was ich unter der Wiedergeburt der Zeit verstehe.
Ein Großteil dieses Buches legt das naturwissenschaftliche Argument für den Glauben an die Wirklichkeit der Zeit dar. Wenn Sie einer der vielen Menschen sind, die glauben, dass die Zeit eine Illusion ist, beabsichtige ich, Ihre Meinung zu ändern. Wenn Sie bereits glauben, dass die Zeit wirklich ist, hoffe ich, Ihnen triftige Gründe für Ihre Ansicht zu liefern.
Dies ist ein Buch für jedermann, weil es niemanden gibt, dessen Vorstellung der Welt nicht dadurch geformt wird, wie er die Zeit versteht. Auch wenn Sie nie über ihre Bedeutung nachgedacht haben, ist doch Ihr Denken – allein schon die Sprache, mit der Sie Ihre Gedanken ausdrücken – von alten metaphysischen Vorstellungen der Zeit geprägt.
Wenn wir die revolutionäre Auffassung annehmen, dass die Zeit wirklich ist, werden sich unsere Vorstellungen von allem anderen ändern. Insbesondere werden wir tendenziell die Zukunft auf eine neue Weise verstehen, nämlich so, dass dadurch sowohl die Chancen als auch die Gefahren deutlich hervorgehoben werden, denen die menschliche Spezies gegenübersteht.
Ein kleiner Teil der Geschichte dieses Buches ist die persönliche Reise, die mich zur Wiederentdeckung der Zeit führte. Meine ursprüngliche Motivation lässt sich vielleicht am besten in der Sprache der Vaterschaft und nicht in der der Naturwissenschaft ausdrücken, nämlich durch die Gespräche, die ich mit meinem kleinen Sohn hatte – besonders wenn ich ihn abends zu Bett brachte. »Papi«, fragte er einmal, als ich ihm vorlas, »hattest du meinen Namen, als du so alt warst wie ich?« Da war ein Kind, dessen Verständnis erwachte, dass es eine Zeit vor ihm gab, und das die bisherige kurze Geschichte seines Lebens mit einem längeren Epos verknüpfen wollte.
Jede Reise hält eine bestimmte Lektion bereit, und meine war es zu begreifen, was für eine unglaublich radikale Vorstellung die einfache Aussage enthält, dass die Zeit wirklich ist. Nachdem ich mein Leben in der Naturwissenschaft damit begonnen habe, nach der Gleichung jenseits der Zeit zu suchen, glaube ich jetzt, dass das tiefste Geheimnis des Wesens des Universums darin besteht, wie es sich Augenblick um Augenblick in der Zeit entfaltet.
◆
Unserem Denken über die Zeit wohnt etwas Paradoxes inne. Wir nehmen uns selbst als in der Zeit lebend wahr, doch wir stellen uns oft vor, dass die besseren Aspekte unserer Welt und unserer selbst über die Zeit hinausgehen. Was etwas wirklich wahr macht, so meinen wir, ist nicht, dass es jetzt wahr ist, sondern dass es immer wahr gewesen ist und immer wahr sein wird. Was ein moralisches Prinzip zu etwas Absolutem macht, ist, dass es zu jeder Zeit und unter allen Umständen gilt. Wir scheinen die tief verwurzelte Vorstellung zu haben, dass etwas, das Wert besitzt, außerhalb der Zeit existiert. Wir sehnen uns nach »ewiger Liebe«. Wir sprechen von »Wahrheit« und »Gerechtigkeit« als etwas Zeitlosem. Was wir am meisten bewundern und verehren – Gott, die Wahrheiten der Mathematik, die Naturgesetze –, ist mit einer Existenz ausgestattet, die die Zeit übersteigt. Wir handeln zwar in der Zeit, aber beurteilen unsere Handlungen nach zeitlosen Maßstäben.
Infolge dieser Paradoxie leben wir in einem Zustand der Entfremdung von dem, was wir am meisten schätzen. Diese Entfremdung betrifft jede unserer Bestrebungen. In der Naturwissenschaft sind Experimente und ihre Analyse zwar zeitgebunden wie alle unsere Naturbeobachtungen, doch wir stellen uns vor, dass wir Belege für zeitlose Naturgesetze aufdecken. Die Paradoxie betrifft auch unsere Handlungen als Individuen, Familienmitglieder und Staatsbürger, weil unsere Auffassung von der Zeit bestimmt, wie wir uns die Zukunft vorstellen.
In diesem Buch hoffe ich, die Paradoxie des Lebens in der Zeit und des Glaubens an das Zeitlose auf neue Weise aufzulösen. Ich werde vorschlagen, dass die Zeit und ihr Vergehen grundlegend und wirklich sind, und die Hoffnungen und Überzeugungen hinsichtlich zeitloser Wahrheiten und zeitloser Reiche in die Welt der Mythologie gehören.
Wenn man die Zeit annimmt, bedeutet das, dass die Wirklichkeit nur aus dem besteht, was zu jedem Zeitpunkt wirklich ist. Das ist eine radikale Vorstellung, denn dadurch wird jede Art von zeitloser Existenz oder Wahrheit geleugnet – sei es im Bereich der Wissenschaft, der Moral, der Mathematik oder der Politik. All diese Dinge müssen begrifflich neu gefasst werden, um ihre Wahrheiten innerhalb der Zeit zu formulieren.
Wenn man die Zeit annimmt, bedeutet das auch, dass unsere Grundannahmen darüber, wie das Universum auf der fundamentalsten Ebene funktioniert, unvollständig sind. Wenn ich auf den folgenden Seiten behaupte, dass die Zeit wirklich ist, meine ich Folgendes:
• Alles, was in unserem Universum wirklich ist, ist zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich, der zu einer Abfolge von Zeitpunkten gehört.
• Die Vergangenheit war wirklich, ist es aber nicht mehr. Wir können die Vergangenheit jedoch interpretieren und analysieren, weil wir in der Gegenwart Belege von vergangenen Prozessen finden.
• Die Zukunft existiert noch nicht und ist deshalb offen. Manche Vorhersagen können wir zwar vernünftigerweise treffen, aber wir können die Zukunft nicht vollständig vorhersagen. Tatsächlich kann die Zukunft Phänomene generieren, die in dem Sinne genuin neu sind, dass kein Wissen über die Vergangenheit sie hätte vorhersehen können.
• Nichts geht über die Zeit hinaus, nicht einmal Naturgesetze. Gesetze sind nicht zeitlos. Wie alles andere sind sie Eigenschaften der Gegenwart und können sich über die Zeit hinweg entwickeln.
Im Laufe dieses Buches werden wir sehen, dass diese Hypothesen in eine neue Richtung in der Grundlagenphysik weisen – eine Richtung, von der ich behaupte, dass sie der einzige Ausweg aus den gegenwärtigen Rätseln der theoretischen Physik und der Kosmologie ist. Ebenso haben sie Auswirkungen darauf, wie wir unser eigenes Leben verstehen und mit den Herausforderungen umgehen sollten, vor denen die Menschheit steht.
Um zu erläutern, warum die Wirklichkeit der Zeit sowohl für die Naturwissenschaft als auch für Dinge, die über die Wissenschaft hinausgehen, so folgenreich ist, stelle ich gerne das Denken in der Zeitdem Denken außerhalb der Zeit gegenüber. Die Vorstellung, dass die Wahrheit zeitlos ist und sich außerhalb des Universums befindet, ist so weit verbreitet, dass Roberto Mangabeira Unger sie als »Philosophia perennis« (»immerwährende Philosophie«) bezeichnet. Sie bildete den Kern von Platons Denken, das im Menon in der Parabel des Sklavenjungen und der Geometrie des Quadrats veranschaulicht wird. In dieser Parabel behauptet Sokrates, dass jede Entdeckung bloß eine Wiedererinnerung ist.
Wir denken außerhalb der Zeit, wenn wir uns vorstellen, dass die Antwort auf jede beliebige Frage, über die wir nachdenken, da draußen in einem ewigen Reich zeitloser Wahrheit liegt. Ob es darum geht, sich als Eltern, Ehepartner oder Bürger besser zu verhalten, oder darum, welche Organisation der Gesellschaft die optimale ist, wir glauben, dass da draußen etwas unveränderlich Wahres für uns zu entdecken sei.
Wir Wissenschaftler denken in der Zeit, wenn wir unsere Aufgabe in der Entwicklung neuer Ideen begreifen, um neu entdeckte Phänomene zu beschreiben, und in der Ausarbeitung neuer mathematischer Strukturen, um diese Phänomene auszudrücken. Wenn wir außerhalb der Zeit denken, glauben wir, dass diese Ideen bereits irgendwie existieren, bevor wir sie erdacht haben. Wenn wir in der Zeit denken, sehen wir keinen Grund zu dieser Annahme.
Der Gegensatz zwischen dem Denken innerhalb und außerhalb der Zeit ist in vielen Bereichen menschlichen Denkens und Handelns augenfällig. Wir denken außerhalb der Zeit, wenn wir angesichts eines technologischen oder gesellschaftlichen Problems annehmen, dass die möglichen Ansätze als eine Menge von absoluten, präexistierenden Kategorien bereits determiniert sind. Jeder, der meint, dass die richtige Theorie der Ökonomie oder Politik im vorletzten Jahrhundert niedergeschrieben wurde, denkt außerhalb der Zeit. Wenn wir stattdessen das Ziel der Politik in der Erfindung neuer Lösungen für neue Probleme sehen, die mit der Entwicklung der Gesellschaft entstehen, denken wir in der Zeit. Wir denken auch in der Zeit, wenn wir verstehen, dass der Fortschritt in der Technik, Gesellschaft und Wissenschaft in der Erfindung wirklich neuer Ideen, Strategien und Formen gesellschaftlicher Organisation besteht – und auf unsere Fähigkeit zu dieser Erfindung vertrauen.
Wenn wir die Einschränkungen, Gewohnheiten und Bürokratien unserer verschiedenen Gemeinschaften und Organisationen fraglos akzeptieren, als ob sie eine absolute Existenzberechtigung hätten, sitzen wir außerhalb der Zeit in der Falle. Wir kehren in die Zeit zurück, wenn wir uns darüber klar werden, dass jedes Merkmal einer menschlichen Organisation ein Resultat der Geschichte ist, sodass alle ihre Eigenschaften verhandelbar sind und durch die Erfindung neuer Möglichkeiten des Handelns verbessert werden können.
Wenn wir glauben, dass die Aufgabe der Physik die Entdeckung einer zeitlosen mathematischen Gleichung ist, die identisch ist mit der Geschichte der Welt, dann glauben wir, dass die Wahrheit über das Universum außerhalb des Universums liegt. Das ist eine so vertraute Denkgewohnheit, dass wir ihre Absurdität schon gar nicht mehr sehen: Wenn das Universum alles ist, was es gibt, wie kann dann etwas außerhalb davon existieren, mit dem es identisch sein könnte? Wenn wir jedoch die Wirklichkeit der Zeit für offensichtlich halten, dann kann es keine mathematische Gleichung geben, die jeden Aspekt der Welt vollkommen erfasst, weil eine Eigenschaft der wirklichen Welt, die keine mathematische Gleichung teilt, darin besteht, dass immer ein bestimmter Zeitpunkt herrscht.
Die Darwin’sche Evolutionsbiologie ist der Prototyp des Denkens in der Zeit, da in ihrem Zentrum die Erkenntnis steht, dass natürliche Prozesse, die sich in der Zeit entwickeln, zur Schaffung genuin neuer Strukturen führen können. Es können sogar neue Gesetze auftauchen, wenn die Strukturen, für die sie gelten, entstehen. Die Prinzipien der geschlechtlichen Auslese konnten beispielsweise nicht entstehen, solange es keine Geschlechter gab. Die Dynamik der Evolution braucht keine riesigen abstrakten Räume wie zum Beispiel alle möglichen lebensfähigen Tiere, DNS-Sequenzen, Mengen von Proteinen oder biologische Gesetze. Einem Vorschlag des theoretischen Biologen Stuart A. Kauffman zufolge ist es besser, sich die Dynamik der Evolution so vorzustellen, dass von der Biosphäre das, was als Nächstes geschehen kann, in der Zeit erkundet wird: das »angrenzende Mögliche«. Dasselbe gilt für die Evolution von Technologien, Wirtschaften und Gesellschaften.
Das Denken in der Zeit ist kein Relativismus, sondern eine Form des »Relationalismus« – eine Philosophie, die behauptet, dass die angemessenste Beschreibung von etwas darin besteht, seine Beziehungen zu den anderen Teilen des Systems anzugeben, zu dem es gehört. Die Wahrheit kann sowohl zeitgebunden als auch objektiv sein, wenn sie sich auf Gegenstände bezieht, die existieren, nachdem sie einmal entweder von der Evolution oder vom menschlichen Denken erfunden wurden.
Auf der persönlichen Ebene bedeutet das Denken in der Zeit, die Ungewissheit des Lebens als den notwendigen Preis dafür zu betrachten, lebendig zu sein. Wenn man sich gegen die Unsicherheit des Lebens auflehnt, Ungewissheit ablehnt, keinerlei Risiken in Kauf nimmt und sich vorstellt, dass das Leben so eingerichtet werden kann, dass Gefahren völlig ausgeschlossen werden, dann denkt man außerhalb der Zeit. Menschsein bedeutet, ein Leben zu führen, das zwischen Gefahr und Chancen schwebt.
Wir versuchen unser Bestes, um in einer ungewissen Welt Erfolg zu haben, um uns um die Personen und Dinge zu kümmern, die wir lieben, und ab und zu haben wir dabei auch Spaß. Wir schmieden zwar Pläne, aber wir können niemals vollständig die vor uns liegenden Gefahren oder Chancen vorhersehen. Die Buddhisten sagen, dass wir in einem Haus leben und noch nicht gemerkt haben, dass es brennt. Gefahren können sich jederzeit einstellen. In Jäger-und-Sammler-Gesellschaften waren sie ständig gegenwärtig, aber im modernen Leben haben wir die Dinge so eingerichtet, dass Gefahr vergleichsweise selten droht. Die Herausforderung des Lebens besteht darin, aus der gewaltigen Zahl möglicher Gefahren eine kluge Auswahl im Hinblick darauf zu treffen, welche davon es wert sind, sich Sorgen zu machen. Außerdem geht es darum, aus allen Chancen, die jeder Augenblick mit sich bringt, das auszuwählen, was man als Nächstes tun soll. Wir treffen eine Auswahl im Hinblick darauf, wofür wir unsere Energie und Aufmerksamkeit einsetzen – und zwar immer angesichts eines unvollständigen Wissens um die Folgen.
Könnten wir diese Situation nicht verbessern? Könnten wir die Unberechenbarkeit des Lebens nicht überwinden und einen Zustand erlangen, in dem wir, wenn schon nicht alles, so doch genug wissen, um alle Konsequenzen unserer Entscheidungen zu erkennen – die Gefahren ebenso wie die Chancen? Das heißt, könnten wir nicht ein wahrhaft rationales Leben ohne Überraschungen führen? Wenn die Zeit eine Illusion wäre, könnten wir uns das als Möglichkeit vorstellen, denn in einer Welt, in der die Zeit unwesentlich wäre, gäbe es keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem Wissen um die Gegenwart und dem Wissen um die Zukunft. Man bräuchte nur ein paar Berechnungen mehr, um es auszubuchstabieren. Eine bestimmte Zahl, eine bestimmte Formel könnte berechnet und entschlüsselt werden, um uns alles zu sagen, was wir wissen müssten.
Wenn die Zeit jedoch wirklich ist, ist die Zukunft nicht anhand des Wissens von der Gegenwart her bestimmbar. Es gibt kein Entrinnen aus unserer Lage, keine Erlösung von den Überraschungen, die sich daraus ergeben, dass wir in Unwissenheit über die meisten Folgen unserer Handlungen leben. Überraschungen sind ein wesentlicher Bestandteil der Struktur der Welt. Die Natur kann uns mit Überraschungen konfrontieren, auf die uns keine mögliche Menge von Wissen vorbereitet hätte. Das Neue ist wirklich. Mit unserer Einbildungskraft können wir Ergebnisse erzeugen, die anhand des Wissens von der Gegenwart nicht berechnet werden können. Daher ist es für jeden von uns von Bedeutung, ob die Zeit wirklich ist oder nicht: Die Antwort darauf kann das Verständnis unserer Situation als Suchende ändern, die in einem riesigen und weitgehend unbekannten Universum nach Glück und Sinn streben. Ich werde auf diese Themen im Nachwort zurückkommen, wo ich darauf hinweise, dass die Wirklichkeit der Zeit uns dabei helfen kann, über Herausforderungen wie den Klimawandel und die Wirtschaftskrise nachzudenken.
Bevor wir uns dem Hauptargument des Buches zuwenden, möchte ich dem Leser ein paar Ratschläge geben.
Ich habe versucht, die Argumente dieses Buchs dem Durchschnittsleser ohne spezielles Hintergrundwissen in der Physik oder der Mathematik zugänglich zu machen. Es gibt keine Gleichungen, und alles, was er wissen muss, um meinen Argumenten zu folgen, wird erklärt. Die wesentlichen Fragen werden mit den allereinfachsten Beispielen illustriert. Wenn wir uns zu raffinierteren Themen hochschrauben, rate ich dem Leser, falls er verwirrt ist, das zu tun, was Naturwissenschaftler zu tun lernen, nämlich einfach zu einer Stelle weiter vorne zu springen, an der der Text für ihn wieder klarer wird. Der Leser, der an mehr Hintergrundinformationen interessiert ist, kann sich auch die verschiedenen Anhänge anschauen, die auf www.timereborn.com online verfügbar sind. Vielleicht ist es auch hilfreich, in den Anmerkungen nachzusehen, die Zitate, nützliche Bemerkungen – entweder für Laien oder für Experten – und weitere Ausführungen enthalten, die für einige Leser von Interesse sein könnten.
Meine eigene Reise zurück zur Zeit hat mehr als 20 Jahre gedauert, vom Aufkeimen der Idee, dass Gesetze durch ihre Evolution erklärt werden müssen, über Auseinandersetzungen mit der Relativitätstheorie, Quantengrundlagen und Quantengravitation, die mich schließlich zu der hier beschriebenen Sichtweise führten. Die Zusammenarbeit und die Gespräche mit mehreren Freunden und Kollegen waren entscheidend für meine Fortschritte auf diesem Weg; sie werden im Einzelnen in der Danksagung und in den Anmerkungen aufgeführt, wo ich auch auf die Ergebnisse und Ideen anderer hinweise, die nützlich für mich waren. Keine dieser Wechselwirkungen war wichtiger als die fruchtbare und provokative Zusammenarbeit mit Roberto Mangabeira Unger, in deren Verlauf wir das Hauptargument sowie viele der hier vorgestellten Schlüsselideen und Argumente formulierten.1
Die Leser sollten sich darüber im Klaren sein, dass es viele Positionen zur Zeit, Quantentheorie, Kosmologie und zu ähnlichen Themen gibt, die hier nicht erörtert werden. Mit den Problemen, die ich berühre, beschäftigen sich sehr viele Veröffentlichungen von Physikern, Kosmologen und Philosophen. Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch darauf, akademisch zu sein. Ich habe mich dafür entschieden, Lesern, die diesem Sachgebiet zum ersten Mal begegnen, einen Pfad durch das komplexe Gelände zu bieten, indem ich besondere Argumente hervorhebe, die seinen Fokus bilden.2 Es gibt (um nur ein Beispiel zu nennen) Bücherregale voller Schriften, die Kants Ansichten über Raum und Zeit analysieren, hier aber nicht erwähnt werden. Auf manche Ansichten zeitgenössischer Philosophen gehe ich ebenfalls nicht ein. Meine gelehrten Freunde bitte ich um Vergebung für diese Auslassungen und verweise den interessierten Leser auf die Bibliographie, die Vorschläge für eine weitere Lektüre zum Thema Zeit enthält.
Lee Smolin
1 Dieses Buch kann als Einleitung oder Popularisierung einer mit strengen Argumenten gestützten Arbeit in der Naturphilosophie gelesen werden, an der ich zusammen mit Roberto Mangabeira Unger arbeite – sie wird in einem Buch veröffentlicht werden und trägt den vorläufigen Titel The Singular Universe and the Reality of Time. Darin werden wir die Wirklichkeit der Zeit und der Evolution von Gesetzen vertreten und mögliche Lösungen des von uns so genannten »Dilemmas der Metagesetze« untersuchen (siehe Kapitel 19).
2 Frühere Versionen der hier vorgestellten Argumente sind in den folgenden Aufsätzen zu finden sowie in Forschungspublikationen, die in den nachstehenden Anmerkungen aufgelistet sind: »A Perspective on the Landscape Problem«, arXiv: 1202.3373v1 [physics.hist-ph] (2012); »The Unique Universe«, Phys. World, Juni 2, S. 21–26 (2009); »The Case for Background Independence«, in: The Structural Foundations of Quantum Gravity, hg. v. Dean Rickles et al., New York 2007; »The Present Moment in Quantum Cosmology: Challenges for the Argument for the Elimination of Time«, in: Time and the Instant, hg. v. Robin Durie, Manchester 2000; »Thinking in Time Versus Thinking Outside of Time«, in: This Will Make You Smarter, hg. v. John Brockman, New York 2012 (dt.: Was macht uns schlauer?, Frankfurt a. M. 2012); Stuart Kauffman & Lee Smolin, »A Possible Solution to the Problem of Time in Quantum Cosmology«, arXiv: gr-qc/9703026v1 (1997).
Einleitung
Die naturwissenschaftliche Argumentation dafür, dass die Zeit eine Illusion ist, ist beeindruckend. Deshalb sind die Konsequenzen, die sich aus der Annahme ergeben, die Zeit sei real, so revolutionär.
Der Kern des Arguments der Physiker gegen die Zeit beruht auf unserem Verständnis dessen, was ein physikalisches Gesetz ist. Der herrschenden Ansicht zufolge ist alles, was im Universum geschieht, von einem Gesetz determiniert, das genau diktiert, wie sich die Zukunft aus der Gegenwart entwickelt. Das Gesetz ist absolut, und sobald die gegenwärtigen Bedingungen angegeben sind, gibt es keine Freiheit oder Ungewissheit darüber, wie sich die Zukunft entwickelt.
Thomasina, die frühreife Heldin aus Tom Stoppards Theaterstück Arcadia, erklärt esihrem Lehrer folgendermaßen: »Wenn Sie jedes Atom an seinem Ort und in seinem Bewegungsimpuls anhalten könnten und wenn Ihr Gehirn alle Vorgänge, die somit in der Schwebe sind, erfassen könnte und wenn Sie dann auch noch wirklich sehr gut in Algebra wären, dann könnten Sie die Weltformel für alle Ewigkeit schreiben; und obwohl keiner klug genug dafür ist, muss trotzdem diese Formel so existieren, als ob man sie schreiben könnte.«
Früher glaubte ich, dass meine Aufgabe als theoretischer Physiker darin bestünde, diese Formel zu finden; jetzt betrachte ich meinen Glauben an ihre Existenz jedoch eher als Mystizismus denn als Wissenschaft.
Wenn er den Text für eine moderne Figur geschrieben hätte, hätte Stoppard Thomasina sagen lassen, dass das Universum einem Computer ähnelt. Die Gesetze der Physik sind das Programm. Wenn man ihn mit Input füttert – mit den gegenwärtigen Positionen aller Elementarteilchen des Universums –, läuft der Computer eine entsprechende Zeit und liefert Ihnen den Output, nämlich alle Positionen der Elementarteilchen zu einem zukünftigen Zeitpunkt. Nach dieser Naturauffassung geschieht nichts außer der Neuanordnung von Elementarteilchen nach zeitlosen Gesetzen. Diesen Gesetzen zufolge ist also die Zukunft schon genauso vollständig durch die Gegenwart determiniert, wie die Gegenwart durch die Vergangenheit determiniert ist.
Diese Ansicht setzt die Zeit in verschiedenen Hinsichten herab.3 Es kann keine Überraschungen geben, keine wirklich neuen Phänomene, da alles, was geschieht, in der Neuanordnung von Atomen besteht. Die Eigenschaften der Atome selbst sind zeitlos, ebenso wie die Gesetze, die sie steuern; nichts davon ändert sich je. Jede beliebige Eigenschaft der Welt zu einem zukünftigen Zeitpunkt kann anhand der gegenwärtigen Konfiguration berechnet werden. Das heißt, dass das Vergehen der Zeit durch eine Berechnung ersetzt werden kann, was wiederum bedeutet, dass die Zukunft eine logische Folge der Gegenwart ist.
Einsteins Relativitätstheorien beinhalten sogar noch stärkere Argumente dafür, dass die Zeit für eine fundamentale Beschreibung der Welt unwesentlich ist, wie ich in Kapitel 6 darlegen werde. Die Relativitätstheorie legt nachdrücklich nahe, dass die gesamte Geschichte der Welt eine zeitlose Einheit bildet; Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft haben unabhängig von der menschlichen Subjektivität keine Bedeutung. Die Zeit ist einfach nur eine weitere Dimension des Raumes, und der Eindruck, den wir haben, wenn wir empfinden, wie Augenblicke vergehen, ist eine Illusion, hinter der sich eine zeitlose Wirklichkeit verbirgt.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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