2,99 €
Ein Banküberfall, ein Mord und ein geplanter Bombenanschlag bringen die Mühldorfer Kriminalbeamten an ihre Grenzen – und dazu steht Hauptkommissar Hans Hiebler auch noch unter Mordverdacht. Dann wird klar, dass alles zusammenhängt und nur zur Ablenkung dient...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Inhaltsverzeichnis
Copyright
Vorwort
Anmerkung
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
Liebe Leser!
Von der Autorin sind bisher folgende Bücher erschienen:
Impressum
Im Visier der
Mächtigen
FALL 37 FÜR LEO SCHWARTZ
IRENE DORFNER
Copyright © Irene Dorfner 2021
All rights reserved
www.irene-dorfner.com
Lektorat: Sabine Thomas, Stralsund
EarL und Marlies Heidmann, Westheim
FTD-Script, Altötting
„Der größte Missbrauch ist, wenn von der Macht sie das Gewissen trennt.“
William Shakespeare (1564-1616)
Ich bedanke mich bei allen, die immer ein offenes Ohr für mich haben (vor allem bei Sabine, EarL, Tommy, Frank und Jörg). DANKE!
Viel Spaß mit Leo’s 37. Fall!!
Viele Grüße aus Altötting
Irene
Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig – bis auf Annette Godau: Sie spielt mit und ihre Genehmigung liegt vor!
Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.
…und jetzt geht es auch schon los:
Die Situation vor der Sparkasse auf dem Mühldorfer Stadtplatz wurde immer unübersichtlicher. Die Polizei hatte anfangs die Lage im Griff gehabt, aber nachdem immer mehr Schüsse fielen, war die Panik fast greifbar und entlud sich schnell in einem Chaos. Viele Passanten widersetzten sich den Anweisungen der Polizei, was zu unüberlegten und überzogenen Reaktionen führte.
„Was ist das für ein Wahnsinn!“, rief der sechsundfünfzigjährige Leo Schwartz, der seit Stunden ohne Erfolg gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen Hans Hiebler ganz vorne versuchte, die Lage zu entschärfen. Die junge Kollegin Diana Nußbaumer war zusammen mit vielen anderen Kollegen nachgerückt. Trotz der hohen Polizeipräsenz wurde die Situation nicht besser.
„Ich vermute drei Schützen“, keuchte Hans, der mit seinen Kräften langsam am Ende war. Es gab mehrere Situationen, in denen er persönlich eingreifen musste, um unaufmerksame Passanten aus der Gefahrenzone zu bringen. Hans hatte Glück gehabt und war nicht verletzt worden, was er vor allem Leo und der Kollegin Diana Nußbaumer zu verdanken hatte, denn beide hatten ein schützendes Auge auf ihn und seine waghalsigen Aktionen. Jetzt bemerkte Hans schon wieder einen Passanten, der mit seinem Handy im Anschlag dem Gefahrenbereich viel zu nahe kam.
„Hauen Sie ab!“, rief Leo, der den Mann auch gesehen hatte. Aber der hörte nicht und ging immer weiter. „Ist der irre?“ Leo sah Hans hilflos an. Was sollten sie tun? Ermuntert von dem jungen Mann näherten sich zwei weitere Personen, eine Frau und ein Mann, die ebenfalls ihre Handys in der Hand hielten und alles filmten.
Die neunundzwanzigjährige Diana wurde sauer. Die Frau war nicht weit von ihr weg. Mit einem beherzten Sprung warf sie sie zu Boden, was einen Aufschrei unter den vielen, vielen Schaulustigen hervorrief, die zwar alle weit genug wegstanden, aber auch nicht auf das Schauspiel verzichten wollten. Darunter waren sogar einige Kinder.
„Gib mir Feuerschutz!“, rief Hans Leo zu, denn die beiden anderen Wahnsinnigen befanden sich bereits in größter Gefahr. Er musste etwas tun, bevor es noch Verletzte oder gar Tote gab.
Leo hatte keine Ahnung, was Hans vorhatte, aber für Fragen war jetzt keine Zeit. Er schoss in Richtung Sparkasse und hoffte, dass Hans wusste, was er tat.
Hans nutzte Leos Schüsse und ging in gebückter Haltung zu einem der Männer, die immer noch filmten. Er versetzte ihm einen Schlag in den Oberschenkel, was ihn zu Boden zwang. Noch bevor der Mann irgendwie reagieren konnte, hatte Hans ihn hinter einen Wagen gezogen. Diana hatte alles gesehen und ging in gebückter Haltung zu dem Mann, wobei sie Hans zunickte. Der verstand, dass er sich um diesen Irren nicht mehr kümmern musste.
„Haben Sie gesehen, was der Bulle gemacht hat? Er hat mich geschlagen!“
„Und wenn Sie sich nicht ruhig verhalten und in Deckung bleiben, bekommen Sie von mir auch noch eine mit!“
„Polizeigewalt in Mühldorf? Was soll der Scheiß?“
„Kapieren Sie eigentlich nicht, dass Ihnen der Kollege das Leben gerettet hat?“
„Mein Handy! Wo ist mein Handy!“
„Keine Ahnung.“
„Ich muss es suchen.“
„Sie bleiben hier, verstanden?“
„Aber…“
„Ich spaße nicht! Noch ein Wort und ich schlage zu!“
Diana beobachtete, wie Hans sich dem anderen Mann näherte, der immer weiter auf die Sparkasse zuging und dabei immer noch das Handy auf die Sparkasse gerichtet hielt. Was ist nur in den Typen gefahren? Begriff er denn nicht, dass er mit seinem Leben spielte?
Für Hans gab es jetzt keine Deckung mehr, die er nutzen konnte. Leo schoss ohne Unterbrechung und Diana unterstützte ihn. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass sich der Mann, auf den sie aufzupassen hatte, bewegte. Er sah hinter dem Wagen vor und suchte nach seinem Handy. Als er es entdeckte, wollte er tatsächlich aufstehen und sein Eigentum holen. Diana wurde wütend, holte aus und versetze ihm einen Schlag, den er so schnell nicht mehr vergessen würde. Für einen Moment blieb ihm die Luft weg. Als Kampfsportlerin war das eine Kleinigkeit für sie. Vorsichtshalber legte sie ihm trotzdem Handschellen an, denn sie musste sich auf Hans und dessen Verteidigung konzentrieren.
Hans gelang es, den Mann zu packen und in einen engen Durchgang zwischen zwei Häusern in Sicherheit zu ziehen. Noch bevor Hans irgendetwas sagen oder machen konnte, wurde es schwarz um ihn.
Leo Schwartz, Diana Nußbaumer und alle Kollegen der Mühldorfer Polizei hatten die Sparkasse fest im Blick. Von drinnen wurden nur noch wenige Schüsse abgegeben, irgendwann blieben sie ganz aus.
Das SEK war inzwischen vor Ort und übernahm die Leitung, was vielen Polizisten sehr angenehm war. Das waren Profis, die sicher schon sehr oft mit einer derartigen Situation zu tun hatten, während viele hier zum ersten Mal live eine Schießerei miterleben mussten. Außerdem war eine Pause angesagt, die sie dringend brauchten.
Diana hatte dem Mann an ihrer Seite die Handschellen abgenommen.
„Das nächste Mal schalten Sie Ihr Hirn ein“, sagte sie und entließ den Mann, nachdem sie dessen Namen und Adresse notiert hatte. Der hatte nur Augen für sein Handy, das er in einem unbeobachteten Moment einfach an sich nahm und dann damit wieder in Deckung ging. Diana reagierte sofort und nahm es ihm ab: „Konfisziert, das ist ein Beweisstück“, sagte sie und steckte es unter Protest des Mannes ein. „Wenn Sie leben wollen, bleiben Sie hier in Sicherheit. Viel Glück.“
„Sie bleiben nicht bei mir und schützen mich?“
„Ich bin nicht Ihr Kindermädchen. Wir haben hier einen Einsatz, haben Sie das eigentlich verstanden? Sie sind hier in Sicherheit, wenn Sie keine Dummheiten machen – mehr kann ich nicht für Sie tun.“ Dann ging sie zu Leo.
„Wo ist Hans?“
„Dort hinten irgendwo. Bleiben wir in Deckung, die Kollegen des SEKs gehen gleich rein. Duck dich, es könnte brenzlig werden.“
„Was ist mit den Schaulustigen? Sind sie weit genug weg?“
„Die auf der Straße auf jeden Fall, aber die an den Fenstern spielen echt mit ihrem Leben. GEHEN SIE IN DECKUNG!!“, rief er den Leuten zu.
Dann ging alles ganz schnell. Das SEK unter Leitung von Anderl Untermaier, der in Leo ganz sicher keinen Freund hatte, stürmte das Gebäude. Es gab keine Schüsse. Was war da los?
Anderl Untermaier und seine Leute fanden den Schalterraum leer vor. Auf dem Boden lagen zwar jede Menge Geschosshülsen, aber sonst war da nichts. In einem Nebenraum befanden sich die Angestellten und zwei Kunden, die von den Bankräubern mit Kabelbindern gefesselt und mit Klebeband geknebelt wurden. Nachdem alle befreit waren, konnte Anderl sie befragen.
„Wo sind die Bankräuber?“
„Abgehauen. Sie sind durch den Keller verschwunden.“
„Wie ist das möglich?“
„Es gibt nur ein einziges Fenster, das nicht gesichert ist: Das im Heizkeller. Durch dieses Fenster bekommen wir Heizöl. Das ist schmal, da kommt nur ein sehr schlanker Mensch durch. Ich fürchte, dass wir es mit solchen Personen zu tun hatten.“ Der Filialleiter war völlig außer Atem, der Schreck stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Anderl verstand. Das war die Schwachstelle des Gebäudes. Er besah sich das fragliche Fenster und ihm war sofort klar: Das war Insider-Wissen!
„Von wie vielen Personen sprechen wir?“, fragte er den Filialleiter erneut, der sich verbotenerweise im Schalterraum eine Zigarette angezündet hatte.
„Es waren zwei.“
„Nein, es waren drei“, korrigierte eine Frau, die eine Kundin der Bank war und sich nun ebenfalls eine Zigarette anzündete. „Zwei Männer und eine Frau.“
„Sie sind sich ganz sicher?“
„Ja.“
„Woran wollen Sie das erkannt haben, Frau Riedlinger?“, wandte sich einer der Männer an die Frau.
„An den Schuhen. Haben Sie die nicht bemerkt?“
Alle Zeugen, insgesamt sechs Personen, waren sich uneinig über die Anzahl und das Geschlecht der Bankräuber.
„Wir haben es also mit zwei oder drei Personen zu tun, es können Männer und auch Frauen gewesen sein. Wie viel Geld wurde gestohlen?“
„Nichts.“
„Nichts?“
„Sie haben nicht danach gefragt. Als ich den Alarmknopf drückte, wollten sie mich nicht daran hindern. Es schien so, als würden sie es nur darauf anlegen, dass die Polizei vor Ort ist, um sie dann zu beschießen.“
„Das klingt sehr unlogisch“, sagte Anderl nachdenklich.
„Das ist mein Eindruck und mehr kann ich dazu nicht sagen.“
Anderl Untermaier informierte Diana Nußbaumer und Leo Schwartz, auch wenn er auf Letzteren keinen Wert legte. Er hasste diesen Schwaben, der ihm damals die Frau genommen und sie dann einer Gefahr ausgesetzt hatte, die sie nicht überlebte. In Anderls Augen war Leo für den Mord an seiner Ex-Frau verantwortlich – und das würde er ihm nie verzeihen.
„Die haben nichts gestohlen?“, hakte Leo nach.
„Nein. Ist die Spurensicherung informiert?“
„Die Kollegen stehen bereit. Sobald du dein Okay gibst, können sie loslegen.“
„Von mir aus gerne. Ich verstehe das nicht“, sagte Anderl. „Die überfallen eine Bank und dann nehmen sie nichts mit?“
„Das verstehe ich auch nicht. Das muss einen anderen Hintergrund haben und den werden wir herausfinden.“
„Wo ist Hans?“ Anderl kannte Hans Hiebler schon lange. Eigentlich mochte er den Mann, aber da er mit Leo befreundet war, machte ihn das sehr unsympathisch.
„Ein Schaulustiger kam dem Geschehen zu nahe. Hans hat ihn aus der Gefahrenzone gebracht. Hast du ihn gesehen, Diana?“
„Nein, das habe ich nicht. Keine Sorge, Leo, weit kann er nicht gekommen sein.“
Als Leo, Diana und Anderl Hans fanden, lag der bewusstlos neben dem Mann, den er vorhin gerettet hatte. Hans kam langsam zu sich. Allerdings brachte er kein vernünftiges Wort heraus. Trotzdem waren vorerst alle erleichtert. Der fremde Mann hingegen war tot, er hatte einen Einschuss an der Stirn – und Hans hatte seine Waffe noch in der Hand.
Während Leo einen Arzt rief, zog Diana Handschuhe an und nahm die Waffe an sich.
„Daraus wurde geschossen“, sagte Anderl, nachdem er daran gerochen hatte.
„Sicher hat er damit geschossen, so wie wir alle auch!“ Sie sah in die stahlblauen Augen des SEK-Kollegen Untermaier. „Was wollen Sie damit andeuten?“
„Nichts, das war nur eine Feststellung.“
Leo hatte die Bemerkung mitbekommen und rastete aus.
„Willst du damit andeuten, dass Hans den Mann erschossen hat? Das ist Blödsinn! Wie lange kennt ihr euch?“ Leo schrie und vergaß sich, was ihm sonst nur selten passierte.
„Jetzt beruhige dich, Mann! Ich habe nur gesagt, dass aus der Waffe geschossen wurde, mehr nicht. Momentan sieht es danach aus, als hätte Hans den Mann erschossen. Wenn du objektiv denken würdest, dann würdest du dasselbe denken. Aber hier geht es um Hans und deine Gedanken sind vernebelt. Die Spurensicherung wird sich der Sache annehmen und dann haben wir Klarheit.“
„Klarheit? Für mich steht fest, dass Hans nicht geschossen hat. Oder hast du irgendwelche Zweifel daran?“
„Spiel dich hier nicht so auf!“ Anderl Untermaier wurde wütend. Viele Kollegen waren auf sie aufmerksam geworden und er hatte keine Lust darauf, vor seinen Männern in aller Öffentlichkeit angeschissen zu werden. Schon gar nicht von diesem Trottel Schwartz, den er auf den Tod nicht leiden konnte.
„Du bist ein Kameradenschwein! Ja, das bist du! Während Hans verletzt ist und noch nichts bewiesen ist, haust du ihn einfach in die Pfanne!“
„Ich mache….“
„Du bist ein Verräter! Ich wusste schon immer, dass du menschlich eine Drecksau bist!“
Das war zu viel für Anderl. Er holte aus und schlug Leo ins Gesicht, woraufhin er zu Boden ging. Sofort rappelte der sich wieder auf und schlug auf Anderl ein. Beide schenkten sich nichts.
Diana konnte nicht fassen, was hier gerade passierte. Wie zwei Schuljungen prügelten sich die beiden vor aller Augen. Sie musste dazwischengehen, was nicht leicht war. Die beiden waren voller Hass, der sich jetzt entlud. Sie rief einen Kollegen zu sich. Niemand wollte sich einmischen, aber einer musste ihr helfen. Ihr fiel der Name eines Kollegen ein: Marcel Dornhobel. Sie rief ihn zu sich.
Dornhobel wollte nicht, konnte aber nicht anders. Alle sahen ihn an. Ob er es wagen würde? Nachdem die Kollegin Nußbaumer erneut seinen Namen rief, konnte er nicht anders.
„Halten Sie Schwartz Ihre Waffe an den Kopf!“, befahl sie ihm.
„Sind Sie verrückt geworden?“
„Natürlich gesichert! Ich übernehme Untermaier. Nur so können wir die beiden voneinander trennen.“
Dornhobel tat, was ihm befohlen war, auch wenn alles in ihm sich dem widersetzte.
Als Leo und Anderl die Waffen spürten, ließen sie endlich voneinander ab. Diana drängte sich zwischen die beiden und stieß sie zusätzlich von sich.
„Seid ihr wahnsinnig geworden? Was ist los mit euch?“, schrie sie beide an.
Leo und Anderl bluteten, die Schläge würden noch lange sichtbare Spuren hinterlassen. Beide bemerkten, dass sie von allen Seiten beobachtet wurden. Aber viel schlimmer waren die vielen Handys, die auf sie gerichtet waren. Wie lange es wohl dauern würde, bis der Chef oder gar der Staatsanwalt davon erfuhren?
Anderl Untermaier ging fluchend zu seinem Einsatzfahrzeug, Leo zu Hans. Der wurde von einem Arzt versorgt.
„Wie geht es ihm?“
„Er hat einen heftigen Schlag abbekommen und ist immer noch benommen. Ich vermute eine Gehirnerschütterung. Wir nehmen ihn mit und checken ihn gründlich durch. Wie geht es Ihnen?“
„Ich bin okay, nur ein paar Kratzer. Soll ich mitfahren?“
„Nein, nicht nötig.“ Der Arzt sah sich um. Er hatte die heftige Auseinandersetzung ebenfalls mitbekommen und spürte die Blicke. „Sehen Sie zu, dass Sie das wieder in Ordnung bringen und ich kümmere mich um den Patienten.“
Leo sah dem Krankenwagen hinterher.
„Dass du Probleme bekommen wirst, ist dir hoffentlich klar, oder?“, sagte Diana.
„Das weiß ich. Ich habe rot gesehen und mich von diesem Arschloch provozieren lassen. Was ist mit den Bankräubern?“
„Sind über alle Berge. Fuchs sichert Spuren, vielleicht findet er etwas Brauchbares. Bist du okay? Können wir Zeugen befragen?“ Sie reichte ihm ein Taschentuch, damit er sich das Blut abwischen konnte.
„Selbstverständlich, mir geht es gut. Du glaubst doch nicht wirklich, dass Hans den Mann erschossen hat, oder?“
„Natürlich nicht! Wie kommst du darauf?“
Die Befragungen der Zeugen waren ernüchternd. Sie waren sich alle uneinig darüber, wie viele Personen es waren und ob es sich nur um Männer oder auch um Frauen handelte. Leo war deprimiert.
„Haben Sie etwas für uns, Fuchs?“, wandte er sich an den Leiter der Spurensicherung.
Auch Fuchs hatte von der Auseinandersetzung zwischen Schwartz und Untermaier gehört, aber die ging ihn nichts an. Er machte seine Arbeit und nur darum hatte er sich zu kümmern.
„Leider noch nichts, aber wir suchen weiter.“
„Glauben Sie daran, dass Hans einfach so einen Mann erschießt?“
„Ich glaube grundsächlich nur das, wofür es Beweise gibt. Die Leiche ist auf dem Weg in die Pathologie?“
Leo nickte.
„Sobald wir hier fertig sind, kümmere ich mich persönlich um die Beweissicherung.“ Fuchs war für einen Moment versucht, dem deprimierten Kollegen auf die Schulter zu klopfen, befand diese Geste aber dann doch als zu intim. Er wahrte stets eine gesunde Distanz zu den Kollegen und dabei sollte es bleiben.
Der Leichentransport in die Münchner Pathologie verlief nicht ganz reibungslos. Der Fahrer bemerkte eine hilflose Frau auf einem Parkplatz, der er zur Hilfe kommen wollte. Sie sah bombastisch aus, aber noch toller war der Wagen, den er nur aus Katalogen kannte. Nach einem kurzen Smalltalk warf er einen kurzen Blick auf den Motor, obwohl er wusste, dass das nichts brachte, denn bei diesem Modell konnte man nicht mehr Hand anlegen, da brauchte man die passende Software. Den Schlag hatte er nicht kommen sehen, da er der Frau den Rücken zugewandt hatte. Nachdem er wieder zu sich kam, waren die Frau und der tolle Wagen weg. Er setzte seine Fahrt unter heftigen Kopfschmerzen fort, auch wenn ihm schleierhaft war, was eigentlich passiert war. Die Leiche war an Ort und Stelle. Auch seine Brieftasche mitsamt seinem Bargeld war noch da, auch das neue Handy lag auf dem Beifahrersitz. Ob er sich den Schlag nur eingebildet hatte? Nein, die Beule an seinem Hinterkopf und die Schmerzen waren real. Sollte er den Vorfall melden? Erst musste er die Leiche ans Ziel bringen, danach konnte er das immer noch entscheiden.
Rudolf Krohmer, der Leiter der Polizei Mühldorf am Inn, war außer sich, als er sich die vielen Videos im Netz ansah. Anfangs sah er sich nur die Beiträge zur Schießerei an, die zum Glück fast alle aus sicherer Entfernung aufgenommen worden waren. Aber dann blieb er an den Bildern hängen, wie sich Schwartz und Untermaier vor aller Augen prügelten. Bei den nachstehenden Kommentaren wurde er wütend. Es war klar, dass dieses Verhalten noch lange die Runde machen würde und seine Polizei mit hineingezogen wurde. Krohmer wusste, dass Schwartz und Untermaier nicht miteinander konnten, aber das hier ging dann doch zu weit. Dieser Tag hatte für ihn schrecklich begonnen. Als wäre die Schießerei auf dem Mühldorfer Stadtplatz nicht schon genug, war er auf der Fahrt ins Büro nur haarscharf einem Verkehrsunfall entkommen. Nur um wenige Millimeter konnte Krohmer den Zusammenstoß mit einem Tanklastwagen vermeiden. Hätte er heute nicht den Leihwagen seiner Frau dabei, der mit einem besonderen Sicherheitssystem ausgestattet war, hätte er den Unfall vermutlich nicht überlebt. Zum Glück hatte seine Frau ihn zugeparkt. Da sie joggen war, nahm er einfach ihren Wagen, denn fürs Umparken blieb ihm keine Zeit. Die Erinnerung an diesen kurzen, heftigen Moment setzte ihm zu. Das war verdammt knapp gewesen! Der Tankwagen hatte ihm einfach die Vorfahrt genommen, er hatte nichts falsch gemacht. Während er zitternd ausgestiegen war, fuhr der Lastwagen einfach weiter. Krohmer dachte sich nichts weiter dabei. Vermutlich hatte der Fahrer nichts von dem Beinahe-Unglück mitbekommen und er hatte einfach nur verdammtes Glück gehabt!
Krohmer sah sich die Filme mit Schwartz und Untermaier wieder und wieder an. Er war fassungslos, wie man sich derart gehen lassen konnte. Im Vorzimmer hörte er die Stimme des Staatsanwaltes – der hatte ihm gerade noch gefehlt!
„Haben Sie das von Schwartz und Untermaier gesehen?“
„Guten Morgen, Doktor Eberwein. Bitte setzen Sie sich. Ja, ich habe mir die Videos gerade angesehen.“
„Und? Was haben Sie dazu zu sagen? Wir sind das Gespött der Leute! Einer unserer Kriminalbeamten prügelt sich auf offener Straße mit einem Kollegen! Das ist ein Skandal! Und als wäre das nicht genug, trägt Schwartz wieder diese Affenmaske. Und dann noch dieses T-Shirt! Haben Sie es gesehen? Das ist Donald Trump auf einer Toilette! Man kann zu dem Mann stehen, wie man will, aber das ist eine Respektlosigkeit, die ich nicht dulde. Private Meinungen sind während der Dienstzeit in keiner Form zu äußern – und das ist allgemein bekannt.“
Krohmer hatte diese beiden Details noch nicht bemerkt. Er sah sich eines der Videos nochmals an. Tatsächlich! Diese abscheuliche Affenmaske, die er ausdrücklich im Dienst verboten hatte! Das mit Trump war nicht wirklich deutlich zu sehen, das konnte man irgendwie unter den Tisch kehren, auch wenn er dieses T-Shirt für den Polizeidienst völlig unangebracht hielt. Aber die Affenmaske war der Hammer, die konnte er nicht durchgehen lassen, denn darüber hatte er sich schon vor Monaten mit Schwartz unterhalten.
„Mir gefällt das auch nicht, das können Sie mir glauben.“
„Wir können uns das nicht leisten! Wie stehen wir denn in der Öffentlichkeit da? Wir sind das Gespött der Leute! In zwei Wochen kommt der Ministerpräsident nach Mühldorf, haben Sie das schon vergessen? Was geben wir als zuständige Polizeibehörde für ein schlechtes Bild ab?“
„Darüber würde ich mir jetzt keine Gedanken machen. Der Besuch des Ministerpräsidenten hat nichts mit dem zu tun, was heute passiert war. Ja, das sieht für uns alles schlecht aus, das gebe ich zu. Trotzdem haben die Kollegen gute Arbeit geleistet. Es gab keinen Zeitpunkt, in dem sie die Lage nicht im Griff hatten.“
„Trotzdem ist das ein No-Go. Was sagt Schwartz dazu?“
„Ich konnte noch nicht mit ihm sprechen.“
„Ist er im Haus?“
Krohmer rief Schwartz an, der eben erst zurück war. Eigentlich wollte er sich frisch machen, denn nach der Schlägerei sah er nicht gut aus.
„Kommen Sie sofort in mein Büro!“, befahl Krohmer.
Leo war nicht überrascht. Er hatte bereits mit einem Anschiss gerechnet, der völlig gerechtfertigt war. Darüber machte er sich keine Sorgen. Vielmehr beschäftigte ihn, dass man Hans eines Mordes bezichtigte, den er ganz sicher nicht begangen hatte. Er verzichtete darauf, sich frisch zu machen und ging direkt in Krohmers Büro. Als er den Staatsanwalt sah, murmelte er: „Auch das noch!“
„Ich grüße Sie auch, Herr Schwartz! Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“
„Mir ist die Sicherung durchgebrannt und ich entschuldige mich in aller Form“, murmelte er. „Untermaier hat Hans beleidigt. Außerdem ist er ein Kameradenschwein. So etwas hasse ich. Es tut mir leid, dass wir unsere Unstimmigkeiten öffentlich ausgetragen haben. Allerdings kann ich nicht versprechen, dass das nicht noch einmal vorkommt. Untermaier ist…“
„Halten Sie den Mund, es reicht!“ Krohmer registrierte das T-Shirt und wurde sauer. Es war an der Zeit, ein ernstes Wort mit dem Kollegen Schwartz zu sprechen, aber nicht im Beisein des Staatsanwaltes.
„Was war das mit der Schießerei am Stadtplatz? Gab es Festnahmen?“
„Nein, die Täter konnten entkommen.“
„Aus einem Bankgebäude?“, rief der Staatsanwalt. „Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen!“
„Es gibt eine Schwachstelle in dem Gebäude. Ein Kellerfenster, das nicht gesichert ist.“
„Was wurde gestohlen?“
„Nichts.“
„Nichts?“
„Es gab keine Forderungen von Seiten der vermeintlichen Bankräuber.“
„Gibt es Opfer?“
„Einen Toten.“
„Jetzt lassen Sie sich doch nicht alles aus der Nase ziehen, Schwartz! Was ist passiert? Wer ist das Opfer?“
„Hans hat einen lebensmüden Passanten gerettet. Eine bewundernswerte Aktion, die ich mich vermutlich nicht getraut hätte. Nach der Schießerei fanden wir Hans bewusstlos, er wurde niedergeschlagen. Neben ihm lag der Passant – mit einer Schusswunde in der Stirn.“
„Wie ist das möglich? Was sagt Herr Hiebler dazu?“
„Er ist nicht ansprechbar, er wird im Krankenhaus behandelt.“
Krohmer sah Leo lange an. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er kannte den gebürtigen Schwaben schon seit Jahren und hatte ihn nur selten so erlebt.
„Was ist los? Was verschweigen Sie uns?“
„Als wir Hans fanden, hatte er seine Waffe in der Hand. Untermaier schloss sofort daraus, dass Hans den Mann erschossen hat. Daraufhin habe ich mich vergessen.“
Krohmer verstand. Auch für ihn war es nicht vorstellbar, dass Hiebler einfach so einen Mann erschoss. Wie er an Schwartz‘ Stelle gehandelt hätte? Vermutlich ähnlich.
„Nur, damit ich es richtig verstehe: Hiebler hat einen Passanten aus der Gefahrenzone gerettet, den er dann erschossen haben soll? Wer hat ihn niedergeschlagen?“
„Sie sehen auch, dass das nicht passt?“
„Unterbrechen Sie mich nicht! Untermaier hat sofort vermutet, dass Hiebler den Mann erschossen hat?“
„Genau das sagte ich eben. Daraufhin habe ich ihm eine verpasst. Wir alle kennen Hans schon sehr lange. Ich glaube nie und nimmer, dass er den Mann erschossen hat, zumal er ihn kurz vorher aus einer sehr gefährlichen Situation gerettet hatte. Alles deutet für mich darauf hin, dass wir glauben sollen, dass Hans den Mann erschossen hat. Dazu würde auch die Inszenierung in der Bank passen.“
„Jetzt bleiben Sie aber mal auf dem Teppich, Schwartz“, rief der Staatsanwalt aufgebracht. „Das Ganze soll nur wegen Hiebler gemacht worden sein? Wozu? Um sich an ihm zu rächen? Um ihm einen Mord unterzuschieben? Um ihm eins auszuwischen?“
„Genau das denke ich, ja.“
„Wurde die Tatwaffe sichergestellt?“
„Selbstverständlich. Die Leiche ist auf dem Weg nach München. Vielleicht wurde der Mann, dessen Identität wir noch nicht kennen, mit einer anderen Waffe erschossen.“
„Und wenn nicht?“
„Dann haben wir ein Problem. Dann müssen wir alles daransetzen, um Hans zu entlasten.“
„Wir werden die Ermittlungen an Kollegen übergeben müssen. Wenn herauskommt, dass wir selbst bei einem Mord in den eigenen Reihen ermitteln, gibt das nur Ärger. Wir werden…“ Weiter kam der Staatsanwalt nicht.
„Nein, wir übernehmen die Ermittlungen“, bestimmte Krohmer. „Sie geben mir Ihr Ehrenwort, dass Sie Ihre Arbeit gewissenhaft machen und alles sauber läuft“, wandte er sich an Leo.
„Selbstverständlich, Chef.“
„Dann gehen Sie an die Arbeit. Hiebler fällt aus, er ist vorübergehend suspendiert.“
„Aber…“
„Keine Widerrede, Schwartz! Hiebler wird aus dem Verkehr gezogen, er soll sich ruhig verhalten. Ich kümmere mich darum, dass Frau Struck aus dem Urlaub zurückkommt. Zusätzlich werde ich mich um Verstärkung bemühen. Wir brauchen jetzt jede Unterstützung, die wir kriegen können. Und Sie, Doktor Eberwein, beruhigen die Medien und versorgen sie mit Informationen, die sie beschäftigen, aber nicht auf dumme Gedanken bringen. Wir brauchen Zeit, die Sie uns verschaffen müssen. Bekommen Sie das hin?“
„Schon, aber…“
„Sie wissen, dass wir für Sie dasselbe tun würden. Sind Sie auf unserer Seite? Unterstützen Sie uns?“
„Die Medien hinzuhalten wird nicht einfach werden.“
„Sie müssen sehr geschickt vorgehen, Herr Staatsanwalt.“
„Gut, ich bin dabei. Aber ich mache das nicht ohne Gegenleistung.“
Krohmer stöhnte, er hatte bereits so etwas geahnt.
„Raus mit der Sprache. Was verlangen Sie?“
„Nicht so schnell, Herr Krohmer. Ich werde zu gegebener Zeit darauf zurückkommen.“ Eberwein stand auf und ging ohne Gruß.
„Vielen Dank, Chef. Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann.“ Leo war erleichtert, endlich mal eine positive Nachricht.
„Mir geht es ähnlich wie dem Staatsanwalt: Ich verlange etwas dafür.“
„Aha. Und was soll das sein? Geht es um die Schlägerei mit Untermaier? Sie haben gewonnen: Ich verspreche, dass so etwas nie wieder vorkommt. Ich werde um Untermaier in nächster Zeit einen riesigen Bogen machen.“
„Nein, ich verlange etwas anderes: Sie werden sich in Zukunft anständig kleiden. Ihr Auftritt ist eine Beleidigung für die Polizei.“
„Das sehe ich anders, aber ich verspreche es. - Das ist alles? Mehr wollen Sie nicht?“
„Sollte ich diese alberne Affenmaske oder irgendetwas in dieser Art noch ein einziges Mal sehen, werde ich mich vergessen. Das ist das letzte Mal, dass wir über diese Maske gesprochen haben!“
Als Hans zu sich kam und begriff, dass er im Krankenhaus war, verstand er die Welt nicht mehr. Was war passiert?
„Du kannst dich an nichts erinnern?“ Leo war sofort losgefahren, als er die Nachricht vom behandelnden Arzt bekam, dass Hans aufwachte.
„Nein. Warum bin ich hier?“
„Du wurdest niedergeschlagen. Kannst du dich an die Schießerei vor der Sparkasse am Stadtplatz erinnern?“
„Nein.“
Leo sah den Arzt hilflos an.
„Das geht vorüber. Der Patient wird sich irgendwann wieder erinnern.“
„Und wie lange wird das dauern?“
„Ich bin kein Hellseher. Es dauert, so lange es dauert.“
„Das nenne ich mal eine präzise Aussage“, maulte Leo.
„Was erwarten Sie? Ihr Kollege hat durch den Schlag eine heftige Gehirnerschütterung davongetragen. Ich verspreche Ihnen, dass die Erinnerungen zurückkommen. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Ich bin Arzt und kein Hellseher!“
Leo zeigte Hans einige Bilder des Tatorts, was ihn verwirrte.
„Ist der Mann tot?“
Leo nickte.
„Aber wie…?“
Es folgten weitere Fotos, auf denen zu sehen war, dass Hans eine Waffe in der Hand hielt.
„Ist das meine Waffe?“
Wieder nickte Leo.
„Aber das würde ja bedeuten, dass ich…“
„Das glaube ich nicht und damit bin ich nicht allein. Du würdest niemals einfach so einen Menschen erschießen, darin sind wir uns alle einig.“
Hans war erleichtert und gab die Fotos zurück.
„Die Kugel wird meine Unschuld beweisen.“
„Richtig.“
„Was ist mit deinem Gesicht passiert?“
„Eine kleine Auseinandersetzung mit Untermaier. Er sieht auch nicht besser aus.“
„Das hätte ich gerne gesehen.“
„Die Bilder stehen online. Wenn dir langweilig ist, kannst du sie dir gerne ansehen, die machen ja sowieso schon die Runde.“
Beide lachten, was ihnen sehr gut tat.
„Was war der Grund für eure Auseinandersetzung?“
„Brauchen Anderl und ich einen Grund?“, lenkte Leo ab, der seinem Freund und Kollegen nicht die Wahrheit sagen wollte. Was würde das bringen? Hans musste schnell auf die Beine kommen und wieder gesund werden, alles andere war unwichtig.
„Wer ist der Tote? Kenne ich ihn?“ Vor dieser Frage hatte Hans große Angst.
„Nein. Die Identität ist noch nicht geklärt. Er hatte keine Papiere bei sich.“
„Was ist mit einem Handy? Hatte er keins bei sich?“
Leo war erschrocken, Hans konnte sich wirklich an nichts erinnern.
„Nein, leider nicht. Der Mann filmte damit kurz vor seinem Tod, aber wir konnten das Handy nicht finden, es ist verschwunden.“
„Das ist seltsam.“
„Mach dir darüber keine Sorgen, das klären wir auf. Ich mache mich wieder an die Arbeit. Wenn du etwas brauchst oder du dich erinnerst, meldest du dich. Einverstanden?“
„Alles klar.“ So sehr sich Hans auch bemühte, konnte er sich an nichts erinnern. Und wenn er den Mann doch erschossen hatte?
Leo verließ mit Bauchschmerzen das Krankenhaus. Hans hatte einiges abbekommen und konnte sich nicht erinnern, was nach Aussage des Arztes nicht schlimm war. Allerdings sorgte er sich um das verschwundene Handy des Toten, dessen Identität immer noch nicht geklärt war. Aber da war noch etwas: Was wäre, wenn das Opfer tatsächlich mit Hans‘ Waffe erschossen wurde?
Das hier etwas gewaltig stank, lag auf der Hand. Aber was?
Friedrich Fuchs machte sich sofort auf den Weg in die Münchner Pathologie. Die Leiche war längst dort. Telefonisch kündigte er sein Erscheinen bei seiner Freundin Lore Pfeiffer an, die für die Einteilung der Leichen in der Pathologie zuständig war. Sie freute sich auf das Wiedersehen und versprach, dass er nicht lange warten musste. Wie sonst auch setzte sie den Namen ihres Freundes ganz oben auf die Liste, was den Kollegen egal war, aber unter den Wartenden wie immer nicht gut ankam. Aber das war Lore auch heute egal. Sie war für die Einteilung verantwortlich und sonst niemand.
Als Friedrich Fuchs eintraf, ging Lore auf ihn zu. Sie hatte Gerüchte gehört.
„Was ist mit deiner Leiche, Friedrich?“
„Was soll damit sein?“
„Es geht das Gerücht um, dass einer deiner Kollegen…“
„Das ist doch noch nicht bewiesen!“, winkte Fuchs ab, der nichts auf das Geschwätz anderer gab. „Für mich zählen nur Fakten und deshalb bin ich hier. Du solltest auf Gerüchte auch nichts geben, Lore! Hat Schnabel heute Dienst?“
„Ja, er ist hier. Möchtest du zu ihm?“
„Wenn das möglich wäre?“
„Das bekomme ich hin. Du bist als nächster dran.“
„Vielen Dank, mein Engel, auf dich ist Verlass.“
„Wer ist es, Friedrich? Wer soll den Mann erschossen haben?“ Lore kannte die Kollegen ihres Freundes und musste unbedingt wissen, wem die Tat angelastet wurde. Sie kam ihrem Friedrich sehr nahe, damit niemand den Namen hören konnte.
„Es ist Hiebler“, flüsterte Fuchs, der es hasste, diese Information weiterzugeben. Aber er kannte seine Lore. Sie würde keine Ruhe geben, bis sie den Namen wusste.
„Hiebler? Niemals!“
„Das wird sich alles aufklären.“
Während Fuchs wartete, hielt der Staatsanwalt geschickt die Medien hin. Er hatte eine Pressekonferenz einberufen und antwortete auf alle Fragen, ohne wirklich etwas zu sagen. Krohmer saß an seiner Seite und war beeindruckt. Er musste nur nicken und damit Eberweins Aussagen bestätigen.
„Und? Wie war ich?“, fragte der Staatsanwalt, als alles vorbei war.
„Aus Ihnen wäre ein guter Politiker geworden. Sie bringen dafür alles mit, was man braucht.“
„Um Gottes Willen! Fangen Sie nicht auch noch damit an! Meine Frau liegt mir seit Jahren damit in den Ohren. Sie ist der Meinung, dass ich einiges bewegen könnte.“
„Warum nicht?“
„Weil ich mit Politikern und deren Arbeit nichts zu tun haben will. Ich möchte nachts ruhig schlafen können. Ich bin als Staatsanwalt genau am richtigen Platz. Gibt es Neuigkeiten?“
„Hiebler hat Gedächtnislücken, die sich hoffentlich bald legen.“
„Wurde das Opfer identifiziert?“
„Noch nicht, die Kollegen sind dran.“
„Was ist mit dem Handy des Opfers?“
Krohmer schüttelte den Kopf.
„Was ist mit den Bankräubern?“
„Die Kollegen haben viele Handys der Schaulustigen konfisziert und sind dabei, die Aufnahmen auszuwerten. Wollen wir hoffen, dass darauf irgendetwas zu finden ist, das uns weiterhilft.“
„Von wie vielen Handys sprechen wir?“
„Etwa einhundert.“
„Gibt es Probleme damit?“
„Damit müssen wir rechnen. Viele Handys wurden nicht freiwillig abgegeben.“
„Das ist kein großes Ding, Polizeiermittlungen gehen vor. Was ist mit der Kollegin Struck?“
„Sie bricht ihren Urlaub ab und ist morgen wieder im Dienst.“
„Was ist mit der Verstärkung?“
„Ist angefordert und soll morgen auch hier sein.“
„Gibt es schon ein Obduktionsergebnis?“
„Fuchs ist in München. Heute Abend wissen wir mehr.“
Während sich die Kriminalbeamten auf den Feierabend vorbereiteten, den Leo selbstverständlich bei Hans im Krankenhaus verbringen wollte, spitzte sich die Situation in der Münchner Pathologie zu. Nach anfänglichen Höflichkeiten sah die Arbeit an dem Opfer nach Routine aus. Doktor Schnabel entfernte die relativ neue Kleidung und die Verwahrlosung des Körpers wurde sichtbar. Nachdem Schnabel Proben entnommen und untersucht hatte, sah er Fuchs an.
„Dieser Mann hat einige Jahre auf der Straße gelebt.“
„Das sehe ich auch so.“
Die Leiche wurde geöffnet. Was nach einem Routineeingriff aussah, änderte sich schlagartig. Schnabels Gesichtsausdruck verdüsterte sich, denn er schien nicht zu finden, nach was er suchte. Fuchs bemerkte das veränderte Verhalten des Pathologen.
„Was ist los?“
„Das Geschoss ist nicht da.“
„Was meinen Sie damit?“
Doktor Schnabel drehte die Musik lauter, denn auf eine Diskussion hatte er jetzt keine Lust. Er nahm die Aufnahmen und sah sie sich immer wieder an. Dann vergrößerte er den Schnitt rund um die Schusswunde.
„Keine Kugel. Sehen Sie selbst, Doktor Fuchs: Hier ist die Eintrittswunde, aber es gibt keine Kugel.“
Fuchs verstand die Welt nicht mehr. Was sollte das? Er selbst hatte das Blut an der frischen Schusswunde gesehen. Es gab keine Austrittswunde, also musste das tödliche Geschoss im Körper des Toten sein.
„Im Schusskanal habe ich nur das hier gefunden“, zeigte Doktor Schnabel auf das Mikroskop.
Fuchs sah nur ein verschwommenes Etwas und sah Schnabel fragend an.
„Das ist ein winziger Teil eines Fussels, der nicht zum Opfer gehört.“
„Vielleicht zum Schützen?“
„Das ist nicht möglich. Der Mann hier hatte ein T-Shirt, einen Pullover und eine dicke Jacke an, was wie der Rest der Kleidung alles neu ist. Der Schuss ging durch alle drei Kleidungsstücke. Der Fussel müsste vom Opfer stammen, aber das tut er nicht. Ich habe eine Theorie, die Ihnen nicht gefallen wird.“
„Und die wäre?“
„Das Geschoss wurde entfernt.“
„Das kann nicht sein, Doktor Schnabel! Die Leiche konnte am Tatort nicht manipuliert werden. Sowohl ich, als auch viele meiner Kollegen waren die ganze Zeit anwesend. Das hätte niemand gewagt, darauf können Sie sich verlassen.“
„Und wie kam die Leiche hierher? Wurde sie persönlich von Ihnen begleitet?“
„Nein. Ein Kollege hat das übernommen.“
„Dann wissen Sie, wen Sie befragen und wo Sie suchen müssen.“
„Irrtum ausgeschlossen?“
„In dem Punkt bin ich Ihnen sehr ähnlich, Doktor Fuchs: Wenn ich mir nicht ganz sicher wäre und meine Aussage auch beweisen könnte, würde ich so einen Wahnsinn niemals behaupten.“
Die Nachricht erreichte Krohmer zuhause.
„Das kann doch nicht wahr sein, Doktor Fuchs! Könnte es nicht sein, dass sich der Pathologe irrt?“
„Er ist sich ganz sicher. Ich bin bereits auf dem Weg ins Präsidium.“
„Gut, wir treffen uns dort. Inzwischen werde ich prüfen, wer die Leiche nach München gebracht hat.“
„Das weiß ich bereits, denn der Kollege hat die Abgabe der Fracht quittiert.“
„Wer ist es?“
„Marcel Dornhobel.“
Hans wurde fast verrückt, weil er sich einfach an nichts erinnern konnte. Dass es schon sehr spät war und Besuche um diese Uhrzeit schon allein wegen der Corona-Auflagen nicht gestattet waren, interessierte Leo herzlich wenig. Besonders eine Krankenschwester war sehr penetrant und bestand darauf, dass er endlich ging.
„Wenn das jeder machen würde!“, maulte sie schließlich, als alle Argumente ihrerseits nicht fruchteten.
„Ich bin nicht jeder. Außerdem hat der Arzt sogar empfohlen, dass ich hierbleibe. Gemeinsam könnten wir es schaffen, dass der Patient sein Gedächtnis wiedererlangt“, log Leo, dass sich die Balken bogen. Hier schwirrten jede Menge Ärzte herum. Einer von ihnen, der günstiger Weise bereits Feierabend hatte, hätte das durchaus gesagt haben können.
„Doktor Wagner hat das angeordnet?“
Leo nickte und versuchte, so ernst wie möglich zu bleiben.
Die Frau glaubte ihm schließlich und verschwand. Leo hatte sich ihren Namen gemerkt, der auf ihrem Kittel angebracht war: Wendela Norberg. Sollte noch irgendjemand auftauchen und ihm das Leben schwer machen, konnte er auf die Frau verweisen.
„Wie kannst du nur so schamlos lügen?“ Hans lachte, was beiden guttat.
„Die sollen sich nicht so anstellen.“
„Und die Corona-Auflagen?“
„Die sind mir im Moment völlig egal. Wenn du nicht verletzt hier liegen würdest, würden wir zusammen arbeiten. Aber du liegst im Bett und ich sitze davor. Welchen Unterschied macht das? Solange deine Frau nicht hier ist, bleibe ich.“
„Die kommt nicht so schnell. Ich habe sie gebeten, mich erst morgen zu besuchen, obwohl das völliger Schwachsinn ist. Anita hat jede Menge Arbeit und eigentlich keine Zeit, mir die Hand zu halten und damit sinnlos Zeit zu vergeuden. Morgen bin ich wieder fit. Wenn der Arzt nicht auf eine Nacht zur Beobachtung bestanden hätte, wäre ich längst zuhause.“
„Kommen wir lieber zurück auf das, was heute geschehen ist. Reiß dich zusammen und versuche, dich zu erinnern.“
Wieder und wieder gingen er und Leo jede Minute des vergangenen Tages durch, leider ohne Erfolg. Hans konnte sich nur noch daran erinnern, dass er und der Fremde in Sicherheit waren. Danach war alles weg. Nicht einmal an den Schlag konnte er sich erinnern, obwohl der eine fette Beule hinterlassen hatte.
„Und das Handy des Mannes?“
Leo schüttelte mit dem Kopf.