Im Wald vor lauter Bäumen - Dirk Brockmann - E-Book + Hörbuch

Im Wald vor lauter Bäumen Hörbuch

Dirk Brockmann

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Beschreibung

»Ein tolles Buch, das sich sehr zu lesen lohnt.« Markus Lanz In einer vernetzten Welt müssen wir vernetzt denken. Nur so können wir Zusammenhänge, grundlegende Gemeinsamkeiten, universelle Muster und Regeln erkennen. Und auf diese Weise vielschichtigen Phänomenen wie Pandemien, Klimakatastrophen, Artensterben, Verschwörungserzählungen begegnen. Der Komplexitätsforscher Dirk Brockmann nimmt die Welt als Ganzes in den Blick. Er sucht nach Ähnlichkeiten zwischen natürlichen und gesellschaftlichen Prozessen, macht Verbindungen sichtbar und liefert damit so ungewöhnliche wie aufschlussreiche Perspektiven. Eine Denkanleitung. die Komplexität einfach verständlich macht. - Komplexe Thematik - leicht fasslich, anschaulich, spannend erklärt - Dirk Brockmann ist als international renommierter Forscher bekannt

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Zeit:6 Std. 55 min

Sprecher:Alexander Gamnitzer
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Über das Buch

Corona, kollabierende Ökosysteme, Klimakipppunkte, Infodemics, Finanzkrisen: Die hochkomplexen Themen und Krisen unserer Zeit sind nur mit Blick auf ihre Vernetzung und ihre Muster zu verstehen. Der Komplexitätswissenschaftler und Generalist Dirk Brockmann schaut auf Phänomene wie Pandemien, Massenpanik und Verschwörungserzählungen, er sucht nach Gesetzmäßigkeiten und verbindenden Elementen zwischen sozialen Phänomenen und komplexen Prozessen in der Natur. Dabei stellt er höchst aufschlussreiche Parallelen her – etwa zwischen Waldbränden und Epidemien oder zwischen Goldbrassen auf Futtersuche und Populismus – und zeigt anhand von zahlreichen Beispielen, welche Erkenntnisse wir daraus ziehen können.

 

Sein Fazit: Um die Krisen unserer Zeit zu bewältigen, müssen wir antidisziplinär denken und auf das fundamentale Prinzip der Natur setzen: Kooperation.

Dirk Brockmann

Im Wald vor lauter Bäumen

Unsere komplexe Welt besser verstehen

Für Lili und Hannah

If you are the smartest person in the room, you are in the wrong room.

 

Richard Feynman (1918–1988) – Nobelpreis Physik 1965

Die Anmaßung der Menschen, Verantwortung für die lebende Erde zu übernehmen, erscheint mir lächerlich – es ist die Rhetorik der Machtlosen. Unser Planet sorgt für uns, nicht wir für ihn. Unser aufgeblasenes moralisches Gebot, eine widerspenstige Erde zu zähmen oder unseren kranken Planeten zu heilen, zeigt nur unsere maßlose Fähigkeit zur Selbsttäuschung. In Wirklichkeit müssen wir uns vor uns selbst schützen.

 

Wir müssen ehrlich sein. Wir müssen uns von unserer artspezifischen Arroganz befreien. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass wir jene einzigartige, auserwählte Spezies sind, für die alle anderen gemacht wurden. Und wir sind auch nicht die wichtigste Spezies, nur weil wir so mächtig, zahlreich und gefährlich sind. Unsere hartnäckige Illusion einer besonderen göttlichen Fügung steht im völligen Widerspruch zu unserer wahren Stellung als aufrecht gehende, kümmerliche Säugetiere.

 

Lynn Margulis (1938–2012) – Der symbiotische Planet

Come together

The Beatles – Abbey Road

Willkommen in diesem Buch. Damit Sie gleich Bescheid wissen: Der Buchtitel ist metaphorisch gemeint. Sie lesen hier kein Waldbuch, obwohl Sie auch über den Wald etwas erfahren werden. Es waren noch andere Titel im Rennen, »Besser komplex als gar nicht einfach«, »Forschen wie ein Pilz«, »K«, »Komplexität«, etliche mehr. Am Ende haben wir uns für einen entschieden. »Wir«, weil bei dieser Entscheidung viele Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven involviert waren. Familie, Freunde, der Verlag, Kolleginnen und Kollegen, meine Lektorin, mein Agent. Ein ganzes Netzwerk aus Personen hat hier kollektiv, kooperativ, koordiniert und kritisch agiert, mal ist die Entscheidung in die eine, mal in die andere Richtung gekippt. Schreiben musste ich das Buch allerdings selbst.

Wer das Inhaltsverzeichnis noch vor Augen hat, wird erkannt haben, dass ich in den vorletzten Satz die zentralen Kapitelthemen eingeflochten habe – komplexe Netzwerke, Koordination, Kritikalität, Kipppunkte, kollektives Verhalten, Kooperation –, alles Konzepte, die dabei helfen, unsere komplexe Welt besser zu verstehen. In einem Satz zusammengefasst: Im großen Ganzen geht es darum, die Ähnlichkeiten zwischen komplexen Phänomenen in der Natur einerseits und komplexen gesellschaftlichen Prozessen andererseits zu erkennen, Verbindungen zu knüpfen und aus diesen Verbindungen etwas zu lernen.

Das klingt etwas allgemein und abstrakt. Deshalb ein Beispiel: Am 15. September 2008 meldete die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers Konkurs an. Der Kollaps eines der größten und traditionsreichsten Bankhäuser der Geschichte war der Höhepunkt der weltweiten Finanzkrise, die etwa ein Jahr zuvor begonnen hatte, zu einem Aktienwertverlust von circa 4000 Milliarden US-Dollar führte und eine Schockwelle in der Weltwirtschaft auslöste. Lehman Brothers hinterließ Schulden von 200 Milliarden Dollar und musste binnen kürzester Zeit etwa 25000 Mitarbeiter entlassen. Bis dahin hatten Investmentbanken wie Lehman Brothers das Label »too big to fail«. Weil das schiere Gewicht des Unternehmens im weltweiten Finanzmarkt so groß war, ging man davon aus, dass staatliche Interventionen immer dafür sorgen würden, dass ein solches Unternehmen nicht bankrottgeht, weil die Folgen desaströs wären. Bis heute wird unter Fachleuten noch kontrovers diskutiert, welche Mechanismen und Faktoren eigentlich diese Krise ausgelöst haben, wieso sie niemand hatte kommen sehen und weshalb selbst die prominentesten Ökonomen der Welt, wie der Wirtschaftswissenschaftler Alan Greenspan (bis 2006 Chef der amerikanischen Notenbank), öffentlich erklärten, dass die gängigen Theorien, Annahmen und Methoden der Wirtschaftswissenschaft die Realität nur mangelhaft abbilden. Diese Ahnung lag schon länger in der Luft, denn bereits 2006, also zwei Jahre vor der weltweiten Finanzkrise, hatte die US-Notenbank zusammen mit den wichtigsten amerikanischen Wissenschaftsakademien eine Tagung organisiert, bei der Wissenschaftlerinnen und Experten aus Mathematik, Physik, Ökologie und Ökonomie zusammentrafen, um neu über die Thematik »Systemrisiko« in Märkten nachzudenken und besser verstehen zu lernen, unter welchen Bedingungen diese destabilisiert werden oder binnen kurzer Zeit kollabieren können. Einen wesentlichen Beitrag bei dieser Tagung lieferten Ideen, Einsichten und theoretische Modelle aus der Ökologie. Seit Mitte der 1970er-Jahre steht in der ökologischen Wissenschaft die Frage im Fokus, welche Eigenschaften ökologische Netzwerke so stabil machen. Ihre Stabilität ist ja gewissermaßen durch ihre Existenz über viele Hundertmillionen Jahre erwiesen. Ökosysteme sind hoch dynamische, stark vernetzte, heterogene Systeme, die sich schnell an veränderte Bedingungen anpassen können, also adaptiv sind, und trotz oft stark disruptiver Einflüsse in ein Gleichgewicht zurückfinden können. Bei der Tagung wurden viele Erkenntnisse aus der Ökologie in den ökonomischen Kontext übersetzt und somit Verbindungen zwischen den oberflächlich völlig verschiedenen Bereichen – Ökonomie und Ökologie – geknüpft. In einem kurzen Artikel mit dem Titel »The ecology of bankers«[1] – Die Ökologie der Banker – haben die renommierten Theoretiker Simon Levin und Robert May (1936–2020) etwas später viele dieser Verbindungen diskutiert.

Um solche Art von Brücken zwischen vermeintlich unverwandten Gebieten oder Phänomenen geht es in diesem Buch. Beide, Simon Levin und Robert May, gehören bzw. gehörten zu den profiliertesten und einflussreichsten Wissenschaftlern, die Parallelen zwischen biologischen und gesellschaftlichen Phänomenen untersucht und eine ganze Generation von Komplexitätswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern inspiriert haben. Der eine war ursprünglich Mathematiker, der andere theoretischer Physiker, doch ihre wichtigsten Arbeiten haben sie in der Ökologie, Epidemiologie, den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften publiziert.

Wenn ich nach meiner Ausbildung oder nach meinem Beruf gefragt werde, lautet die Antwort mittlerweile: »Ich komme aus der theoretischen Physik.« Die Erwiderung »Ich bin Physiker« habe ich mir abgewöhnt. Warum? Das ist ganz einfach. Bei jeder Aussage kommt es ja nicht nur darauf an, dass richtig ist, was man sagt, sondern dass richtig ist, was gehört wird. Es müssen die richtigen Bilder in den Köpfen der Empfänger entstehen. Das ist bei der Antwort »Ich bin Physiker« nicht immer der Fall, weil ich mich nicht mit den typischen Themen der Physik befasse. Auf die Folgefrage, was denn mein Spezialgebiet sei, antworte ich meist »Komplexitätstheorie«, »Komplexität«, »Komplexitätswissenschaft« oder einfach nur »Komplexe Systeme«. Dann hören die Gespräche entweder auf, oder jemand will es genau wissen, dann verschenke ich dieses Buch.

Ursprünglich habe ich tatsächlich theoretische Physik und Mathematik studiert, aber heute ist meine Einstellung zur theoretischen Physik wie die zu dem Dorf bei Braunschweig, aus dem ich stamme. Ich empfinde emotionale Nähe, manchmal Heimweh, komme zu selten, aber regelmäßig zu Besuch, kenne mich noch aus und habe die Fertigkeiten, die ich dort aufwachsend erlernt habe, nach wie vor parat. Genau wie mein Dorf physisch, habe ich inhaltlich die traditionelle Physik recht früh verlassen. Schon bald habe ich mich neben rein physikalischen Phänomenen besonders für solche aus anderen Disziplinen interessiert. In meiner Diplomarbeit ging es um die Atmung bei Säugetieren, wie sie gesteuert wird und so. Daraus entstand dann Anfang der 1990er-Jahre mein Interesse an neuronalen Netzen, als diese zwar schon lernen konnten, aber noch nicht »Künstliche Intelligenz« hießen, weil die Computer viel zu langsam waren. Bevor ich als ausgebildeter Physiker einen Lehrstuhl in der Biologie übernahm, war ich Professor für Angewandte Mathematik in den USA. Alles etwas durcheinander.

Nach den neuronalen Netzwerken habe ich mich mit Sakkaden beschäftigt. Das sind unsere schnellen, ruckartigen Augenbewegungen, wenn wir ein Bild anschauen oder lesen, weil wir ja nur im Zentrum unseres Gesichtsfelds wirklich scharf sehen (Sie können das überprüfen, indem Sie dieses Buch eine Handbreit nach links oder rechts bewegen, während Sie Ihren Blick fest weiter geradeaus richten und versuchen weiterzulesen). Besser gesagt, sehen wir eigentlich fast immer alles unscharf, nur merken wir es nicht. »It’s all in your head« sagt man im Englischen – Das passiert alles in deinem Kopf. Unser Hirn gaukelt uns ein scharfes Gesamtbild vor. Das ist ein Gedanke, den wir später im Buch noch einmal aufgreifen werden. Wenn man experimentell untersucht, wie Menschen zum Beispiel ein Bild betrachten, und mit Linien nachzeichnet, wie sich diese Sakkaden über das Werk bewegen, entsteht ein scheinbar zufälliges Krickelkrakel. Aber in diesem Krickelkrakel sind Strukturen versteckt, statistische universelle Regelmäßigkeiten. Sogenannte Potenzgesetze. Ich werde darauf zurückkommen. Unsere Augen scannen ein Bild weder ordentlich von oben links nach unten rechts (wie beim Lesen), noch springt unser Fokus total erratisch umher. Typischerweise machen unsere Augen sehr viele kleine Sakkaden und selten größere Sprünge. Diese Muster tauchen auch an ganz anderen Stellen in der Natur auf. Wenn man zum Beispiel die Strecken nachverfolgt, die Albatrosse auf Futtersuche bei ihren kilometerlangen Flügen über den Ozean zurücklegen, oder die Wanderungen der brasilianischen Klammeraffen durch den Urwald aufzeichnet, findet man Bewegungsmuster, die sich von dem Krickelkrakel der Augenbewegungsmuster oberflächlich kaum unterscheiden.

Diese kleine Geschichte erklärt in zweierlei Hinsicht, wieso dieses Buch überhaupt entstanden ist und wovon es handelt. Zum einen geht es ums Sehen, um neue Perspektiven und darum, dass in Ihrem Kopf die richtigen Bilder entstehen. So wie wir mit unseren Sakkaden eine betrachtete Szene in unseren Köpfen zusammenbauen, indem wir hintereinander einige Elemente genauer fokussieren (kleine Sakkaden), sie verbinden und in ein Ganzes einflechten (große Sakkaden), soll das Buch Sie durch sehr unterschiedliche Themen und Konzepte lenken und Verbindungen aufzeigen, die Sie vielleicht nicht erwartet hätten. Ich werde in den einzelnen Kapiteln von verschiedenen Phänomenen berichten: Kooperation, Kritikalität, Kipppunkten, komplexen Netzwerken, kollektivem Verhalten und Koordination. Wenn alles gut geht, sollte sich in Ihrem Kopf dann automatisch das Bild »Natur und Gesellschaft aus der Sicht der Komplexitätswissenschaft« ergeben, und Sie werden erkennen, wie diese Themen zusammenhängen. Es ist nicht nur der Anfangsbuchstabe »K«, der sie verknüpft.

Zum Zweiten ist es Anliegen dieses Buches, dass Sie sich von den offengelegten Verbindungen und Gemeinsamkeiten zwischen oberflächlich sehr verschiedenen Natur- und Gesellschaftsphänomenen verzaubern lassen und sie ergründen wollen. Vielleicht geht es Ihnen wie mir. Findet man eine Verbindung, eine Beziehung zwischen ganz verschiedenen Dingen, hat die Erkenntnis etwas Magisches, vor allem, wenn diese Verknüpfungen ein bisschen versteckt sind. Wie kann es sein, dass die Bewegung unserer Augen Ähnlichkeiten mit der Bewegung der Albatrosse und der Klammeraffen hat? Und wie kommt man den Zusammenhängen auf die Spur? Wo ist die Verbindung? Welche Schlüsse können wir daraus ziehen?

Als ich damals Augenbewegungen untersuchte, wollte ich einfach wissen, wie wir die Welt um uns herum wahrnehmen und im Kopf zusammensetzen. Als mir bewusst wurde, dass die Bewegungsmuster unserer Augen den Flugwegen der Albatrosse ähneln und hier offenbar ein fundamentales Gesetz versteckt liegt, kam ich auf die Idee, die Bewegungsmuster von Menschen zu messen. Das war 2004, und damals gab es noch keine Smartphones mit GPS-Funktion. Zusammen mit meinen damaligen Kollegen Lars Hufnagel und Theo Geisel habe ich stattdessen die Bewegung von mehr als einer Million Geldscheinen in den USA untersucht, die Teil des damals populären Internetspiels »Where’s George?« (www.wheresgeorge.com) waren. Und siehe da, auch in den Bewegungsprofilen von Menschen zeigten sich ganz ähnliche Muster, universelle Gesetzmäßigkeiten. So kam es, dass ich mich verstärkt mit menschlicher Mobilität und der globalen Ausbreitung von Epidemien über das Flugverkehrsnetz beschäftigt habe. Die Modellierung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten ist momentan immer noch ein wichtiger Aspekt meiner wissenschaftlichen Arbeit und durch die Ausbreitung der Covid-19-Pandemie zwangsläufig in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Womit ich mich in fünf Jahren beschäftigen werde, weiß ich jetzt noch nicht.

Viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die sich als Komplexitätswissenschaftler bezeichnen, haben ähnlich erratische Wege durch die wissenschaftlichen Disziplinen hinter sich, einige von ihnen werden Sie in diesem Buch noch kennenlernen. Diese Wege sind nicht untypisch und gleich im nächsten Kapitel werden Sie erfahren, warum.

Der Gedanke zu diesem Buch hat schon lange in mir geköchelt. Am Institut für Biologie der Humboldt Universität halte ich seit fünf Jahren regelmäßig eine gut besuchte Vorlesung über »Komplexe Systeme in der Biologie«. Die Studierenden kommen typischerweise aus der Biologie, aber auch aus vielen anderen Disziplinen. Mein Eindruck ist jedes Jahr, dass die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedensten Phänomenen und der integrative Ansatz der Komplexitätstheorie viele fasziniert.

Die Veranstaltung war für mich als Hochschullehrer zunächst eine große Herausforderung, da zum tieferen Verständnis der Zusammenhänge eine solide Ausbildung in Mathematik und Physik hilfreich ist, ich diese aber nicht voraussetzen konnte. Also habe ich mir überlegt, wie man die Inhalte auch ohne Mathematik vermitteln könnte. Für die Vorlesung habe ich dann die »Complexity Explorables« konzipiert (www.complexity-explorables.org), eine Sammlung interaktiver webbasierter Computersimulationen, die verschiedene komplexe Systeme aus Ökologie, Biologie, den Sozialwissenschaften, Ökonomie, Epidemiologie, Physik, den Neurowissenschaften und anderen Gebieten erklärt. Wenn man nicht auf Mathematik zurückgreifen kann, hilft es, Systeme zu »erleben« und mit ihnen zu spielen, dabei können interaktive Computersimulationen sehr hilfreich sein. In diesem Zusammenhang reifte der Gedanke eines Buchs, das den Komplexitätsansatz einem breiten Publikum zugänglich macht.

In meinen Augen liefert gerade heutzutage die Komplexitätswissenschaft hilfreiche Perspektiven und Erkenntnisse. Im Januar 2000 wurde der berühmte Physiker Stephen Hawking (1942–2018) in einem »Millennium«-Interview gefragt, was er für das nächste Jahrhundert erwarte. Er antwortete: »I think the next century will be the century of complexity« – Das nächste Jahrhundert wird das Jahrhundert der Komplexität. Für das Verständnis der aktuellen Entwicklungen und zur Bewältigung der Krisen unserer Zeit hielt Hawking einen Ansatz für hilfreich, dessen Kernelement die Suche nach Ähnlichkeiten und Verbindungen ist, der Gemeinsamkeiten in den Fokus nimmt, gerade auch zwischen ganz verschiedenen Wissenschaftszweigen. Denn Naturkatastrophen, Globalisierung, Wirtschaftskrisen, Pandemien, der Verlust an Biodiversität, Kriege und Terrorismus, die Klimakrise, die Folgen der Digitalisierung, Verschwörungserzählungen kann man nicht als isolierte Phänomene betrachten. Nicht nur sind diese Krisen in sich schon ungeheuer komplex und vielschichtig, sondern eben auch häufig miteinander vernetzt.

Um die Probleme zu lösen und aktuelle und sich anbahnende Katastrophen besser zu bewältigen, muss man vernetzt denken. Man muss erkennen können, welche Elemente essenziell sind, und, viel wichtiger, welche Details man vernachlässigen kann. Man muss nach grundlegenden Mechanismen, Mustern und Regelmäßigkeiten suchen. Hierbei geht es aber um mehr als um die rein qualitative Beschreibung der Phänomene. Die Mechanismen, Muster und Regeln sind dann sehr wertvoll, wenn sie nicht nur dabei helfen, ein System zu beschreiben, sondern vorhersagen, wie es auf Veränderungen der äußeren Bedingungen reagiert. Deshalb bietet gerade der Komplexitätsansatz hier eine wirkungsvolle Ergänzung zu den traditionellen wissenschaftlichen Herangehensweisen. In den nächsten Kapiteln werden Sie viele Beispiele aus sehr unterschiedlichen Bereichen kennenlernen, deren Verwandtschaft erst durch die fundamentalen Regeln, die ihnen zugrunde liegen, erkennbar wird. In einer Welt, in der man praktisch das gesamte Weltwissen auf seinem Smartphone mit sich herumträgt, können wir unser Denken auf dynamische Zusammenhänge konzentrieren, ohne in Disziplinen und Wissenssilos abzutauchen.

Sie können dieses Buch konventionell von vorne bis hinten durchlesen. Oder aber kapitelweise von hinten nach vorne. Das geht auch. Eigentlich ist das Buch ein Netzwerk, und Netzwerke haben wie Kreise keinen Anfang und kein Ende. Dennoch ist es ratsam, mit dem Kapitel »Komplexität« zu beginnen. Die Kapitel »Koordination«, »komplexe Netzwerke«, »Kritikalität«, »Kipppunkte«, »kollektives Verhalten« und »Kooperation« können Sie dann in beliebiger Reihenfolge lesen. Die Buchnetzwerkzeichnung ist eine grobe Landkarte für die thematische Orientierung.

Komplexität

Forschen wie ein Pilz

Wissenschaft ist der Glaube an die Ignoranz der Experten.

Richard Feynman (1918–1988), Nobelpreis Physik 1965

Der Alltag kann kompliziert sein. Das wissen wir alle. Der Kaffeevollautomat. Das Passagierflugzeug. Die Beziehung. Die Bedienung des neuen Telefons. Die Steuererklärung. Alles kompliziert. Im Englischen spricht man von »a lot of moving parts«. Wenn also verschiedene Teile gleichzeitig in Bewegung sind, voneinander abhängen, Einfluss aufeinander üben und man schnell den Überblick verliert, dann ist etwas kompliziert.

Kompliziertes

Aber sind komplizierte Dinge auch komplex? Und umgekehrt komplexe Systeme zwangsläufig kompliziert? Das Wörterbuch leitet »komplex« aus dem Lateinischen ab (cum = miteinander, plectere = flechten), es bedeutet also »verflochten, vielschichtig«. Ein komplexes System besteht aus verschiedenen Elementen, die miteinander verbunden sind und dabei, wie Flechtwerk, eine Struktur bilden, die in den Einzelelementen nicht erkannt werden kann. So wie beispielsweise in der Häkelmasche noch kein Pullover sichtbar ist. »Komplex« bezieht sich auf die innere Struktur eines Systems oder eines Phänomens, ist also ein objektives Kriterium. Während »kompliziert« sich immer auf die Auffassungsgabe der Betrachtenden bezieht. »Kompliziert« ist subjektiv. Phänomene können außerordentlich komplex, aber unkompliziert sein.

Das einfachste Alltagsbeispiel ist der Spielwürfel. Wenn man ihn wirft und dabei in Zeitlupe betrachtet, erkennt man, wie enorm strukturreich und scheinbar unberechenbar die Bewegung ist, obwohl sie den strukturell sehr einfachen Gesetzen der Newton’schen Mechanik gehorcht. Allerdings sind diese so ineinander verflochten, dass sie extrem reichhaltige Bewegungsmuster produzieren. Das Resultat der Augenzahl wirkt zufällig. Doch niemand würde einen einfachen Würfel als kompliziert bezeichnen.

Am besten versteht man komplexe Systeme, wenn man sich zunächst (aber nur ganz kurz) mit Dingen beschäftigt, die nicht komplex sind. Das einfache Pendel einer Wanduhr zum Beispiel. Das Uhrpendel ist nicht komplex. Es bewegt sich gleichmäßig, ist berechenbar, vorhersagbar, etwas langweilig, und kompliziert ist es schon gar nicht. Einfache Pendel werden bei der Hypnose eingesetzt, damit sich das Bewusstsein quasi freiwillig und aus Langeweile abmeldet. Ganz ähnlich, und mathematisch nicht unverwandt, ist die Bewegung der Erde um die Sonne. Jedes Jahr zieht die Erde (näherungsweise) eine Kreisbahn um die Sonne, die Bewegung wiederholt sich alle 365,25 Tage. Ganz einfach, immer im Kreis.

Der Spielwürfel ist einfach und komplex.

Gibt man dem Pendel allerdings ein zweites Gelenk, sieht die Sache ganz anders aus. Aus dem simplen Pendel ist ein komplexes Doppelpendel geworden. Ähnlich wie beim Würfel sind die Bewegungen des Doppelpendels reichhaltig an Struktur und Schönheit, obwohl der Unterschied zum einfachen Pendel nur ein weiteres Gelenk ist. Sie glauben das nicht? Suchen Sie im Internet nach Videos von Doppelpendeln. Man wird schnell fündig. Auch das Doppelpendel folgt den simplen Gesetzmäßigkeiten der Newton’schenMechanik und der Gravitationskraft, und dennoch macht es wilde Dinge: Es bewegt sich scheinbar völlig unvorhersagbar, mal überschlägt es sich, mal nicht, die Bewegung scheint zufällig.

Einfaches. Das Pendel und die Erdbewegung um die Sonne.

Das Doppelpendel repräsentiert eine Klasse von komplexen Systemen, die unerwartet komplizierte Strukturen, Eigenschaften oder Dynamik aufweisen, obwohl ihnen ganz einfache Regeln zugrunde liegen. Man könnte ja erwarten, dass für kompliziertes Verhalten auch komplizierte Mechanismen notwendig sind. Das Doppelpendel zeigt ein Verhalten, das sich deterministisches Chaos nennt. Chaotische Systeme wie das Doppelpendel folgen genauen mathematischen Gesetzmäßigkeiten, die es eigentlich erlauben müssten, aus der Kenntnis des Zustands des Systems in der Gegenwart jeden Zustand in Zukunft zu berechnen. So wie wir sehr genau die Bewegung der Planeten praktisch beliebig lang in die Zukunft vorherberechnen können und zum Beispiel genau wissen, wann die nächsten Mond- und Sonnenfinsternis-Ereignisse stattfinden. Für die nächsten 10000 Jahre oder länger. Im Prinzip müsste das bei dem Doppelpendel auch gehen, denn die Bewegungsgleichungen sind ja bekannt. Das Problem ist aber: Um den Zustand eines Systems in der Zukunft praktisch vorherzusagen, muss man den Zustand in der Gegenwart kennen, also genau messen können. Bei den Messungen gibt es aber immer Messfehler, die zwar durch immer bessere Messmethoden verringert werden können, aber niemals ganz verschwinden. Nun könnte man meinen, dass ein kleiner Messfehler in der Bestimmung des Anfangszustands auch zu einer kleinen Abweichung in der Vorhersage des zukünftigen Zustands führt. In nicht-chaotischen Systemen, wie bei den Planetenbewegungen oder dem einfachen Pendel, ist das auch so. Wenn ich bei einem einfachen Pendel, sagen wir, einen Messfehler von einem Grad im Pendelwinkel habe, wird meine Vorhersage des Zustands in der Zukunft auch nur etwa einen Grad Abweichung haben. Und hier kommt die Eigenschaft des deterministischen Chaos ins Spiel. Fehler in der Genauigkeit der Messung des Anfangszustands wachsen, sodass man nur kurze Zeit später mit seiner Vorhersage falschliegt. Immer, prinzipiell und fundamental. Ein anschauliches Beispiel aus dem Alltag ist das Billardspiel. Am Anfang werden die 15 Kugeln des Spiels in einer Dreiecksformation auf dem Billardtisch platziert. Bei der Spieleröffnung wird die weiße Kugel mit Wucht auf die Dreiecksformation gestoßen. Leichte Abweichungen in der Ausrichtung der Stoßkugel führen zu völlig anderen Verläufen der getroffenen Kugeln, obwohl die Bewegungsmechanik der Kugeln, wenn sie aufeinanderstoßen, einfachen Kollisionsgesetzen folgt.

Das Doppelpendel. Sieht einfach aus, ist sehr komplex.

Deterministisches Chaos ist in der Natur die Regel und nicht die Ausnahme. Ein anderes Beispiel ist die Wettervorhersage. Die Gleichungen und die Physik, die das Wetter bestimmen, sind bekannt. Aber die Physik des Wetters ist eben chaotisch, und wir können das Wetter nicht drei Monate in die Zukunft berechnen. Es gibt sehr viele Systeme in der Natur, die man selbst dann nicht genau vorhersagen kann, wenn man die Gesetzmäßigkeiten der Bewegung kennt. Das ist etwas enttäuschend, aber auch schön. Letztendlich wird ja alles, was wir sehen, durch recht überschaubare und strukturell einfache fundamentale physikalische Gesetzmäßigkeiten bestimmt. Dennoch ist die Welt voller Komplexität und Unvorhersagbarkeit. Eine fundamentale Ursache hierfür liegt in den Eigenschaften des deterministischen Chaos.

Es geht aber auch andersherum: Sehr komplizierte Systeme zeigen oft einfaches Verhalten, was aber in der Komplexität des Systems nicht unmittelbar erkennbar ist. In der Komplexitätswissenschaft verwendet man den Begriff »Emergenz«, wenn also ohne oberflächlich ersichtlichen Grund aus einem komplizierten Durcheinander eine Ordnung oder Struktur erwächst. Wer schon einmal im Herbst einem großen Schwarm von Staren im Flug zugesehen hat, weiß, welche Magie davon ausgeht. Schwarmverhalten werden wir (auch bei Menschen) noch genauer unter die Lupe nehmen. Bei einem Vogelschwarm, aber auch bei einer La-Ola-Welle im Stadion, bei Phantomstaus auf der Autobahn oder bei der Meinungsbildung in sozialen Netzwerken interagieren viele und in sich schon komplizierte autonome Elemente (einzelne Stare bzw. Fußballfans, Autofahrerinnen und Facebook-Nutzer), die selbstständig Entscheidungen treffen und alle etwas anders auf äußere Einflüsse reagieren. Dennoch kann sich aus solchen Systemen sogenanntes emergentes Verhalten, ein Schwarmverhalten, entwickeln, dessen Struktur man nicht aus dem Studium der Einzelelemente ableiten kann. Auch solche Systeme sind komplex: Viele, individuell unterschiedliche Elemente wirken nach oftmals nicht leicht ersichtlichen Regeln zusammen, sodass unerwartetes kollektives Verhalten entsteht. Ganz typisch ist auch, dass sich die Strukturen oder die Dynamik von selbst ergeben, ohne Instanz also, die das Ganze lenkt und leitet. Komplexe Systeme sind häufig selbst-organisiert. Es gibt keine Leader, keine Dirigenten. Phantomstaus entwickeln sich von selbst.

Auch bei einer Pandemie sind solche Abläufe zu beobachten. Wir erinnern uns: Ende 2019 tauchte in China das neue Coronavirus SARS-CoV-2 auf. Binnen einiger Wochen breitete es sich weltweit aus. Es wird von Mensch zu Mensch übertragen, Reisende bringen es von Ort zu Ort. Die erste Welle nahm Anfang März 2020 in Deutschland Fahrt auf, erreichte einen Höchstwert von etwa 6000 Neuinfektionen pro Tag im April, die Lage war ernst. Der Bevölkerung wurde klar, dass hier etwas Neues, Gefährliches geschah. Es wurde diskutiert, ob das Tragen von Masken etwas nützen könnte, Lockdown-Maßnahmen wurden entwickelt und politisch durchgesetzt. Die erste Welle wurde gebrochen, die Fallzahlen sanken und blieben den gesamten Sommer auf niedrigem Niveau. Dann folgte die zweite Welle und fiel, wie in so vielen anderen europäischen Ländern, viel stärker aus als die erste. Von Anfang an kamen verschiedene Experten zu Wort. Christian Drosten und Sandra Ciesek haben mit ihrem Podcast die Nation an die Hand genommen und durch die Pandemie geführt. Dank ihres Fachwissens und insbesondere ihrer Offenheit gegenüber wissenschaftlichen Studien außerhalb ihres eigenen Fachgebiets gelang es beiden, die Menschen verständlich zu informieren und ihnen ein unverzerrtes Bild der Realität zu vermitteln. Diese Arbeit war von ungeheurer Wichtigkeit. In erster Linie wurden in der Anfangszeit der Pandemie Virologinnen und Virologen konsultiert, es handelte sich schließlich um ein neues Virus. Es musste klassifiziert, das Genom sequenziert werden, die Übertragungswege mussten identifiziert und die klinischen Verläufe untersucht werden. Die Expertise von Epidemiologen und Epidemiologinnen war ebenfalls gefragt. Das Robert Koch-Institut rückte in den Fokus der Medien und informierte über Fallzahlen und Inzidenz.

Die Modellierer, oftmals Physikerinnen oder Informatiker, entwickelten Prognosen, analysierten Daten und erklärten die Fallzahlen. Die deutschlandweite Mobilität wurde vermessen, die Corona-Warn-App entwickelt, um die digitale Kontaktrückverfolgung zu erleichtern. Experten und Expertinnen diskutierten menschliche Kontaktnetzwerke, »Superspreader« wurde ein Schlagwort, und Psychologinnen und Verhaltensforscher untersuchten neue Phänomene wie Pandemiemüdigkeit und die Bereitschaft, sich gegen COVID-19 impfen zu lassen. Neben der Pandemie breiteten sich Verschwörungserzählungen aus, einige Menschen trugen Helme aus Alufolie, Neonazis marschierten mit esoterisch angehauchten Aktivisten im Gleichschritt. Als Gesamtsystem betrachtet, ist eine Pandemie ein hochkomplexes, vernetztes, dynamisches, biologisches, gesellschaftliches, soziales, ökonomisches Phänomen. Unsere Kontakte, unser Sozialverhalten, unsere Mobilität haben das Infektionsgeschehen bestimmt. Alles in allem kamen unzählige Faktoren zusammen, die am Ende als Geflecht bewirkt haben, wie die Pandemie sich regional, national und weltweit entfaltete.

Die COVID-19-Pandemie. Ein komplexes dynamisches Phänomen.

Gerade deshalb erscheint es natürlich vermessen, die Pandemie in ein mathematisches Gewand zu kleiden. Zu viel Ungewissheit, Unvorhersagbarkeit und zu viel »Faktor Mensch« sind im Spiel. Betrachtet man das Phänomen aber als Ganzes und mit den Werkzeugen, die in diesem Buch vorgestellt werden, zeigen sich schnell Muster in dem Durcheinander von Komplexität. Dabei hilft es, ein paar wiederkehrende Grundprinzipien der Natur zu verstehen, zum Beispiel das Phänomen der spontanen Synchronisation, oder wie kollektives Verhalten aus einfachen Regeln entstehen kann, wie Systeme reagieren, wenn sie sich einem Kipppunkt nähern, oder welche Eigenschaften komplexe Netzwerke haben. Welche Rolle die Kooperation spielen kann, und wie sie entsteht. Alles Themen, die ich im Folgenden behandeln werde.

Das wissenschaftliche Geschick besteht darin, herauszufinden, wie komplexe Phänomene zustande kommen und welchen verborgenen Regeln sie folgen. Hierbei ist besonders frappierend, dass viele komplexe Systeme, egal ob sie in biologischen, physikalischen, gesellschaftlichen, politischen, ökologischen oder ökonomischen Zusammenhängen beobachtet werden, nicht selten unter dem Einfluss ähnlicher fundamentaler Grundregeln entstehen. Diese »horizontalen« Verbindungen zu erkennen und aus ihnen neues Verständnis und Wissen abzuleiten, macht den Wesenskern der Komplexitätswissenschaft aus.

Komplexitätswissenschaft und antidisziplinäres Denken

Was aber ist unter Komplexitätswissenschaft, kurz »Komplexität«, genau zu verstehen? Der erste Schritt zur Komplexität ist keine Hinwendung, sondern eine Abkehr: die Loslösung von klassischen Disziplinen. Im übertragenen (und oft auch nicht nur in diesem) Sinn sind Komplexitätswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen undiszipliniert. Von Dritten werde ich aufgrund meines Werdegangs mal als Physiker, mal als Mathematiker, gelegentlich als theoretischer Biologe, zuweilen als Bioinformatiker oder als Epidemiologe vorgestellt. Wie viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die sich für komplexe Systeme interessieren, bin ich nie sesshaft geworden in einer Disziplin. Damit hat man eigentlich schon den Kern der Erforschung komplexer Systeme und das Verhalten ihrer Akteure gut beschrieben. Die Komplexitätswissenschaft ist in ihrem Wesen antidisziplinär.

Was heißt das? Sie ist zwar ein Gebiet, aber eines ohne Ränder. Sie erstreckt sich in alle traditionellen Disziplinen hinein und macht sich dort breit. Nicht immer zum Vergnügen der Experten, die da schon sesshaft sind. Viele Komplexitätsfachleute haben zwar bestimmte Forschungsschwerpunkte, die sich in ihrer Laufbahn aber häufig verändern. Sie sind wissenschaftliche Nomaden. Vielleicht liegt das daran, dass sie sich weniger damit beschäftigen, was sie schon wissen, als vielmehr damit, was sie noch nicht verstehen, aber verstehen wollen. Richard Feynman, einer der bezauberndsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, Physiknobelpreisträger und unfassbar guter Lehrer, hat einmal gesagt: »If you are the smartest person in the room, you are in the wrong room« – Bist du die schlauste Person im Raum, bist du im falschen Raum. Das könnte man gewissermaßen als Leitmotiv der Komplexitätsforschung wählen. »Neugier« empfinden und leben ihre Protagonisten wortwörtlich.

Wenn Sie sich ein organisches Bild der Komplexitätswissenschaft machen wollen, denken Sie an Pilze. Nicht an die Fruchtkörper, die man an Bäumen oder auf dem Waldboden findet, sondern an das Wesentliche der meisten Pilzarten, das Mycel. Ein typischer Pilz besteht zum größten Teil aus einem unterirdischen, komplexen Geflecht feiner, mikroskopisch kleiner Härchen, über die der Nährstofftransport des Organismus stattfindet. Bei Hallimaschen kann sich das Mycelgeflecht eines einzigen Pilzindividuums über viele Quadratkilometer erstrecken.

Im US-Bundesstaat Oregon wurde im Jahr 2000 ein Hallimasch entdeckt, dessen Mycel sich über eine Fläche von 900 Hektar (3 km ⨯ 3 km = 9 Quadratkilometer) erstreckt. Damit wiegt dieser eine Pilz insgesamt etwa 900 Tonnen, und sein Alter wird auf 2500 Jahre geschätzt. Er gilt als größtes (bislang entdecktes) Einzellebewesen der Erde. Ein zweites wunderschönes Beispiel ist eine andere Pilzspezies Physarumpolycephalum. Diese Art gehört zu den Schleimpilzen. Physarum bildet große, gelblich fadenförmige Netzwerke auf alten verrottenden Baumstämmen, die einige Quadratmeter groß werden können. Das Fadennetzwerk transportiert Nährstoffe durch den ganzen Organismus. Eine interessante Eigenschaft dieser Art ist, dass sie nur aus einer einzigen biologischen Zelle besteht und damit gewissermaßen der größte Einzeller der Welt ist. Das wirklich Faszinierende an Physarum ist die Fähigkeit, Optimierungsprobleme zu lösen. Wenn Physarum in die Fläche wächst, werden Orte besonders hoher Nährstoffkonzentration erkannt. Zwischen ihnen baut der Organismus dann aus den besagten fadenförmigen Strukturen Verbindungskanäle auf, sodass möglichst effizient die Nährstoffe alle Teile des Gesamtorganismus erreichen können. Vor etwa zehn Jahren haben Wissenschaftler in einem Laborexperiment Nährstoffquellen in einer Schale so verteilt, dass sie die Stationen der Tokyoter U-Bahn in klein nachbildeten. Dann haben sie einen Physarumkeim über die Schale wachsen lassen. Nach einiger Zeit haben die Physarumfäden erstaunlich genau die tatsächlichen Verbindungen des realen U-Bahn-Netzwerkes nachgebildet.

Ein Pilz besteht fast nur aus Mycel, einem unterirdischen, komplexen Geflecht aus Pilzgewebe.

Ähnlich wie das Hallimasch-Mycel den Waldboden durchdringt und Physarum Punkte und Bereiche hohen Nahrungsmittelangebots (tote und bisweilen lebendige Bäume) verbindet, ist die Komplexitätswissenschaft ein Netzwerk, das die traditionellen Wissenschaftsgebiete durchdringt und sie verknüpft.

Nun könnte man mutmaßen, dieser Ansatz laufe Gefahr, sich zu verzetteln und nur oberflächliche Erkenntnisse zu liefern. Das Gegenteil ist der Fall. Luis Amaral ist dafür ein gutes Beispiel. Luis Amaral kommt aus der Physik und aus Portugal. Amaral lehrt an der Northwestern University bei Chicago, wo wir fünf Jahre Kollegen waren. Sicherlich gehört er zu den weltweit profiliertesten Wissenschaftlern auf dem Gebiet der komplexen Systeme. Wenn man sich die Liste seiner erfolgreichsten Publikationen anschaut, findet man Studien zur Struktur und Effizienz von Teams, Abhandlungen zu den Unterschieden der Passnetzwerke verschiedener Fußballmannschaften, die ersten Analysen des weltweiten Flugverkehrsnetzwerks, quantitative Untersuchungen zur Geschlechterungleichheit in Wissenschaft und Wirtschaft, Studien zu Alterungsprozessen bei Menschen und vieles mehr. All diese Arbeiten hatten auf traditionelle Disziplinen wie Biologie, Soziologie, Ökonomie, Epidemiologie und Genderforschung großen Einfluss. Sie haben wichtige Erkenntnisse geliefert und wurden und werden vielfach zitiert. Der essenzielle Wesenszug eines Wissenschaftlers wie Luis Amaral ist, dass unbeantwortete Fragen seine Aktivitäten bestimmen und nicht, welche Vorkenntnisse oder Methoden ihm dabei zur Verfügung stehen.

Das beste Beispiel aber ist der 2020 verstorbene Australier und britische Lord Robert May. »Bob« May war Professor am Department of Zoology der Oxford University und gehörte zu Lebzeiten zu den bekanntesten und profiliertesten Wissenschaftlern in Großbritannien. Lange war er Präsident der Royal Society, der angesehenen britischen Wissenschaftsakademie. Erstmals hatte ich Kontakt mit ihm, als ich gerade frisch promoviert war. Bob hat meine Kollegen Lars Hufnagel, Theo Geisel und mich damals ermutigt, unsere Arbeit[2] über den Zusammenhang zwischen der Ausbreitung von Infektionskrankheiten und dem globalen Flugverkehrsnetz bei einer renommierten Zeitschrift einzureichen. Wahrscheinlich wäre mein Leben ohne Bob deutlich anders verlaufen. Persönlich begegnete ich ihm 2005 bei der Frühjahrstagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft in Berlin, wo Bob den Festvortrag hielt. Er berichtete über seine Forschungen zu Kontaktnetzwerken, die Häufigkeitsverteilung von Sexualpartnern und »Superspreadern«[3]. Alles keine Themen, die man bei einer Physikertagung auf der Agenda erwarten würde. Bob war damals schon 69, also eher im Herbst seiner Karriere. Als er mit 84 Jahren starb, nannte ihn die ›New York Times‹ in einem Nachruf einen »unaufhaltsamen Big-Picture-Wissenschaftler«. Bob war Pionier in so vielen Bereichen. Sehr früh hat er sich mit der Stabilität von Ökosystemen beschäftigt und konnte mit einer bahnbrechenden Arbeit zeigen, dass Artenvielfalt an sich Ökosysteme eher destabilisiert (im Gegensatz zur damaligen Überzeugung vieler Experten) und dass folglich andere Faktoren als bloße Vielfalt die Natur stabilisieren müssen (ich komme im Kapitel »Kooperation« darauf zurück). In den 1980er-Jahren hat er zusammen mit Roy Anderson das Gebiet der Modellierung von Infektionskrankheiten praktisch neu erfunden. 1976 veröffentlichte er in der renommierten Zeitschrift ›Science‹ einen Artikel mit dem Titel »Simple mathematical models with very complicated dynamics«[4] – Einfache mathematische Modelle mit sehr kompliziertem Verhalten. Diese Arbeit legte den Grundstein für die Entwicklung der Chaostheorie und der Erforschung chaotischer Systeme, einem anfangs sehr wichtigen Zweig der Komplexitätsforschung.

Bobs Veröffentlichungen hatten immer einfache Titel und stellten einfache Fragen. Hier ein paar Beispiele: »Will a large complex system be stable?« – Ist ein großes komplexes System stabil?, »How many species are there on earth?« – Wie viele Arten gibt es auf der Erde?, »Ecology for bankers« – Ökologie für Banker. Im letzten Abschnitt seiner großartigen Karriere hat sich Bob May mit der Dynamik der Finanzmärkte beschäftigt. Er hat die dynamischen und strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Handels- und Finanznetzwerken einerseits und Wechselwirkungsnetzwerken ökologischer Systeme andererseits erkannt und aus diesen Ähnlichkeiten neue Schlussfolgerungen gezogen, die den Experten der jeweiligen Gebiete bis dahin verborgen geblieben waren. Zum Beispiel haben seine Forschungen und Grundlagenanalysen Projekte angeregt, die identifizieren konnten, welche strukturellen Eigenschaften ökologische Netzwerke besonders robust und dynamisch stabil machen. Genau diese Strukturen konnten auch in den Handelsnetzwerken zwischen Banken gefunden werden, mit dem einen, aber wichtigen Unterschied, dass Letztere wachstumsorientiert sind und sich zwangsläufig destabilisieren und kollabieren. Das werden wir noch im Detail diskutieren.

Reduktionismus – aber richtig

Aber wie gelingt es ausgebildeten Physikern wie Luis Amaral und Bob May, viel beachtete Erkenntnisse außerhalb ihres klassischen Gebiets zu gewinnen? Ganz einfach: Sie haben die scharfe Klinge des Reduktionismus in einem anderen Winkel angesetzt. Klassisch werden komplexe Systeme fein säuberlich vertikal in Einzelteile zerlegt, und jede Disziplin und ihre Experten und Expertinnen untersuchen ein kleines Segment, dafür aber in maximaler Detailtiefe.

Der Komplexitätsansatz funktioniert anders. Das Gesamtsystem wird nicht zerlegt, sondern die Kunst besteht darin, zu erkennen, welches die entscheidenden Merkmale sind und welche Details man ignorieren kann. Diese Vorgehensweise, die Kunst des Vernachlässigens (vielleicht die wichtigste Fertigkeit), hat sich die Komplexitätswissenschaft von der Physik ausgeborgt und in die anderen Gebiete getragen. Bob May hat diese Kunst beherrscht wie kein anderer. Er hat das Essenzielle gesucht, gesehen, extrahiert und dann untersucht. Wissenschaftlerinnen und Forscher wie er haben ihr Methodenköfferchen mit dabei, während sie nomadisierend in der Biologie, Ökologie, Ökonomie, Soziologie, den Neurowissenschaften, der Psychologie und vielen anderen Bereichen unterwegs sind.

Die Prinzipien des »ganzheitlichen Reduktionismus« – das Vernachlässigen nicht-essenzieller Elemente und die Suche nach Universalität – sind so wichtig, dass ich dazu zwei Alltagsbeispiele liefern möchte. Betrachtet man die Porträts beliebiger Menschen, wird man Unterschiede feststellen. Keine zwei Personen sind identisch. Man kann sich aber fragen, was denn eigentlich ein Gesicht zu einem Gesicht macht, was also die wesentlichen Merkmale sind. Man kann ein »Modell« entwerfen, und was dabei herauskommt, ist ein Smiley.

Reduktionismus. Klassisch und komplex.

Ohren können weg.

Das Smiley ist ein gutes Modell für ein Gesicht. Obwohl es nicht realistisch ist, sagt es uns: Augen, Mund und Kopf sind notwendig. Ohren, Nase, Haare, Brille, Pigmentierung, Brauen, Lippen, Zähne sind es nicht, man kann sie weglassen. Gleichzeitig hat man dadurch auch verbindende Elemente identifiziert. Zeige ich meiner 19 Monate alten Tochter Lou Bilder eines PKWs, eines Lastwagens, eines Krans, eines Traktors, eines Sport- oder eines Formel-1-Wagens, sagt sie »Brumm«. So unterschiedlich all diese Fahrzeuge auch sind, meine Tochter erkennt, was die meisten Fahrzeuge auszeichnet, nämlich das Motorengeräusch und die Räder. Dahinter steckt viel mehr als nur die Erkenntnis von Gemeinsamkeiten. Wissenschaftlich betrachtet kann man daraus die universelle Funktion ableiten. PKW, Lastwagen, Sportwagen und Formel-1-Rennwagen würden im Wesentlichen noch funktionieren, wenn man sie auf Motor und Räder reduzierte.

Man erlebt es nicht selten, dass Eltern ihren Kindern sagen, sie seien einzigartig, etwas ganz Besonderes. Gleichzeitig vermitteln dieselben Eltern (hoffentlich), dass alle Menschen gleich sind, die gleichen Rechte haben, dass es keine Unterschiede gibt zwischen verschiedenen Ethnien, dass Geschlecht, Herkunft und Hautfarbe keine Rolle spielen. Und beides ist natürlich richtig. Die Individualität leiten wir aus Unterschieden zu anderen ab, und die Gleichheit aus Ähnlichkeiten. Leider werden gesellschaftlich oft andere Konsequenzen gezogen. Rassismus, Sexismus, Ausländerfeindlichkeit, Kriege, soziale Ungerechtigkeit: All diese Phänomene werden argumentativ aus Unterschieden abgeleitet. Auch die »Sonderstellung« der Art Homo sapiens führen wir auf lächerlich unwichtige und in meinen Augen vernachlässigbare Eigenschaften wie Kognition zurück. Wir könnten ebenso argumentieren, dass Elefanten aufgrund ihres Rüssels eine Sonderstellung in der Natur haben. Gemeinsamkeiten haben nicht nur etwas Verbindendes, sondern vielmehr auch etwas Verbindliches, weil es eben nur wenige Möglichkeiten gibt, sich zu ähneln, aber unendliche viele, sich zu unterscheiden. Die moderne Naturwissenschaft hat nur durch diese Verbindlichkeiten ihren Fortschritt erlebt. Stellen wir uns einmal vor, Newton hätte nicht die Verbindung zwischen der Tatsache, dass Dinge runterfallen, und der Bewegung des Mondes um die Erde erkannt. Wir hätten dann vielleicht genaue Messungen, wie sich der Mond um die Erde bewegt, oder wie Dinge, wenn man sie fallen lässt, senkrecht nach unten beschleunigen. Wir hätte Kataloge von Wissen über die Bewegung der Planeten und fallende Objekte. Wir würden vielleicht sogar erkennen, dass Gegenstände mit der gleichen Beschleunigung fallen, unabhängig von ihrer Masse (was Galilei schon wusste). Aber es gäbe keine Verbindung zwischen fallenden Objekten und den Himmelskörpern. Erst die Newton’sche Gravitationstheorie schafft diese Verbindung und grenzt damit die Möglichkeiten ein. Ihr Wert besteht nicht darin, dass sie sowohl fallende Objekte als auch die Bewegung der Planeten berechnen kann, sondern dass sie zwischen diesen Phänomenen eine unfassbar solide Brücke schlägt.

Die Physiker

Es ist auffällig, dass in der Komplexitätswissenschaft vermehrt Physikerinnen und Physiker unterwegs sind. Luis Amaral ist einer, Bob May war einer, und wir werden im Laufe der Kapitel noch einige andere kennenlernen. Aber wieso ist das so? Bob May hat in einem Interview einmal gesagt: »If you have a good background in theoretical physics, you can do anything.« – Hast du eine solide Ausbildung in theoretischer Physik, kannst du alles machen. Bob spielte damit nicht etwa auf eine Allwissenheit, besondere Cleverness oder Intelligenz von Physikern an. Er meinte den großen Handlungsspielraum, den die Physikausbildung eröffnet: You can »do« anything. Er betonte das Handwerk und die Werkzeuge, die zum Einsatz kommen.

Was also zeichnet theoretische Physik aus und unterscheidet die physikalische Denkweise von der in anderen Disziplinen? Mit Physik assoziiert man Teilchenbeschleuniger, Schwarze Löcher, Albert Einstein, dunkle Materie, Quarks, Raumzeit und Relativitätstheorie, Laserstrahlen. Im Schulunterricht muss man langweilige Kugeln beobachten, die eine Ebene runterkullern, Formeln wie »Eff gleich Emm mal A« auswendig lernen und sich mit Newton und Lichtbrechung beschäftigen. Wenn man Glück hat und nicht schon vorher eingeschlafen ist, erlebt man, wie die Lehrerin mit einem Van-de-Graaff-Bandgenerator Blitze erzeugt oder einem Mitschüler damit die Haare zu Berge stehen lässt. Das haut keinen vom Hocker. Leider kommen so die meisten Menschen erst gar nicht in den Genuss, die wahren, versteckten Früchte der Physik zu kosten. In der theoretischen Physik ist ein zentrales Thema, den Dingen auf den Grund zu gehen und sie gleichzeitig aus der Vogelperspektive zu betrachten. Das Verborgene, Unsichtbare zu finden, zu explorieren. In der experimentellen Physik macht man, wie der Name schon sagt, Experimente. SuneLehmann (über den wir noch mehr erfahren) hat mir einmal gesagt: »Physicists shoot at things to see what happens« – Physiker schießen auf Dinge, um zu sehen, was dann passiert. In der theoretischen Physik schält man Phänomene, nach und nach, bis man zur Essenz vorgedrungen ist. Die Werkzeuge, die hier zum Einsatz kommen, sind Mathematik, Messungen, Gedankenexperimente. Und: Geduld. Die meisten Menschen verlieren ihr Interesse an der Physik oder, noch schlimmer, denken, dass sie »in Physik und Mathematik« schlecht bzw. untalentiert sind, weil sie sich selbst zu wenig Zeit geben. Geduld und Ausdauer sind das Wichtigste. Einmal wollte ich Geoffrey West, einem berühmten Teilchenphysiker, Komplexitätswissenschaftler und ehemaligen Direktor des Santa Fe Instituts in New Mexico, USA, ein Modell erklären. Zu Anfang des Gesprächs sagte er mir, ich solle das bitte Schritt für Schritt machen, er sei ein sehr langsamer Denker. In der theoretischen Physik will man etwas verstehen, koste es, was es wolle. Die Frage, ob es sich lohnt, ist tabu.

In keiner anderen Wissenschaft tanzen Theorie und Experiment den Tango auf Augenhöhe. Albert Einstein hat in seiner allgemeinen Relativitätstheorie vorhergesagt, dass man Gravitationswellen beobachten müsse, Wellen, die sich durch unser Raumzeitkontinuum ausbreiten, was man damals wegen der fehlenden Technologie noch nicht nachweisen konnte. Der Nachweis hat 100 Jahre auf sich warten lassen und wurde erst 2015 erbracht. In vielen anderen Wissenschaftsdisziplinen spielt die Theorie heutzutage eine geringere Rolle. Das war nicht immer so. Denken wir an Darwin, einen der einflussreichsten Wissenschaftler, der nach langen weltweiten Reisen und durch Naturbeobachtung die Evolutionstheorie formuliert hat. Auch wenn diese nicht, wie in der theoretischen Physik üblich, zunächst in präzise mathematische Formeln gefasst wurde, ist sie doch von der Denkstruktur her eine »physikalische« Theorie, weil sie der Sache auf den Grund geht und weil sie Veränderungen mit Hilfe einfacher Regeln beschreibt. Physikalische Theorien befassen sich in erster Linie mit Veränderungen, mit Dynamik, alles um uns herum ist in Bewegung. Bewegung aber ist etwas sehr Rätselhaftes. In einem Moment ist etwas »so«, im andern »so«. Denken Sie mal drüber nach.

Neben der Mathematik als Werkzeug und der Konstruktion mathematischer abstrakter Modelle erlernt man in der Physik sehr früh die Kunst des Vernachlässigens, was ja in der Komplexitätswissenschaft so wichtig ist. Untersucht man ein System in der Physik, hat man es oft mit verschiedenen Kräften zu tun, die wirken und das Geschehen beeinflussen, man misst sie, versucht den Einfluss abzuschätzen und lässt dann unwichtige und geringe Einflüsse weg. Und eben genau dieses Werkzeug wenden Komplexitätswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auch in anderen Gebieten an.

Mathematik und Modelle

Mathematik ging und geht immer noch Hand in Hand mit der theoretischen Physik. Große theoretische Physiker und Physikerinnen der Vergangenheit waren nicht selten auch Mathematiker bzw. Mathematikerinnen. Das ist auch heute oft so. Was man dabei leicht vergisst: Zur Zeit Newtons und selbst noch vor 100 Jahren wurde Mathematik auch in anderen Disziplinen viel häufiger angewendet und als »Werkzeug« genutzt. Goethe verstand Mathematik. Bach verstand Mathematik, was in seinen Kompositionen klar erkennbar ist. Carl Friedrich Gauß, von vielen als größter Mathematiker aller Zeiten bezeichnet, wollte in jungen Jahren zunächst Philologie studieren, er sprach mehrere Sprachen fließend und interessierte sich für Sprach- und Literaturwissenschaft ebenso wie für Mathematik. Leonhard Euler (nach dem die Euler’sche Zahl benannt ist) hat sich mit Musiktheorie beschäftigt. Ende des 17. Jahrhunderts entwickelten Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz unabhängig voneinander die Differentialrechnung, einen Bereich der Mathematik, der die gesamte Wissenschaft revolutionieren sollte. Unmittelbar danach hat Daniel Bernoulli, ein Schweizer Mathematiker, Methoden aus der Differentialrechnung praktisch angewendet, und zwar nicht etwa in der Physik, sondern in der Epidemiologie. Zu seiner Zeit wurde die Impfung gegen Pocken wissenschaftlich heiß diskutiert, es gab Fürsprecher und Gegner. Bernoulli hat sich Zahlentabellen angeschaut und ein einfaches mathematisches Modell entwickelt, um modellbasiert die Frage der Impfung zu beantworten.[5]Anderson McKendrick, ein schottischer Militärarzt, entwickelte in den 1920er-Jahren mathematische Modelle für Epidemien, die im Kern heute noch verwendet werden.[6] Oft wird angenommen, dass mathematische Modelle, Formelwerk und Gleichungen dazu dienten, »um etwas auszurechnen« oder präzise Aussagen zu treffen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Der fundamentale Sinn der Mathematik in der Anwendung liegt hauptsächlich darin, Gedanken zu sortieren, zu präzisieren und den Prozess der Vereinfachung, des Vernachlässigens und der Abstraktion systematisch zu erleichtern.

Im Lauf der COVID-19-Pandemie wurden verschiedene mathematische Modelle öffentlich diskutiert. Es gibt natürlich komplizierte mathematische Computermodelle, die eine reale Situation mit allen Details abbilden und so möglichst präzise Vorhersagen treffen sollen. Das gilt allerdings für Phänomene, deren Mechanismen man im Kern verstanden hat, deren »Gleichungen« und Regeln man kennt, aber nicht mit Papier und Bleistift lösen kann. Aber gerade bei Phänomenen, die noch nicht verstanden sind, die erst enträtselt werden müssen, bei denen man nicht weiß, welche Elemente essenziell sind und welche peripher, dienen mathematische Modelle dazu, genau das herauszubekommen.

Warum Komplexitätsforschung heute so wichtig ist

Die wissenschaftliche Landschaft ist auf allen Ebenen mit Grenzen durchzogen. Ähnlich wie Deutschland aus Bundesländern besteht und diese wiederum aus Städten und Landkreisen, die ihrerseits in Gemeinden zerteilt sind, gibt es Natur-, Geistes-, Politikwissenschaften und viele mehr. Die Naturwissenschaften fächern sich auf in Physik, Chemie, Biologie, Ökologie, Geologie und unzählige andere. Die Lehrstühle an den Universitäten sind mitunter so spezialisiert, dass ihre Inhaberinnen und Inhaber sich thematisch etwas beengt fühlen müssen. Diese Entwicklung ist insofern folgerichtig, als immer mehr Wissen in verschiedenen Bereichen angesammelt wird und es selbst in einem kleinen Bereich fast unmöglich erscheint, den Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zu behalten. Konrad Lorenz