Im Wirtschaftskrieg - Hannes Hofbauer - E-Book

Im Wirtschaftskrieg E-Book

Hannes Hofbauer

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Beschreibung

Die Instrumente eines Wirtschaftskrieges sind zahlreich. Sie reichen von Sanktionen gegen Personen, Unternehmen und ganze Branchen über Embargos, Blockaden und Boykottmaßnahmen bis zu physischen Angriffen auf Infrastruktureinrichtungen. Washington und Brüssel haben im März 2014 damit begonnen, russische Bürger und Firmen auf schwarze Listen zu setzen. Was anfangs als Bestrafung für die Abspaltung der Krim von der Ukraine gedacht war, wurde später mit der Durchsetzung westlicher Werte argumentiert. Seit Februar 2022 befindet sich der Westen im großen Wirtschaftskrieg mit Russland. Allerdings stand auch die Sowjetunion bereits ab 1948 (bis Mitte der 1990er-Jahre) unter einem scharfen westlichen Embargo-Regime; damals ging es darum, den Kommunismus einzudämmen. Ein Blick in die Geschichte westlicher Sanktionspolitik zeigt, wie konstant dieses Instrument zur Durchsetzung geo- und wirtschaftspolitischer Interessen im Einsatz ist. Nach Großbritannien übernahmen die USA diesbezüglich die Führungsrolle, wobei ihnen die EU um nichts nachsteht. Neben dem Kampf gegen Russland werden im vorliegenden Buch des Wiener Historikers Hannes Hofbauer auch die westlichen Sanktionsregime gegen Kuba, Nordkorea, Jugoslawien, den Irak und Iran behandelt. Der Wirtschaftskrieg gegen Moskau hat eine bis dahin nicht gekannte Dimension erreicht. Einfrieren, Beschlagnahmen und Diebstahl russischen Eigentums sind zu einer gängigen Praxis geworden. Moskau reagiert entsprechend. In der Welt außerhalb der transatlantischen Blase kann man einen Vertrauensverlust in die von Washington und Brüssel dominierten Institutionen beobachten. Eine Entwestlichung des eurasischen Raumes und des Globalen Südens ist die Folge.

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Hannes HofbauerIm Wirtschaftskrieg

Die Sanktionspolitik des Westens und ihre Folgen. Das Beispiel Russland

  

© 2024 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

Coverbild: Alamy

ISBN: 978-3-85371-919-0(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-533-8)

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Über den Autor

Hannes Hofbauer, geboren 1955 in Wien. Studium der Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien. Publizist und Verleger. Zum Thema sind von ihm u. a. im Promedia Verlag erschienen: »Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung« (2016) und »Zensur. Publikationsverbote im Spiegel der Geschichte. Vom kirchlichen Index zur YouTube-Löschung« (2022).

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Sanktion, Embargo, Boykott – eine Begriffsklärung
Wer, wie und was sanktioniert wird
Instrumente des Wirtschaftskrieges
Ein Blick zurück: Sanktionsregime und Embargos im Spiegel der Geschichte
Über Jahrhunderte: England im Wirtschaftskrieg
Wirtschaftssanktionen als Friedensprojekt der Zwischenkriegszeit
COCOM: Die Sowjetunion in die Knie zwingen
Mit ChinCOM gegen China
OFAC – Die Sanktionslisten der USA
Amerikas Kampf gegen russische Energie für Europa (1960−1990)
Weizenembargo und Olympiaboykott in den 1980er Jahren
Gegen Kuba und Nordkorea
Mit US-Sanktionen die Welt untertan machen
Das Beispiel des Irak
Der Fall des Youssef Nada
Im Visier des Wertewestens: Jugoslawien
Brüssel folgt Washington: Die versuchte Isolierung des Iran
Russland ruinieren
Europas und Amerikas neuer wirtschaftlicher Feldzug
Erste Zwangsmaßnahmen im Jahr 2014
Der kleine Wirtschaftskrieg
Der Fall Skripal
Washingtons Kampf gegen russisches Kapital
Konkurrenten aus dem Feld schlagen
Der große Wirtschaftskrieg gegen Russland
Die Liste der Sanktionspakete
Der Fall Jozef Hambálek
Hunderte von Milliarden Euro, Tausende von Menschen
Schröders Gattin
»Terrorstaat« Russland
Einfrieren, beschlagnahmen, stehlen
»Worst Case«: SWIFT-Ausschluss
Der Kampf um Öl und Gas
Erdöl: Importverbot und Preisdeckel
Der Kampf um Nord Stream 2
Zensur begleitet den Wirtschaftskrieg332
Wie RT abgeschaltet wurde
Amtsgericht erzwingt Löschung von Bildern ukrainischer Nazis
Kampffelder jenseits des Ökonomischen
Geopolitische Begleitmusik
Kulturelle Begleitmusik
Der Fall Artjom Oganow
Sportliche Begleitmusik
Mitten in Europa: Kein Austausch, kein Verkehr, kein Kontakt
Moskaus Gegenwehr
Einfuhrverbot für Agrargüter
Die kleine Flucht der Westfirmen
Importsubstitution und Parallelimporte
Schnäppchenjagd
Danone wird tatarisch
Renault wird verstaatlicht
Vom Scheitern des antirussischen Sanktionsregimes
Weltweite Folgen des Wirtschaftskrieges
Geopolitische Folgen
De-Dollarisierung: Mao Zedong statt George Washington
Die Folgen im Westen
Auswirkungen auf die russische Innenpolitik
Der Umgang mit extraterritorialen Sanktionen
Warum der Wirtschaftskrieg völkerrechtswidrig ist
Anhang
Literaturliste/ Bücher & Zeitschriften & Quellen:
Literaturliste/ Digitales:
Reden/Vorträge/Interviews:
Literaturliste Zeitungen/Zeitschriften – Print:

Vorwort

Ein knappes Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkrieges äußerte sich US-Präsident Woodrow Wilson in einer viel beachteten Rede zu den Auswirkungen von Schieß- und Wirtschaftskrieg. »Der Krieg«, so Wilson im September 1919, »ist eine barbarische Sache, (…) der Boykott allerdings ein unendlich viel schrecklicheres Kriegsinstrument.«1 Damit läutete der spätere Friedensnobelpreisträger das Zeitalter des Völkerbundes ein, in dem Wirtschaftssanktionen erstmals als – letztlich gescheitertes – internationales Instrument gegen kriegführende Staaten zum Einsatz kamen.

Um wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen in ihren vielfältigen Ausdrucksformen wie Embargos, Boykotte oder Sanktionen geht es im vorliegenden Buch. Diese durchzusetzen, braucht es Macht; am besten Allmacht. Dutzende Sanktionsregime der transatlantischen Achse nach dem Zweiten Weltkrieg haben Millionen von Opfern in peripheren Staaten des Globalen Südens gefordert; dem besonders todbringenden Beispiel des Irak wird in diesem Buch ein eigenes Kapitel gewidmet.

Überall dort jedoch, wo Wirtschaftskriege gegen große Länder mit widerstandsfähigen und potenziell autarken ökonomischen Strukturen geführt werden, sind diese zum Scheitern verurteilt. Dann dreht sich der gewünschte Effekt oft um und trifft die sanktionierende Seite mindestens genauso wie die sanktionierte. Das konnte man bereits im großen Stil bei der gegen das Vereinigte Königreich betriebenen Napoleonischen Kontinentalsperre des Jahres 1806 beobachten. Deren Nichtbefolgung durch den russischen Zaren verleitete den eben zum Kaiser gekrönten Franzosen zu seinem Russlandfeldzug, der schließlich sein Scheitern besiegelte.

Russland – auch und gerade in Gestalt der Sowjetunion – stand die vergangenen 100 Jahre immer wieder im Fadenkreuz des Westens. Nachdem die militärische Zerschlagung der Bolschewisten nicht gelungen war, beschlossen die westlichen Alliierten im Oktober 1919 eine Wirtschaftsblockade gegen die europäischen und sibirischen Grenzen Russlands, die der verantwortliche französische Militärkommandant zufrieden als die »bis heute stärkste Waffe« bezeichnete.2 Nach dem gemeinsamen Niederringen des Hitlerfaschismus legten die westlichen Verbündeten bereits im Frühjahr 1948 ihr großes Embargopaket gegen den kommunistischen Osten auf, das unter dem Kürzel COCOM bis in die 1990er Jahre die jeweils fortschrittlichsten Technologien von den Märkten des Ostblocks fernhalten sollte.

Als dann am 28. April 2014 die Europäische Union erste ökonomische Zwangsmaßnahmen gegen mittlerweile kapitalistisch geführte russische Unternehmen und ganze Branchen aussprach, endete eine gerade einmal 16 Monate andauernde Phase des freien Wirtschaftsverkehrs mit Russland, das erst Ende Dezember 2012 in die Welthandelsorganisation aufgenommen worden war. Mittlerweile haben sich die von der EU und den USA betriebenen antirussischen Sanktionen zu einem großen Wirtschaftskrieg ausgeweitet, der seinesgleichen in der Geschichte sucht.

Die geneigte Leserschaft wird im vorliegenden Buch schlaglichtartig durch historische Beispiele von Sanktionsregimen und Blockademaßnahmen geführt, die vom antiken Griechenland über die Hanse, die Napoleonische Kontinentalsperre und die vielfältigen britischen Wirtschaftskriege bis zu der hauptsächlich von Washington betriebenen Politik gegen Kuba, Nordkorea und den Iran reichen.

Die größte Aufmerksamkeit widmet der Band in der Folge dem Geschehen seit 2014, als Washington und Brüssel die Ukraine-Krise zum Anlass nahmen, Russland ruinieren zu wollen, wie das manche EU-europäischen Staatskanzleien offen als Zielvorgabe äußerten. Die zu Redaktionsschluss bestehenden 21 EU-Sanktionspakete werden penibel beschrieben und auch in ihren Auswirkungen analysiert. Dabei gehören die Beschlagnahmung – im EU-Sprech teilweise verharmlosend »Einfrieren« genannt – der russischen Zentralbankgelder, der Ausschluss von Banken aus dem SWIFT-System sowie das Kampffeld um Erdöl und Erdgas zu den wichtigsten Themen.

Neben der harten ökonomischen Auseinandersetzung werden auch begleitende geopolitische, kulturelle, sportliche und infrastrukturelle Sanktionen besprochen, mit denen der Westen möglichst alles Russische aus dem europäischen Gedächtnis löschen will.

In den zwei abschließenden Kapiteln widme ich mich ausführlich der Moskauer Gegenwehr und den weltweiten Folgen des großen Wirtschaftskrieges.

Der Abzug westlicher Konzerne im Gefolge der EU-Sanktionspolitik, so unvollständig er auch durchgesetzt werden konnte, öffnet den Raum für importsubstituierende Maßnahmen und neue Absatzmärkte. Mit anderen Worten: Russland wird gezwungen, ökonomisch auf eigenen Beinen zu stehen, russisches Kapital ist – neben chinesischem und indischem – auf dem heimischen Markt im Vormarsch.

Als welthistorisch bedeutendste Folge des vom Westen losgetretenen Wirtschaftskrieges ist unschwer eine De-Dollarisierung zu beobachten. Diese geht Hand in Hand mit dem (schleichenden) Aufstieg eines von China dominierten Finanz- und Wirtschaftskreislaufes, in den sich zunehmend auch der Globale Süden einreiht. Dem Bedeutungsgewinn der BRICS-Staaten sowie dem Aufbau neuer Handelswege wird entsprechende Aufmerksamkeit geschenkt.

Abschließend darf ich mich bei den vielen HinweisgeberInnen bedanken, die mich ständig mit Literatur versorgt haben und dies auch weiterhin tun; sowie insbesondere bei meiner ersten Lektorin und Partnerin fürs Leben, Andrea Komlosy.

Ganz am Ende dieses Vorworts will ich noch meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass der vom Westen gegen Russland geführte Wirtschaftskrieg nicht wie so manch anderes Sanktionsregime vor ihm zu einem Schießkrieg zwischen Atommächten führt.

Hannes HofbauerWien, im August 2024

1https://www.presidency.ucsb.edu/documents/address-the-hockey-arena-seattle-washington (29. 7. 2024)

2 Zit. in: Nicholas Mulder, The Economic Weapon. The Rise of Sanctions as a Tool of Modern War. New Haven/London 2022, S. 94

Sanktion, Embargo, Boykott – eine Begriffsklärung

Wo eine Sanktion greifen soll, braucht es Macht; am besten Allmacht. Wer eine Sanktion ausspricht, muss die Mittel haben, diese durchzusetzen. Dass es in den meisten Fällen nicht so klappt, wie sich das der Sanktionierende vorstellt, das werden wir im Verlauf dieses Textes noch oft beobachten.

Der Begriff selbst leitet sich vom lateinischen Verb »sancire« ab, womit »bestimmen«, aber auch »verbieten« gemeint sein kann. Eine der im deutschen Sprachraum historisch bekanntesten Sanktionen war jene sogenannte »Pragmatische Sanktion«, die Kaiser Karl VI. im Jahr 1713 erließ. An ihr zeigt sich deutlich, wie wichtig die Machtfülle ist, um eine »Bestimmung« durchzusetzen. Mit der »Pragmatischen Sanktion« erließ der Habsburger, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, eine Order, nach der im Falle, dass seine Frau Elisabeth Christine keinen Knaben zur Welt bringt, auch eine Tochter die habsburgische Erbfolge antreten könne. Hintergrund dieser »Sanktion« war der Wille des Herrschers, die Unteilbarkeit der österreichischen Länder zu gewährleisten, notfalls eben – so das Kalkül – mit einer Tochter am Thron. Die meisten anderen europäischen Monarchen fügten sich der Anordnung des Kaisers.

Und tatsächlich hatte Karl ein gutes Gespür für die Gebärfähigkeit seiner Gemahlin. Denn nachdem ein potenzieller männlicher Thronfolger noch im Säuglingsalter verstorben war, kamen »nur« noch drei Töchter zur Welt. Die älteste, Maria Theresia, führte in der Folge 40 Jahre lang, von 1740 bis 1780, die Regierungsgeschäfte der Habsburgermonarchie. Die »Pragmatische Sanktion« hatte dies möglich gemacht.

An ihr kann man aber auch ersehen, wo die Grenzen der Umsetzung dieser »Sanktion« lagen, wo die Macht des Wiener Herrscherhauses endete. Denn die preußischen Hohenzollern als wichtige geopolitische Gegenspieler ignorierten die gewünschte habsburgische Erbfolge. Preußenkönig Friedrich II., der »alte Fritz«, ließ unmittelbar nach dem Tod von Kaiser Karl VI. im Jahr 1740 das zu Österreich gehörende Schlesien besetzen und brachte damit zum Ausdruck, dass die »Pragmatische Sanktion« für die Hohenzollern keine Gültigkeit hatte. Die Kriege um Schlesien dauerten 23 Jahre lang.

Auch die Führung des Heiligen Römischen Reiches konnte keiner Frau übergeben werden. Denn während im Hause Habsburg die neue Herrscherin ab 1740 Titel wie Erzherzogin von Österreich, Königin von Ungarn und so weiter sammelte, blieb ihr die Kaiserkrone (des Hl. Römischen Reiches Deutscher Nation) versagt. Dafür hätten sie die Kurfürsten, denen die Wahl des Kaisers oblag, »küren«, also wählen müssen. Dass der Einfluss der Habsburgerin im Reich so groß war, ihren Gatten Franz Stephan von Lothringen zum Kaiser krönen zu lassen, ist eine andere Geschichte, die auch zeigt, in welcher Sphäre der Macht die Frauen­emanzipation Mitte des 18. Jahrhunderts endete.

300 Jahre später hat der Sanktionsbegriff Karriere gemacht. Mittlerweile bestimmt er weltwirtschaftliche und geopolitische Vorgänge und ist drauf und dran, aus einem global verbundenen Weltsystem gegeneinander weitgehend abgeschottete Teile zu formen. Wirtschaftssanktionen sind zu einem allgegenwärtigen Phänomen geworden. Ganze Weltteile befinden sich im Wirtschaftskrieg einer gegen den anderen. Dem Begriff selbst – Wirtschaftssanktion – fehlt im Übrigen jede rechtliche Grundlage. Er ist weder im Völkerrecht, noch im Europarecht eindeutig geklärt oder gar kodifiziert. Stattdessen stellt er die Beschreibung einer hoheitlichen Maßnahme zur Bestrafung eines (angenommenen) staatlichen Bösewichts und Unruhestifters dar, mit dem hehren Ziel, diesen zum Einlenken zu bewegen. Ohne die entsprechende Machtfülle des Sanktionierenden wird der Vorgang auf den Sanktionierten freilich keinen Eindruck machen; und selbst wenn die Differenz im ökonomischen Kräfteverhältnis groß ist und der Druck entsprechend schwer auf dem Schwächeren lastet, muss der gewünschte Effekt keineswegs eintreten.

In der jüngeren Debatte wird oft zwischen völkerrechtskonformen und völkerrechtswidrigen Sanktionen unterschieden. Aber die Trennlinie ist schwer auszumachen. Einzig, wenn – in der neueren Geschichte – der UN-Sicherheitsrat Sanktionen gegen ein Land ausspricht, gelten diese widerspruchslos als legal. Um eine Bedrohung des Weltfriedens nach Artikel 39 der UN-Charta abzuwenden, kann der Sicherheitsrat beschließen, »welche Maßnahmen – unter Ausschluß von Waffengewalt – zu ergreifen sind, um seinen Beschlüssen Wirksamkeit zu verleihen; er kann die Mitglieder der Vereinten Nationen auffordern, diese Maßnahmen durchzuführen. Sie können die vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, […] der Verkehrsmöglichkeiten und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen einschließen.«3 Damit ist allerdings noch immer nicht geklärt, wie die Durchsetzung eines solchen Schrittes funktionieren soll.

Konnte sich in der Zeit des Kalten Krieges der UN-Sicherheitsrat nur zwei Mal auf Sanktionen (1965 gegen Südrhodesien und 1977 gegen Südafrika) einigen, so griff das internationale Sanktionsfieber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990er Jahren um sich. Die Opfer waren mehrheitlich im sogenannten Globalen Süden zu finden. Irak, Libyen, Jugoslawien und Somalia machten den Anfang, gefolgt von einer Reihe hauptsächlich afrikanischer Staaten, Nordkorea und dem Iran.4 In vielen Fällen wurden keine umfassenden Sanktionen erlassen, sondern sie beschränkten sich auf militärische oder auf andere spezifische Bereiche.

Viel häufiger als die UNO haben in den vergangenen Jahrzehnten die USA und ihre politischen Verbündeten Sanktionen verhängt. Dabei sorgte (und sorgt) man sich nicht um die Gefährdung des Weltfriedens – obwohl manchmal damit vordergründig argumentiert wird –, sondern Washington geht es meist um die Ausschaltung missliebiger Regierungen und deren Ersetzung durch willigere. Das Ziel eines solchen Regimewechsels, und um nichts anderes handelt es sich dabei, verstößt eindeutig gegen das völkerrechtlich verankerte Interventionsverbot,5 wie es schon im »Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Mitglieder« der UN-Charta verbrieft ist.6 Noch klarer formuliert es die »UN-Charta der ökonomischen Rechte und Pflichten der Staaten« in Resolution 3281 aus dem Jahr 1974: »Ein Staat darf keine wirtschaftlichen, politischen oder sonstigen Zwangsmaßnahmen gegen einen anderen Staat anwenden oder ihre Anwendung begünstigen, um von ihm die Unterordnung bei der Ausübung seiner souveränen Rechte zu erlangen.«7 Wir werden im Laufe des Buches noch auf die wichtigsten US-/EU-Sanktionen zu sprechen kommen.

Ohne UN-Mandat gibt es also keine völkerrechtskonformen Wirtschaftssanktionen. Und auch die Welthandelsorganisation (WTO) mit ihren 164 Mitgliedern erlaubt wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen nur in einem einzigen Ausnahmefall. Als Hüterin des ungehinderten, freien Welthandels beäugt sie jedes Hindernis desselben misstrauisch, seien es unlautere Zölle, Einfuhrbeschränkungen oder juristische Klauseln, die einem Protektionismus Vorschub leisten. Einzig zur »Wahrung wesentlicher Sicherheitsinteressen« kann der ungehinderte Warenverkehr eingeschränkt werden.8 Bezogen auf den aktuellen Fall der beispiellosen transatlantischen Sanktionen gegen Russland trifft genau diese Ausnahme für Washington und Brüssel nicht zu. Zwar steht es der Ukraine, deren Sicherheit durch den russischen Einmarsch zweifelsohne angegriffen ist, frei, russische Unternehmen zu sanktionieren; die westliche Allianz hingegen ist durch den Krieg im Osten nicht gefährdet – ihre Sanktionen entbehren also auch im WTO-Sinn der legalen Grundlage.

Die Verhängung von Wirtschaftssanktionen steht – wie kriegerische Handlungen – einem staatlichen Selbstverständnis von Neutralität diametral entgegen. Entweder, oder. Entweder eine Regierung sanktioniert die eine Seite eines Konfliktes und unterstützt damit zumindest indirekt die andere oder sie verhält sich neutral. Je ökonomisch offener eine Volkswirtschaft gestaltet ist, desto schwerer wiegen die Konsequenzen einer von ihr selbst verhängten Wirtschaftssanktion gegen ein »feindliches« Land auch für den sanktionierenden Staat, freilich vorausgesetzt, es handelt sich um relevante Größenordnungen im gegenseitigen Wirtschaftsverkehr. Mit der Verhängung von Sanktionen gehört die Neutralität der Vergangenheit an, oder, wie es der niederländische Historiker Nicholas Mulder auf den Punkt bringt: Sanktionen untergraben die Neutralität.9

Der Begriff »Wirtschaftskrieg«, wie wir ihn in diesem Buch verwenden, bezeichnet – abstrakt gesagt – den Kampf gegen die ökonomischen Strukturen eines als Feind georteten Staates, seien sie umfassend oder selektiv. Weniger juristisch als politisch definiert es der italienische Philosoph Domenico Losurdo: »Die ökonomische Kriegsführung ist das bevorzugte Instrument, mit dem eine große koloniale Macht, die mehr oder weniger die Weltwirtschaft […] kontrolliert, sich den Gehorsam oder die Unterwerfung eines Landes, das sich in kolonialen oder halbkolonialen Verhältnissen befindet […], zu sichern sucht.«10

Schießkrieg und Wirtschaftskrieg hängen eng zusammen. Letzterer geht oft dem Schlachtgetümmel voraus, setzt sich aber in der Regel während der militärischen Auseinandersetzung fort. Die enge Verwandtschaft des militärischen mit dem ökonomischen Konflikt hat schon Johann Wolfgang von Goethe erkannt, indem er interessanterweise eine für seine Zeit typische Übergangsform zwischen Schieß- und Wirtschaftskrieg als dritte im Bunde hinzufügte: »Krieg, Handel und Piraterie«, schreibt der Weimarer Dichter kurz vor seinem Tod im Jahre 1831, »dreyeinig sind sie, nicht zu trennen.«11 Diese Einsicht straft die heute gängige, weitverbreitete These Lügen, die den Wirtschaftskrieg als Kind des aktuellen Globalismus betrachtet. Richtig ist freilich, dass in Zeiten eng verwobener ökonomischer Beziehungen Sanktionen, Embargos und Boykotte großflächige Auswirkungen mit sich bringen. Gegeben hat es den Wirtschaftskrieg allerdings auch schon vor der globalisierten Welt, die sich – nebenbei bemerkt – nicht zuletzt wegen der zunehmenden Sanktionspolitik des transatlantischen Raumes in Teilbereiche zu zerlegen beginnt.

Welch dramatische Auswirkungen ökonomische Kriegsführung auch schon vor hundert Jahren hatte, vermerkte niemand geringerer als US-Präsident Woodrow Wilson nach Kriegsende 1919 anlässlich einer Rede in Seattle: »Der Krieg«, so Wilson, »ist eine barbarische Sache (…)«, »der Boykott« allerdings »ist ein unendlich viel schrecklicheres Kriegsinstrument«.12 Für ihn wie für viele seiner Zeitgenossen verschwamm der Unterschied zwischen Schieß- und Wirtschaftskrieg, was ihre desaströsen Auswirkungen betraf.

Wer, wie und was sanktioniert wird

Von kollektiven Sanktionen spricht man, wenn sie von der internationalen Staatengemeinschaft ausgehen, die von der UNO repräsentiert wird.13 Das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat verhindert sie immer dann, wenn sich eine der Großmächte USA, Russland oder China bzw. Frankreich oder das Vereinigte Königreich betroffen fühlt. Somit kann dem Auftrag, Wirtschaftssanktionen gegen ein Land auszusprechen, das den Weltfrieden gefährdet, nicht nachgekommen werden, wenn dies – wie in den meisten Fällen – die USA14 sind, weil sie z. B. im sogenannten »Krieg gegen den Terror« Afghanistan und den Irak überfallen (und zerstört) haben; auch Israel muss keine kollektiven Sanktionen befürchten, solange Washington seine schützende Hand über den Judenstaat hält. Und wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, wird der UN-Sicherheitsrat nicht geschlossen Wirtschaftssanktionen gegen Moskau erlassen können, weil der Kreml sein Veto einlegen würde; desgleichen, wenn französische Truppen in einer Reihe von afrikanischen Ländern wüten oder die britische Armee Hilfstruppen für von Washington geführte Kriege stellt. Das Instrument der »kollektiven Wirtschaftssanktion« ist also eine stumpfe Waffe. Eine schreckliche, ja für viele Menschen tödliche Ausnahme stellte das UN-Sanktionsregime gegen den Irak (ab 1990) dar. Seine Völkerrechtswidrigkeit, die freilich den Opfern nichts mehr nützt, ergibt sich aus dem Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen 1949. Dieses im Juni 1977 verabschiedete Protokoll befasst sich in Absatz 54 mit dem Schutz der Zivilbevölkerung und stellt unmissverständlich fest: »Das Aushungern von Zivilpersonal als Mittel der Kriegsführung ist verboten.«15

Dementsprechend reagieren vor allem die USA und die Europäische Union mit unilateralen oder gemeinsam koordinierten Maßnahmen. Die Liste der von Washington sanktionierten Staaten kann sich sehen lassen. Allein seit 1989 zählen dazu: Irak (1990), Haiti (1991), Libyen (1992), Jugoslawien (1992), Kambodscha (1992, 2013) Serbisch-Bosnien (1994), Myanmar (1988, 1996), Sierra Leone (1997), Angola (1998), Afghanistan (1999), Liberia (2001), Simbabwe (2002, 2008), Nordkorea (2006), Iran (2006, 2012), Belarus (2006, 2014), der Sudan (2008), Somalia (2010), Eritrea (2011), Syrien (2011), Mali (2012), Guinea-Bissau (2012), Belize (2013), Guinea (2013), Russland (2014), Burundi (2015), Jemen (2015), Demokratische Republik Kongo (2016) und Venezuela (2017). Außerdem sind Ende 2023 noch die Zentralafrikanische Republik, Eritrea und der Süd-Sudan mit US-Sanktionen eingedeckt. Kuba und Nicaragua leben bereits seit Jahrzehnten im Wirtschaftskrieg mit den USA. Idriss Jazairy, ein algerischer UN-Berichterstatter, der sich mit den negativen Auswirkungen von Wirtschaftssanktionen auf die Menschen in den sanktionierten Staaten beschäftigt, konstatierte im Jahr 2015, dass im Durchschnitt der Jahre seit der Milleniumswende ein Drittel der Weltbevölkerung mit den Folgen ökonomischer Zwangsmaßnahmen zu kämpfen hat.16

Die Europäische Union wiederum sicherte sich in ihren Verträgen ein Sanktionsrecht gegen Drittstaaten zu, und zwar – wie es in Artikel 75 (AEUV) heißt – »in Bezug auf die Verhütung und Bekämpfung von Terrorismus und damit verbundenen Aktivitäten«. In diesen Fällen können EU-Parlament und Rat Verordnungen erlassen, »wozu das Einfrieren von Geldern, finanziellen Vermögenswerten oder wirtschaftlichen Erträgen gehören, deren Eigentümer oder Besitzer natürliche oder juristische Personen, Gruppierungen oder nichtstaatliche Einheiten sind.«17 Die Auslegung des Begriffs »terroristische Aktivität« muss freilich eine breite sein, wenn darauf z. B. das seit 2014 bestehende EU-Sanktionsregime gegen Russland gründet.

Deutschland wiederum verpackt die Möglichkeit, wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen zu verhängen, im Außenwirtschaftsgesetz (AWG). Der dortige § 4 nennt sich »Beschränkungen und Handlungspflichten zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und der auswärtigen Interessen«.18 Demgemäß kann Berlin Sanktionen verhängen, um »die wesentlichen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten«, »eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker zu verhüten« und »einer Gefährdung der Deckung des lebenswichtigen Bedarfs im Inland oder in Teilen des Inlands entgegenzuwirken«. In Kraft getreten ist dieser § 4 des AWG bislang nur in Fällen, in denen die »Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker« transatlantische Interessen tangierte, insbesondere seit 2014 gegen Russland. Friedensstörungen vonseiten der USA oder der NATO (am Balkan, in Afghanistan, im Irak oder in Nordafrika) aktivierten den entsprechenden Paragrafen nicht.

Instrumente des Wirtschaftskrieges

Wirtschaftssanktionen können umfassend sein, das heißt, den gesamten wirtschaftlichen Austausch betreffen, oder sie konzentrieren sich partiell auf bestimmte ökonomische Sektoren, zuallererst meist auf militärische Güter, die Infrastruktur oder den Finanzsektor. Besonders stark im Vormarsch ist in den vergangenen Jahrzehnten die Sanktionierung einzelner Personen, die eine gewisse ökonomische Macht besitzen und dem »Feind« zugeordnet werden. Diesen Individuen werden die Vermögen eingefroren oder beschlagnahmt, die Reisefreiheit genommen und manches andere mehr. Mit dem eigentlichen, von der UNO legitimierten Grund für solch drastische Maßnahmen, nämlich der Bedrohung des Weltfriedens Einhalt zu gebieten, hat diese Art von wirtschaftskriegerischer Politik nichts mehr zu tun. Sie dient eher der Ausschaltung von ökonomischen Konkurrenten oder der moralischen Selbstbefriedigung.

Während Wirtschaftssanktionen begrifflich das gesamte Spektrum an repressiven ökonomischen Maßnahmen gegen einen als »böse« punzierten Staat und manche seiner Bürger umfassen, sind die Termini Embargo, Boykott oder Blockade meist für spezifische Eingriffe in Gebrauch.

»Embargo« wurzelt im spanischen Zeitwort »embargar«, was so viel bedeutet wie beschlagnahmen, sperren oder behindern. Es kam erstmals auf der iberischen Halbinsel zum Einsatz, als die spanischen Habsburger unter Philipp II. Ende des 16. Jahrhunderts niederländische Schiffe, die in spanischen Häfen vor Anker lagen, beschlagnahmten.19 Damit erhoffte man sich, die aufständischen Kräfte in den zur Monarchie gehörenden Niederlanden zu schwächen, was nicht gelang. 1581 erklärte sich die »Republik der Sieben Vereinigten Niederlande« für unabhängig. Mittlerweile wird der ursprünglich für die Beschlagnahme fremder Handelsschiffe verwendete Begriff »Embargo« generell zur Beschreibung von staatlichen Ein- und Ausfuhrverboten verwendet, seien es Waren oder Dienstleistungen. Im Kalten Krieg überzog die transatlantische Allianz unter Führung der USA die kommunistische Welt jenseits des Eisernen Vorhangs mit Embargos. Mit derlei wirtschaftlichem Zwang wollte man politische Zugeständnisse erzwingen.

Der erste »Boykott« fand im Jahr 1880 gegen einen Gutsverwalter in der irischen Grafschaft Mayo statt. Sein Name: Charles Boycott. Sein grausamer Umgang mit den lokalen Bauern, denen er einen unbezahlbar hohen Pachtzins abpresste, sowie mit den Landarbeitern, die er wie Sklaven hielt, vereinte die Untertanen zu einer außergewöhnlichen Maßnahme. Sie kündigten alle Pachtverträge und verweigerten den Arbeitseinsatz.20 Unter dem organisatorischen Dach der »Irischen Landliga«, die für eine Verbesserung der bäuerlichen Lebensbedingungen kämpfte, hatte der Widerstand Erfolg und Charles Boycott musste auswandern. Sein Name hingegen blieb in vielen Sprachen kennzeichnend für das Isolieren einer Person, eines Unternehmens oder auch – in Einzelfällen – eines Staates.

Blockaden wiederum zielen auf die Infrastruktur des Gegners, wobei das Wort seit dem 17. Jahrhundert für Seeblockaden in Gebrauch ist. Ein berühmtes Beispiel aus der Geschichte ist die napoleonische Kontinentalsperre des Jahres 1806, mit der der französische Herrscher bereits bestehende Importverbote für britische Waren zu einer umfassenden Wirtschaftsblockade ausbaute. Die Kontinentalsperre hielt acht Jahre lang und war Ausdruck einer tief sitzenden Rivalität zwischen London und Paris. Das Vereinigte Königreich sah sich dadurch gezwungen, Getreide und Holz, das zuvor vom europäischen Kontinent kam, von anderswo über die Weltmeere zu besorgen. Als Folge der Handelsblockade bemühten sich europäische Staaten verstärkt, britische Importe durch eigene Industrieproduktion zu ersetzen.

Schon die weitgehende Durchsetzung der oben beschriebenen »Pragmatischen Sanktion« aus dem Jahr 1713 führt vor Augen, dass ein Erfolg von der Machtfülle des Regimes abhängt, das eine Zwangsmaßnahme verhängt. Daran hat sich auch in unseren Tagen nichts geändert; im Gegenteil: Jene Staaten oder Staatengruppen, die in der Lage sind, Sanktionen zu verhängen, kann man an den Fingern einer Hand abzählen, wobei man möglicherweise nicht einmal alle Finger dafür benötigt. Eritrea, beispielsweise, braucht gar nicht daran zu denken, Wirtschaftssanktionen gegen die USA wegen deren militärischen Interventionen weltweit auszusprechen, weil es schlicht keine ökonomischen Machtmittel dafür in der Hand hätte, geschweige denn über eine militärische Absicherung derselben verfügte. Umgekehrt bestrafte Washington im November 2021, ohne lange zu diskutieren, die wichtigsten Institutionen Eritreas und deren Führer mit Vermögensentzug überall dort, wo Washington Zugriff darauf hatte.21 Für das US-Finanzministerium, unter dessen Ägide derlei Sanktionen beschlossen werden, gehört dieser Vorgang zur Routine in den internationalen Beziehungen.

Neben ökonomischen Sanktionen kam es in letzter Zeit vermehrt auch zum Einsatz von Embargo-Maßnahmen im kulturellen und sportlichen Bereich. Insbesondere die transatlantische Allianz verwendet dieses Mittel, um den Druck auf den als Feind – in diesem Falle Russland und Belarus – identifizierten Staat auf möglichst alle Felder des gesellschaftlichen Lebens auszuweiten. Auch hierbei gilt, wie im Fall des Wirtschaftskrieges, dass der gewünschte Erfolg oft ausbleibt.

3 UN-Charta, Artikel 41: https://unric.org/de/wp-content/uploads/sites/4/2022/10/charta.pdf (15. 9. 2023)

4https://dgvn.de/publications/Bilder/Basis-Informationen/BI_60_UN-Sanktionen_web.pdf (15. 9. 2023)

5https://www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Interventionsverbot (15. 9. 2023)

6 UN-Charta, Artikel 2: https://unric.org/de/wp-content/uploads/sites/4/2022/10/charta.pdf (15. 9. 2023)

7https://zeitschrift-vereinte-nationen.de/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_1975/Heft_4_1975/06_a_Doks_VN_VN_4-75.pdf (1. 7. 2024)

8 Hier in einer Studie der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages in Bezug auf die geplanten Sanktionen gegen den chinesischen Konzern Huawei: https://www.bundestag.de/resource/blob/657800/a839ff5d440a7fa626c9c165ca6b636b/WD-2-079-19-pdf-data.pdf (15. 9. 2023)

9 Nicholas Mulder, The Economic Weapon. The Rise of Sanctions as a Tool of Modern War. New Haven/London 2022, S. 169f.

10 Domenico Losurdo, Eine Welt ohne Krieg. Von den Verheißungen der Vergangenheit bis zu den Tragödien der Gegenwart. Köln 2022, S. 351f.

11 Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil, 5. Akt, 2. Szene.

12https://www.presidency.ucsb.edu/documents/address-the-hockey-arena-seattle-washington (16. 9. 2023)

13 Klaus-Peter Kißler, Die Zulässigkeit von Wirtschaftssanktionen der Europäischen Gemeinschaft gegenüber Drittstaaten. Frankfurt/Main 1984, S. 27f.

14 Seit 1989 haben die USA militärisch interveniert in: Panama, Liberia, Kolumbien, Kuwait, Jugoslawien, Irak, Somalia, Haiti, Sudan, Afghanistan, Libyen, Uganda, Jemen, Syrien; siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Milit%C3%A4roperationen_der_Vereinigten_Staaten#Ab_2000 (21. 9. 2023). Demgegenüber rückte russisches Militär seit 1991 in folgende Staaten vor: Georgien, Tadschikistan, Jugoslawien/Serbien, Kasachstan, Syrien, Ukraine; siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Milit%C3%A4roperationen_Russlands_und_der_Sowjetunion#1991_bis_1999_(Russland) (21. 9. 2023)

15https://www.fedlex.admin.ch/filestore/fedlex.data.admin.ch/eli/cc/1982/1362_1362_1362/20140718/de/pdf-a/fedlex-data-admin-ch-eli-cc-1982-1362_1362_1362-20140718-de-pdf-a.pdf (1. 10. 2023)

16 Idriss Jazairy, Un tiers de la population mondiale habite dans des pays touché par des sanctions, September 2015, in: Mulder, S. 293.

17https://dejure.org/gesetze/AEUV/75.html (23. 9. 2023)

18https://www.buzer.de/gesetz/10679/a181566.htm (1. 10. 2023)

19 Marjolein ’t Hart, The Dutch Wars of Independence. Warfare and Commerce in the Netherlands 1570−1680. London/New York 2014, S. 134f.

20 Mulder, S. 18

21https://home.treasury.gov/news/press-releases/jy0478 (25. 9. 2023)

Ein Blick zurück: Sanktionsregime und Embargos im Spiegel der Geschichte

Der erste uns bekannte Fall eines Wirtschaftsembargos ereignete sich im Jahre 432 vor unserer Zeitrechnung22 und führte kurz darauf zum großen Schlachtengang von Sparta gegen Athen und den Attischen Seebund, dem 30 Jahre dauernden Peloponnesischen Krieg. Es ging um die Vorherrschaft im antiken Griechenland. Zwischen den beiden Zentren herrschte bereits ein jahrzehntelanges Zerwürfnis, als der starke Mann Athens, Perikles, den Handelsschiffen aus Megara, der damals wichtigsten Hafenstadt am Isthmus von Korinth, die Anlandung in den Häfen des attischen Seebundes verbot. Dem war ein geopolitischer Seitenwechsel Megaras vorausgegangen, das sich zuvor Sparta angenähert hatte. Athen antwortete mit besagtem Embargo und schloss damit eine der führenden Handelsstädte, Megara, von den Märkten der Ägäis aus. Die Reaktion des peloponnesischen Bündnisses, dem Sparta vorstand, lautete Krieg; es war im Übrigen der erste Krieg in der europäischen Geschichte, der dank des Militärstrategen Thukydides in die Geschichtsschreibung einging.23

Wirtschaftsembargos konnten auch außerhalb staatlicher Strukturen wirkmächtig werden. Vor allem in Zeiten territorialer Zersplitterung, wie sie beispielsweise das Spätmittelalter prägten, lag die ökonomische Macht in der Hand von Städten und ihren Handelshäusern. Für weite Teile des europäischen Nordens und Westens war es das Städte­netzwerk der Hanse, das den Handel unter seiner Kontrolle hatte. Und diese Macht gab der Hanse auch die Möglichkeit, einzelne Konkurrenten per Embargo aus dem Geschäft zu drängen. Im Visier der norddeutschen Handelskontore stand über Jahrzehnte die Grafschaft Flandern mit ihrer Wirtschaftsmetropole Brügge. Dort wollte man den hansischen Kaufleuten mit Steuern finanziell zu Leibe rücken und ihre Monopolstellung verhindern. Die Hansestädte reagierten mit Boykottmaßnahmen. Brügge wurde bereits 1280 der Stapelmarkt für Waren, die aus dem Ostseeraum kamen, entzogen und an eine willfährigere Händlergruppe im nahen Aardenburg vergeben.24 1358 war es erneut Brügge, das mit einem Boykott durch die Hanse geschädigt wurde; diesmal beugten sich die flandrischen Handelshäuser und akzeptierten die von der Hanse eingeforderten Privilegien.25

Über Jahrhunderte: England im Wirtschaftskrieg

Ein historisch großer Wirtschaftskrieger war England. Das gesamte 17. und 18. Jahrhundert hindurch kämpfte London mit Sanktionen und Embargos gegen »Feinde« und aufkommende Konkurrenten.26 Seit ihrer Gründung im Jahr 1600 wurde das Flaggschiff des britischen Welthandels, die East India Company (EIC), mit Brachialgewalt auf den Weltmarkt gepusht. Die bedruckten Baumwollstoffe, Kalikos, benannt nach der Hafenstadt Calicut im indischen Kerala, waren nicht nur in England hochbegehrt, sondern wurden weltweit vermarktet.

Ausgestattet war die EIC mit allerlei Handelsmonopolen, militärischem Begleitschutz, einer eigenen zivilen Gerichtsbarkeit und dem königlich verbrieften Recht, Krieg gegen »Ungläubige« führen zu dürfen. Bis zur Verwandlung Indiens in eine Kronkolonie (1858) übte die East India Company hoheitliche Aufgaben für die Krone aus. Als die aufkommenden englischen Textildruckereien gegen die indische Konkurrenz zu Felde zogen, erließ der König im Jahr 1700 einen Importstopp für Kalikos. Damit nicht genug, beschloss das britische Parlament 1719 die sogenannten »Kaliko«-Gesetze. Sie verboten EngländerInnen das Tragen von bedruckten Baumwollstoffen, wie sie in Indien und Persien hergestellt wurden. Die Luxusgesetze hielten nicht lange an, dafür wurden die protektionistischen Zwangsmaßnahmen auch auf unbedruckte Stoffe ausgeweitet. Besonders betroffen war Bengalen. Webern, deren man habhaft werden konnte, sollten die Daumen abgeschnitten werden. Der britische Generalgouverneur Lord Bentick brachte die damit angerichtete Zerstörung bildhaft zum Ausdruck, wenn er über die Einwohner bemerkte, dass »ihre Knochen in der Ebene Bengalens bleichten«.27

Damit war der Binnenmarkt von lästiger ausländischer Ware freigeschaufelt. Nachdem die EIC im Textilhandel mit Indien keinen Auftrag mehr hatte, verlegte sie sich auf den Export indischer Kolonialwaren nach China, allen voran Opium. Um den chinesischen Markt zu öffnen, kam das vollständige damals vorhandene Repertoire an ökonomischen Zwangsmaßnahmen zum Einsatz. Die Opiumkriege (1840er-, 1860er Jahre) schalteten den chinesischen Widerstand aus; die darauffolgenden »ungleichen Verträge« sicherten Großbritannien, gefolgt von anderen europäischen Industriestaaten, mit den sogenannten Treaty Ports exterritoriale Handelskolonien im Reich der Mitte, die über ihre Enklaven hinaus Währungen ausgaben und über diverse Konzessionen, Zoll- und Postmonopole verfügten.

Weltgeschichtliche Bedeutung erlangte ein Boykott der East India Company durch die nordamerikanischen Kolonien, die unter der britischen Krone standen und für ihre Unabhängigkeit kämpften. Das Handelsmonopol der EIC für Tee war jenseits des großen Teiches von den Kolonisten der amerikanischen Ostküste schon geraume Zeit unterlaufen worden. Man trank den Aufguss geschmuggelter Blätter aus den Niederländischen Antillen. London antwortete darauf mit einer weiteren Privilegierung der East India Company, erließ ihr die Steuern, damit sie die Preise der holländischen Schmuggelware unterbieten und den Boykott der britischen Produkte unterlaufen konnte. Um dennoch die Staatskasse zu füllen, wurden die Neusiedler jenseits des Atlantiks von der Krone zur Kasse gebeten. Das fehlende Mitspracherecht über die Verwendung der Mittel empörte sie. Am 16. Dezember 1773 schritten die Mutigsten von ihnen zur Tat, verkleideten sich als Indianer – teils um ihre Identität zu verschleiern, aber auch, um sich symbolisch vom europäischen Mutterland abzugrenzen28 – und stürmten vier angelandete Schiffe der East India Company. Unter dem Schlagwort »Boston Tea Party« ging der Aufstand in die Geschichte ein. Die aufgebrachten, verkleideten Bürger kippten 350 mit Tee beladene Kisten ins Hafenbecken. Der Wirtschaftskrieg zwischen dem britischen Königshaus und seinen Kolonien erreichte damit eine neue Dimension. Dass der Anführer der Aufständischen, John Hancock, einer der Hauptimporteure des geschmuggelten Tees aus den Niederländischen Antillen war, unterstreicht die ökonomischen Interessen, denen Sanktions- und Embargomaßnahmen zu allen Zeiten zugrunde lagen. Eineinhalb Jahre später begann der Unabhängigkeitskrieg der 13 Kolonien gegen die britische Krone.

Die historisch – vor dem transatlantischen Wirtschaftskrieg gegen Russland ab 2014 – tief greifendsten und umfangreichsten Sanktionen zielten ab 1806 (bis 1813) auf Großbritannien. Nach dem Sieg über Preußen verkündete Napoléon am 21. November 1806 von Berlin aus eine totale Wirtschaftsblockade des Vereinigten Königreichs inklusive aller seiner Kolonien. Dem war ein Importverbot für englische Produkte nach Frankreich und – umgekehrt – eine britische Blockade gegen den französischen Hafen Brest vorausgegangen. Wir befinden uns im Zeitalter der merkantilistischen Wirtschaftspolitik, die auf Entwicklung des Binnenmarktes unter möglichst weitgehender Ausschaltung von Importen aus dem Ausland ausgerichtet war. Napoléon stachelten seine militärischen Siege auf dem Kontinent zur wirtschaftlichen Kriegsführung gegen das British Empire an. Mit der sogenannten Kontinentalsperre zwang er so gut wie alle Staaten Europas (mit Ausnahme Portugals und des Osmanischen Reichs), sich gegen Großbritannien zu stellen. Die wirtschaftliche Sperre der britischen Inseln umfasste in elf Artikeln29 ein vollständiges Handelsverbot, die Beschlagnahmung aller britischen Waren sowie Sekundärsanktionen gegen jedes Schiff, das in britischen Häfen angelegt hatte. Britische Kaufleute, so sie sich in Europa blicken ließen, wurden als Kriegsgefangene behandelt.30 Zur Durchsetzung seiner Allmachtsfantasie überzog der Kaiser der Franzosen den Kontinent mit einem Netz an Spitzeln und Zöllnern, führte Krieg gegen das unwillige Portugal und schoss sich insbesondere auf den russischen Zaren ein, dem er Schmuggel englischer Waren in großen Mengen vorwarf: »Es gibt Beweise«, schrieb Napoléon an Zar Alexander I. im November 1810, »dass die (britischen, d. A.) Kolonialwaren auf der jüngsten Leipziger Messe mit 700 Wagen aus Russland geliefert wurden und dass 1200 Handelsschiffe unter schwedischer, portugiesischer, spanischer und amerikanischer Flagge, von den Briten eskortiert mit 20 Kriegsschiffen, ihre Fracht teilweise in Russland angelandet haben.«31 Eine offene französische Drohung mit Krieg, sollte diese Praxis nicht abgestellt werden, beantwortete Zar Alexander I. damit, »neutralen« Handel über russische Häfen zuzulassen. Die Briten wussten dies zu nutzen und Napoléon begann seinen Russlandfeldzug zu planen, der ihn schließlich ab 1812 ins Verderben führte.

Ein anderer, für Wirtschaftssanktionen typischer, ungewollter Nebeneffekt bestand in der Substitution von Gütern, deren Handel großräumig verboten wurde. Als Beispiel sei der Zucker genannt, der vor der Kontinentalsperre – als Luxusprodukt – aus britischen Kolonien oder anderen Überseegebieten in Form von Zuckerrohr importiert wurde. Seine Verdrängung vom europäischen Markt gab der Rübenzuckerproduktion jenen Auftrieb, der ihr langfristig die Märkte sicherte.32

Eine weitere Facette britischer Außenpolitik lernen wir während des Krimkrieges in den Jahren 1854 bis 1856 kennen. In Bezug auf Wirtschaftssanktionen geschah geradezu das Gegenteil von dem, was man erwarten durfte und was meist auch zum Standardrepertoire kriegerischer Auseinandersetzungen gehört. Es war während des 10. russisch-osmanischen Waffengangs um die Schwarzmeer-Halbinsel Krim, als Großbritannien an der Seite des Sultans in die Kämpfe eingriff. Zwei Jahre lang standen sich britische und russische Soldaten auf Befehl ihrer Monarchen gegenüber. Im blutigen Gemetzel verloren weit über 100.000 Menschen ihr Leben. Dem Kreditgeschäft zwischen dem Zarenreich und der britischen Krone tat dies keinen Abbruch. London bediente weiterhin seine Schulden in Sankt Petersburg. Der Schatzmeister von Königin Victoria sah trotz Krieg keinen Anlass, davon Abstand zu nehmen. Für ihn war es selbstverständlich, dass »zivilisierte Nationen öffentliche Schulden auch während des Krieges an den Feind zahlen.«33 Umgekehrt bediente auch Russland britische Gläubiger. Unter Zar und Königin blieb man »zivilisiert«, während die Untertanen für wirtschaftliche Vormachtstellung und politischen Einfluss ihr Leben gaben.

Viele der von staatlicher Seite betriebenen ökonomischen Zwangsmaßnahmen fußten auf einer Wirtschaftspolitik, mit der London seit dem 16. Jahrhundert Exporte zu steigern suchte und Importe behinderte oder verbot, sofern diese nicht von englischen Händlern getätigt wurden. Das begann bereits mit der Schließung des sogenannten Stalhofes, einem riesigen Gelände am Nordufer der Themse, im Jahr 1598. Dort hatte die von deutschen Städten dominierte Hanse bereits Ende des 15. Jahrhunderts eine Niederlassung zum Warenumschlag mit ausgedehnten Hafenanlagen aufgebaut. Waren aus deutschen Landen kamen dem einflussreichen englischen Kapital auch im Industriezeitalter ungelegen. Dies äußerte sich insbesondere nach der Gründung des Deutschen Zollvereins im Jahr 1834 durch verschärfte Auseinandersetzungen. Der Deutsche Zollverein konstituierte – unter der Führung Preußens und ohne Österreich – einen Binnenmarkt mit einheitlichen fiskalischen und zollpolitischen Rahmenbedingungen. Sein geistiger Mentor, Friedrich List, trat zeit seines Wirkens für einen ökonomischen Zusammenschluss der in Kleinstaaterei zersplitterten deutschen Polit-Landschaft ein. Sein Wirken als Wirtschaftstheoretiker war vom Drang einer nachholenden industriellen Entwicklung insbesondere gegenüber England geprägt; als Wirtschaftstreibender war er Pionier des Eisenbahnbaus, der genau einen solchen einheitlichen Großraum brauchte, um ins Werk gesetzt werden zu können.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts fühlte sich das britische Kapital derart gestärkt, dass es die Regierung dazu brachte, zahlreiche Schutzzölle aufzuheben und Freihandel zu verordnen. Dieser ließ freilich Konkurrenten zu, die zuvor durch protektionistische Maßnahmen vom englischen Markt ferngehalten werden konnten. London scheute keine Antwort darauf und erließ gezielte Maßnahmen gegen Einfuhren aus Deutschland. Neben einzelnen Importbeschränkungen verabschiedete Königin Victoria im Jahr 1887 ein vom Parlament eingebrachtes Gesetz, nachdem Importe aus Deutschland mit einem Brandmal zu versehen seien. Jedes aus Deutschland kommende Produkt hatte forthin ein Warnschild zu tragen, das es als vom deutschen Ausland kommend sichtbar machte; im Selbstverständnis britischer Importeure musste das den Käufern auch die mindere Qualität deutscher Waren klar machen. Diese mangelnde Qualität war auf der zehn Jahre zuvor ausgetragenen Weltausstellung in Philadelphia sogar von dem Aachener Preisrichter, Franz Reuleaux, in Hinblick auf die deutsche Maschinenindustrie eingeräumt worden. Sein Werturteil 1876: »Deutsche Waren sind billig und schlecht.«34 Das denunzierende Label, mit dem deutsche Produkte ab 1887 in Großbritannien gekennzeichnet werden mussten, hieß »Made in Germany«.35 Britische Kunden wussten, dass damit eine schlechte Güteklasse gemeint war. Jahrzehnte später sollte sich das »Made in Germany« in seiner Bedeutung umkehren, bis es ab den 2010er Jahren langsam, aber stetig wieder zu seiner ursprünglich beabsichtigten Zuschreibung zurückkehrte.

Kleine, sticheleiartige Wirtschaftsgefechte prägten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges die ökonomischen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland. Wobei London meist den Takt vorgab. So auch mit einem Patentgesetz aus dem Jahr 1907, das auf die damals in Führung gehende deutsche Chemieindustrie zielte. Jedem britischen Staatsbürger war es mit diesem neuen Gesetz erlaubt, gegenüber Patenten, die mehrheitlich außerhalb des Landes zur Produktion dienten, einen Nichtigkeitsantrag zu stellen. Damit sollten deutsche Chemieriesen gezwungen werden, ihre Patente an britische Staatsbürger abzutreten. Im Visier standen die aus dem Wuppertal stammenden »Elberfelder Farbenfabriken«, die spätere Bayer AG, sowie die Berliner »Actien-Gesellschaft für Anilinfabrikation« (später als AGFA abgekürzt). Die beiden Chemiekonzerne reagierten für damalige Verhältnisse ungewohnt, kauften gemeinsam ein Grundstück in England und gründeten ausländische Ableger.36

Im »Großen Krieg«, der eine Generation später in die Geschichtsbücher als Erster Weltkrieg einging, trieb das Vereinigte Königreich seine Sanktions- und Embargopolitik gegen Deutschland zu bislang nie da gewesener Härte. Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges errichtete die britische Kriegsmarine bereits Anfang Juli 1914 eine Fernblockade zur Abschnürung Deutschlands. Mittels Minen und Patrouillenschiffen kontrollierte sie das Meer zwischen den Shetlandinseln und dem Ärmelkanal. Im November 1914 erklärte London die Nordsee zur Kriegszone, was einen eindeutigen Bruch der Pariser Seerechtsdeklaration von 185637 darstellte, die unter anderem festlegte, dass unter neutraler Flagge fahrende Schiffe auch im Kriegsfall nicht gekapert und ihre Ladungen nicht eingezogen werden dürfen. London kümmerte sich nicht um den Vertrag und nutzte seine Dominanz auf den Weltmeeren, indem es auch neutrale Staaten dazu zwang, die britische Kontrolle des Seehandels zu akzeptieren.38

Die totale Wirtschaftsblockade der Mittelmächte war auch nach damaligen Maßstäben ein Kriegsverbrechen. Der niederländische Historiker Nicholas Mulder gibt in seinem Hauptwerk »The Economic Weapon« einen Eindruck von der Kraft des ökonomischen Krieges, wie er gegen Deutschland geführt wurde: »Während des Ersten Weltkrieges hatten die Alliierten unter der Führung Großbritanniens und Frankreichs einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen das deutsche, österreichisch-ungarische und osmanische Reich geführt. Sie errichteten nationale Blockade­ministerien und internationale Komitees, um den Fluss von Waren, Energie und Lebensmitteln zu kontrollieren und zu unterbrechen. Das ergab die schwerwiegendsten Auswirkungen auf Mitteleuropa und den Nahen Osten, wo Hunderttausende an Hunger und Krankheiten starben und die zivile Gesellschaft schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde.« Und weiter: »Die materielle Isolierung hinterließ noch Jahrzehnte später ihre Spuren in den betroffenen Gesellschaften, da die Auswirkungen von Krankheiten, Hunger und Unterernährung an die noch ungeborenen Generationen weitergegeben wurden. Geschwächte Mütter brachten unterentwickelte und verkümmerte Kinder zur Welt. Die Wirtschaftswaffe warf somit einen lang anhaltenden sozioökonomischen und biologischen Schatten auf die betroffenen Gesellschaften, ähnlich wie ein radioaktiver Niederschlag.«39 Etwa eine Million Menschen starb in Deutschland, Österreich und dem Osmanischen Reich an den Folgen des britisch-französischen Wirtschaftsembargos.40

Die Parallelität von Schieß- und Wirtschaftskrieg, wobei die ökonomische Waffe oft der kriegerischen vorausgeht, gewährleistet – so zynisch das klingen mag – die Effektivität von Blockaden und Sanktionen, wie sie ohne gleichzeitig vor sich gehendem Waffengang nur sehr selten gelingt. Das kann auch in jüngeren Fällen wie beispielsweise der Abschnürung und dem Aushungern von Palästinensergebieten durch Israel im Gaza-Krieg ab 2023 beobachtet werden, wenn zugleich ein militärischer Waffengang erfolgt.

Wirtschaftssanktionen als Friedensprojekt der Zwischenkriegszeit

US-Präsident Woodrow Wilson plädierte unmittelbar nach dem verheerenden Kriegsgang 1914−1918 für eine neue Waffe: Wirtschaftssanktionen sollten, so der Vorschlag, wenn man ihn positiv interpretieren will, die rohe Gewalt in internationalen Beziehungen für alle Zukunft beenden. »Sanktionen«, so Wilson in seinem Entwurf für den zu gründenden Völkerbund am 14. Februar 1919, seien »etwas Gewaltigeres als Krieg. Die absolute Isolierung soll eine Nation zur Besinnung bringen, so wie das Ersticken dem Individuum jeden Impuls zum Kampf nimmt.« Ökonomischer Zwang, so der Präsident weiter, sei ein »stilles, tödliches Mittel, das keine Gewalt mehr benötigt. Es kostet kein Leben außerhalb der boykottierten Nation, und es übt Druck auf die Nation aus, dem sie nicht widerstehen kann.«41

Allein die Wahrnehmung bzw. Vorhersage, dass Wirtschaftssanktionen gewaltiger als Krieg sein können und nur bei den Menschen in sanktionierten Ländern Opfer verursachen und Leben kosten, lässt am Friedensimpetus des US-Präsidenten zweifeln. Er ventilierte mit seinem Vorschlag wohl eher die Möglichkeit, Krieg zu führen, ohne selbst daran Schaden zu nehmen.

Umgesetzt wurde die Idee Wilsons in den Pariser Vororte-Verträgen, die in der Gründung des Völkerbundes mündeten. Seine Satzung wurde am 28. April 1919 in Versailles verabschiedet. Der Brite Lord Robert Cecil und der Franzose Léon Bourgeois zeichneten für den Feinschliff der Urkunde verantwortlich. Der Artikel 16 des internationalen Vertrages etabliert Wirtschaftssanktionen als legitimes Instrument internationaler Beziehungen. Es heißt dort: »Schreitet ein Bundesmitglied entgegen den in den Artikeln 12, 13 oder 15 übernommenen Verpflichtungen zum Kriege, so wird es ohne Weiteres so angesehen, als hätte es eine Kriegshandlung gegen alle anderen Bundesmitglieder begangen. Diese verpflichten sich, unverzüglich alle Handels- und Finanzbeziehungen zu ihm abzubrechen, ihren Staatsangehörigen jeden Verkehr mit den Staatsangehörigen des vertragsbrüchigen Staates zu untersagen und alle finanziellen, Handels- oder persönlichen Verbindungen zwischen den Staatsangehörigen dieses Staates und jedes anderen Staates […] abzuschneiden.«42 Damit, so die damalige öffentliche Wahrnehmung, war ein Instrument geschaffen, das zwischen Krieg und Frieden lag und eine Weltordnung herstellen möge, in der militärische Überfälle schon im Keim erstickt würden. Feindseligkeiten sollten auf wirtschaftlicher Ebene ausgetragen werden, der heiße Krieg nicht mehr notwendig sein.

Bezeichnend für die Schwäche des Völkerbundes auf internationaler Bühne war allerdings, dass der Stichwortgeber für die Herstellung von »Frieden durch Wirtschaftskrieg«, die USA, ihm niemals beitrat. Damit rückte auch eine mögliche Beantwortung US-amerikanischer Militäraggressionen mittels wirtschaftlicher Isolierung in weite Ferne. Auch das Deutsche Reich, Italien und Japan fanden sich – wie später die Sowjetunion – nur zeitweise auf der Mitgliederliste. Gründe genug, warum der Artikel 16 der Völkerbundsatzung, also der Abbruch aller Wirtschaftsbeziehungen gegenüber einem kriegerischen Aggressor, nur gegen ökonomisch schwache Staaten betrieben wurde.

Als Instrument zur Durchsetzung der »Versailler Ordnung« kamen Sanktionen dennoch vielfach zum Einsatz. Dass damit nicht nur Kriege verhindert, sondern auch Regierungen, die den Weltmächten Großbritannien und USA nicht genehm waren, von der Macht verdrängt werden sollten, zeigen die ersten Nachkriegseinsätze von Sanktionen gegen die Sowjetregierungen in Russland und Ungarn. Bereits 1919 zog das alliierte »Versailler Regime« gegen die Ausbreitung des Kommunismus wirtschaftlich ins Feld.

Während das Schießen aufhörte, erweiterte sich der Wirtschaftskrieg. Neben dem militärisch besiegten Deutschland und Österreich trafen ökonomische Strafmaßnahmen jetzt die im Entstehen begriffenen Räterepubliken in Ungarn und Russland.

Am 21. März 1919 zogen Rotarmisten mit Unterstützung einer vom Krieg ausgehungerten Bevölkerung in Budapest ein. Das war der Beginn der Ungarischen Räterepublik.43 Seit dem Waffenstillstand, der das blutige Morden beendet hatte, waren nur wenige Monate vergangen. Allerdings hatten die Alliierten ihre in Kriegszeiten verordnete Wirtschaftsblockade fortgesetzt, und das nicht nur gegenüber Ungarn, sondern auch gegen Deutschland und Österreich. Die Debatte, wie es mit den immer tödlicher werdenden Wirtschaftssanktionen gegen die ehemaligen Kriegsgegner weitergehen sollte, beherrschte die politischen Kabinette in London, Paris und Washington. Auch bei den Verhandlern der Versailler Friedenskonferenz, die am 18. Januar 1919 begonnen hatte, stand das Thema ganz oben auf der Tagesordnung.

Am frühen Morgen des 4. April 1919 traf eine britische Delegation am Keleti-Bahnhof in Budapest ein.44 Sie war von Premierminister Lloyd George entsandt worden, um Kontakt mit den Führern der ungarischen Räterepublik aufzunehmen und ihnen bezüglich etwaiger Aufhebungen der Wirtschaftsblockade ein Angebot zu machen. Die Zusammensetzung der britischen Abordnung nahm sich spektakulär aus. Als Leiter agierte der südafrikanisch-burische General Jan Smuts, den der britische Premier 1917 ins Kriegskabinett gerufen hatte. Ihm zur Seite stand der Diplomat Harold Nicolson, ein Jüngling aus der Londoner High Society. Weil sich Jan Smuts weigerte, ungarisch-bolschewistischen Boden zu betreten, musste Béla Kun, seines Zeichens Volkskommissar des Äußeren, zu dem südafrikanischen Briten in den Waggon steigen. Von Anfang an ging es um die staatliche Zugehörigkeit von Erdély, auch bekannt als Transsilvanien oder Siebenbürgen. Das zum Königreich Ungarn gehörende alte Fürstentum war mehrheitlich von Rumänen bewohnt, wies aber eine starke, ca. 25-prozentige ungarische Minderheit auf.45 Smuts forderte von den Ungarn rundheraus die Übergabe Transsilvaniens an Rumänien. Béla Kuns Gegenvorschlag, das Land vorerst unter alliierte Kontrolle zu stellen, lehnte Smuts rundweg ab. Für Smuts war sein Aufenthalt damit beendet. Der britische Jungdiplomat Harold Nicolson kabelte nach London, man könne die ungarischen Kommunisten nicht ernst nehmen. Sein Bild von den Revolutionären beschrieb er später drastisch, indem er Béla Kun, der als Kohn in Erdély geboren worden war, einen »Bolschewisten-Juden« nannte, der das »Gesicht eines schmollenden, unsicher wirkenden Kriminellen« hätte. Kuns Kollegen, den Volkskriegskommissar József Pogány, der ebenfalls an den kurzen Verhandlungsgesprächen teilnahm, fand der britische Diplomat ekelerregend und nannte ihn einen »kleinen schmierigen Juden mit einem mottenzerfressenen Pelzmantel, schmutzigem Kragen und einer strähnigen grünen Krawatte.«46

Die von Antisemitismus und Sozialrassismus triefende britische Verhandlungsgruppe verließ Budapest und überließ die weitere Arbeit der rumänischen Armee. Zwischenzeitlich verschärften die Versailler Alliierten die Blockade gegen das revolutionäre Ungarn, kontrollierten die Donauschifffahrt und schnürten das Binnenland von jedem wirtschaftlichen Austausch ab. Die daraus resultierende akute Hungersnot kommentierte Nicolson mit Krokodilstränen: »Ich halte es zwar für unmenschlich, die feindliche Zivilbevölkerung mit indirekten Mitteln wie einer Blockade unter Druck zu setzen, doch sollte man sich darüber im Klaren sein, dass alle Lebensmittel, die nach Ungarn gelangen, von Bela Kun verwendet würden, um seine Anhänger gegen die Bourgeoisie aufzupäppeln. […] Ich gebe zu, dass es sehr unangenehm ist, Frauen und Kinder in Ungarn verhungern zu lassen, nur weil wir auf der Blockade beharren, aber ich denke, dass es unlogisch wäre, unsere Politik in dem Moment zu ändern, in dem wir alle möglichen friedlichen Druckmittel auf unseren Feind aufrechterhalten müssen.«47 Am 30. Juli 1919 besetzen rumänische Truppen Budapest und übergeben in der Folge dem späteren »Reichsverweser« und Nazi-Kollaborateur Miklós Horthy die Regierungsgeschäfte.

Die Rechtfertigung Nicolsons für die Blockadepolitik gegen die Kommunisten ist ein Musterbeispiel für Wirtschaftssanktionen, wie sie von stärkeren Volkswirtschaften gegen schwache Länder eingesetzt werden. In der Sprache der Blockierer schwirren die Begriffe »Feind« und »friedlich« herum, um zu verdecken, dass es um knallharte Interessen geht. Nicht – wie es in den Papieren des Völkerbundes steht – die Verhinderung von Krieg ist das Motiv für den Einsatz der ökonomischen Waffe, sondern die Fortsetzung desselben mit anderen, angeblich »friedlichen« Mitteln. Wenn diesen Mitteln, wie wir in der Geschichte noch sehen werden, manchmal mehr Menschen zum Opfer fallen als im Kriegsgang, dann entlarvt sich das Gerede von »friedlichen Druckmitteln« von selbst.