Impfen, bis der Arzt kommt - Klaus Hartmann - E-Book

Impfen, bis der Arzt kommt E-Book

Klaus Hartmann

4,8
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Jährlich warnen Medien und Behörden vor immer neuen gefährlichen Krankheiten, gegen die wir uns unbedingt impfen lassen sollten. Was steckt hinter diesem Trend? Begründete Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung oder Profitgier der Pharmakonzerne? Der international angesehene Experte für Impfschäden Dr. Klaus Hartmann legt als Insider die fragwürdigen Mechanismen der Zulassung und Empfehlung von Impfungen offen, damit wir uns selbst ein Bild von den möglichen Risiken machen können. Denn eines ist gewiss: Im Ernstfall können Nebenwirkungen und Komplikationen zu dramatischen gesundheitlichen Schäden führen. Ein Buch, das den Patienten endlich mündig macht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 243

Bewertungen
4,8 (28 Bewertungen)
23
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Besuchen Sie uns im Internet unter:

www.herbig-verlag.de

© für die deutschsprachige Ausgabe und das eBook:

F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München 2012

Alle Rechte vorbehalten.

Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel

Umschlagmotiv: getty-images, München

Satz und eBook-Produktion: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-7766-8148-2

Inhalt

Vorwort

So ändern sich die Zeiten

Edward Jenner oder von Kühen und Viren

Die Geburtsstunde der modernen Mikrobiologie

Aus Passiv wird Aktiv

Verstärkung durch Adjuvantien

Fortschritte der Impfstoffentwicklung

Aktion erzeugt Reaktion

Immunologie für Anfänger oder wie funktioniert das Ganze?

Ohne Abwehrsystem geht nichts

Wo steckt das Immunsystem?

Die spezifische Abwehrreaktion

Lebendimpfstoffe

»Inaktivierte« Impfstoffe

Das ASIA-Syndrom

Die Kontroverse um Thiomersal

Die »passiven« Impfungen

»London Calling« oder wenn Experten sprechen

Von Studien, Behörden und Expertengremien

Wie funktioniert die Zulassung eines neuen Impfstoffs?

Das deutsche Arzneimittelgesetz

Der Versuch am Menschen

Wie sicher ist der neue Impfstoff?

Was ist ein Risikosignal?

Die STIKO

Melkkühe auf der Wiese

Was Impfstoffe für die Pharmakonzerne so attraktiv macht

Der Staat haftet, die Krankenkassen zahlen

Die Kunst der Werbung

Das Wichtigste ist Sicherheit

Sicherheit kostet Geld

Sicherheit ist nicht gleich Sicherheit

»Post-Marketing Surveillance«

Der Arzt in der Zwickmühle

Die STIKO weiß weiter

Schlechte Meldemoral

Wie Verdachtsfälle bewertet werden

»So Lonely« – die Realität bei Impfschadensverdacht

Die Geschichte von Silvia H.

Ein typischer Verdachtsfall

Die Stunde der Gutachter

Genetische Veränderungen: Ursache oder Disposition?

Aktuelle Paradefälle: Schweinegrippe- und HPV-Impfung

Auf den Punkt gebracht

Grippeviren – ein mafiöser Clan

Der Impfstoff Pandemrix

Die Impfung gegen humane Papillomaviren (HPV-Impfung)

Die Zukunft ist offen

Ist »Durchimpfen« die Lösung?

Was definitiv zu tun ist

Ein frommer Wunsch zuletzt

Anhang

Anmerkungen

Bildnachweis

Glossar

Wichtige Websites

Literaturempfehlungen

Vorwort

Die Idee für dieses Buch entstand im Herbst 2009, als die Impfung gegen die neue Influenza H1N1 oder auch Schweinegrippe gerade öffentlich empfohlen wurde. Es war faszinierend zu sehen, wie ein bei Impfungen bislang nicht gekanntes Chaos ausbrach. Zwar hatte es schon früher öffentliche Empfehlungen für Impfungen gegeben, deren Sinn sich weder für den Laien noch für den Fachmann auf den ersten Blick erkennen ließ. Aber eine solch breite Diskussion über Viren, Impfungen, deren Inhaltsstoffe und die möglichen Nebenwirkungen war neu. Es brach etwas los, was Altkanzler Schröder als Kakophonie bezeichnet hätte. Massenweise Experten aller Art, die in den Medien berieten und warnten, was das Zeug hielt. Wer soll wann, wie oft und mit welchem Produkt geimpft werden? Oder sollte eine Impfung am Ende gar nicht notwendig sein?

Es zeigte sich nach einigen Monaten, dass die Schweinegrippeimpfung von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wurde und dass viele Millionen bestellter (und bezahlter) Impfdosen nicht verabreicht werden konnten. Größere Probleme im Sinne einer Masseninfektion traten während der so gefürchteten Pandemie nicht auf, im Gegenteil, die Pandemie entpuppte sich sogar als besonders milde Grippesaison. Ein Glücksfall. Selbstverständlich muss das bei der nächsten Pandemie keineswegs wieder so sein und selbstverständlich werden uns die gleichen Experten dann wieder warnen und so weiter und so weiter. Frei nach Sepp Herberger: Nach der Pandemie ist vor der Pandemie.

Doch eines bleibt: Verunsicherung. Die breite Bevölkerung wie auch die Ärzteschaft diskutierte im fast gleichen Maße über Sinn und Unsinn der Impfempfehlung. Das Deutsche Ärzteblatt sprach gar von einer »Vertrauenskrise«. Die dilettantische Kommunikation um die Schweinegrippeimpfung, hieß es dort, schade nicht nur dem Ansehen der beratenden Ärzte, sondern auch dem »Impfgedanken« als solchem. Es wurde befürchtet, die Bevölkerung könnte das Vertrauen in Impfaktionen nun generell verlieren. Keine unbegründete Befürchtung: Manch einem kam bei dem ganzen Aufruhr der Verdacht, dass mit der Schweinegrippeimpfung in erster Linie Geld verdient werden sollte. Und einige Wochen später wurde dann klar, dass nur etwa fünf Prozent der Menschen in Deutschland diese Impfung tatsächlich wahrgenommen hatten. Man verhandelte mit dem Hersteller um die Stornierung der viel zu vielen bestellten Impfdosen und die Frage kam auf, was mit dem bereits eingelagerten Impfstoff denn nun geschehen solle. Im August 2011 wurde mitgeteilt, der überschüssige Impfstoff solle als Sondermüll entsorgt werden – allein in Hessen 1,8 Millionen Impfdosen im Wert von 17,5 Millionen Euro.

Der Trend ist nicht zu leugnen: Immer mehr Impfstoffe gegen eine Vielzahl von Krankheiten überschwemmen den Pharmamarkt. Dabei haben die Hersteller längst den Kernbereich der »klassischen« Infektionskrankheiten verlassen und neue Ziele anvisiert. Beispielsweise ist derzeit eine Impfung gegen Bluthochdruck in der Zulassungsphase. Diese Entwicklung hat natürlich ihre Gründe.

Dieses Buch soll nun zeigen, was Impfstoffe zu so besonderen Arzneimitteln macht: für die Hersteller, die Behörden und den öffentlichen Gesundheitsdienst, für die Ärzte und für jeden Einzelnen, der schließlich die Entscheidung treffen muss, wenn eine neue Impfung zugelassen und empfohlen wird: »Soll ich oder soll ich lieber nicht?«

Aber Achtung: Dieses Buch ist kein Impfbuch im klassischen Sinn. Ich werde nicht den Versuch unternehmen, den öffentlich empfohlenen Impfkalender abzuarbeiten, wie es in zahlreichen Impfbüchern aus ganz unterschiedlicher Perspektive bereits getan wird. Bei den vielen Neuerungen, die in den nächsten Jahren kommen werden, würde das ohnehin nur zu einem schnellen Veralten des Buches führen. Sicherlich werde ich Beispiele für Entwicklungen geben, aus denen jeder für die eigene Entscheidung Schlüsse ziehen kann. Aber eine individuelle Beratung über Nutzen und Risiken bestimmter Impfungen soll und kann dieses Buch nicht ersetzen. Stattdessen will ich die Mechanismen der Zulassung und Empfehlung von Impfungen vorstellen und erläutern, da man diese im Prinzip auf jede Neuigkeit anwenden und zur Grundlage seiner Entscheidung machen kann, wenn man sich zusätzlich von seinem Arzt (oder aus anderen Quellen) über die Art der Erkrankung, gegen die geimpft werden soll, mit Informationen versorgt.

Auch ist dieses Buch keines, das man einem bestimmten Lager zuordnen kann. Die oft hitzig und emotional geführte Diskussion um Impfungen hat inzwischen zu recht klar voneinander abgegrenzten Gruppen geführt, die sich selbst als Impfgegner, Impfkritiker oder Impfbefürworter sehen. Dieses Schubladendenken ist natürlich Unsinn und hilft überhaupt nicht weiter. Sich gegenseitig als unwissenschaftlich, geldgierig, korrupt, verbohrt oder einfach als blöd zu bezeichnen, bringt uns alle nicht weiter bei der Beantwortung der Frage, um die es eigentlich gehen sollte: ob eine bestimmte Impfung mit einem bestimmten Impfstoff bei einem bestimmten Menschen in einer bestimmten Situation sinnvoll ist.

Positiv an der Kakophonie durch die Schweinegrippeimpfung ist die Tatsache, dass ein breites Interesse an Impfungen, ihren Inhaltsstoffen, ihrer Wirksamkeit und den Bewertungsmethoden ihrer Sicherheit entstanden ist. In den ARD-Tagesthemen einen Animationsfilm über die Wirkungsweise eines sogenannten »Adjuvans« zu sehen, also eines immunologischen Impfstoff-Wirkverstärkers, war nur in Zeiten der Schweinegrippepandemie möglich. Aus meiner Sicht ist ein solcher Wissensdurst zum Thema Impfungen nur zu begrüßen, da nun Informationen zur Verfügung gestellt werden müssen, die man sonst nicht so einfach bekommt. Die Menschen wollen über die von Staat und Herstellern so dringend angeratenen Impfstoffe einfach mehr wissen – und auch über unerwünschte Wirkungen, die vor einer Impfung meist gar nicht so gern angesprochen werden (und hinterher auch nicht).

Dass der Umgang mit den sogenannten »kleinen Risiken« für die Politik und auch die Wissenschaft immer schwieriger wird, zeigt uns gut ein Jahr nach der Schweinegrippe die zuvor nicht wirklich für möglich gehaltene Reaktorkatastrophe in Japan. Die früheren Katastrophen in Tschernobyl und anderswo waren noch mit »uralter« Technik und schlampiger Wartung irgendwie erklärbar. Der GAU in Fukushima machte aber gerade im technikverliebten Japan deutlich, dass bestimmte Risiken nicht kalkulierbar sind und die Beteuerungen von Politikern und Betreiberfirmen samt ihren Wissenschaftlern und Technikern im Ernstfall nicht viel wert sind. In gewisser Weise sind die Verhältnisse bei Impfungen ähnlich. Auch hier haben wir es mit kleinen und sehr schwer kalkulierbaren Risiken für den Einzelnen zu tun, aber das Ergebnis kann für diesen Menschen dramatische Folgen haben. Gerade die Tatsache, dass bei Impfungen immer große Kollektive betroffen sind, lässt eben auch immer einige Betroffene mit seltenen Problemen zurück. Allerdings sind die Zusammenhänge natürlich schwerer zu identifizieren und zu bewerten als die Folgen einer »makroskopischen« Katastrophe mit rauchenden Trümmern. Ein nach einer Impfung verrücktspielendes Immunsystem ist da schon wesentlich diffiziler zu durchschauen und die sich stellende Kardinalfrage, ob denn nun wirklich die verabreichte Impfung oder etwas völlig anderes das Problem ausgelöst hat, gibt häufig Anlass zu Diskussionen unter Experten. Ende 2010 stellten Wissenschaftler um den prominenten israelischen Immunologen Yehuda Shoenfeld ein neues Syndrom vor, das als ASIA-Syndrom noch für viel Aufruhr sorgen wird. Das Kürzel ASIA steht für autoimmmune syndrome induced by adjuvants und bedeutet so viel wie »durch Impfungen verursachte Autoimmunerkrankung«. Möglicherweise steht uns eine Welle von Entschädigungsverfahren und Prozessen bevor, da hiervon Tausende von Menschen mit bisher unklaren chronischen Erkrankungen betroffen sein können.

Atomkraft mit den damit verbundenen Risiken scheint derzeit ein Auslaufmodell zu sein, zumindest in Deutschland. Auch für Impfungen werden die kleinen Risiken zum immer größeren Thema werden. In Zukunft werden sich viele Menschen durch die allzu optimistischen Einschätzungen von Politik und Pharmakonzernen bezüglich der Sicherheit beim Impfen nicht so einfach überzeugen lassen. Das Interesse an Restrisiken ist auch beim Impfen erwacht und ich möchte es mit den mir zur Verfügung stehenden Informationen weiter »füttern«.

Was erwartet Sie nun konkret in diesem Buch? Das Buch gliedert sich in sieben Abschnitte. Das erste Kapitel gibt einen kurzen Abriss über die Impfgeschichte. Ich werde die grundsätzlichen Ideen aufzeigen, die zur Entwicklung von Impfungen geführt haben. Viele dieser Ideen waren einfach gut. Das ist aus meiner Sicht unstrittig und konnte auch in klassischen Experimenten belegt werden. Allerdings gibt es einige grundsätzliche Regeln, die für Impfstoffe gelten müssen, wenn sie das Prädikat »gut und sinnvoll« beziehungsweise »Nutzen größer als Risiko« erhalten wollen.

Im zweiten Kapitel geht es dann in die mikrobiologischen Feinheiten. Wie funktioniert unser Immunsystem? Wo setzen die Impfstoffe an, wie wirken sie? Welche Unterschiede bestehen zwischen verschiedenen Impfstofftypen, was können sie leisten und was nicht? Und: Wo kommen nach derzeitigem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis die Probleme und Komplikationen her, die manche Menschen treffen?

Im dritten Kapitel verfolgen wir den Weg eines Impfstoffs von der Idee bis zur Zulassung als Arzneimittel. Welche Studien werden durchgeführt, wer macht sie und wer kontrolliert das Ganze? Und was bedeutet die sogenannte »öffentliche Empfehlung« einer neuen Impfung durch die Ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut (STIKO)?

Die Pharmakonzerne sind Thema des vierten Kapitels. Die Fragen hier lauten: Was macht die Impfstoffe für die Hersteller derzeit so attraktiv im Vergleich zu anderen Arzneimitteln? Wie wird ein neuer Impfstoff nach seiner Zulassung vermarktet? Welche offensichtlichen Tricks werden dabei angewendet? Wie arbeiten die Pharmaunternehmen mit Behörden und Wissenschaft zusammen, welche Verflechtungen und damit auch Interessenkonflikte gibt es hier?

Im fünften Kapitel geht es um Sicherheit. Gerade bei Impfstoffen wird ja sehr viel über Sicherheit geredet und es wird der Eindruck erweckt, als würden hier besonders strenge Maßstäbe gelten. Aber folgen dem Gerede auch tatsächlich intensive Anstrengungen, den Risiken auf den Grund zu gehen? Und was passiert im Fall der Fälle mit Menschen, die nach einer Impfung schwer krank werden? Vorgestellt wird in diesem Kapitel auch eine exemplarische Krankengeschichte, die zeigt, was im Einzelfall nach einer Impfung passieren kann und wie dann mit so einem Patienten umgegangen wird.

Kapitel sechs bringt die Dinge an zwei aktuellen Beispielen nochmals auf den Punkt: die Impfung gegen die Schweinegrippe und die Impfung gegen humane Papillomaviren (HPV) zum Schutz vor Gebärmutterhalskrebs. Die Mechanismen des Zusammenspiels zwischen Herstellern und Behörden und anderen Institutionen erkennt man an diesen Beispielen besonders gut.

Im siebten und letzten Kapitel wird ein Blick in die nähere und fernere Zukunft gewagt. Was muss passieren, damit das Impfen als Methode zur Verhütung von Krankheiten überleben kann? Was ist von den Beteiligten zu erwarten, was zu fordern? Wie sehen die zukünftigen Impfstoffe aus, oder besser, wie sollten sie aussehen? Zuletzt lege ich noch meinen ganz persönlichen Wunschzettel an Pharmakonzerne, Behörden, Wissenschaft und Impfkritik bei. Bei Beherzigung dieser Vorschläge würde sicherlich die Entscheidungsfindung bezüglich Impfungen in der Zukunft eine deutlich leichtere – für jeden von uns.

So ändern sich die Zeiten

Edward Jenner oder von Kühen und Viren

Als Erfinder der ersten »echten« Impfung – der gegen die Pocken – gilt der englische Landarzt Edward Jenner (1749–1823). Im wissenschaftlichen Sinne ist das Wort »erfinden« nicht ganz zutreffend. Jenner war zwar ein guter Beobachter, hatte aber streng genommen keine Ahnung, was er da eigentlich tat. Zu seiner Zeit waren die heutigen Kenntnisse über die Ursachen von Infektionskrankheiten noch science fiction und Jenner lieferte mit der Publikation seiner Methode im Jahr 1789 auch noch keine Erklärung für den Erfolg seiner Impfung. Dass es funktionierte – das konnte er belegen. Aber warum? Der theoretische Teil kam erst gut 100 Jahre später mit der Entdeckung der ersten Mikroorganismen, der Bakterien, durch Robert Koch und seine Zeitgenossen. Allerdings waren auch Robert Koch und Louis Pasteur noch weit von der Entdeckung der Viren entfernt, zu denen der Erreger der Pocken gehört.

Die Pocken (oder auch Blattern, englisch smallpox) waren zu Jenners Zeit eine der größten Plagen der Menschheit. »Von der Liebe und den Pocken wird keiner verschont«, war die etwas fatalistische Lebensweisheit dieser Epoche. Nach einem wirksamen Heilmittel gegen die gefürchtete Erkrankung hatten Ärzte und vermutlich auch viele andere Gelehrte bis dahin vergeblich gesucht. Edward Jenner nun machte in seiner landärztlichen Praxis eine erstaunliche Beobachtung. Selbst wenn die Seuche noch so heftig grassierte, gab es eine Berufsgruppe, die ganz selten schwer an den Pocken erkrankte: Melkerinnen und andere Personen, die engen Kontakt zu Kühen hatten. Das brachte Jenner auf die Idee, dass möglicherweise eine vorherige Ansteckung mit den sogenannten Kuhpocken einen Schutz vor den sonst so gefürchteten smallpox vermitteln könnte.

Die Kuhpocken waren damals eine bei Rindern weitverbreitete Krankheit. Für Menschen waren sie ungefährlich und führten bei einer Ansteckung meist nur zu ein paar Pusteln an den Händen, etwas Fieber und geschwollenen Lymphknoten im Achselbereich. Nach einigen Tagen klangen auch diese Symptome ab. Schwerere Erkrankungen bei Menschen waren damals nicht bekannt.

Die Vakzination

Der grundsätzliche Gedanke, durch eine künstlich herbeigeführte milde Infektion vor den gefährlichen Verläufen der Pocken zu schützen, war für Jenner nichts Neues. So kannte man bereits aus Indien, China und der Türkei die Methode der Variolation. Dabei wurde Eiter aus Pusteln von nur leicht an Pocken erkrankten Menschen entnommen und Gesunden in die Haut eingeritzt. Man infizierte also absichtlich Gesunde in der Hoffnung, bei den so Behandelten werde die Erkrankung auch nur so leicht verlaufen wie bei dem Infektionsspender. Im Jahr 1721 fand die Variolation den Weg nach England und verbreitete sich auch dort zunehmend, da man im Fall der Pocken nach jedem Strohhalm griff, der Schutz zu versprechen behauptete.

Aus heutiger Sicht ist es durchaus vorstellbar, dass diese archaische Methode der »künstlichen« Infektion in einigen Fällen tatsächlich funktionierte. Voraussetzung war allerdings, dass der Behandelnde das richtige Händchen hatte, also zum Beispiel nicht zu tief in die Haut schnitt und nicht zu viel infektiöses Material verwendete. Und vor allem, dass der so Behandelte zuvor bei bester Gesundheit war. Ansonsten war die Gefahr groß, dass es durch die Variolation zu schweren Pockenerkrankungen beim »Geimpften« kam und dass sich auch seine Umgebung anstecken konnte. Nutzen und Risiko lagen hier sehr dicht beieinander.

Jenner war kein Freund der Variolation. Er beschritt einen anderen Weg und verwendete zum Immunisieren statt der echten Pockenviren die für den Menschen harmloseren Kuhpockenviren. Dass beide Virusstämme zu einer Familie gehören und sich immunologisch so ähnlich sehen, dass sie eine sogenannte »Kreuzimmunität« auslösen, war Jenner natürlich nicht bewusst. Aber auch ohne es zu wissen, hatte er somit den ersten echten Lebendimpfstoff erfunden. Da er sich seiner Sache sicher war und man trotz der weiterhin eifrig angewendeten Variolation dringend ein besseres Konzept gegen die Pocken brauchte, schritt er zur Tat.

Aus einer Eiterpustel am Arm einer mit Kuhpocken infizierten Melkerin stellte er einen Impfstoff her. Am 14. Mai 1796 impfte er damit den gesunden achtjährigen James Phibbs. Wie es auch bei der Variolation üblich war, ritzte Jenner den Impfstoff in die Haut des Jungen ein und beobachtete in den folgenden Tagen eine lokale Reaktion an den Impfstellen. Die Reaktion klang ab und James Phibbs blieb gesund. Um nun zu beweisen, dass bei James tatsächlich eine Immunität gegen die »echten« Pocken bestand, war der Arzt nicht zimperlich: Er infizierte den Jungen mit einer Dosis Pockenviren und beobachtete den weiteren Verlauf. James blieb auch danach gesund. Ein drastisches Vorgehen, das Jenners Zeitgenossen aber auf eine verständliche Art zeigte, dass bei James tatsächlich eine Immunität gegen Pocken vorlag.

Zu Ehren der Kuh (lateinisch vacca), die ihn letztlich auf den genialen Gedanken gebracht hatte, nannte Jenner sein neues Verfahren vaccination (Vakzination). Es sollte noch zwei Jahre dauern, bis er 1798 seinen berühmten Bericht An Inquiry into the Causes and Effects of the Variolae Vaccinae (Untersuchungen über die Ursachen und Wirkungen der Kuhpocken) veröffentlichte. In diesem inzwischen als wissenschaftlichen Klassiker gefeierten Bericht beschrieb er seinen Impfstoff und die Vermutung, damit einen deutlich besseren Stoff zum Immunisieren als »echte« Pockenviren gefunden zu haben.

Das Experiment mit James Phibbs war zwar ein eindrucksvoller Erfolg. Aber auch die Anhänger der Variolation hatten ihre Erfolge zu berichten. Außerdem bildeten sie die bereits etablierte Fraktion, die den damaligen wissenschaftlichen Kenntnisstand definierte. Es entbrannte eine kontroverse Diskussion, in der sich schließlich Anfang des 19. Jahrhunderts die Vakzination Jenners aufgrund der deutlich besseren Verträglichkeit durchsetzte und auf dem europäischen Festland immer breitere Anwendung fand. Im Jahr 1807 wurde in Bayern als erstem Land die Jenner’sche Impfung als Pflicht eingeführt. Es folgten viele weitere Länder. Mit dem Reichsimpfgesetz wurde 1874 schließlich die Pflicht zur Pockenschutzimpfung im ganzen Deutschen Reich festgeschrieben. Diese Pflichtimpfung umfasste eine Erstimpfung im frühen Kindesalter (bis zum 3. Geburtstag) und eine Wiederholungsimpfung im 12. Lebensjahr. Die Herstellung der Impfstoffe war im Deutschen Reich den staatlichen Impfanstalten vorbehalten.

Eine Idee macht Schule

Bei zunehmender Anwendung wurde klar, dass auch die Kuhpockenimpfung nicht frei von schweren Nebenwirkungen war. Bei Menschen mit Hautausschlägen kam es häufiger zu schweren Erkrankungen, die den echten Pocken sehr ähnlich sahen und nicht selten ähnlich schwer verliefen. Gefürchtet waren besonders bei Kindern die Komplikationen, die im Gehirn auftraten und die später als postvakzinale Enzephalitis, d.h. nach der Pockenimpfung auftretende Gehirnentzündung, traurige Berühmtheit erlangten.

Von diesen Dingen konnte Edward Jenner noch nichts ahnen, als er mit der Vakzination eine deutliche Verbesserung gegenüber der vorher verwendeten Variolation einführte. Seine Idee, durch eine »kleine« Kuhpockeninfektion eine »große« Menschenpockenerkrankung zu verhindern, gehörte zu den revolutionärsten und sicherlich besten, die die Medizin zu dieser Zeit hervorgebracht hat, zumal das beliebteste therapeutische Vorgehen bei der Mehrzahl schwerer Erkrankungen nach wie vor aus Aderlässen und dubiosen Giftkuren aller Art bestand.

Jenners Idee inspirierte viele nachfolgende Ärzte und Wissenschaftler. Man wandte sich stärker einer Heilkunde zu, die auf empirischer Beobachtung basierte. Dieser Ansatz war zwar nicht gänzlich neu, noch nie aber hatte er bei einer so schweren Erkrankung wie den Pocken zu so klarem Erfolg bei so vielen Patienten geführt. Jenner hatte außerdem das Glück (wieder ohne es zu ahnen), an einen Erreger geraten zu sein, der tatsächlich durch eine weltweite Impfkampagne völlig zum Verschwinden gebracht werden konnte. Der Grund dafür liegt in der Beschaffenheit des Menschenpockenvirus. Es ist genetisch sehr stabil und kann nur Menschen befallen. So kam es trotz aller Impfkomplikationen durch die Pockenimpfung zu einer bislang einzigartigen Erfolgsgeschichte: Der letzte natürliche Erkrankungsfall von Pocken trat 1977 in Somalia auf; in Deutschland war bereits seit den späten 1950er-Jahren kein Fall von Pocken mehr gemeldet worden.

Eine pockenfreie Welt, fast

Eines der ersten Themen der 1972 gegründeten Ständigen Impfkommission am Robert-Koch-Institut (STIKO), von der noch ausführlich zu sprechen sein wird, war denn auch die Diskussion, ob man die Pflichtimpfung gegen Pocken nicht abschaffen könne. Schließlich war der Impfstoff mittlerweile bekannt für eine Vielzahl schwerwiegender unerwünschter Wirkungen. Ab 1975 empfahl die STIKO die Erstimpfung für Kinder nicht mehr, ab 1976 wurde die Pockenimpfung in Deutschland generell nicht mehr empfohlen. 1980 rief die Weltgesundheitsorganisation WHO offiziell die Ausrottung (Eradikation) des Pockenvirus aus natürlichem Vorkommen aus. Seitdem gilt die Welt als pockenfrei. Das Virus existiert nun offiziell nur noch in zwei Laboratorien in Russland und den USA. Allerdings wurde nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auch das Pockenvirus auf gespenstische Art und Weise wieder lebendig. Aus Angst vor bioterroristischen Angriffen, für die auch Pockenviren verwendet werden könnten (wenn diese denn in der Hand von Terroristen wären), wurde sowohl in den USA als auch in Deutschland wieder gefriergetrockneter Pockenimpfstoff gekauft und in verschiedenen geheimen Depots eingelagert. Das Paul-Ehrlich-Institut wurde beauftragt, eine CD-ROM zu erstellen, auf der die Durchführung und die Nebenwirkungen der Pockenimpfung beschrieben werden, um den heute praktizierenden Ärzten gegebenenfalls eine Immunisierung der Bevölkerung zu ermöglichen. Allerdings wurde die CD-ROM bisher nicht an die Ärzteschaft verschickt – anscheinend lag noch keine wirklich ernst zu nehmende bioterroristische Bedrohung vor. So bleibt das Kapitel der Pocken und der Pockenimpfung hoffentlich weiterhin geschlossen.

Die Geburtsstunde der modernen Mikrobiologie

Das große Dreigestirn der deutschen Bakteriologie bilden noch heute die drei Nobelpreisträger Robert Koch (1843–1910), Paul Ehrlich (1854–1915) und Emil von Behring (1854–1917), wobei Robert Koch zusammen mit dem Franzosen Louis Pasteur (1822–1895) als Begründer dieser modernen Wissenschaft gilt. Die Entdeckung der Mikroorganismen in Gestalt von Bakterien, die man bei bestimmten Erkrankungen regelmäßig finden konnte, revolutionierte das gesamte medizinische Denken. Das Jahr 1878, in dem Pasteur sein zentrales Werk Les Microbes veröffentlichte, wird deshalb auch als »Geburtsjahr der Parasitologie« gefeiert. Kurz zuvor hatte Robert Koch in dem fast schwarzen Blut von Tieren, die an Milzbrand (Anthrax) verendet waren, mit speziellen Färbemethoden stäbchenförmige »Bazillen« gefunden, die er für die Erreger der Erkrankung hielt. Mehr und mehr setzte sich unter den Forschern und Ärzten die Erkenntnis durch, dass solche Kleinstlebewesen Krankheiten bei Mensch und Tier auslösen können, und es begann eine regelrechte Jagd auf die Mikroben. 1882 wurde Robert Koch nochmals fündig, als er den Erreger der Tuberkulose entdeckte. Sofort keimten unglaubliche Hoffnungen auf ein baldiges Ende dieser gefürchteten Erkrankung auf.

Genährt wurde dieser Optimismus durch eine Reihe wissenschaftlicher Revolutionen, welche die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägten. Nicht nur auf dem Gebiet der Biologie, sondern auch in der Chemie und der Physik wurden Entdeckungen gemacht, die enorme Technologiesprünge erlaubten. Elektrizität, Radioaktivität, neue Einsichten in die Struktur von Materie und Energie ließen alles möglich und machbar erscheinen. Der Glaube an Wissenschaft und Technik ersetzte mehr und mehr die Religion. In der Bakteriologie hieß das: War ein Erreger für eine Erkrankung erst gefunden, so war es nur noch ein kleiner Schritt hin bis zum »Sieg« beziehungsweise bis zur Eradikation, der Ausrottung der Krankheit. Schon das gewählte militaristische Vokabular sollte die Entschlossenheit demonstrieren, mit der man gegen die feindlichen Mikroben vorzugehen gedachte – koste es, was es wolle.

Die Serumtherapie

Allerdings mussten die Bakteriologen der ersten Stunde bald erkennen, dass die Beschreibung eines Erregers noch keineswegs den Triumph über die von ihm ausgelöste Erkrankung bedeutete. Intensiv widmete sich Robert Koch dem Kampf gegen die Tuberkulose und entwickelte 1890 das Tuberkulin, doch das Heilmittel konnte die hohen Erwartungen nicht erfüllen. Auch Behring und Ehrlich, die sich 1891in Kochs Berliner Institut für Infektionskrankheiten kennenlernten, waren neuen therapeutischen Möglichkeiten auf der Spur. Während Ehrlich zunächst noch das Wachstum von Bakterien mit Farbstoffen, vor allem Methylenblau, bremsen wollte, entwickelte Behring den vielversprechenden Ansatz der Serumtherapie. Ausgehend von der Tatsache, dass manche Tierarten durch eine Infektion mit bestimmten Erregern nicht krank wurden, andere aber erkrankten und starben, fragte er sich, was die nicht erkrankten Spezies schützt. Erste Tests führte Behring mit Ratten durch, die nicht an Milzbrand erkrankten, obwohl er sie mit hohen Keimdosen infiziert hatte. Behring stellte fest, dass ihr Blutserum, d.h. ihr Blut ohne die zuvor herausgefilterten Blutkörperchen, auch außerhalb ihres Körpers Kulturen von Milzbrandbakterien inaktivieren konnte. Infizierte er anschließend Meerschweinchen mit diesen Bakterien, so erkrankten auch diese nicht an Milzbrand. Zusammen mit dem Japaner Kitasato Shibasaburo (1853–1931), der ein Meister im Präparieren und Blutabnehmen bei kleinen Tieren war, experimentierte er weiter. Dabei stieß Behring auch bei der Diphtherie und beim Wundstarrkrampf (Tetanus) auf solche schützenden Faktoren im Blutserum von Ratten. Diese Erkrankungen stellten damals eine erhebliche Gefährdung der menschlichen Gesundheit dar. Diphtherie konnte bei schwerem Verlauf zu einem Zuschwellen des Halses und damit zum Ersticken führen. Die Krankheit wurde deshalb »Würgeengel der Kinder« genannt, als letzte Rettung blieb oftmals nur der berühmt-berüchtigte Luftröhrenschnitt. Einen Sieg über diese schreckliche Krankheit oder zumindest eine Möglichkeit der Behandlung wünschten sich die Menschen deshalb sehnsüchtig herbei.

Die Entdeckung der Toxine

Behring und Kitasato experimentierten weiter mit Meerschweinchen. Sie entdeckten, dass das Serum von Tieren, die eine Infektion mit Diphtheriebakterien überlebt hatten, auch andere Meerschweinchen sicher vor dem Tod durch eine höhere Keimdosis bewahrte, wenn man ihnen zuvor das »Schutzserum« spritzte. Analog zu seinen Versuchen mit Ratten und Milzbrandbakterien wollte Behring nun mit seinem Meerschweinchenserum zeigen, dass auch angezüchtete Bakterienkulturen mit Diphtherieerregern durch das spezielle Serum inaktiviert werden konnten. Überraschenderweise blieb hier aber der Erfolg aus. Die Bakterien zeigten sich von dem Serum völlig unbeeindruckt und vermehrten sich in ihrer Kultur munter weiter. Wie konnte es sein, dass das Serum nicht die Vermehrung der Bakterien verhinderte, aber trotzdem ganz offensichtlich vor der Krankheit schützte? Behring und Kitasato erkannten: Das Problem waren nicht die Bakterien selbst; die eigentlichen Übeltäter waren die bakteriellen Toxine – Stoffwechselprodukte der Erreger, die für den Menschen giftig sind und für den klinischen Verlauf bestimmter Erkrankungen die entscheidende Rolle spielen.

Ähnliche Zusammenhänge mit einem bakteriellen Toxin als eigentlichem Krankheitsauslöser konnten Behring und Kitasato auch beim Wundstarrkrampf (Tetanus) nachweisen. Nach einer ganzen Serie von Tierversuchen, die alle eindeutige Ergebnisse zeigten, ermunterte Robert Koch die beiden, ihre Entdeckungen zu veröffentlichen. Am 4. Dezember 1890 erschien ihr Aufsatz »Über das Zustandekommen der Diphtherie-Immunität und der Tetanus-Immunität bei Thieren« in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift. Darin wurde die Serumtherapie erstmals ausführlich und zusammenhängend dargestellt.

Behring setzte nun alles daran, aus diesem experimentellen Ansatz eine Therapie für die Diphtherie bei Kindern zu entwickeln. Das Problem waren die viel zu geringen Mengen an »Schutzserum«, das man mit dem Immunisieren von Meerschweinchen gewinnen konnte. Also lag der Gedanke nahe, größere Tiere mit mehr Blut zu immunisieren. Behring testete zunächst einen Hammel. Später wählte man Pferde, um den steigenden Bedarf an Diphtherieserum zu decken. Klar, dass diese frühe Form der Massenproduktion eines immunbiologischen Arzneimittels nicht mehr im Labor bewerkstelligt werden konnte. Deshalb kam es ab 1893 zu einer ersten Zusammenarbeit mit den Farbwerken in Höchst, einer großen chemischen Fabrik, die die Bedeutung der industriellen Arzneimittelherstellung erkannt hatte.

Das Diphtherieserum war ein riesiger Erfolg und machte Behring und Kitasato berühmt. Man pries Behring im Volksmund als den »Retter der Kinder« und zeichnete ihn für seine Arbeit mit dem ersten Medizin-Nobelpreis der Geschichte aus, der im Jahr 1901 vergeben wurde. Robert Koch folgte als Nobelpreisträger im Jahr 1905, Paul Ehrlich 1908. Von seinem Preisgeld finanzierte Behring die Gründung seiner eigenen pharmazeutischen Fabrik zur Herstellung größerer Mengen des Diphtherieserums. So entstanden 1904 im Marburg benachbarten Marbach die Behringwerke, die lange Zeit der größte Impfstoffhersteller Deutschlands waren und heute zum Schweizer Pharmakonzern Novartis gehören.

Paul Ehrlichs Verdienst im Rahmen der Serumtherapie waren Lösungen bei der Frage der richtigen Dosierbarkeit des Immunserums für Diphtherie. Er befasste sich als Erster intensiv mit der möglichen Struktur der schützenden Serumbestandteile und lieferte schließlich auch die theoretischen Grundlagen, die die immunisierende Wirkung des Serums erklären konnten. Dabei entwickelte Ehrlich die sogenannte »Seitenkettentheorie«, die als erste »echte« Erklärung immunologischer Vorgänge betrachtet werden muss. Ehrlich vermutete, dass an bestimmten Serumbestandteilen spezielle molekulare Seitenketten angebracht sind. Diese könnten nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip mit genau dazu passenden Strukturen auf den bakteriellen Toxinen eine chemische Reaktion eingehen und die Toxine dadurch entgiften. Zu diesem Zeitpunkt war das eine unglaublich weitsichtige Beschreibung, die von der heutigen Kenntnis über neutralisierende Antikörper nicht weit entfernt ist. Paul Ehrlich sprach in diesem Zusammenhang gerne von den »Zauberkugeln«, die sich im Organismus ihr Ziel selbst zu suchen scheinen.

Später war Ehrlich auch einer der ersten Forscher, die klar erkannten, dass nicht alle Infektionskrankheiten sich auf dem Wege der Serumtherapie behandeln ließen. Im Jahr 1910 produzierte er mit dem arsenhaltigen Präparat Salvarsan zur Behandlung der Syphilis Schlagzeilen. Somit machte er sich nicht nur als Mitbegründer der Immunologie einen Namen, sondern auch als Begründer der Chemotherapie, welche damals allerdings gegen Infektionen wie Syphilis und nicht zur Behandlung von Krebs gedacht war. Wie schon bei den Seren gegen Diphtherie und Tetanus wurde die Herstellung von Salvarsan im großen Stil von den Farbwerken in Höchst durchgeführt.

Kuschinsky lässt grüßen

»Wenn behauptet wird, dass eine Substanz keine Nebenwirkungen zeigt, so besteht der dringende Verdacht, dass sie auch keine Hauptwirkungen hat«, so äußerte sich 1966 Gustav Kuschinsky (1904–1992). Der Mainzer Pharmakologe galt – das ist unschwer zu erraten – als kritischer Geist, der sich euphorischen Berichten über neue Arzneimittel nicht sofort anschloss, sondern immer zunächst seinen viel zitierten Satz verlauten ließ. Zwar hatten die Serumtherapien vor allem bei der Diphtherie und in geringerem Umfang auch beim Tetanus deutliche Erfolge gebracht. Aber je breiter diese Immunseren nun angewendet wurden, desto häufiger traten auch Probleme mit der Verträglichkeit auf.

In einer 1941 erschienenen Biografie von Behring wird ein dramatischer Nebenwirkungsfall beschrieben, der exemplarisch für die zunehmenden Komplikationen bei der Serumanwendung steht. Hier heißt es: »Da aber trat Anfang 1896 in Berlin ein Fall von eigenartiger Tragik ein. Dreizehnhundert Flaschen einer Diphtherie-Serum-Reihe waren im Handel und bereits größtenteils verspritzt. Da ereignete sich plötzlich Folgendes bei einem Kind, das das gleiche Serum erhielt: An dem anderthalbjährigen Söhnchen des Professors L. in Berlin wurde, weil das Mädchen des Hauses an Rachendiphtherie oder einer dafür gehaltenen Affektion erkrankt war, eine Schutzimpfung mit Behringschem Serum vorgenommen; kurze Zeit danach trat bei vollständigem Wohlbefinden plötzlich der Tod ein. Der unglückliche Vater ließ sich im überwallenden Schmerze hinreißen, in der Todesanzeige den plötzlichen Tod als ›infolge einer Einspritzung des Behring