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Die traditionelle Mystik ist auf Gott bezogen und sucht in der Hauptsache die Verschmelzung mit dem Göttlichen. Gegenwärtig tritt an die Stelle der religiösen Transzendenz häufiger die Verschmelzung mit dem Leben: eine säkulare Mystik.
Auf deren Spuren durchschreitet Franz Josef Wetz drei Erlebnisräume, in denen außergewöhnliche Gefühlszustände ohne religiösen Hintergrund die Grenzen des Normalen sprengen. Von Erregung mit hoher Dynamik über Versenkung in Stille bis zur Rückbildung des Egos reichen diese Möglichkeiten.
Ein naturalistischer Essay zum Staunen.
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Seitenzahl: 58
Über den Autor
Franz Josef Wetz, Jahrgang 1958, ist Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd. Er zählt zu den Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats der Giordano-Bruno-Stiftung und ist philosophischer Berater der »Körperwelten«-Ausstellung. Der Autor lebt in Gießen.
Von Franz Josef Wetz erschien im Diederichs Verlag: Lob der Untreue. Eine Unverschämtheit.
Franz Josef Wetz
Implosion des Ich
Säkulare Mystik heute
Diederichs
© 2015 Diederichs Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Covergestaltung: Weiss | Werkstatt | München
ISBN 978-3-641-17697-6
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www.diederichs-verlag.de
Inhalt
Einleitung
Wege zur mystischen Erfahrung
Erotik und Mystik
Wahrheitsansprüche
Gottlose Lebensmystik
Fromme Anmaßungen
Schwellenerfahrung, Magie und Zauber
Clubs, Klänge und Drogen
Autogenes Training, Meditation und Müßiggang
Dezentrierung des Ego
Nutzlose Bedeutsamkeit
Hüte dich vor dem Staunen
Gottlose Existenzmystik
Resümee
Literatur
Einleitung
»Der Mensch, dieses Abenteuer. Er ist kaum mehr als das. Er ist das, ob man ihn mit mystischen, dogmatischen oder rationalistischen Augen betrachtet. (…) Er ist Probe, Zug in einem Spiel, Versuchsballon – Möglichkeit.« (Valéry 516) Elementare Möglichkeiten seiner Existenz sind äußere Zerstreuung und innere Sammlung. Man kann auf den ausgetretenen Wegen der Gewohnheit unbedacht dahinvegetieren oder sein Dasein bewusst gestalten. Doch ein Leben, losgelöst von der Alltagswelt, ihren Werten und Konventionen, können sich nur die wenigsten vorstellen, so sehr sie es sich auch manchmal wünschen. Denn bürgerliche Behaglichkeit und eingeübte Anstandsregeln lassen nicht viel Platz für außergewöhnliche Abenteuer. Wie verlockend solche klingen mögen, beängstigen tun sie meistens doch. Diese Doppelwertigkeit von Verheißung und Bedrohung schreckt viele zurück, stachelt aber andere auch an. Mit einem Male quält selbst den Durchschnittsbürger ein unbestimmtes Verlangen nach intensiven Erlebnissen abseits seines von Zwängen beherrschten Lebenspfades. Der Wunsch wächst, die gewohnten Tagesabläufe zu durchbrechen. Man ist der täglichen Routinen überdrüssig geworden. Die flügelschlagende Sehnsucht nach rauschartigen oder spirituellen Erfahrungen ist erwacht.
Es gibt ein Bedürfnis nach sinnlich Ekstatischem, berückend Überwältigendem und imaginär Mythischem, das über alle Rationalität hinausgeht, das Alltägliche überschreitet, die Grenzen des Normalen sprengt. Die Mystik ist ein solches existenzielles Experimentierfeld, auf dem gerade heute ohne religiösen Bezug neue Möglichkeiten erprobt werden. In der westlichen Welt wird der Sinn des Lebens mittlerweile weniger von den großen Religionserzählungen erwartet als vielmehr von der Qualität individueller oder kollektiver Erlebnisse. Hier lautet die Grundfrage: »Wie lässt sich mein Verlangen nach der vollen Intensität des Lebens am besten stillen?«
Im Folgenden geht es zunächst um die traditionellen Sprach- und Denkformen der religiösen Mystik, die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert durch eine religionsferne Lebensmystik ersetzt oder ergänzt wurde. Anschließend wird gezeigt, dass beide Arten der Mystik spezielle Wahrheitsansprüche erheben, die sich durch mystische Ekstasen und Visionen nicht einlösen lassen. Allerdings lassen sich die subjektiven Erfahrungen, die mystischen Erlebnissen zugrunde liegen und mit speziellen neuronalen Prozessen korrelieren, nicht einfach wegerklären. Da solche sinnlichen Exzesse und spirituellen Exerzitien, angefeuert von Intensifikatoren wie Drogen, Musik und Tanz, seit jeher als große Lebensbereicherung empfunden werden, werden sie auch heute von vielen Menschen gesucht und gemocht, ohne dass sie hiermit religiöse Erkenntnisansprüche verbinden. Das Bedürfnis nach intensiver Sorglosigkeit ist groß. In unserer säkularen Welt vermitteln vor allem aufpeitschende Technoclubs, wilde Sexparties oder aufwühlende Fest- und Sportereignisse solche mystikähnlichen Erfahrungen. Sie können die Menschen in euphorische, tranceartige Rauschzustände versetzen. Gleichfalls vermögen fernöstliche Meditationen, süßer Müßiggang und ganzheitliche Wellness eine harmonische Unbeschwertheit oder gesammelte Stille hervorzurufen, die mystischen Gemütszuständen ähneln. Doch sind all diese Erlebnisse nicht mehr tiefsinnige Magie, sondern lediglich schönes Spiel. Die Rituale der Leichtigkeit sind so bedeutungslos wie das Leben selbst, existenziell aber höchst bedeutsam, weil sie eine Intensität erzeugen, in der sich das Leben selbst zelebriert und imponiert. Hierbei kommt es regelmäßig zu Implosionen des Ich, die paradoxerweise nicht selten als Selbstfindung gefeiert werden. In solchen Intensitäten jenseits aller Religiosität, logischen Rationalität und alltäglichen Hektik existiert die herkömmliche Mystik auf veränderte Weise fort. Wo die säkulare Mystik den Einzelnen von sich selbst befreit, um sein Augenmerk zum Sternenhimmel zu lenken, kann sie sogar die intensivste, ja dichteste Erfahrung der Wirklichkeit ermöglichen, womit sich die letzten Kapitel eingehend befassen werden.
Wege zur mystischen Erfahrung
Der »Grundton aller Mystik« (James 323), die von einem heiligen Ernst getragen wird, ist die Verzückung. Die Wege dorthin sind vielfältig und weitverzweigt. Jedoch stehen zahlreiche Techniken zur Verfügung, mit deren Hilfe sich die erstrebten Ziele verhältnismäßig gut erreichen lassen.
Zum einen gibt es meditative Übungen, bei denen man sich auf den eigenen Atem, auf ein Bild, einen Vers, Spruch oder auf ein durch unablässige Wiederholung eingeprägtes Mantra konzentriert, bis der Geist nicht mehr abdriftet, die alltäglichen Sorgen das Denken nicht mehr erreichen. Man gibt der Psyche gleichsam einen Fokus. Alle sinnlichen Wünsche, Bilder, Vorstellungen und Gedanken, die meist ungeordnet durch den Kopf schwirren, werden auf Null heruntergepegelt. Regulierte Atmung, rhythmische Bewegung, ein litaneiartig in endloser Folge wiederholter Namen sowie Fasten, Schlafentzug und Tanz, das Hervorstoßen unartikulierter Laute können wichtige Hilfen sein auf dem Weg zur mystischen Ekstase. Nicht selten verläuft der Weg dorthin über mehrere Stufen des Ergriffenseins. Schrittweise löst sich der Meditierende von allen äußeren Eindrücken. Hierzu ist ein innerer Rückzug unerlässlich. Nicht selten sucht der kontemplative Mystiker die Abgeschiedenheit, Einsamkeit und Stille, um mit erhöhter Achtsamkeit in sich hineinhören und im Geiste beflügelt dorthin aufsteigen zu können, wo er das Gute, Eine, Gott zu schauen hofft. Unbewegliche Gleichförmigkeit oder konstantes Tempo sind für diese Art der Kontemplation charakteristisch. Die stille Betrachtung hat sich von der Alltagshektik befreit, um sich in schweigsamer Askese zu üben. Diese kann im Extremfall zur Ekstase des Verzichts führen, bei der nur noch eine entspannte innere Leere übrig bleibt. Im Grunde genommen muss der Mensch sogar innerlich völlig leer werden, ganz in sich ruhen, um das mystisch Erlebbare in sich aufnehmen zu können.