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Maximilian ist verschwunden. Antonia wird Schwierigkeiten bekommen, denn eigentlich sollte sie auf ihren jüngeren Bruder aufpassen. Jetzt liegt sein geliebtes Spiderman-Fahrrad einsam und vergessen am Eingang der Höhle im Wald. Nie dürfe sie dort hineingehen, hat ihre Großmutter Antonia von frühester Kindheit an eingebläut. Furchtbare Dinge würden in dieser Höhle auf sie lauern. Aber das sind alles nur Ammenmärchen, nicht wahr? Also macht Antonia sich auf ins Dunkel, um ihren Bruder zu finden.
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Seitenzahl: 107
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
GEGEN ENDE DES Winters konnte das Heizmaterial schonmal knapp werden. Bernd kannte das Problem. Seit er alt genug war, auf seinen eigenen zwei Beinen durch den Wald zu stiefeln, schickten seine Eltern ihn an solchen Tagen los, die Vorräte mit Reisig aus dem Wald aufzustocken. Die Hütte war zwar nur klein und durch den Leib der mageren Kuh schnell aufgeheizt, aber auch das friedfertigste Rindvieh konnte gegen die Märzstürme nichts ausrichten.
Wenigstens war das hier leichtere Arbeit als die Suche nach vergessenen Rüben. Und man war unbeaufsichtigt. Eigentlich fand Bernd es gar nicht so schlimm, in den Wald geschickt zu werden. Hier fehlten die zeternde Stimme der Mutter und die schwere Hand des Vaters, wenn etwas nicht so lief, wie es sollte – was oft der Fall war. Hier draußen konnte Bernd in Ruhe seinen Gedanken nachhängen. Oft löste er im Kopf bereits seine Hausaufgaben, damit er sie später nur niederschreiben musste, solange es noch Tageslicht gab. Vater sah nicht ein, dass man für so einen neumodischen Quatsch wie Schulpflicht gutes Kerzenlicht verschwenden sollte. „Als ich klein war, gab es so etwas nicht! Alles Zeitverschwendung!“ Bernd ahnte: Wäre der Pfarrer nicht gewesen, der mit Engelsgeduld auf den Vater eingeredet hatte, hätte Vater ihn wahrscheinlich trotz aller Dekrete und Erlässe eher auf die Felder als runter nach Bonn zur Schule geschickt. Und Mutter hätte nichts gesagt. Die war viel zu müde von all dem Putzen und Waschen und der Arbeit in der Fabrik.
Nur das Wetter ließ heute ein wenig zu wünschen übrig. Die Bäume waren noch zu kahl, um den kalten Wind abzuhalten, und die Regenfälle der vergangenen Tage hatten den Boden so stark aufgeweicht, dass der Junge an manchen Stellen bis zu den Knien einsank. Er kämpfte sich durch die schlammigen Kuhlen hinauf zu den Anhöhen, auf denen die herabgefallenen Zweige trockener lagerten – wenn der Wind sie nicht davongetragen hatte. Gegen das Hungerloch im Magen knabberte er ein paar kalte geröstete Kastanien, die Mutter ihm heute Morgen in die Hosentasche geschmuggelt hatte. Sie schmeckten mehlig und so, als hätte man sie eigentlich schon zu lange aufbewahrt, aber sie waren besser als nichts.
Von hier oben sah die Stadt winzig aus – wie das Spielzeug, das Bernd zu Weihnachten im Schaufenster des großen Kaufmannsladens so bewundert hatte. Zuhause hatte er seine eigene kleine Stadt, aus alten Dosen gebastelt, auf einem Brett festgeklebt, das er unter dem Bett versteckt hatte. Seine Freunde würden ihn auslachen, wenn sie wüssten, dass er noch mit so etwas spielte. Ganze Nachmittage konnte er sonntags damit verbringen, kleine Fenster auf die Häuser zu malen oder mit Kutschen aus Zeitungspapier durch die schmalen Gassen zu fahren. Mutter sagte oft, er habe eine zu lebhafte Fantasie. Sie lächelte dabei jedoch immer, als sei sie heimlich stolz.
Mit einem dickeren Stecken, den Bernd sich zum Wanderstab auserkoren hatte, hieber auf die dichten Brombeerranken ein. Dabei stellte er sich vor, er sei ein Held aus einer der Legenden, wie sie in der Sonntagsschule erzählt wurden. Der Heilige Georg beispielsweise, der gegen den Drachen gekämpft hatte. Das war ein Vorbild! Fast wünschte Bernd sich, einem Drachen zu begegnen, damit er seine eigene Tapferkeit unter Beweis stellen konnte. Das Einzige, was er hier aufscheuchte, war eine magere, struppige Maus mit einem halben Schwanz.
Sein Reisigbündel wuchs nur langsam. Wie schön wäre es doch, wenn sie daheim noch Kohlen hätten! Aber das bisschen, was sie für den Winter zusammengekratzt hatten, war schon lange aufgebraucht. Dass der Winter sich in diesem Jahr so hartnäckig halten würde, damit hatte auch niemand gerechnet. Er knackte die Schale der letzten Kastanie mit den Zähnen und kaute auf dem trockenen Kern herum. Die Brombeeren waren besiegt. Wie lange würde er sich wohl noch hier draußen herumtreiben können, ehe es Zeit wurde, den Heimweg anzutreten? In einem Anflug von Übermut sprang er von der Anhöhe aus mit beiden Beinen in die nächste Schlammkuhle. Der Dreck spritzte in alle Richtungen und bekleckerte seine vielgeflickten Hosen bis zum Bund. Beim Aufprall löste sich der Strick um das Reisig. Trockene Äste flogen durch die Luft.
Herrgott nochmal! Bernd prustete empört und machte sich gleich daran, seine Beute wieder aufzusammeln. Der Stand der Sonne am Himmel deutete an, dass er sich danach allmählich auf den – natürlich langen und gewundenen – Heimweg machen solle. Die Vögel wurden leiser. Vielleicht waren sie auch müde nach dem anstrengenden Tag. Er hörte etwas rascheln, sah auf und bemerkte einen Fuchs, der reglos im Unterholz kauerte. Das dichte rote Fell leuchtete wie das Laub vom letzten Herbst. Seine schwarze Nase zuckte.
Als Bernd drohend seinen Stecken hob, sprang das Tier auf und hetzte davon. Einen Moment lang sah man seinen buschigen Schwanz noch zwischen den kahlen Büschen aufblitzen, dann war es, als habe es ihn nie gegeben.
Mehr Abenteuer würde er hier heute wohl nicht erleben. Was für ein Glück, dass es nur ein Fuchs gewesen war und kein Wildschwein! Bernd schulterte sein Bündel, richtete sich auf und machte sich auf den beschwerlichen Anstieg. Die nasse Hose klebte an seinen Beinen. Diese Pfütze war die Anstrengung und die Schelte auf jeden Fall wert gewesen! Wozu in den Wald gehen, wenn man dort nicht auch ein wenig toben durfte?
Fast wäre ihm entgangen, wie der Boden bebte. Erst die zitternden Ringe auf der Pfütze vor seinen Füßen ließen ihn innehalten. Schon wieder ein Erdbeben? Er sah sich um. Die Bäume standen ruhig und verlassen. Der letzte Vogel verstummte.
In einiger Entfernung lagen mehrere gigantische Felsbrocken aufgetürmt. Die alten Leute erzählten einander, der Teufel persönlich habe sie hier gestapelt, um etwas einzusperren, das noch böser sei als er selbst. Aus einer Spalte stieg eine dünne Rauchfahne in die Höhe.
Bernd setzte sein Bündel ab und näherte sich den Felsen. War das etwa ein aktiver Vulkan? Nein, das war zu abwegig! Vielleicht hatte ein Streuner hier Unterschlupf gesucht und ein Feuerchen gemacht. Die Gendarmen zahlten manchmal eine Belohnung für solche Informationen. Es könnte sich lohnen, näher heranzuschleichen und einen Blick auf die Situation zu werfen.
Aber es war kein Streuner. Stattdessen lag ein schnaubender Drache schlafend im Eingang einer Höhle und schnarchte bei jedem Ausatmen Rauch Richtung Himmel.
Bernd war wie verzaubert. Seine Chance, ein Held zu sein! Vorsichtig schlich er näher heran, den Wanderstecken vor sich ausgestreckt. Der Drache war gar nicht besonders groß, oder besonders wild. Gut, vielleicht war er wütend, wenn man ihn weckte. Der Junge rechnete sich seine Chancen aus. Er hatte gesehen, wie der Schlachter ein Lamm mit einem einzigen Schlag mit der stumpfen Seite seiner Axt getötet hatte. Er hatte dem Tier direkt ins Genick gehauen. Bestimmt waren Drachen da genau so empfindlich.
Plötzlich öffnete sich ein eiskaltes Auge mit einer reptilienhaft geschlitzten Pupille. Der Drache sah den Jungen direkt an.
Bernd erstarrte. Sein Herz raste wie wild.
Fast schon gemächlich kam der Drache auf die Beine, drehte sich um und verschwand im Eingang seiner steinernen Behausung. Ehe die Schatten ihn verschluckten, drehte er sich noch einmal zu Bernd um.
Der dachte an die Sagen, die er gehört hatte – von Helden, von Schätzen, von Ruhm und Ehre. Vergessen waren das Reisig, die Eltern und die Hausaufgaben.
Mit dem Stecken in der Hand betrat er die Höhle. Angst hatte er keine.
Er würde sich schon zu verteidigen wissen.
MAX LIEBTE ES, im Wald zu spielen. Ihm war egal, dass er sich im Moment nicht so oft mit seinen Freunden treffen konnte. Es machte ihm auch nichts aus, dass er nicht in den Kindergarten gehen konnte. Die Erklärungen der Erwachsenen hatte er schon wieder vergessen. So viel freie Zeit, die er mit Toben verbringen konnte!
Max hatte seinen eigenen Kopf, und eine Menge Fantasie. Wenn er, so wie jetzt, durch den Wald radelte, stellte er sich oft vor, er sei ein Ritter. Oder ein Superheld – er könnte Spiderman sein! Als unerkannter Retter erkundete er unerforschte Länder, kämpfte mit selbstgemachten Astschwertern gegen Monster und Unholde oder rettete hilflose Kreaturen vor dem Bösen.
Außerdem ging er oft auf Schatzsuche. Ein Schatz, das konnte alles sein – ein besonders schöner Stein. Ein Stück Glas in einer seltenen Farbe. Ein Stück Holz, in dessen Maserung ein Gesicht zu sehen war. Ein buntes Blatt. Aber natürlich war er darüber hinaus sicher, dass es auch echte Schätze geben musste: Gold, Edelsteine, bunte Murmeln. Bestimmt hatten Räuber und Piraten im Verlauf der Jahrhunderte unzählige Schatztruhen in den Wäldern versteckt. Seine Aufgabe war es, diese Schatztruhen zu finden und auszugraben.
In den letzten Monaten hatten seine Eltern ihn nicht oft nach draußen gelassen. Es ist zu kalt, hatten sie gesagt. Oder: Es ist zu matschig. Oder: Du machst dich nur schmutzig, und dann kommen wir zu spät zu Opa.
Jetzt war es zwar nicht schlimm, im Wohnzimmer mit Bauklötzen zu spielen oder sich ein Kinderbuch anzuhören. Aber er hatte im Herbst ein so vielversprechendes Schatztruhenversteck gefunden! Was, wenn ihm jemand zuvorkam? Und heute, heute war der Tag aller Tage! Endlich hatten die Eltern erlaubt, dass er wieder in den Wald durfte. Sofort war er auf seinem Superhelden-Fahrrad losgeflitzt wie ein geölter Blitz, und Antonia hatte ihm kaum folgen können. Sie hatte geschimpft, dass sie diesen Kinderkram mitmachen musste. Natürlich hatte sie nicht Kinderkram gesagt, doch wenn Max das Wort, das sie benutzt hatte, wiederholt hätte, hätte es Schelte gegeben. Sie hatte ein Erwachsenenwort benutzt.
Ein Eichhörnchen mit buschigem Schweif saß auf einem niedrigen Ast und beobachtete ihn. Max winkte. „Hallo, Herr Eichhorn!“ Dann radelte er weiter. Es war nicht weit bis zu seinem Schatz. Heute würde er ihn finden, da war er ganz sicher.
Irgendwo weit hinter ihm rief jemand seinen Namen, aber er achtete nicht darauf. Sein rotes Cape flatterte im Fahrtwind. Es fühlte sich an, als könne er fliegen. Max stieß ein lautes Jubelgeheul aus. Er trat noch heftiger in die Pedale, bretterte mitten durch eine herrliche Pfütze und riss die Beine in ihren Gummistiefeln hoch.
Der Schlamm spritzte ihm bis an die Ohren.
Mama würde schimpfen.
Aber bis dahin lag noch ein endlos langer Tag voller Abenteuer vor ihm.
Fast hätte Max den geheimen Pfad verpasst. Von hier war es nicht mehr weit. Seit dem Herbst waren Efeu und Brombeerranken über den Eingang gewachsen. Einzig an der verkrüppelten Birke, die direkt am Rand des Rundwegs stand, erkannte er die Stelle. Die Birke sah ein wenig aus wie eine verwunschene Hexe.
Max verließ den mit Kies bestreuten Waldweg und schob sein Fahrrad durch das Unterholz. Das hier war der perfekte Ort für einen Schatz. Oma hatte ihm viele Geschichten zu diesem Wald erzählt – von Riesen und Drachen, von Waldgeistern und Räubern. Oma wusste alles über den Wald. Darüber, wo es Höhlen und Kletterpfade gab. Darüber, wo verzauberte Pilzringe wuchsen und auch, wie man lauschen musste, um die geheime Sprache der Waldmäuse zu verstehen.
Ein Eichelhäher krächzte und segelte zwischen den Baumwipfeln davon. Seine blauen Federn schillerten in der Frühlingssonne. Irgendwo in der Ferne antwortete ihm ein zweiter Rabenvogel. Es klang wie ein Echo.
Ansonsten war es still.
Max verließ den Pfad und hielt auf die großen Felsen zu, bei denen der Schatz versteckt war.
Plötzlich blitzte etwas Weißes im Unterholz auf.
Im einen Moment war es da, im nächsten wieder fort.
Max blieb ganz ruhig stehen, wie Oma es ihm beigebracht hatte. Oma war eine Meisterin darin, wilde Tiere zu entdecken und zu beobachten. Im Sommer, das hatte sie ihm versprochen, würden sie wieder in den Wildpark in Rolandseck gehen und die Rehe füttern.
Da war es wieder!
Diesmal erkannte Max, worum es sich handelte.
Ein Kaninchen. Nein, ein Hase. Er war karamellfarben mit einem weißen Puschelschwanz, hatte lange Ohren und blaue Augen über einer niedlich zuckenden Nase.
Der gehörte doch bestimmt nicht hier in den Wald. Und er schien ganz zahm, sah Max sogar direkt an und hoppelte dann gemächlich ein paar Sprünge weiter.
Ob das der Osterhase war?
Kurz wünschte Max sich, dass Antonia hier wäre. Manchmal freute sie sich, wenn er ihr etwas zeigte. Manchmal schimpfte sie aber auch nur und machte sich über ihn lustig.
Nein, der Osterhase war Max‘ Geheimnis. Er beobachtete, wie der Hase mümmelnd auf die moosüberwucherten Felsen zuhoppelte. Dann verschwand er in einer Spalte.
Vorsichtig näherte Max sich der Stelle. Das war sie – seine Schatzhöhle! Und der Osterhase selbst hatte sie ihm gezeigt! Was für ein Abenteuer!
Er lehnte sein Fahrrad an die Felsen und zwängte sich durch den Spalt.
ANTONIA HATTE KEINEN zweiten Blick für diesen schönen Frühlingstag übrig. Sie verpasste einem herumliegenden Kiesel einen Tritt. Verfluchte Kack-Eltern