Lilienschwester - Diandra Linnemann - E-Book

Lilienschwester E-Book

Diandra Linnemann

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Beschreibung

Lilja wusste immer, dass das Leben als Tochter eines alleinstehenden Alkoholikers nicht einfach sein würde. Aber dass plötzliche dämonisch aussehende Höllenhunde sie verfolgen, überrascht sie dann doch. Notgedrungen folgt sie dem mysteriösen Fremden, der ihr das Leben rettet, in eine unheimliche Parallelwelt. Dort trifft sie ihre Zwillingsschwester, von der sie bis jetzt nichts ahnte, und erfährt von einem uralten Fluch. Welche Schwester wird überleben?

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Inhaltsverzeichnis

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

EINS

MIT KLOPFENDEM HERZEN lenkte Lilja den klapprigen Passat an den Straßenrand, stellte den Motor ab und kurbelte das Fenster auf der Fahrerseite nach unten. Das erste bunte Laub des Jahres wirbelte über die Motorhaube. Im Rückspiegel konnte sie sehen, wie die beiden uniformierten Polizisten sich dem Wagen näherten. »Benimm dich!«, zischte sie ihrem Vater zu. Sie warf einen schnellen Blick über die Schulter. Rudolf schnarchte friedlich auf dem Rücksitz. Sie zwang sich, die Hände am Lenkrad zu entspannen, und lächelte dem älteren der beiden Beamten durch das Fenster hindurch zu. »Guten Abend, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte!«

Nervös griff Lilja nach ihrem Rucksack, nestelte ihre Geldbörse aus einem Seitenfach und hätte beinahe den Führerschein in den Spalt neben dem Sitz fallen lassen. Aber schließlich präsentierte sie doch die gewünschten Unterlagen und wartete, während der Beamte ihr Profil mit dem Foto auf den Unterlagen verglich. Das Bild war beinahe zwei Jahre alt. Vor dem einfarbigen Hintergrund sah sie fast noch aus wie ein Kind – ein kränkliches Kind. Der grelle Blitz des Fotografen auf ihrer hellen Haut und dem kupferfarbenen Haar hatte sie noch blasser aussehen lassen, als sie sowieso schon war.

Lilja bemerkte, dass die Nasenflügel des Polizisten sich weiteten. Wahrscheinlich roch er den Alkoholdunst. »Haben wohl heute Abend ein wenig gefeiert, was?«

Lilja beobachtete ihren Vater aus dem Augenwinkel ganz genau. Seine Hände zitterten nicht, und er wirkte sehr entspannt. »Mein Kumpel da hinten und ich waren kegeln«, erklärte er. »Meine Tochter war so liebenswürdig, uns abzuholen.«

Der Polizist warf ihre einen scharfen Blick zu. »Sie haben also nichts getrunken?«

»Meine Güte, nein! Ich hasse Kegeln!«, rief Lilja. Sie hätte in diesem Moment ohne weiteres die Rechte an ihrem Erstgeborenen abgetreten, um aus der Situation unbehelligt herauszukommen. Diesen Ärger konnte sie heute wirklich nicht brauchen. Sie war sowieso schon spät dran!

Der Polizist schien mit dem Ergebnis seiner Überprüfung zufrieden. Er tippte kurz an seine Dienstmütze und trat vom Wagen zurück. »Sehr löblich, junge Dame. Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend!«

Lilja wartete einen Anstandsmoment, ehe sie die Scheibe wieder nach oben kurbelte, den Motor anließ und den Passat vorsichtig auf die Straße zurücklenkte. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Das war unangenehm. Und das alles nur, weil ihr unbedingt in Meckenheim kegeln musstet!«

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie das Gesicht ihres Vaters sich verzog. Hoffentlich fing er jetzt nicht an zu weinen. Wenn er betrunken war, wurde er immer so emotional. »Lass uns schnell nach Hause fahren.« Rudolf wohnte im gleichen Haus wie sie, im Erdgeschoss. Wenn sie ihn wach genug bekamen, müssten sie ihn nicht einmal ins Haus tragen. Wie schade, für die Alte aus dem zweiten Stock wäre das bestimmt ein gefundenes Fressen.

Als Lilja den Wagen auf den Parkplatz lenkte, warf sie einen schnellen Blick nach oben. Aber das Küchenfenster der Neubauers war bis auf eine kitschige Weihnachtsbeleuchtung dunkel. Heute spionierte ihnen zur Abwechslung einmal niemand nach.

Rudolf kam stöhnend zu sich, als die Beifahrertür zuschlug. Liljas Vater taumelte ein wenig und lehnte sich kurz gegen den Wagen, ehe er die hintere Tür aufriss. Er beugte sich vor, legte sich den Arm seines Saufkumpans über die Schulter und taumelte mit ihm zusammen Richtung Eingangstür. Lilja wartete an der Haustür auf sie, den Schlüsselbund in der Hand. Wie konnten die sich nur immer noch auf den Beinen halten? Sie ging dicht hinter den Männern die Treppe hinauf, immer bereit, einen Sturz abzufangen. Und wie konnte man so früh am Tag mit so wenig Geld schon so betrunken sein?

Vor Rudolfs Wohnungstür wurde Lilja allmählich ungeduldig, während ihr Vater versuchte, seine Hand in die schmale Öffnung von Rudolfs Hosentasche zu quetschen. Sie musste zur Arbeit! Allerdings stand nicht zur Debatte, die beiden im Treppenhaus ihrem Schicksal zu überlassen. Ihr Vater verzog vor Konzentration das Gesicht, während er nach den Schlüsseln fummelte. Rudolf lehnte derweil grinsend an der Wand. Endlich hörte Lilja es klimpern, und kurz darauf drehte sich der Schlüssel im Schloss. Knarrend schwang die Tür nach innen. Gemeinsam bugsierten sie Rudolf in seine Wohnung und auf das zerschlissene Sofa. In einer Zimmerecke lag ein Berg aus getragenen Klamotten und verströmte einen säuerlichen Geruch. Lilja sah sich um und steckte die Hände in die Jackentaschen. Sie spielte mit ihren eigenen Schlüsseln, während ihr Vater seinen Kumpel liebevoll zudeckte und eine Flasche Sprudel auf dem Tisch bereitstellte. Sie verließen die Wohnung so leise wie möglich, zogen die Tür von außen ins Schloss und machten sich auf den Weg in den ersten Stock.

Lilja schloss die Tür auf und ließ ihren Vater ein. Aus der Nähe konnte sie die geplatzten Äderchen rund um seine Nase erkennen. »Mach dir Suppe warm und trink noch etwas Wasser, ich muss direkt wieder los.« Für sie war das Abendessen gestorben. Zum Glück stand ihr Mountainbike vor der Tür bereit – es lohnte einfach nicht, mit dem Auto in die Innenstadt zu fahren. Jede Minute Fahrzeit, die sie sparte, würde sie mit der Parkplatzsuche wieder verlieren. Sie griff nach ihrem Schal und rannte die Treppe hinunter.

Sie schwang sich aufs Rad und brauste los, bremste aber an der Straßenecke bereits wieder ab. Verdammt, das Licht funktionierte nicht! Sie widerstand der Versuchung, dem Dynamo mit einem kräftigen Tritt auf die Sprünge zu helfen. Wenn sie ihr Gespartes zusammenkratzte, konnte sie ihr Rad diesen Monat noch winterfest machen lassen. Nachdem sie das Kopiergeld bezahlt und den Rückstand bei den Stadtwerken beglichen hatte. Vielleicht konnte sie Ron um ein paar Extrastunden bitten – die Böden im Blumenladen schrubben oder Fenster putzen. Allerdings machte so eine Bitte sich besser, wenn sie pünktlich war. Also trat sie fester in die Pedale.

Dem Autofahrer, der hinter ihr bremste und hupte, winkte sie zu, ohne sich umzusehen.

Der LKW mit dem gelben Kennzeichen und dem überdimensionalen Blumengruß aus den Niederlanden stand bereits mit eingeschalteter Warnblinkanlage in der Fußgängerzone. Die sich ausdünnende Schar schnäppchengeiler Shopper floss um ihn herum, ohne sich aufhalten zu lassen. Lilja kannte dieses Phänomen schon und wusste, wie sie es für ihre Zwecke ausnutzen konnte. Sie sprang in voller Fahrt von ihrem Rad, lief ein paar Schritte mit und lehnte es hinter dem LKW gegen das Geländer am Schaufenster. Sie sah im Außenspiegel Rons Silhouette im Führerhaus. Seine markante Nase ragte aus den Schatten hervor. Er sortierte noch die Ladepapiere. Glück gehabt!

»Hallo, Lilja!«, rief er durch das offene Fenster zu ihr herunter. Schon bei dieser kurzen Begrüßung war sein Akzent deutlich zu hören. »Du bist spät dran! Hast du die Schlüsseln dabei?«

Lilja hielt den Schlüsselbund in die Höhe und schüttelte ihn. Sie schloss die Eingangstür auf und rollte den Ständer für die Eimer mit Schnittblumen auf den Gehweg. Drinnen roch es muffig, wie jeden Donnerstagabend. Der Blumenladen hatte nur freitags und samstags geöffnet, und trotzdem schien er sich zu rentieren. Offenbar lohnte es sich, die frischesten Blumen der ganzen Bonner Innenstadt anzubieten.

Vor der Tür surrte es laut, als Ron die Ladebühne öffnete. Lilja schaltete das Licht ein, legte ihre Tasche hinter den Verkaufstresen und schob einen Ficus weiter in die Ecke, um einen ausreichend breiten Durchgang zu schaffen. Sie sah nach oben – in den Ecken hingen Spinnweben. Gut für sie.

Ron hatte bereits damit begonnen, die großen Topfpflanzen an den Rand der Hebebühne zu ziehen. Als Lilja zu ihm trat, sprang er auf den Gehweg und schnappte sich eine gigantische Yuccapalme. Die langen Blätter wedelten über seinem Kopf in der Abenddämmerung. »Die sind zu schwer für dich. Klettere rauf und zieh die Eimern nach vorne, ja?«

»Können wir vorher kurz etwas besprechen?«, fragte Lilja und zwang sich, Ron ins Gesicht zu sehen. »Ich habe bemerkt, der Laden könnte mal wieder eine gründliche Reinigung vertragen. Ist ja auch nicht mehr lang bis zum Vorweihnachtsandrang.« Gestern hatte sie schließlich im Supermarkt die ersten Weihnachtsplätzchen gesehen.

»Findest du? Ich hab keinen Zeit, mich um eine Putzfirma zu kümmern.«

»Also … ich könnte das erledigen. Dienstagnachmittag.« Eigentlich hatte sie da das Referat für den Marketingkurs vorbereiten wollen, aber das würde sie irgendwo dazwischen quetschen.

Ron musterte sie aufmerksam. »Meinst du, du schaffst das?«

»Natürlich.« Lilja nickte, drehte sich schnell um und stemmte sich auf die Hebebühne hinauf. In dieser Höhe erhaschte sie sogar noch einen Strahl Septembersonnenlicht.

»Lass uns das später besprechen, ja? Erst müssen die Blumen in den Geschäft hinein.« Damit schwankte die Palme Richtung Eingangstür.

Lilja gönnte sich ein winziges Lächeln. Endlich etwas, das gut lief. Ron würde ihren Vorschlag bestimmt nicht ablehnen. Und das mit dem Referat würde auch klappen, ganz sicher.

Das Licht im Laderaum war schon wieder ausgefallen. Die Luft war kalt und roch süßlich. Lilja schluckte. Wo hatte Ron um diese Jahreszeit Hyazinthen herbekommen? Sie hasste den Geruch mit Leidenschaft. Leise vor sich hin schimpfend machte sie sich ans Werk – hob die Eimer voll mit Blumensträußen und Wasser aus den metallenen Halterungen an der Seitenwand des Wagens und trug sie nach vorne an die Kante. Danach waren die kleineren Topfpflanzen an der Reihe. Die kühlen Blätter kitzelten Lilja im Gesicht. Ihre Augen hatten sich schnell an die Dunkelheit gewöhnt. Dieser Blumenladen war der letzte auf Rons Tour, und der LKW war schon beinahe leer.

Plötzlich sah Lilja eine Bewegung an der Rückwand des Laderaums. Sie zuckte zusammen. War da eine Ratte? Nein, es war größer gewesen – eine streunende Katze vielleicht? Wie war die in den Wagen gekommen? Lilja zwang sich, tief Luft zu holen. Das war nicht ihr Problem. Sie würde Ron gleich Bescheid sagen, und dann konnte der das Ungeziefer mit dem Besenstiel verjagen.

»Lass du mich in Ruhe, dann lasse ich dich in Ruhe«, murmelte sie.

In der Dunkelheit schienen die Augen des Wesens rot zu leuchten. Krallen scharrten über den Boden.

Sie bückte sich nach der letzten Palette mit Hyazinthen, als das Biest sie ansprang.

Lilja sah nur ein Paar roter Augen auf sich zukommen.

Etwas fauchte.

Erschrocken machte sie einen Satz zurück. Die Abendsonne blendete sie. Sie ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, machte einen Schritt zur Seite – und trat ins Leere.

Scheiße!, fuhr es ihr durch den Kopf.

Aber ihr Sturz wurde abrupt gebremst. Ihre Arme fühlten sich an, als habe man sie in einen Schraubstock gezwängt. Ein Hauch von Holzfeuer lag in der Luft.

Jemand hatte sie aufgefangen.

»Verfluchter Mist!«, schimpfte Lilja und machte sich von dem Unbekannten los. Was war das gewesen? Sie spähte in den Wagen, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen. Vielleicht war das Tier entkommen. Wahrscheinlich hatte es mehr Angst vor ihr gehabt als sie vor ihm.

»Seid Ihr in Ordnung?«, fragte jemand mit leiser Stimme hinter ihr.

»Was? Oh, sicher. Vielen Dank!« Sie drehte sich um und musterte den Mann, der ihr, wenn schon nicht das Leben, dann doch wenigstens den Knöchel gerettet hatte.

Er war wesentlich größer als sie und schlank. Sein langer dunkler Mantel war für diesen milden Septembertag vielleicht ein wenig übertrieben. Er musterte sie, und seine Augen schienen im Licht der untergehenden Sonne goldfarben zu glühen. Er hatte kurzes, fransig geschnittenes blondes Haar.

Lilja trat einen Schritt zurück.

Ron kam angerannt. »Ist alles okay? Lilja, was machst du nur?«

»Ich bin gestolpert«, antwortete sie und versuchte, etwas mehr Distanz zwischen sich und den Fremden zu bringen. Sein Blick war ihr unangenehm. »Da war irgendein Vieh im Laderaum. Noch einmal vielen Dank, dass Sie mich gerettet haben. Aber ich muss jetzt weitermachen.« Damit drehte sie sich um, schnappte sich zwei Eimer mit gelben Rosen und stapfte entschlossen Richtung Ladentür.

Ron folgte ihr einen Augenblick später. »Was für ein netten jungen Mann. Du warst ein wenig unhöflich.«

»Ich bin nur einen Meter tief gefallen. Es ist nicht so, als hätte er mir das Leben gerettet.«

»Du hättest dir den Genick brechen können!«

»So viel Glück hab ich nicht.«

»Sag das nicht, das bringt Unglück.« Der Niederländer stellte die letzten Hyazinthen in eine Nische und zückte sein Portemonnaie. »Hier ist dein Geld. Wenn du wirklich Dienstag Zeit hast, mach hier sauber, und wir verrechnen das nächste Woche.«

Lilja biss sich auf die Lippen. »Kannst … kannst du mir das als Vorschuss geben? Ich denke, mit drei Stunden bin ich hier durch.« Sie hasste es, zu betteln, aber ihr Vater würde erst in zwei Wochen wieder Geld vom Amt kriegen, und die Stadtwerke hatten sich ihnen gegenüber schon sehr geduldig gezeigt.

Ron drückte ihr einen Fünfziger in die Hand. »Bitte, und wenn du länger brauchst, sag Bescheid.«

Lilja zog einen Fünf–Euro–Schein aus ihrem Portemonnaie und hielt ihn Ron hin. »Hier.«

»Was soll das?«

»Dein Wechselgeld.«

»Schon gut«, wehrte er ab.

Aber Lilja bestand darauf. Sie bekam fünfzehn Euro die Stunde, für einen Nebenjob war das absurd viel. Sie wollte keine Almosen.

Nach einem Moment des Zögerns nahm Ron den Schein, faltete ihn zusammen und steckte ihn in den Keramikpilz neben der Kasse. »Dann ist das eben Trinkgeld. Ihr arbeitet allen sehr, sehr hart. Komm, Zeit, nach Hause zu fahren. Soll ich dich bringen?«

»Danke, ich bin mit dem Bike da.« Lilja schaltete das Licht aus, schloss die Eingangstür ab und ging zu ihrem Fahrrad hinüber. Wenn sie sich beeilte, konnte sie wenigstens noch ihre Lieblingsserie gucken.

Inzwischen wurde es dunkel, und Lilja bog Richtung Hofgarten ab. Das war der kürzeste Weg. Nach dem Schreck vorhin im Laderaum wollte sie nur noch nach Hause. Sie trat in die Pedale, warf einen kurzen Blick über die Schulter und bog nach rechts ab. Von den Studentenhorden, die die freie Fläche in der Mitte den ganzen Sommer über mit Beschlag belegt hatten, war nicht mehr viel übrig. Die Partys hatten sich wieder nach drinnen verlagert. Auch unter den ausladenden Zweigen der Bäume, die die Rasenfläche einrahmten, war niemand mehr unterwegs. Sie begannen bereits, ihre bunte Blätterpracht auf den menschenleeren Wegen zu verstreuen. Die hölzernen Bänke standen verlassen. Eine letzte Mutter packte gerade Kind und Kegel auf dem Spielplatz ein und machte sich auf den Weg Richtung Abendessen.

Der feine Kies knirschte unter den Reifen von Liljas Mountainbike. Die Geräusche der Stadt waren nur wie durch einen Schleier zu hören. Für einen Moment fühlte sie sich völlig unbeobachtet und allein. Hoch über ihrem Kopf zogen Gänse lauthals schreiend Richtung Süden.

Eine Bewegung, die sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, störte den friedlichen Moment. Etwas Dunkles bewegte sich über die Grasfläche. Vielleicht ein Hund, dachte Lilja und wurde langsamer. Ein großer Hund. Sie mochte Hunde nicht besonders. Die sprangen einen beim Radfahren an und sabberten alles voll.

Das Tier kam schnell näher. Es raste in einer geraden Linie auf Liljas Fahrrad zu. Vom Besitzer natürlich keine Spur. Irritiert bremste sie ab und kam neben einem massiven Baumstamm zum Stehen. Im nächsten Moment sah sie rotglühende Augen aufleuchten. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Stop!«, rief sie und griff in die Jackentasche, um ihr Handy zu zücken. Sie wusste selbst nicht, was sie damit tun wollte, und es war auch egal, denn die Zeit war um.

Der Schatten prallte gegen sie und riss sie zu Boden.

Lilja wollte schreien, aber als sie Luft holte, wurde ihr schlecht. Der Gestank war ekelerregend. Wie Nackensteaks, die man tagelang in der Sonne hatte liegen lassen. Messerscharfe Zähne blitzten auf. Sie riss den linken Arm hoch, um ihre Kehle zu schützen. Das Fahrrad lag auf ihrem Bein und hinderte sie daran, aufzustehen. Verzweifelt stemmte sie ihren Arm gegen das Biest. Ihre Hand versank in rauem schwarzem Fell. Geifer spritzte auf ihr Gesicht.

Ein greller Blitz blendete sie. Das Gewicht auf ihrer Brust verschwand. Sie erwartete einen Knall, aber der blieb aus. Nur das Wimmern der Bestie war zu hören. Steh auf, brüllte ihr Gehirn ihren Körper an, nimm die Beine in die Hand! Aber sie bewegte sich keinen Millimeter.

Schritte näherten sich, und es blitzte erneut. Dann war jemand neben ihr, eine Hand ausgestreckt Richtung Ungetüm, und rief etwas in einer Sprache, die Lilja nicht verstand.

Etwas Merkwürdiges geschah.

Vor ihren Augen begann das Biest zu schrumpfen. Es krümmte sich vor Schmerz. Schon hatte es nur noch die Größe eines Dackels und lief mit eingezogenem Schwanz davon.

Lilja sah auf und blickte direkt in die bernsteinfarbenen Augen des Fremden von vorhin. Er sah sich aufmerksam um, ehe er sich zu ihr herunterbeugte und ihr eine Hand anbot. »Für den Moment seid Ihr sicher.«

Lilja ergriff die Hand nicht. Sie stützte sich auf dem feuchten Boden ab, zog ihre Beine unter dem Mountainbike hervor und rappelte sich mühsam auf. Die Pedale schabten über den Boden. Der Rahmen war bestimmt zerkratzt. So ein Mist aber auch! Und das alles wegen so einer winzigen Töle. Ihr Verstand musste ihr einen Streich gespielt haben.

»Habt Ihr Euch verletzt?«, fragte der Fremde.

»Was soll das? Wer sind Sie?« Misstrauisch wich Lilja zurück. Mit jedem Satz wurde sie etwas lauter. »War das etwa Ihr Köter? Wo kommen Sie her? Verfolgen Sie mich etwa?«

Der Fremde sah sie ernst an. »Ich verfolge Euch nicht. Man hat mich geschickt, um Euch nach Hause zu holen.«

ZWEI

ALS LILJA NICHT reagierte, bückte der Fremde sich und richtete ihr Fahrrad auf. Sein Mantel bauschte sich wie ein altmodisches Cape. »Nichts passiert, wie es aussieht.«